Scientia Halensis 2 (2007) - Martin-Luther-Universität Halle ...
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U NIVERSITÄTSGESCHICHTE<br />
SCIENTIA HALENSIS 2/07<br />
»Anfangsgründe aller Mathematik ...«<br />
Die ersten Vorlesungen von Christian Wolff 1707 in <strong>Halle</strong><br />
J ÜRGEN STOLZENBERG<br />
»Als ich nach <strong>Halle</strong> kam gegen des Ende des 1706ten Jahres fand ich den Zustand anders, als<br />
ich ihm gewünscht hätte. Die Mathematick war eine unbekannte und ungewohnte Sache, von<br />
der Solidität hatte man keinen Geschmack und in der Philosophie dominierte H. Thomasius,<br />
dessen Sentiment aber und Vortrag nicht nach meinem Geschmack waren.« (Christan Wolff:<br />
Biographie, Hildesheim 1980, Seite 146)<br />
So erinnert sich Christian Wolff in seiner Autobiographie an seine ersten <strong>Halle</strong>nser Jahre. An<br />
die <strong>Universität</strong> <strong>Halle</strong> war Wolff Anfang November 1706 als ordentlicher Professor für Mathematik<br />
berufen worden. In der von König Friedrich Wilhelm I. mit Datum vom 2. November<br />
1706 eigenhändig unterschriebenen und mit dem »Königl. Gnadensiegel« versehenen Bestallungsurkunde<br />
für Christian Wolff heißt es:<br />
»...nachdem zeithero die Professio Mathematices ordinaria in Facultate Philosophica auf<br />
unserer <strong>Universität</strong> zu <strong>Halle</strong> nicht besetzet gewesen, und uns Christian Wolf, wegen seiner<br />
Erudition, Capacität in Mathematicis und guten Qualitäten allerunterthänigst gerühmet worden<br />
[…] sind wir dannenhero bewogen worden, ermeldten Wolf zum Professore Matheseos bey<br />
unserer <strong>Universität</strong> zu <strong>Halle</strong> anzunehmen und zu bestellen.« (ebenda, Beilagen, Seite 6)<br />
Die »allerunterthänigste« Empfehlung ging vor allem auf Leibniz zurück, der Wolffs Habilitationsschrift<br />
»Über allgemeine praktische Philosophie« und insbesondere seine frühen mathematischen<br />
und astronomischen Studien kannte und schätzte.<br />
Wolffs Berufung war ein wissenschafts- und<br />
universitätspolitisch bedeutsamer Schritt:<br />
Christian Wolff war der erste, der die Physik<br />
aus der Domäne der Medizin befreite, als<br />
deren Anhängsel sie bisher betrachtet und in<br />
<strong>Halle</strong> von Medizinern wie Friedrich Hoffmann<br />
und Ernst Georg Stahl gelehrt wurde.<br />
Wolff nahm seine Vorlesungstätigkeit an der<br />
Fridericiana mit Beginn des Sommersemesters<br />
1707 auf. Für dieses Semester kündigte<br />
er, wie dem gedruckten Lektionskatalog zu<br />
entnehmen ist, eine öffentliche Vorlesung<br />
über Hydraulik um 9 Uhr vormittags an<br />
(siehe Faksimile rechts), sodann eine private,<br />
d. h. nur gegen Entrichtung eines Hörergeldes<br />
zu besuchende Vorlesung über weltliche<br />
und sakrale Baukunst und über Mechanik<br />
und schließlich eine Vorlesung über die dafür<br />
notwendigen Grundlagen der Arithmetik und<br />
Geometrie. Darüber hinaus, so ließ Wolff<br />
seine künftigen Zuhörer wissen, werde er<br />
auch die mathematische Methode darstellen,<br />
um damit insbesondere zu zeigen, auf welche<br />
Weise sie in allen erdenklichen Disziplinen<br />
angewendet werden könne, um sowohl verborgene<br />
Wahrheiten aufzusuchen als auch zur<br />
Beurteilung der gefundenen Wahrheiten und<br />
deren stimmige Anordnung anzuleiten.<br />
D IE MATHEMATISCHE METHODE ...<br />
... war in der universitären Landschaft ein<br />
Novum. Ihre Anwendung auf alle wissenschaftlichen<br />
Disziplinen – und das heißt: der<br />
streng axiomatische Aufbau der Theorien, die<br />
sorgfältige Defi nition aller operativen Begriffe<br />
und der unter Verwendung der Axiome<br />
und Defi nitionen konstruierte argumentative<br />
Zusammenhang aller Lehrsätze und ihrer<br />
Beweise –, das war das Innovative, sozusagen<br />
das Markenzeichen, unter dem Wolff in <strong>Halle</strong><br />
auftrat. Und das ist auch der Hintergrund, vor<br />
dem Wolffs rückblickende kritische Beschreibung<br />
der Situation an der <strong>Universität</strong> <strong>Halle</strong><br />
