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Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker

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Es ist <strong>die</strong>s eben <strong>die</strong> Art jener Produktion, aus der zweifellos alle wahrhaft<br />

bedeutenden Werke über ethische Probleme hervorgegangen sind. „Die Ethik wird<br />

einem nicht geschenkt,“ sagte <strong>Weininger</strong> öfters: und was damit zusammenhängt:<br />

„Gute Menschen haben immer eine flache Ethik.“ (Damit meinte er Menschen,<br />

welche niemals einen Impuls zum Bösen verspürt haben.)<br />

Das ist der tiefste, charakteristischeste Zug in <strong>Otto</strong> <strong>Weininger</strong>s Wesen: <strong>die</strong><br />

Gewalt, mit welcher er den Dualismus erlebt hat. Darum ging ihm auch alles nahe,<br />

worin der Dualismus zum Ausdruck kommt; so Kant, so Plato, vor allem aber das<br />

Christentum, 12 an dem er mit leidenschaftlicher Verehrung hing. Er war fest überzeugt<br />

da<strong>von</strong>, daß <strong>die</strong> Person 13 und <strong>die</strong> Motive Jesu Christi noch niemand so verstanden habe<br />

wie er. Der Gedanke der universellen Verantwortlichkeit: alles Böse der Welt als <strong>die</strong><br />

eigene Schuld empfinden, ging ihm außerordentlich nahe. Der Inhalt des<br />

Christentums: <strong>die</strong> strenge Scheidung <strong>von</strong> höherem, ewigem und niederem, zeitlichen<br />

Leben; der Glaube an den Sündenfall (der wahrscheinlich so alt wie <strong>die</strong> Menschheit<br />

ist, hier aber eine besonders große Bedeutung erlangt); <strong>die</strong> Vorstellung vom inneren<br />

Tode bei äußerlich lebendigem Leibe (Lasset <strong>die</strong> Toten ihre Toten begraben) – das<br />

alles ging ihm besonders nahe. Auch ihm bedeutete das Wort „Leben“ etwas, das<br />

eigentlich nur dem Sittlichen zukommt: da das höhere Leben auch der Quell des<br />

irdischen ist. – Im Mittelpunkte seines Denkens steht der Begriff der „Schuld“. Alles<br />

Leiden ist nach <strong>Weininger</strong> Schuld, und zwar übernommene Schuld; er teilte <strong>die</strong><br />

Menschen ein in solche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schuld übernehmen und daran leiden (<strong>die</strong> Dulder),<br />

und solche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schuld auf <strong>die</strong> anderen abwälzen (<strong>die</strong> Verbrecher). Den Sündenfall<br />

faßte er durchaus individuell auf. Jeder Mensch hat seine eigene Erbsünde, <strong>die</strong> eben<br />

mit seiner „Schuld“ identisch ist. – Seine Abneigung gegen das Judentum, gegen <strong>die</strong><br />

Frauen und gegen Schiller ist zum großen Teil aus deren vollkommenem Mangel an<br />

Dualismus zu erklären. Den empirischen Optimismus haßte er, an den tranzendenten<br />

glaubte er selbst (das Para<strong>die</strong>s).<br />

Als er gerade sein Erstlingswerk vollendet hatte, da sagte er einmal zu mir: „Es<br />

gibt drei Möglichkeiten für mich; den Galgen, den Selbstmord 14 und eine Zukunft,<br />

welche so glänzend ist, daß ich sie mir gar nicht auszudenken traue.“ 15 Seit <strong>die</strong>ser Zeit<br />

wurde seine Stimmung immer schlechter. Er verbrachte den ganzen Sommer in<br />

Italien, und verblieb zunächst längere Zeit in Syrakus, wo er den größten Teil des<br />

vorliegenden Buches niederschrieb. Syrakus nannte er „den einzigen Ort, in dem man<br />

den Sonnenuntergang ertragen könne.“ Dann hielt er sich in Calabrien auf, besuchte<br />

Casamicciola auf der Isola d'Ischia, sah sich auch Rom und Florenz an. In den <strong>letzten</strong><br />

Tagen des September kehrte er nach Wien zurück. Hier arbeitete er, wohl schon mit<br />

der festen Selbstmordabsicht, an den „Letzten Aphorismen“; er schrieb zwei ganze<br />

Nächte durch. Da fand er plötzlich <strong>die</strong> Lösung eines Problems, das ihn früher<br />

unablässig gequält hatte: „Nicht <strong>die</strong> Seelen, <strong>die</strong> Individuen sind das letzthin Reale,<br />

auch sie sind noch Ausdruck der Eitelkeit, Knüpfung des Wertes an <strong>die</strong> Person; <strong>von</strong><br />

höchster Realität ist allein das Gute, welches alle Einzelinhalte in sich schließt.“ –<br />

12 Er war <strong>von</strong> Geburt Jude, und trat am Tage seiner Promotion (21. Juli 1902) zum Protestantismus über.<br />

13 Er glaubte auch an viele der vom neuen Testament überlieferten Wunder, und zwar im durchaus buchstäblichen<br />

Sinne.<br />

14 Er hatte sich schon im Herbst 1902, vor der Ausarbeitung <strong>von</strong> „Geschlecht und Charakter“, einige Zeit lang mit<br />

Selbstmordabsichten getragen; doch konnte damals das Unglück noch durch Zureden eines Freundes verhindert<br />

werden.<br />

15 An demselben Tage vertraute er mir auch <strong>die</strong> Herausgabe seiner <strong>letzten</strong> Manuskripte an, für den Fall, daß er<br />

selbst nicht dazu kommen sollte.<br />

ix

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