Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker
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Die wenigsten Menschen empfinden das Bedürfnis, <strong>von</strong> dem Charakter<br />
bedeutender Menschen der Tat oder des Gedankens eine klare Vorstellung sich zu<br />
bilden. Sie sind gewohnt, bei der Nennung großer Namen nicht nur den Hut zu lüften,<br />
sondern wie auf ein Kommando auch alles Denkens sich zu entäußern. Sie rufen<br />
Wagner und Goethe nicht anders als eine Interjektion. In <strong>die</strong>ser Denkart steckt zwar<br />
ein nicht zu unterschätzender Respekt vor dem Phänomen, und noch <strong>die</strong> so tiefe und<br />
so alte Würdigung des Genies als einer göttlichen Offenbarung; auch befinden sich<br />
<strong>die</strong> Menschen so viel wohler, als sie sich fühlen würden bei jener anderen Denkart,<br />
welche berühmte Männer mit Vorliebe in ihren Unterkleidern zeigt und<br />
triumphierend auf ihrem Gange zum Aborte überrascht. Aber nicht <strong>die</strong>ses<br />
eudaimonistische Argument kann <strong>die</strong>ser Anschauung zur Empfehlung <strong>die</strong>nen,<br />
sondern nur jener Gehalt an „verecundia“, welchen z. B. Moreau de Tours und<br />
Lombroso offenbar nicht besessen haben.<br />
Dennoch bedeutet <strong>die</strong>ser Verzicht auf das Nachdenken über große Männer, <strong>die</strong><br />
Entrüstung über jeden fremden Versuch, in deren Innerem auch nur bestimmte Züge<br />
ausnehmen zu wollen, eine arge Würdelosigkeit, eine spontane Leibeigenschaft des<br />
Geistes, <strong>die</strong> ebenso blind wie unduldsam gegen jeden Freien ist. Jeder Name wird ein<br />
Atout, mit dem alles nüchterne Sehen niedergeschlagen wird. Auch Hero-Worship,<br />
Heldenverehrung ist heteronom im Sinne Kantens, auch <strong>die</strong>ser Autoritätenglaube ist<br />
unmoralisch. Wird der Mensch, und sei er nun auch Buddha oder Beethoven, zur<br />
Gottheit, sein Name eine Losung, so schweigt jede bewußte, ruhige Überlegung der<br />
eigenen Vernunft und alle geistige Entwicklung ist verrammelt.<br />
In jüngster Zeit ist zu jener früheren gedankenlosen Unterwürfigkeit ein neues<br />
Element hinzugetreten. Die leichtfüßigen Tanzbeine der Zarathustra-Ideale, <strong>die</strong><br />
lässige Grazie des süddeutschen Walzers, studentischer Stumpfsinnsang und<br />
kunstgewerbliche Lehnstuhlschwärmerei mußten zusammenkommen, um es allem<br />
deutschen, nordischen Ernste gegenüber hervorzubringen und zu behaupten. Ich<br />
meine <strong>die</strong> Lüge <strong>von</strong> dem „stilisierten Leben“ der großen Menschen, welche jene<br />
Menschen zu Artisten degra<strong>die</strong>rt, jene, <strong>die</strong> das Leben stets am ernstesten nahmen,<br />
weil sie <strong>von</strong> ihm am ernstesten sich genommen fühlten, jene, <strong>die</strong> sich selbst am<br />
wenigsten heimlich und glücklich befunden haben, zu „Artisten“ ihres eigenen<br />
Lebens!<br />
Die alte Dreistigkeit, mit welcher <strong>die</strong> bedeutendsten Namen dazu mißbraucht<br />
werden, um den eigenen, leichten Sinn noch als den Stil der genialen Menschen<br />
erscheinen zu lassen, soll uns nun nicht lange hier beschäftigen.<br />
Die so verbreitete Auffassung ist jedenfalls zurückzuweisen, welche den<br />
hervorragenden Menschen als ein Gefäß betrachtet, aus welchem nach und nach seine<br />
Geisteswerke herausfallen, als ein Geschöpf der Natur, durch das <strong>die</strong>se nichts weiter<br />
wolle, als uns gewisse <strong>Dinge</strong> schenken, als ein Orchestrion, dessen Aufgabe sich<br />
damit erschöpft, eine Anzahl <strong>von</strong> Tonstücken abzuspielen.<br />
Diese Auffassung macht den Poeten zum Schmetterling, den Maler zum<br />
Berufsphotographen, den Philosophen zum Theorienbäcker und entkleidet sie alle<br />
jeglicher Größe. Gerade <strong>die</strong> allerstärksten Eindrücke sind, um nur vom Künstler zu<br />
sprechen, bei <strong>die</strong>sem zu mächtig, um sobald zum Ausdruck im Kunstwerk führen zu<br />
können.<br />
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