und insbesondere seine spitze Bemerkung zu<br />
Christian Thomasius’ »Sentiment und Vortrag«,<br />
dessen Vorlesungen ganz auf eine populäre<br />
und pragmatisch-praktische Darstellung<br />
angelegt waren, zu sehen sind.<br />
Auch in den folgenden Semestern las Wolff<br />
über Mathematik, genauer muss man sagen,<br />
über reine und angewandte Mathematik. So<br />
kündigte er für das Wintersemester 1707/08<br />
eine Vorlesung über Hydrostatik sowie über<br />
Wärme- Luft- und Wasserdruckmessung an.<br />
Im Wintersemester 1709/10 las er über Baukunst,<br />
Verteidigungs- und Bewässerungsanlagen.<br />
Damit vertrat Wolff offensichtlich<br />
einen weiten, auf praktische Anwendbarkeit<br />
gerichteten Begriff von Mathematik. Das<br />
bestätigt sein mathematisches Hauptwerk,<br />
die »Anfangsgründe aller mathematischen<br />
Wissenschaften«, das er, durch seinen zunehmenden<br />
Lehrerfolg ermutigt, zuerst 1710 in<br />
drei umfangreichen Bänden in <strong>Halle</strong> veröffentlichte.<br />
Sie erschienen bis 1757 in sieben<br />
immer wieder überarbeiteten und erweiterten<br />
Auflagen. Man darf sie als ein umfassendes<br />
Kompendium zu Wolffs frühen Vorlesungen<br />
in <strong>Halle</strong> ansehen. Wolffs »Anfangsgründe«<br />
wurden für mehr als ein halbes Jahrhundert<br />
zum beliebtesten und meistgelesenen mathematischen<br />
Lehrbuch, das über die damaligen<br />
Lehrbücher und Einführungen weit<br />
hinausging und vor allem auch von denen<br />
geschätzt wurde, die die lateinische Sprache<br />
nicht beherrschten. Hier fand der Leser<br />
im ersten Band neben einer Einführung in<br />
die von Wolff propagierte mathematische<br />
Lehrart eine Darstellung der Grundlagen<br />
der Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie<br />
und Baukunst. Der zweite Band macht mit<br />
den Anfangsgründen der Artillerie bzw.<br />
Geschützkunst, als Vorbereitung für die<br />
Fortifikation bzw. Kriegsbaukunst bekannt,<br />
Mechanik, Hydrostatik, Aërometrie und<br />
Hydraulik schließen sich an. Der dritte Band<br />
bietet eine Einführung in die Grundlagen<br />
der Optik, der Catoptrik (Lehre von Spiegeln),<br />
der Dioptrik (Lehre von der Strahlenbrechung),<br />
der Perspektive, der sphärischen<br />
Trigonometrie, der Astronomie, Geographie,<br />
Chronologie und schließlich der Gnomonik<br />
(Wissenschaft von Sonnenuhren).<br />
» ... DER GRÖSSTE TEIL<br />
DER IRDISCHEN GLÜCKSELIGKEIT ...«<br />
In der Vorrede zum ersten Band legt Wolff<br />
den theoretischen und praktischen Nutzen der<br />
Mathematik dar, und man darf annehmen,<br />
dass dies auch die ›Ouvertüre‹ zu seiner ersten<br />
Vorlesung in <strong>Halle</strong> war. Die mathematischen<br />
Wissenschaften nämlich sind es, so führt er<br />
im Sinne des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses<br />
aus, die die Grundlagen für die<br />
Erkenntnis der Gesetze der Natur ermöglichen.<br />
Aber ebenso für das praktische Leben,<br />
meint Wolff, sind die mathematischen Wissenschaften<br />
unentbehrlich: Wer nicht rechnen<br />
kann, kann nicht haushalten, und wer nichts<br />
von Geometrie, von Baukunst, Mechanik und<br />
Hydraulik versteht, der wird es als »Haus-<br />
Vater«, also als Verwalter von Gebäuden und<br />
Anwesen, nicht weit bringen. Das konnte<br />
den nicht wenigen jungen Studenten von<br />
Adel nicht gleichgültig sein. Aber auch als<br />
Reisender, sei es als Bildungsreisender oder<br />
als Diplomat in Staatsdiensten, muss man<br />
mathematische Kenntnisse besitzen: Ohne<br />
Kenntnisse der mathematischen Grundlagen<br />
der Baukunst und Hydraulik wird man weder<br />
die Nützlichkeit noch die Schönheit von profanen<br />
und sakralen Bauwerken oder Parkanlagen<br />
mit ihren Wasserspielen verstehen und<br />
bewundern können; und ohne Astronomie<br />
und Optik wird man sich auf Reisen bei Tage<br />
und bei Nacht nicht orientieren können. Und<br />
auch die »Kammer-Herren« in Verwaltungen<br />
sowie die Juristen in den Fakultäten und alle<br />
Künstler können ihr Metier ohne gründliche<br />
Kenntnis der mathematischen Disziplinen<br />
nicht ausüben: