Titel Band 1 - OPUS

FRITZ KAHN: Die Milchstraße (1914). Der
gleiche Autor hat auch über andere Themen der
Naturwissenschaft (z.B. auch über die Chemie)
geschrieben und dabei manchmal so auffällig
formuliert, daß wir seine Bemerkungen als Spurentexte
verstehen: „Unter allen Erscheinungen
des Sternenhimmels mußte von frühester Zeit an
das Band der Milchstraße Geist und Phantasie des
Himmelsbetrachters am stärksten locken. Ein
Nebelweg hoch zwischen glitzernden Sternen, der
sich vom Firmament aus unerforschter Ferne
emporhebt, in schwindelnder Höhe das Land
überbrückt und jenseits hinter den Bergen, hinter
denen das Glück wohnt, geheimnisvoll versinkt
— kann etwas die Sehnsucht des Menschen mehr
reizen, den Wissensdurst des Denkers mehr entfachen?“
(10). Die Berge, hinter denen das Glück
wohnt, verstehen wir als Labia majora, und in der
Tat versinkt da die Milchstraße, die wir ähnlich in
den Mythen der Völker dargestellt finden. Kahn
fährt fort: „Die Intelligenz des Mittelalters wurde
von der Kirche aufgesogen wie das Wasser eines
Beckens von einem riesigen Schwamm, und wir
finden in ihrem Dienste alle geistigen Elemente
vom frömmsten bis zum unreligiösesten vereinigt:
kriegerische Päpste, weltlich gesinnte Kirchenfürsten,
schürzenjägerische Kardinäle, freigeistliche
Mönche, der Wissenschaft mehr als
dem Glauben huldigende Priester. Wieviel echte
Milchstraßenforscher mag es unter ihnen gegeben
haben!“ (13). Sollten etwa die Schürzenjäger die
echten Milchstraßenforscher sein? Recht doppeldeutig
sind dann auch seine Reden vom Kreislauf
der Materie, vom Erlöschen der Sterne und ihrer
Neugeburt. Das Katastrophenende führt uns zu
„höheren Erkenntnisfähigkeiten, durch die wir
tiefer einzudringen vermögen in das Rätsel der
Milchstraße, als es uns die Wissenschaft des
Menschenhirns gewährt“ (100). Allerdings dringt
man mit anderen Körperteilen als dem Hirn tiefer
in das Rad der Milchstraße ein, das am Ende von
einer Katastrophe wie der Sintflut heimgesucht
wird, trotz aller Fähigkeiten (Potenzen) der Erkenntnis
(im biblischen Sinne).
PETER RÜHMKORF: agar agar — zaurzaurim.
Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen
Anklangsnerven (1981). In diesem vergnüglich
zu lesenden Buch rechnet sich der Autor
zu den »abgebrühten Entlarvungswissenschaftlern«
(42). Er will „das letztlich erotische
Geheimnis der Reimpaarung“ (110) nicht preis-
geben, sondern nur mit dem Finger ertasten. Sein
Thema seien „paarungskundliche Erwägungen“
(110), doch habe er „keine Logengeheimnisse
auszuplaudern“ (136). Er verachtet die Germanistik,
die eine Jahrtausende alte Kunsttradition in
der Reimpoesie nicht wahrgenommen hat: „…
abgründige Zuwendungen und stille Entnahmen
allenthalben, von denen sich unsere Schulkomparatistik
so recht noch nichts träumen läßt. Und
wahrscheinlich wird sie überhaupt erst die Ohren
spitzen, wenn der schöne Elfenspuk ein für allemal
vorüber ist“ (157). Was es mit dem Titel des
Buches auf sich hat, bleibt ein Geheimnis, doch
wagen wir die Vermutung, daß der Autor mit
dem Reim die (doppelt gedachte) Clitoris meint
und mit den reimenden Versen die Labia minora.
Dann versteht man z.B. diesen Text:
Das aber hieße, daß der Reim — als Eck- und Angelpunkt
des Verses — gleichzeitig ein Gleichgewichtsorgan
und einen Disproportionsanzeiger darzustellen
hätte, einen Peacemaker und einen Unruhstifter, einen
Beschwörungsort und eine Beschwerdestelle, was seiner
doppelten Abkunft ganz genau entspricht. Auf fraglos
gewonnene Wiederholungswonnen gegründet, aber zu
einem eigenen bewußten Sein erst erwacht in einer kindlichen
Aufklärperiode, hält er als bleibender Glaubensanker
her wie auch als Stein des Anstoßes, ein Widerspruch,
der sich immer wieder neu als Coincidentia
Oppositorum zu fassen sucht (109).
Daß der Reim seine Herkunft im Lustprinzip hat,
geht aus folgendem Sachtext gut hervor:
Einer allerletzten Wahrheit zuliebe muß ich nämlich unseren
ganzen gesammelten Ernst noch einmal wieder in
Frage stellen und auf jenen Rest von Narretei und Gaukelwesen
zu sprechen kommen, der dem Reim anhängt
wie eine unabschüttelbare Mitgift seiner zwiegebackenen
Natur. Wo er notgedrungen in die Rolle des
Entfremdungszeugen springt, bleibt er dennoch das geborene
Lustgeschöpf, das Geist von seinem Geist verbreitet
sehen möchte und Mitempfinden in seinem eigenen
komödiantischen Sinn. Selbst dann, wenn man aus
den Reibgeräuschen einer Mesalliance schon das Knirschen
der Weltenesche, Ächzen der Höllenpforten herauszuhören
meint, nimmt man es doch mit einem niederträchtigen
Lustempfinden zur Kenntnis (111f.).
In der vergnüglichen Paarung von zweimal zwei
deckungsgleichen Silben sieht Rühmkorf einen
Paarungsakt (39). Dabei ist der Reim nur ein besonders
auffälliger Teil der Literatur: „Was mir
zu beweisen wichtig scheint, ist nur, daß Literatur
nicht bloß eine Formsache, sondern ein von magischen
Vorstellungen noch und noch durchsetztes
Zauberreich ist“ (18). Er sieht den Reim in
der Rolle des Spielregelrichters: „Wo der Reim
allgemein der Gesellung dient, so hat er doch
auch mit der öffentlichen Verkehrsregelung zu
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