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0.18 __ //// TITELTHEMA kommen relevant eingestuft wird. Der aktuelle Bildungskanon werde nicht von Wertevermittlung und Charakterbildung bestimmt, relevant sei vor allem die gute Note. Ein Prinzip, das mit einer „klugen Zeitökonomie für alles“ (Reheis, S. 10) einhergehe. Nicht nur im Studium oder der Ausbildung sondern auch schon im Gymnasium strebe man die Verkürzung der Ausbildungsphasen an - Stichworte: 12-Klassen Abitur bei 13-Klassen-Lernpensum und Master- bzw. Bachelor-Studiengänge. Die Situation an Schulen sei deshalb nicht nur für Kinder höchst problematisch: zwei Drittel der deutschen Lehrer seien laut Reheis durch ihre Arbeit gesundheitlich gefährdet. Von der beruflichen Motivation und den Freiräumen, um auf individuelle Besonderheiten der Kinder einzugehen, ganz zu schweigen. Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme nennt Reheis als konkrete Kritikpunkte noch einmal das falsche Zeitmanagement in allen Phasen der Ausbildung, das 45-Minuten-Korsett des Unterrichts an staatlichen Schulen – und, das scheint besonders wichtig zu erwähnen, den falschen Umgang mit Fehlern: Den Kindern würden Fehler nicht als wertvolle Erfahrungsquelle und unverzichtbarer Bestandteil eines selbstgelenkten Lernprozesses nahegebracht, sondern als mangelhaftes Verhalten, das weitmöglichst zu vermeiden sei. Die kindliche Welt sei heutzutage schon frühzeitig mit einer Flut von Angeboten konfrontiert, die um die Aufmerksamkeit ringen, ohne dass ihnen Orientierungshilfen beigebracht würden. So fiele es den Kindern immer schwerer, sich inmitten dieses Überangebots echte Werte und Maßstäbe zu erarbeiten. Die Zeit zum Hineinwachsen in eine Situation sei immer zu knapp bemessen und damit gäbe es zu wenig Gelegenheit, das Austarieren zwischen Individualität und Gemeinschaft zu lernen. Resultat sei eine Flucht in die Welt des Konsums, von Filmen, Musik und Spielen, die dann wiederum heuchlerisch als „Werteverfall“ der Jugend von heute beklagt werde. Damit einher gehe eine Entwicklung, in der die Bildung immer stärker kommerzialisiert, d.h. an Ausstattung und Geldmittel gekoppelt werde. In der Konsequenz führe dies zu einem Zweiklassen-Ausbildungssystem mit Nachteilen für materiell schlechter gestellte Kinder und Schulen mit weniger Budget (in der Regel also staatliche Schulen). In diesem Zusammenhang weist Reheis noch einmal auf die Bedeutung von Zeit für die menschliche Entwicklung hin. Das menschliche Reifen zeichne sich durch eine enorme Elastizität der Lernprozesse aus, jedes Kind benötige je nach Umfeld und individueller Persönlichkeit mehr oder weniger Zeit für Wissenserwerb und auch unterschiedlich lange Festigungs- und Entspannungszeiten. Ideal sei, auch beim Lernen (ebenso wie beim Lehren) die eignen, natürliche Geschwindigkeit anzusetzen. Der Weg aus der hier gezeichneten Bildungskrise beginne folglich damit, die zeitlichen Bedürfnisse von Lehrern und Schü- lern ernst zu nehmen. „Es muss beiden Zeit gelassen werden, die eigene Wirksamkeit erleben und steuern zu können. […] Damit den Schülern die Welt als etwas Lebendiges begegnet, empfiehlt es sich, die Zeit als Schlüssel zu verwenden. Wenn so die natürliche, soziale, kulturelle und individuelle Welt jeweils als Resultat von Schöpfungsprozessen innerhalb spezifischer Zeiträume begriffen wird, wird sichtbar, was unveränderlich und was veränderlich ist und welchen Zeithorizont Veränderungen benötigen. […] Eine Gesellschaft, die bereit ist, sich selbst zu reflektieren, wäre gut beraten, der Schule als Institution all diese Zeiten einzuräumen. Die Schule ist nämlich die einzige Einrichtung, die die gesamte nachwachsende Generation erfasst – und zwar in einer Lebensphase, in der die Weichen zum erheblichen Teil gestellt werden.“ (S.166f.) Das Buch mündet in die Frage, wie eine solche Entschleunigung – nach Reheis’ essentiell für die Gesundung unserer Gesellschaft - zu erreichen wäre: „Wen die Erziehung und das Leben lebensuntüchtig gemacht hat, der fühlt sich ausgegrenzt und verzweifelt. Und diese brisante Mischung kann leicht explodieren, und zwar besonders an Orten, an denen Lebenschancen zugeteilt werden. Das ist der GAU der Bemühungen des Menschen um seine Selbstkultivierung.“ (S. 203) Reheis ist sich durchaus bewusst, dass viele Lehrer und Entscheidungsträger dieses Ziel angesichts ihrer bildungspraktischen Erfahrungen für schlicht unrealistisch halten. Und räumt auch ein, dass es einer Veränderung in vielen Bereichen bedarf, um den Kindern Kindheit und Lernzeit zurückzugeben. Natürlich beginne dieser Prozess bei Eltern, die mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen – in der heutigen Gesellschaft ein Dilemma, aber oft auch eine Delegation von Verantwortung an die Institutionen Kindergarten und Schule. Das Schlüsselwort heiße Konzentration auf die ureigenen Aufgaben: Wenn Eltern die Verantwortung für ihre Kinder übernähmen, die Wirtschaft Gemeinwohl und Versorgung der Menschen absichere und die Politik die dafür geltenden Regeln aufstelle, sei eine Gewaltenteilung erreicht, die die Einzelakteure entlaste. – „Und die Schule? Die Schule könnte im 21. Jahrhundert für die gesamte Gesellschaft das werden, was scola im Mittelalter für das Klosterleben war: Raum und Zeit für die Muße. In einer solchen Schule könnte jeder Heranwachsende in einer frühen Phase seines Lebens zum ersten Mal erleben, was es heißt, im Getriebe des Alltags innezuhalten. Nicht nur, um an den Errungenschaften der bisherigen Selbstkultivierungsbemühungen des Menschen teilzuhaben. Sondern auch, um Neues auszuprobieren. Erfahrungen und Erwartungen zwischen den Generationen auszutauschen, den Blick zurück und nach vorne, in die Nähe und die Ferne pendeln zu lassen – und gemeinsam über das nachzudenken, was eigentlich wichtig im Leben ist.“(S. 210) ¬ Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule. Ein Plädoyer. Herder 2008.
Turboschulbildung in Rostock? Der Text von Fritz Reheis geht sehr kritisch mit den deutschen Schulen ins Gericht – und wirft natürlich die Frage auf, wie sich die Situation an Rostocker Schulen darstellt. Die „Stadtgespräche“ haben nachgefragt: Eltern, Lehrer, Sachverständige – im folgenden Teil des Heftes finden Sie verschiedene Kommentare und Reaktionen. Anne M. Raphael, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin an der Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universität Rostock „An meinem Arbeitsplatz sehe ich täglich Kinder und Jugendliche, von denen die Mehrheit aufgrund von Schwierigkeiten in der Schule oder mit Fragen in Bezug auf die Einschulung oder die schulische Leistungsfähigkeit vorgestellt wird. Das ist ein normaler Bestandteil der Arbeit und zeigt zum einen die Alltäglichkeit dieses Themas, aber gleichzeitig auch seine große Bedeutung für die betroffenen Kinder, Jugendlichen, Familien, Lehrer, Kinderärzte und weitere Bezugspersonen. Die Schule ist der Ort, an dem die Schüler nach der Einschulung zunehmend mehr Zeit verbringen und sozialisiert werden. Zum anderen werden mit der Schulbildung auch die Weichen der späteren Berufstätigkeit und Lebensqualität gestellt. Eltern wissen um den existentiellen Druck auf dem Arbeitsmarkt, um die Wichtigkeit eines (sehr) guten Schulabschlusses. Diesen Druck erleben die Schüler, vor allem diejenigen mit Lernschwierigkeiten. Und die Schüler erleben alltäglich das, was in Presse, Foren und in der Politik an Tischen diskutiert wird: Zum Beispiel zum Teil sehr große Klassen, in denen anteilig die Zahl der Schüler mit problematischen Verhalten oder psychosozialen Schwierigkeiten gestiegen ist. Gleichzeitig erfahren Familien und Lehrer wenig unterstützende Konstanz hinsichtlich der Schulgesetzgebung, was wiederum die Schüler in Form von häufigen Lehrerwechseln, Ausfallstunden, Lehrplanänderungen, ungünstigen Tagesstundenplänen täglich zu spüren bekommen (einige Abiturienten haben einen längeren Arbeitstag als ich). Gleichzeitig können sie in den Medien die oft eher persönliche und häufig sehr finanzorientierte Diskussion ihres *Anmerkung: Janusz Korczak ist ein polnischer Arzt und Pädagoge, ein Jude, der mit den von ihm im Waisenhaus betreuten Kindern im Warschauer Ghetto in den Tod gegangen ist, freiwillig. Das ist beeindruckend, ebenso beeindruckend ist aber seine pädagogische Haltung. Seine Bücher haben mich nachhaltig beeindruckt und auch beeinflusst. Mehr dazu unter www.januszkorczak.de (siehe besonders auch die 6 Dimensionen eines Erziehers)
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