Mediendienst 4 - CARITAS - Schweiz
Mediendienst 4 - CARITAS - Schweiz
Mediendienst 4 - CARITAS - Schweiz
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Mediendienst</strong> 15<br />
24. November 2011<br />
Kommentar zu den Parlamentswahlen<br />
Mitte gestärkt, nicht aber die Sozialpolitik<br />
Hugo Fasel<br />
Schutz für Pflegebedürftige und Pflegende erforderlich<br />
Wachsender Pflegebedarf verursacht Care-Migration<br />
Beat Vogel<br />
An der Armutsgrenze ist die Wohnsituation immer häufiger problematisch<br />
Prekäre Wohnsituationen bedeuten permanenten Stress<br />
Pascale Grange<br />
Grüne Wirtschaft als Erneuerung der Nachhaltigen Entwicklung?<br />
Von Rio nach Rio in zwanzig Jahren<br />
Geert van Dok<br />
Der <strong>Mediendienst</strong> der Caritas <strong>Schweiz</strong> ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung.<br />
Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.<br />
Download als PDF unter www.caritas.ch/mediendienst (nicht öffentlich zugänglich)
Kommentar zu den Parlamentswahlen<br />
- 2 -<br />
Mitte gestärkt, nicht aber die Sozialpolitik<br />
Die Grünliberalen haben gewonnen, die BDP auch, die SP machte mehr Sitze, aber weniger<br />
Prozente, die Mitte ist breiter und unbekannter, die SVP ist gestolpert. Dies sind in Kürzestform<br />
die Ergebnisse der Wahlen 2011. Was erwartet uns sozialpolitisch? Sind die Sitzverluste der<br />
SVP und der FDP ein Zeichen sozialpolitischer Aufhellung? Werden Armut und Verteilungspolitik<br />
den Weg auf die politische Agenda im Bundeshaus leichter finden als in der Vergangenheit?<br />
Die sozialpolitisch relevanten Verluste der Rechtsparteien machen rund 15 Stimmen aus. Dies lässt die<br />
Hoffnung aufkommen, soziale Fragen hätten im neuen Parlament bessere Chancen. Allerdings, wie<br />
verhalten sich die neuen Gewinnerinnen und Gewinner? Das Bild ist diffus, und die Unsicherheit<br />
gross. Denn Grünliberale und BDP haben wenig Vergangenheit, eine präzise Einschätzung ist schwierig.<br />
Ein paar Indikatoren sind jedoch verfügbar: Mehrere gewählte Grünliberale haben in ersten Stellungnahmen<br />
darauf verwiesen, dass sie auf den Markt als Problemlöser vertrauen und den Sozialstaat<br />
einschränken möchten. Diese Einschätzung lässt sich auch aus den Ergebnissen der Online-Wahlhilfe<br />
„smartvote“ ablesen.<br />
Weniger „Gleichmacherei“?<br />
Auch die BDP ist schwierig einzuschätzen. Sie hat sich bisher kaum mit aktiver Sozialpolitik profiliert.<br />
Und im Wahlkampf haben weder Grünliberale noch BDP die Sozialpolitik oder gar die Armut<br />
zum Thema gemacht. Unsicherheiten bestehen aber auch auf Seiten der Grünen; einige sozialpolitisch<br />
sehr engagierte Frauen wurden abgewählt. Und Nationalrat Bastien Girod zieht aus der Wahlschlappe<br />
die Schlussfolgerung, dass die Grünen künftig weniger „Gleichmacherei à la SP“ machen sollen. Das<br />
ist unverzeihlich naiv.<br />
Sozialpolitische Anliegen brauchen Beachtung<br />
Es erwartet uns also sehr viel Arbeit. Die Sitzverluste zur Rechten bedeuten nicht automatisch einen<br />
Zugewinn für die sozialpolitisch sensibilisierten Kräfte. Die Ökologie, so bedeutsam sie ist, scheint<br />
eher zu Lasten der Sozialpolitik als zu Lasten der neoliberalen Ideologie zu gehen. Damit ist auch<br />
unsere Aufgabe klar: Wir müssen die sozialpolitischen Herausforderungen – Armut halbieren, soziale<br />
Integration, Kampf gegen den Abbau der Sozialwerke – rasch an die neuen Mitglieder von National-<br />
und Ständerat herantragen. Aufklärung tut Not. Nur so haben wir eine Chance, die Sozialpolitik, insbesondere<br />
die Verteilungsfrage, auf die politische Agenda des Bundeshauses zu setzen. Die Armutsthematik<br />
