Scientia Halensis 2 (2007) - Martin-Luther-Universität Halle ...
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J AHR DER GEISTESWISSENSCHAFTEN <strong>2007</strong><br />
SCIENTIA HALENSIS 2/07<br />
Armenien, Deutschland und die Türkei<br />
Beitrag der halleschen Geisteswissenschaften<br />
zum künftigen Europa<br />
H ERMANN GOLTZ<br />
Die deutschen Geisteswissenschaften sahen in ihren besseren Zeiten ihr Allereigenstes darin,<br />
sich dem »Fremden« im Sinne der Selbsterkenntnis zu öffnen. Sie waren damals auch nicht<br />
unbedingt die ›Magd‹ oder die viel zu spät gerufene Feuerwehr der Politik, vielmehr dienten<br />
umgekehrt Diplomaten und Politiker oft noch der Wissenschaft und behielten so auch einen klareren<br />
Blick in der Politik.<br />
Professor Hermann Goltz bei seiner Ehrenpromotion<br />
an der Staatlichen <strong>Universität</strong> Jerewan in Armenien<br />
im April <strong>2007</strong> (Foto: Detlef Goller)<br />
Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft,<br />
deren Bibliothek seit 1845 ihren festen Platz in<br />
<strong>Halle</strong> hat, war in vielem ein spätes Beispiel für<br />
diese Haltung. Für die heutigen Geisteswissenschaften<br />
und für ein zukünftiges Europa ist<br />
die Wiedergewinnung dieses unabhängig forschenden<br />
Blickes auf das »Morgenland« von<br />
höchster Bedeutung. Ohne die Kulturen des<br />
Orients, vor allem die des morgenländischen<br />
Christentums, wäre unsere abendländische<br />
Kultur samt den vielgerühmten ›westlichen<br />
Werten‹ nicht existent. So ist für das Verständnis<br />
unserer westlichen Kultur eine grundlegend<br />
neue, eine umgekehrte Perspektive vonnöten,<br />
um nicht in einem wissenschaftlich sublimierten<br />
Kreuzritter-Denkmuster zu verharren.<br />
Die heutige, zu starke Exklusivität der Islamwissenschaften<br />
in der Orientalistik entspricht<br />
diesem Denkmuster, welches die Pluralität<br />
des Orients aus der westlichen Wahrnehmung<br />
verdrängt und der Missachtung bedeutender<br />
Minderheiten Vorschub leistet.<br />
D IE ›WIEDERENTDECKUNG‹ ARMENIENS IN HALLE<br />
In seinen theologisch-konfessionskundlichen<br />
Forschungen zu den morgenländisch-christlichen<br />
Kulturen stieß der Verfasser in thematischer<br />
Nachbarschaft zum Ost-Römischen<br />
(›Byzantinischen‹) Imperium bald auf Armenien,<br />
das in Deutschland seit dem Völkermord<br />
an den Armeniern im Osmanisch-Türkischen<br />
Reich konsequent durch Politik und die dieser<br />
hörigen Wissenschaft verdrängt wurde. Der<br />
Ausgangspunkt für die ›Wiederentdeckung‹<br />
Armeniens in <strong>Halle</strong> war die Erforschung des<br />
Nachlasses des unangepassten evangelischen<br />
Theologen Dr. Johannes Lepsius (1858–1926),<br />
der wirkungsvoll für das Überleben des armenischen<br />
Volkes gekämpft hat. Dieses großartige<br />
Lebenswerk hatte Lepsius, dessen Familie<br />
zur preußischen geisteswissenschaftlichen Elite<br />
im Umfeld eines Alexander von Humboldt<br />
gehörte, in seinem Pfarramt im kleinen Friesdorf<br />
(heute Sachsen-Anhalt) begonnen.<br />
Z WISCHEN HOCHKULTUR UND GENOZID<br />
Durch die Katastrophen seiner Geschichte hindurch<br />
blieb das zu großen Teilen ausgerottete<br />
und über die Welt verstreute armenische Volk<br />
Träger eines unabhängigen Geistes und einer<br />
eigenen christlichen Hochkultur zwischen den<br />
Imperien des Ostens und des Westens. Armenien<br />
ist eine der tragenden Säulen unter dem<br />
Dach der Menschheitskultur – fraglos eine<br />
prachtvolle und unverwechselbare Säule, die<br />
aber auch an ihren tiefen Narben zu erkennen<br />
ist. Die bis heute lebendige und widerständige<br />
armenische Hochkultur ist ein Forschungsfeld,<br />
auf dem die Geisteswissenschaften auch<br />
in Zukunft vieles zu entdecken haben. Die<br />
armenisch-christliche Kultur entstand, als das<br />
Christentum noch nicht Staatsreligion des<br />
Römischen Reichs war. Jahrhunderte später<br />
bildete sich der Islam heraus und wurde in<br />
Das historische Lepsius-Haus in Potsdam (Foto: Archiv)<br />
seinen künstlerischen Formen spürbar auch<br />
von der orientalisch-christlichen Hochkultur<br />
der Armenier inspiriert. Das armenische Volk<br />
lebte weit über ein Jahrtausend gemeinsam<br />
in einer fruchtbaren und leidensreichen Symbiose<br />
mit Muslimen aller Couleur und trug,<br />
nutzbringend für alle, zur Modernisierung des<br />
osmanischen Imperiums bei. Es unterstützte<br />
wirkungsvoll die westlich orientierten »Jungtürken«<br />
und damit die konstitutionelle türkische<br />
Revolution von 1908 in der Hoffnung auf<br />
Demokratisierung und allgemeine Menschenrechte.<br />
Und es wurde schließlich im Genozid<br />
von 1915 Opfer der nationalistischen und rassistischen<br />
»Jungtürken«-Diktatur .<br />
D AS ZENSIERTE VERBRECHEN<br />
Mit Rücksicht auf ihre militärischen Ziele des<br />
1. Weltkriegs nahm die Regierung des Deutschen<br />
Reichs in Berlin die Vernichtung des<br />
armenischen Volkes und seiner einzigartigen<br />
christlichen Hochkultur durch den türkischen<br />
Bundesgenossen letztlich hin – trotz aller<br />
Proteste und unwiderleglichen Berichte, die<br />
entsetzte deutsche Diplomaten aus Konstantinopel,<br />
Aleppo, Erzurum und anderen Orten<br />
des Osmanischen Reiches an das Auswärtige<br />
Amt in der Wilhelmstraße sandten.<br />
Das Thema Armenien wurde vielmehr unter<br />
deutsche Zensur gestellt, um das magnum crimen<br />
des türkischen Bundesgenossen mit dem<br />
Mantel des Schweigens zuzudecken. Dann<br />
schwiegen, auch nach Aufhebung der Zensur,<br />
90 Jahre lang alle deutschen Regierungen<br />
offi ziell über den Genozid am armenischen<br />
Volk, dessen Gedächtnis jährlich am 24. April<br />
weltweit begangen wird. Am 24. April 1915<br />
war die auch mit den deutschen Geisteswissenschaften<br />
eng verbundene armenische Elite<br />
in Konstantinopel verhaftet, dann ins Innere<br />
Anatoliens abtransportiert und ermordet worden.<br />
Das Schweigen erfuhr in Deutschland im<br />
Herbst 1933 (!) eine kurze Unterbrechung: als<br />
der Wiener jüdische Schriftsteller Franz Werfel<br />
auf der Grundlage der Dokumentationen<br />
von Johannes Lepsius und der französischen