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Titel Band 1 - OPUS

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Ich beschloß, trotz des literarischen und methodischen<br />

Spielcharakters des ganzen Buches solche<br />

Funde als Spuren zu verstehen, die ein Eingeweihter<br />

bewußt legt, damit irgendwann irgendjemand<br />

auf den Impurismus stößt und Argumente<br />

findet. Einmal erklärt er ein »Nadelgedicht«<br />

(349) und führt die Methode gleich darauf an<br />

einem Kryptogramm vor (350f.): In einem beliebigen<br />

Text werden durch aufgesetzte Nadeln<br />

bestimmte Buchstaben gekennzeichnet, die man<br />

als zweiten Text lesen kann. Mit verschiedenfarbigen<br />

Nadeln (im Druck sind es farbige Striche)<br />

lassen sich sogar gleichzeitig verschiedene<br />

Sprüche verstecken, hier von Novalis, Marx und<br />

Mirabeau, letzterer derb sexuellen Charakters,<br />

wenn man die Sache entschlüsselt. Simon Singh<br />

nennt das die »Nadelstich-Verschlüsselung« 19 ,<br />

weil man auch unter bestimmte Buchstaben des<br />

Dokuments winzige Löcher stechen kann, so daß<br />

diese Buchstaben, hintereinander gelesen, einen<br />

Geheimtext ergeben. Mit ähnlichen Verfahren,<br />

geheime Texte zu verstecken, müssen wir bei<br />

unseren Analysen rechnen und achten also bei<br />

allem Spiel auf den philologischen Ernst hinter<br />

der verfremdeten Sprache: kodierte Wörter und<br />

chiffrierte Zeichen.<br />

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Die Entstehung<br />

eines Gedichts (1962). In diesem Vortrag<br />

knüpft HME bei Poe an und gibt manche nützliche<br />

Erklärung: „Ein poetischer Text ist nicht<br />

mehr als das, was er enthält. Deshalb kann er<br />

immer nur aus sich selber verständlich sein oder<br />

gar nicht. Jede Erläuterung, die von außen<br />

kommt, und wäre es vom Poeten selber, ist unnütz,<br />

ja ärgerlich. Der Verfasser, der sein Produkt<br />

selber kommentiert, spricht sich sein eigenes<br />

Urteil, wenn er das Gedicht aus der poetischen in<br />

eine andere Sprache rückübersetzt“ (56f.). Hier<br />

scheint er eine »textimmanente Interpretation«,<br />

von außen kommend, für einen möglichen Zugang<br />

zu halten, doch haben wir gehört, wie er<br />

später gegen jede Interpretation polemisiert. Deshalb<br />

müssen wir bei unseren Analysen eine Art<br />

von Dekodierung anwenden, die hinter die Wörter<br />

schaut. Seine Gedichte sind kunstvoll gemacht,<br />

wie schon Poe betonte: „Meine Absicht<br />

geht dahin, zu zeigen, daß sich keine einzige Stelle<br />

dieses Gedichts dem Zufall oder der Inspiration<br />

verdankt, daß es vielmehr, Vers für Vers, mit<br />

derselben Genauigkeit und Logik aufgebaut ist<br />

wie die einzelnen Sätze eines mathematischen<br />

Beweises“ (59). Die Wörter werden kalkuliert<br />

und montiert, es kommt genau auf das richtige<br />

Wort an der richtigen Stelle an, der Autor legt es<br />

auf die »Apothekerswaage« (74) und nimmt das<br />

Wort beim Wort: „Der Schreiber des Textes verwendet<br />

das Wort … nicht in seinem terminologischen<br />

Verstand … er nimmt es buchstäblich, er<br />

nimmt es beim Wort, er zitiert es gewissermaßen“<br />

(67). Dazu macht er sich gern eine Wortliste zur<br />

Auswahl: „Das gesuchte Wort muß mehrere Bedingungen<br />

erfüllen: Silbenzahl, phonetische Werte,<br />

Bildlichkeit, semantische Repräsentanz und<br />

womöglich Mehrwertigkeit, Polyvalenz; die letztere<br />

ist zugleich jene, die am schwersten zu erfüllen<br />

ist. Mehrwertig ist eine Vokabel dann, wenn<br />

sie es erlaubt, mehr als eine Beziehung zum gegebenen<br />

Text herzustellen“ (76). Im Zweifelsfalle<br />

werden wir also immer dicht beim Wort bleiben<br />

und finden müssen, wie es eine Stelle im syntaktischen<br />

Gitter füllt. Wenn HME über die<br />

Entwicklung der Einzelheiten im Gedicht „an alle<br />

fernsprechteilnehmer“ berichtet, verrät er natürlich<br />

nichts von dem, was wir vor allem wissen<br />

wollen, im Gegenteil: Er bessert ohne Begründung<br />

oder mit falscher Begründung, z.B. sei dies<br />

ein »schiefes Bild«: „etwas zähes …, davon die<br />

sanatorien sich wie segel aufblähn.“ Er ändert den<br />

Vergleich in eine Katachrese: „etwas, das keine<br />

farbe hat, bläht / die blutigen segel der hospitäler.“<br />

Es handelt sich da um ein Haus, das nicht<br />

unbedingt heilt (‘sanare’), aber Gäste (‘hospes’)<br />

beherbergt. Ursprünglich konnte sich das Haus<br />

»aufblähen«, jetzt besitzt es »blutige segel«, die<br />

von etwas Farblosem gebläht werden. Besonders<br />

aus solch auffälligem Wortgebrauch haben wir<br />

anfangs auf die Gegenstände der Gedichte<br />

geschlossen.<br />

INGEBORG BACHMANN: Frankfurter Vorlesungen:<br />

Probleme zeitgenössischer Dichtung<br />

(1959/60; Druck 1982). Aus diesem Text blieb<br />

mir eine Stelle unvergessen, an der die Autorin<br />

über William Faulkners Roman Schall und Wahn<br />

(The Sound and the Fury, 1929, dt. 1956) spricht.<br />

Schon bei Joyce stellte sie „Namensverweigerung,<br />

Namensironisierung, Namensspiel mit und<br />

ohne Bedeutung, die Erschütterung des Namens“<br />

(75) als Eigenart fest. Faulkner habe diesen Punkt<br />

radikalisiert und den Leser beim Griff nach den<br />

Namen im Stich gelassen:<br />

Da gibt es zweimal den Namen Caddy, einmal mit y geschrieben,<br />

einmal mit ie: zweimal den Namen Jason,<br />

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