muss offensiv kommuniziert werden, und dies in vielfacher Wiederholung. Dies ist nur zu<br />
machen, wenn alle sozialpolitisch engagierten Organisationen konzertiert auf die Parlamentarierinnen<br />
und Parlamentarier zugehen.<br />
Hugo Fasel, Direktor Caritas <strong>Schweiz</strong>, E-Mail hfasel@caritas.ch, Tel. 041 419 22 18<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
- 3 -<br />
Schutz für Pflegebedürftige und Betreuende erforderlich<br />
Wachsender Pflegebedarf verursacht Care-Migration<br />
Für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen in der <strong>Schweiz</strong> werden zunehmend Betreuerinnen<br />
aus Niedriglohnländern angestellt. Dies geschieht oft in einem arbeitsrechtlichen Graubereich.<br />
Für die Sicherheit der pflegedürftigen Menschen aber auch zum Schutz der ausländischen<br />
Betreuerinnen braucht es deshalb faire Anstellungsbedingungen.<br />
Wenn heute in der <strong>Schweiz</strong> 125‘000 pflegebedürftige ältere Menschen leben, dürften es 2030 gemäss<br />
dem <strong>Schweiz</strong>erischen Gesundheitsobservatorium Obsan 170‘000 bis 230‘000 sein. Da mehr Menschen<br />
ein sehr hohes Alter erreichen, wird auch die Zahl Demenzkranker steigen. Rund zwei Drittel<br />
von ihnen werden heute zu Hause betreut. Mit dem Trend „ambulant vor stationär“ wird vor allem die<br />
Nachfrage nach Betreuung zu Hause steigen. Der Eintritt ins Alters- und Pflegeheim erfolgt immer<br />
später.<br />
Pflegende Angehörige stehen vor der Herausforderung, ihre Eltern zu betreuen und gleichzeitig berufstätig<br />
zu sein. Sie suchen deshalb nach Alternativen, wie das folgende Beispiel zeigt. Maria Hauser<br />
(Name geändert) lebt nach dem Tod ihres Mannes alleine in ihrem Haus auf dem Land. Wegen einer<br />
Herzkrankheit und zunehmenden Gehschwierigkeiten kann sie den Haushalt immer schlechter alleine<br />
führen. Die Spitex kommt zwar täglich für die Medikamente und das Anziehen der Stützstrümpfe,<br />
sonst ist Maria Hauser aber mehrheitlich alleine. Sie kocht nicht mehr richtig und zieht sich immer<br />
mehr zurück. Nach einem Sturz organisiert ihre Tochter den Eintritt ins Pflegeheim. Maria Hauser ist<br />
dort unglücklich und läuft mehrmals weg. Deshalb nimmt die Tochter via Internet mit einer Agentur<br />
Kontakt auf, um für ihre Mutter eine 24-Betreuung zu Hause mit Migrantinnen aus Polen zu organisieren.<br />
Die über die Krankenkasse abrechenbare Pflege kann durch die Spitex abgedeckt werden. Bei der<br />
Haushaltarbeit und der Betreuung hingegen ist die öffentliche Spitex ein zu teurer Anbieter. Deshalb<br />
nahm dieser Bereich in den vergangenen Jahren stark ab. In diese Lücke springen immer mehr private<br />
Agenturen, die ausländisches Personal zu sehr günstigen Bedingungen vermitteln, allerdings oft in<br />
einem rechtlichen Graubereich. Auch Spitäler und Pflegeheime arbeiten zunehmend mit Personal aus<br />
den neuen EU-Ländern. Grund dafür ist der Mangel an Pflegekräften für diese anspruchsvolle, aber in<br />
der Öffentlichkeit wenig geschätzte Tätigkeit.<br />
Legitimes Bedürfnis, im Westen gutes Geld zu verdienen<br />
Care-Migrantinnen aus Niedriglohnländern suchen oft eine Arbeit, um Geld zu verdienen für den Unterhalt<br />
und die Ausbildung ihrer Kinder. Da in diesen Ländern kein Sozialstaat (mehr) vorhanden ist,<br />
möchten sie für ihre Familien soziale Sicherheit oder faire Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen.<br />
Nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch tiefe Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen<br />
sind Gründe für den Wegzug. Heute kommen vor allem Betreuerinnen aus Polen,<br />
