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Titel Band 1 - OPUS

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zulässig (54), nur die Jugend müsse man schützen,<br />

und zwar vor einer „Horde von Bürokraten<br />

und Curriculumforschern, die außerordentlich<br />

schwer dingfest zu machen ist“ (55). Diese Leute<br />

seien mit ihrem Kauderwelsch die eigentlich<br />

Schuldigen an der Misere, und er zitiert ironisch<br />

die »Beschlüsse der Kultusministerkonferenz.<br />

Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung.<br />

Deutsch« (56). Die kleinen Lehrkörper<br />

kommen als ausführende Organe noch<br />

glimpflich weg, doch: „Das einzige Geräusch, das<br />

ich in den zitierten Sätzen wahrnehmen kann, ist<br />

das Getrampel von Hornochsen“ (57). Als Schulgermanist<br />

war ich hier nur indirekt gemeint, und<br />

doch fühlte ich mich von einem intelligenten<br />

Mann, den ich schon damals sehr schätzte, mit<br />

dem Wort »Hornochse« getroffen und öffentlich<br />

beschimpft. Ein solches Vorgehen war nur zu<br />

rechtfertigen, wenn er recht hatte. Dann könnte<br />

auch die beste Interpretation mit der üblichen<br />

Metasprache nicht einen Hintersinn aufdecken,<br />

der gar nicht da war. Wenn der Lehrer also nur<br />

glaubt im Besitz der »richtigen« Erkenntnis zu<br />

sein und sie als Keule gegen seine Schüler benutzt,<br />

dann ist er wirklich ein Hornochse! Ich<br />

beschloß, dem Autor nicht böse zu sein, sondern<br />

seinen Standpunkt genauer zu erforschen, von<br />

dem aus er so selbstsicher die Leute beleidigte,<br />

die eigentlich glaubten, seine Brüder im Geiste zu<br />

sein. Auch William von Baskerville (in Ecos Der<br />

Name der Rose) benutzt für sich und seinen Adlatus<br />

das Schimpfwort »Hornochse«, als beide ihren<br />

falschen Umgang mit dem richtigen Buch<br />

entdecken. 18 Im Verlaufe unserer langen Entdeckungsreise<br />

sollte sich herausstellen, daß der<br />

<strong>Titel</strong> des Hornochsen-Traktats doppeldeutig ist,<br />

insofern er nicht nur die Methode der Interpretation<br />

meint, sondern auch die Gegenstände der<br />

Dichtung. Wenn viele unserer Autoren in ihren<br />

Werken impuristische Gegenstände kodieren,<br />

brauchen wir vielleicht wirklich einen »Vorschlag<br />

zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen<br />

der Poesie«.<br />

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Brentanos<br />

Poetik (1961). In seiner Dissertation von 1955<br />

wird HME vom Herausgeber „zuständiger Interpret“<br />

(6) genannt, und auch er selber verwendet<br />

das Wort »Interpretation« mehr als zehnmal (20,<br />

32, 44 u.ö.) ganz unbefangen für seine Arbeit.<br />

Aber schon ein paar Jahre später (beim Druck<br />

1961) entschuldigt er sich für die »immanente<br />

Methode der Interpretation« (141). Die wendet er<br />

in der damals üblichen Weise auf Brentanos<br />

Lyrik an und kommt auch ganz schulmäßig wiederholt<br />

zu der Floskel: „Die Entschlüsselung<br />

kann niemals den Sinn des Ganzen erschöpfen“<br />

(75; vgl. 34, 37, 46, 63) oder in der Variation:<br />

„Gewisse Stellen in Brentanos Gedichten widersetzen<br />

sich der Interpretation aus dem Kontext“<br />

(81). Mit solchen Sätzen und mit seiner Brentano-<br />

Deutung bleibt er im Rahmen der Hochschulweisheit,<br />

doch schon 1957 erscheint seine erste<br />

Sammlung von Gedichten, die nach der impuristischen<br />

Poetik geschrieben sind. Die literarische<br />

Technik hat er beim Studium von Brentanos Lyrik<br />

gelernt, deutet aber nur weniges an von dem,<br />

was er außerhalb des Üblichen entdeckt hat.<br />

Zunächst definiert er »Poetik« und unterscheidet<br />

dabei einen praktischen und einen theoretischen<br />

Sinn:<br />

Vom Dichter her gesehen ist Poetik die ihm eigentümliche<br />

… Art und Weise, wie er der Wirklichkeit und der<br />

Sprache dichterisch entgegentritt; sie gibt die Gesamtheit<br />

der Verfahren an, mit welchen er sein Werk aus beiden<br />

hervorgehen läßt (11).<br />

Im theoretischen Sinne ist Poetik eine Wissenschaft,<br />

eine „allgemeine Theorie der Dichtkunst“<br />

(11), und muß durch viele Einzelstudien (Hilfsarbeiten)<br />

vorbereitet sein. Unser Versuch wird<br />

dazwischen liegen, denn der Impurismus als literarisches<br />

Verfahren ist nicht einem Dichter eigentümlich,<br />

sondern geht als diachrone Strömung<br />

durch die Jahrtausende. Für eine vollständige<br />

Beschreibung dieser Poetik kann unser Versuch<br />

auch nur eine erste Hilfsarbeit sein. Poetik ist<br />

nicht gleich Weltanschauung (90), und doch hoffen<br />

wir, hinter dem Impurismus der verschiedensten<br />

Jahrhunderte ein gemeinsames Weltbild zu<br />

finden, das den Schlüssel zum Verständnis der<br />

Texte abgibt. Brentano hat ihn in der Sprache<br />

selbst gefunden, er hat „in Deutschland eine Epoche<br />

der poetischen Sprache eingeleitet, in der wir<br />

heute noch stehen“ (140). Die Romantik beschäftigt<br />

sich mit dem Gegensatz von »innerer« und<br />

»äußerer« Sprache (13):<br />

Allein die Entdeckung eines solchen Gegensatzes ist ein<br />

Ereignis ersten Ranges in der Geschichte der Poesie. Mit<br />

ihm wird die Zeugungskraft der Sprache selbst, werden<br />

die magischen Möglichkeiten, die im Wort liegen, aber<br />

auch Möglichkeit und Wirklichkeit von Sprachverschüttung<br />

und Sprachverlust entdeckt. Praktischpoetisch<br />

stellt sich damit und fortan die Suche nach einer<br />

»eigentlichen« Sprache als Aufgabe des Dichters. Was<br />

für die Sprachwissenschaft heißt: Suche nach der Ursprache<br />

der Menschheit in einer transzendenten Herkunft<br />

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