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Die Rezeption der „Winterreise“ von Franz Schubert in der Moderne ...

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MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN<br />

- JANINE CHRISTGEN<br />

Trauer sei „<strong>in</strong> den Bezug zum Freudigsten gestimmt, aber zu diesem, <strong>in</strong>sofern es sich entzieht,<br />

im Entzug zögert und sich spart.“ 55 <strong>Die</strong> Trauer ist hier also Reaktion auf e<strong>in</strong>en entzogenen<br />

Zustand, „e<strong>in</strong> unbestimmbares Heimweh, Schmerz über das verlorene Paradies, Sehnsucht<br />

nach e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Welt.“ 56 Vielleicht spiegeln sich diese neuzeitlichen anthropologischen<br />

Grundkonstanten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Musik <strong>Schubert</strong>s.<br />

„Könnte es se<strong>in</strong>, dass die musikalische Hellsichtigkeit <strong>Schubert</strong>s doch <strong>in</strong> die Geschichte blickte? Zwar<br />

nicht <strong>in</strong> die vor<strong>der</strong>gründige Geschichte <strong>der</strong> Jahreszahlen und Fakten, die als ablaufen<strong>der</strong><br />

Wirkungszusammenhang vergegenständlicht wird, und schon gar nicht <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong><br />

Aktualitäten, die <strong>von</strong> den Medien des Gestells verwaltet wird, vielleicht aber <strong>in</strong> jene h<strong>in</strong>tergründige,<br />

verborgene unumgänglich-unzugängliche eigentliche Weltgeschichte <strong>der</strong> epochalen Zusammenhänge,<br />

<strong>in</strong> die „epochale Geschichte“? Hat <strong>Franz</strong> <strong>Schubert</strong> den Herzschlag se<strong>in</strong>er – und unserer – Epoche<br />

gespürt? S<strong>in</strong>gt die W<strong>in</strong>terreise e<strong>in</strong>en epochalen W<strong>in</strong>ter?“ 57<br />

<strong>Die</strong>ser epochale Faktor zeigt sich auch bei Padrutt e<strong>in</strong>mal mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entfremdung des<br />

Menschen. Ausgehend <strong>von</strong> dem marxistischen Gedanken <strong>der</strong> Entfremdung des Menschen <strong>von</strong><br />

sich durch die Entäußerung se<strong>in</strong>er Arbeitskraft und die Entfremdung se<strong>in</strong>er Selbst vom<br />

Produkt se<strong>in</strong>er Arbeit, zeigt sich ihm <strong>der</strong> Mensch als entwurzeltes, vere<strong>in</strong>zeltes Individuum.<br />

Wenn jedes D<strong>in</strong>g „zum gleichgültigen Rad im großen Rä<strong>der</strong>werk geworden ist, dann ist die<br />

Natur, die Erde überhaupt, dem Menschen fremd geworden.“ 58 Er wird aber nicht nur sich<br />

und <strong>der</strong> ihn umgebenden Natur fremd, son<strong>der</strong>n erlebt auch die an<strong>der</strong>en Menschen nur noch als<br />

abgekapselte Subjekte, <strong>der</strong>en Kommunikation und Interaktion immer mehr zu scheitern<br />

drohen. <strong>Die</strong> Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation führt zur<br />

Vere<strong>in</strong>zelung und Solipsie. Der Mensch wird zum „l´étranger“ (Albert Camus). Zwischen<br />

dem Ich und <strong>der</strong> Welt hat sich e<strong>in</strong>e unüberbrückbare Kluft des Absurden manifestiert. „Das<br />

Bewusstse<strong>in</strong> des Absurden kann den Menschen plötzlich ergreifen, wenn die Kulissen des<br />

Alltags zusammenbrechen und er nun <strong>der</strong> Fremdheit und Fe<strong>in</strong>dseligkeit <strong>der</strong> Welt unvermittelt<br />

gegenüber steht.“ 59 Der Mensch kreist nun als heimatloses Subjekt um sich selbst. Der<br />

Mensch ist, wie <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>„W<strong>in</strong>terreise“</strong> auf die eigene Mut- und Willenskraft<br />

verwiesen. „Muss selbst den Weg mir weisen, <strong>in</strong> dieser Dunkelheit“ 60 (Gute Nacht),<br />

diagnostiziert <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>er bereits zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Reise, um schließlich festzustellen:<br />

„Will ke<strong>in</strong> Gott auf Erden se<strong>in</strong>, s<strong>in</strong>d wir selber Götter“ 61 (Mut). Zur Entfremdung und<br />

Isolation tritt also gleichsam <strong>der</strong> Entzug des Göttlichen h<strong>in</strong>zu.<br />

55 Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Unterwegs zur Sprache, S.169.<br />

56 Padrutt, Hanspeter: Der epochale W<strong>in</strong>ter, S. 234.<br />

57 Padrutt, Hanspeter: Der epochale W<strong>in</strong>ter, S. 234. [Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al]<br />

58 Padrutt, Hanspeter: Der epochale W<strong>in</strong>ter, S. 240.<br />

59 Kunzmann, Peter: DTV-Atlas Philosophie, S. 205.<br />

60 Müller, Wilhelm: <strong>Die</strong> W<strong>in</strong>terreise, S. 18.<br />

61 Müller, Wilhelm: <strong>Die</strong> W<strong>in</strong>terreise, S. 40.<br />

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