Tschechien und Rumänien in die westeuropäischen Länder. Ihr Ziel ist nicht die dauernde Abwanderung,<br />
sondern die Verbesserung der Lebenssituation zu Hause: Sie gehen für einige Monate weg, um<br />
für den Rest des Jahres zu Hause bleiben zu können. Aus der Arbeitsmigration entsteht für die osteuropäischen<br />
Länder ein beachtlicher Rückfluss an finanziellen Mitteln.<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
Grosse Unterschiede in Europa<br />
- 4 -<br />
Innerhalb der Zielländer bestehen grosse Unterschiede in Bezug auf Anstellungsbedingungen von<br />
Care-Migrantinnen. Während pflegebedürftige Menschen in Nordeuropa von einem klaren Anspruch<br />
auf staatliche Betreuung ausgehen können, sind pflegende Angehörige in Italien auf sich selber gestellt.<br />
Dies begünstigt die Anstellung von illegal beschäftigten Haushalthilfen. Schätzungen gehen<br />
davon aus, dass allein in Italien eine halbe Million Betreuungspersonen aus Rumänien tätig sind.<br />
In den deutschsprachigen Ländern herrscht eine Mischform: Für fachliche Pflege ist zwar gesorgt,<br />
Betreuung und Haushaltarbeiten sind aber selber zu finanzieren. Das kürzlich erschienene Obsan-<br />
Dossier zeigt, dass die <strong>Schweiz</strong> eines der Länder mit der höchsten privaten Kostenbeteiligung im Gesundheitswesen<br />
ist, dies vor allem in der Langzeitpflege. In den Pflegeheimen steigen die Tarife für<br />
die Betreuung mit der neuen Pflegefinanzierung stark an. Deshalb suchen immer mehr Betroffene<br />
nach einer Alternative.<br />
Gerechte Care-Migration<br />
Der Anstieg von illegal beschäftigten Migrantinnen in Privathaushalten hat in Österreich zu einer Gesetzesänderung<br />
geführt. Sie gelten heute als Selbstständigerwerbende. In der <strong>Schweiz</strong> ist diese Entwicklung<br />
aber unwahrscheinlich. Es geht also darum, faire Anstellungsbedingungen zu schaffen und<br />
durchzusetzen. In Zusammenarbeit mit dem europäischen Caritas-Netz prüft Caritas <strong>Schweiz</strong> deshalb,<br />
wie eine gerechte Vermittlung von Care-Migrantinnen praktiziert werden könnte. Dies auf drei Ebenen:<br />
Zur Sicherheit der pflegedürftigen Menschen, zum Schutz der ausländischen Betreuerinnen, aber<br />
auch zur Minderung der negativen Folgen für die Familien im Herkunftsland.<br />
Beat Vogel, Leiter Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase, Caritas <strong>Schweiz</strong>,<br />
E-Mail: bvogel@caritas.ch, Tel. 041 419 22 74<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
- 5 -<br />
An der Armutsgrenze ist die Wohnsituation immer häufiger problematisch<br />
Prekäre Wohnsituationen bedeuten permanenten Stress<br />
Caritas Zürich hat bei verschiedenen Non-Profit-Organisationen in Zürich nachgefragt, wie es<br />
um die Wohnsituationen ihrer Klientinnen und Klienten steht. Die kurz gefasste Antwort war:<br />
„fatal“. Immer mehr Menschen leben in prekären Wohnsituationen – sie können ihre Miete<br />
nicht mehr bezahlen, finden keine Wohnung, haben Schulden oder wissen ganz einfach nicht, wo<br />
sie in den nächsten Monaten schlafen können.<br />
Mit anderen Non-Profit-Organisationen (NPOs) im Kanton Zürich – Mütterhilfe, Pro Senectute Kanton<br />
Zürich, Pro Juventute Kanton Zürich und der Stiftung Domicil – stellt Caritas Zürich fest, dass im<br />
Rahmen der Klientinnen- und Klientenberatung immer wieder ähnliche Probleme bezüglich Wohnen<br />
auftauchen. Sowohl Anfragen für Wohnvermittlung, für Unterstützung bei der Wohnungssuche als<br />
auch für Mietzins- und Mietzinsdepotübernahmen häufen sich. Adäquat auf diese gestiegenen Anfragen<br />
zu reagieren und die Hilfesuchenden in diesen Belangen zufriedenstellend zu unterstützen, stellt<br />
alle NPOs vor grosse Herausforderungen. Denn im Kanton Zürich leben rund 100'000 Menschen an<br />
der Armutsgrenze.<br />
Steigende Kosten, erschwerte Wohnungssuche<br />
Die Gründe warum eine Wohnsituation unhaltbar ist, sind sehr unterschiedlich. Sie reihen sich ein in<br />
die komplexen Ereignisketten des Lebens. Die Geburt eines Kindes, die Trennung von der Partnerin<br />
oder der Umzug des Partners ins Pflegeheim wirken sich auf die benötigte Zimmerzahl sowie auf die<br />
finanziellen Möglichkeiten aus. Ebenso kann sich die Anforderung an eine Wohnung durch das Älterwerden<br />
oder nach einem Umfall verändern. Auch wenn die Wohnung schlecht gegen Kälte oder Lärm<br />
isoliert oder von Schimmel befallen ist, ist ein Wohnungswechsel wünschenswert. Wenn jemand ein<br />
kleines Budget und weitere Handicaps wie Einträge im Betreibungsregister hat, ist ein Wohnungswechsel<br />
aber oft nicht möglich. Die Wohnungssuche ist anspruchsvoll und nervenzehrend.<br />
Die in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegenen Wohnkosten bedeuten für armutsbetroffene Menschen<br />
oft eine grosse Belastung und bergen dementsprechend ein Schuldenrisiko. Wohnraum zu finden,<br />
der die maximalen Mietansätze der Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe und des betreibungsrechtlichen<br />
Existenzminimums nicht übersteigt, gestaltet sich schwierig. Dies hat zur Folge, dass ein Teil der<br />
Miete aus dem Beitrag für die allgemeine Lebensführung bezahlt werden muss und den Betroffenen<br />
dann noch weniger bleibt.<br />
Eine Möglichkeit die Wohnkosten zu senken, ist der Umzug in ein günstigeres Quartier oder aufs<br />
Land. Öffentliche wie private Unterstützungsmöglichkeiten variieren jedoch je nach Gemeinde. Ein<br />
Umzug kann dazu führen das Beratungsangebote nicht mehr in Anspruch genommen werden können<br />
und Sozialleistungen geringer ausfallen. Dasselbe gilt zum Beispiel für ausserschulische Betreuungsangebote<br />
oder Gesundheitseinrichtungen.<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
- 6 -<br />
Die soziale Verankerung im Quartier ist insbesondere für Menschen in fortgeschrittenem Alter, für<br />
Familien mit schulpflichtigen Kindern und bei neu ankommenden Migranten und Migrantinnen sehr<br />
wichtig. Quartier- und Wohnortwechsel destabilisieren und können sich negativ auf die Partizipation<br />
und Integration auswirken. Eine vertraute Wohnlage hingegen schafft Vertrauen und unterstützt die<br />
Selbstständigkeit.<br />
Drei Massnahmen für fairen Zugang<br />
Eine befriedigende Wohnsituation ist für alle Menschen zentral. Eine gute und stabile Wohnsituation<br />
unterstützt die soziale Integration in allen Bereichen. Caritas Zürich setzt sich darum für bezahlbare<br />
Wohnungen ein und macht sich stark für eine Gesellschaft, in der auch arme Menschen ein Dach über<br />
dem Kopf finden. Mit drei Massnahmen kann dies gelingen: Erstens befürwortet Caritas Zürich subventionierten<br />
Wohnraum, wie ihn Genossenschaften bieten. Wohnungen, die einkommensgebunden<br />
und damit für wenig Verdienende reserviert sind. Es gilt, Anreize zu schaffen, damit mehr solche<br />
Wohnungen auf den Markt kommen.<br />
Zweitens sieht Caritas Zürich in der subjektbezogenen Wohnbeihilfe eine Möglichkeit, das Haushaltsbudget<br />
armutsbetroffener Menschen zu entlasten. Dies als kurzfristige Unterstützung, damit zu hohe<br />
Mietzinsen nicht zu Schulden führen.<br />
Drittens begrüsst Caritas Zürich ein Sozialmanagement in den Immobilienverwaltungen. Diese können<br />
damit Mietschulden, Fluktuationen oder Leerstände vermeiden und würden gleichzeitig armen Menschen<br />
den Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtern.<br />
Wohnraum soll die Möglichkeit zu Rückzug und Erholung bieten und keine zusätzliche Belastung<br />
sein. Eine befriedigende und adäquate Wohnsituation ist zentral für das Wohlergehen und unterstützt<br />
die soziale Integration.<br />
Autorin: Pascale Grange, Grundlagen Caritas Zürich<br />
Kontakt: Ariel Leuenberger, Public Relations, Caritas Zürich, E-Mail: a.leuenberger@caritaszuerich.ch,<br />
Tel. 044 366 68 61<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
- 7 -<br />
Grüne Wirtschaft als Erneuerung der Nachhaltigen Entwicklung?<br />
Von Rio nach Rio in zwanzig Jahren<br />
Im Juni 2012 gibt sich die Staatengemeinschaft beim UN-Gipfel „Rio+20“ ein Stelldichein und<br />
hat dabei Grosses im Sinn: Dem Konzept der Nachhaltigen Entwicklung von 1992 soll neues<br />
Leben eingehaucht und mit klaren institutionellen Rahmenbedingungen gestärkt werden. Dazu<br />
will man eine „grüne Wirtschaft“ auf den Weg bringen. Doch was darunter in Rio zu verstehen<br />
sein wird, darüber wird heftig gestritten.<br />
Nicht alle mögen sich erinnern: Vor 25 Jahren entwarf die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung<br />
(„Brundtland-Kommission“) das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, verstanden als eine<br />
„Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen<br />
ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Damit verknüpft war die Nachhaltigkeitstriade<br />
der gesellschaftlich-sozialen Verantwortung, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und<br />
der ökologischen Verträglichkeit, wobei jedes der drei Felder bestimmten Zielen verpflichtet sei, die<br />
es zu einem Ganzen zu verbinden gelte.<br />
Rio 1992<br />
Fünf Jahre später, im Juni 1992, lud die UN zur Konferenz über Umwelt und Entwicklung, kurz „Erdgipfel“,<br />
nach Rio. Sie fiel in eine Zeit, da die Welt sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems<br />
aufmachte, die globalen Probleme anpacken zu wollen, es war die Zeit der grossen Weltkonferenzen.<br />
Die Staatengemeinschaft zeigte sich vom Brundtland-Konzept der Nachhaltigen Entwicklung beeindruckt<br />
und beschloss in Rio die ambitiöse „Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung“ in Verbindung<br />
mit dem entwicklungs- und umweltpolitischen Aktionsprogramm „Agenda 21“, dazu die<br />
Wald-Deklaration sowie die Klimarahmen- und die Biodiversitätskonvention. Im Weiteren wurde eine<br />
Kommission für Nachhaltige Entwicklung (CSD) damit betraut, die Umsetzung der Agenda 21 auf<br />
lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu überwachen, politische Optionen und Richtlinien für<br />
die Folgekonferenzen zu erarbeiten und Dialogprozesse zwischen Regierungen, internationaler Staatengemeinschaft<br />
und Zivilgesellschaft aufzubauen und zu vertiefen. Allerdings verpasste man es, die<br />
CSD mit griffigen Instrumenten auszustatten, die sie in die Lage versetzt hätten, ihre Aufgaben auch<br />
gegen politische Widerstände wahrzunehmen.<br />
Politische Euphorie ist bisweilen kurzlebig, die Aufbruchsstimmung der frühen 90er Jahre verflüchtigte<br />
sich zusehends. So brachten die Rio-Nachfolgekonferenzen in New York (1997) und Johannesburg<br />
(2002) kaum Neues, waren eher Durchhalteübungen zur Verhinderung von Rückschritten zu Rio, waren<br />
Gipfel unverbindlicher Absichtserklärungen. Hinzu kam, dass das Nachhaltigkeitskonzept mehr<br />
und mehr seine fehlende programmatische Schärfe und geringe politische Anziehungskraft offenbarte.<br />
Rio 2012<br />
Doch angesichts der sich zuspitzenden Wirtschafts-, Klima-, Energie-, Armuts- und Hungerkrisen kam<br />
die UN-Generalversammlung 2009 zum Schluss, es brauche einen neuen Wind, und sie berief für Juni<br />
2012 die UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (UNCSD) ein, kurz „Rio+20“, symbolträchtig<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011
- 8 -<br />
an jenem Ort, wo die Agenda 21 der nachhaltigen Entwicklung einst beschlossen worden war. An der<br />
Konferenz solle das politische Engagement für nachhaltige Entwicklung erneuert, die anhaltenden<br />
Probleme bei der Umsetzung bereits beschlossener Ziele erfasst und überwunden sowie neue und entstehende<br />
Herausforderungen benannt und angegangen werden. Zwei Themen werden im Zentrum<br />
stehen: (1) eine „grüne Wirtschaft“ im Kontext nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung,<br />
(2) die institutionellen Rahmenbedingungen nachhaltiger Entwicklung.<br />
Mit „Grüner Wirtschaft“ verknüpfen viele Akteure den Trend hin zu ökologisch sauberen Technologien<br />
und erneuerbaren Energien. Industrieländer und die OECD plädieren denn auch für eine „grüne<br />
Wachstumsstrategie“ in der bestehenden Wirtschaftsordnung, womit die Armutsbekämpfung aussen<br />
vor zu bleiben droht. Auch das UN-Umweltprogramm UNEP favorisiert eine „ökologische Marktwirtschaft,<br />
in der Wachstum und nachhaltiger Umweltschutz nicht im Widerspruch stehen“. Es entstünden<br />
so Arbeitsplätze und Fortschritt, während beispielweise die Folgen des Klimawandels und die zunehmende<br />
Wasserknappheit „beträchtlich verringert“ würden. Eine ökologische Marktwirtschaft würde<br />
auch die Armut verringern – ein beachtlicher Spagat, der sich in der Vergangenheit als wenig erfolgreich<br />
erwiesen hat.<br />
Nachhaltige Entwicklungsziele<br />
Kein Wunder also, hat „grüne Wirtschaft“ von Beginn an erhebliche Irritationen hervorgerufen. Regierungen<br />
und zivilgesellschaftliche Akteure der Entwicklungsländer gehen auf Distanz: Sie befürchten<br />
eine weitere Ökonomisierung der Natur, bei der die gesellschaftliche Dimension völlig in den Hintergrund<br />
gedrängt werde, das heisst eine Zementierung der bestehenden globalen Ungleichheiten. Es<br />
gebe keinen Grund, nicht am Konzept der Nachhaltigen Entwicklung festzuhalten: Dies sei und bleibe<br />
der richtige Weg für Armutsbekämpfung und Prosperität der Entwicklungsländer. Nur müsse das<br />
Konzept griffiger gestaltet und umgesetzt werden. Seit geraumer Zeit liegt denn auch von dieser Seite<br />
ein Vorschlag auf dem Tisch, in Rio sollten „Nachhaltige Entwicklungsziele“ (SDG) mit klaren,<br />
messbaren Teilzielen, Indikatoren und Instrumentenverabschiedet werden, analog den „Millenniums-<br />
Entwicklungszielen“ von 2000. Ursprünglich von Kolumbien eingebracht, wird der Vorschlag heute<br />
von zahlreichen Entwicklungsländern und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt.<br />
Doch unabhängig davon, welche Terminologie in Rio letztlich mehrheitsfähig sein wird: Es ist im<br />
Grundsatz unbestritten, dass die Wirtschaft zur Überwindung der globalen Krisen global vergrünt<br />
werden und gleichzeitig an der „Nachhaltigen Entwicklung“ festgehalten werden muss. Ob aber<br />
„Rio+20“ einst als Meilenstein im Kampf gegen Armut und Hunger eingehen wird – ein Fragezeichen<br />
sei erlaubt. Die UN kann ja schon einmal vorsorglich eine Folgekonferenz „Rio+40“ ins Auge fassen.<br />
Geert van Dok, Leiter Fachstelle Entwicklungspolitik, Caritas <strong>Schweiz</strong>, E-Mail gvandok@caritas.ch,<br />
Tel. 041 419 23 95<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, <strong>Mediendienst</strong> 15, 24. November 2011