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Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker

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Zähne aufeinander, der eine lächelt schmerzlich: schon wieder einmal! der andere<br />

murmelt nicht ohne Ingrimm über <strong>die</strong> eigene Gemeinheit: immer wieder! Der erste<br />

begnadigt sich gerne, lange schont er <strong>die</strong> eigene Empfindlichkeit, nur <strong>von</strong> Zeit zu Zeit<br />

geht er zur Beichte, zu der ihrem Wesen nach immer <strong>die</strong> Absolution gehört. Der<br />

andere zerfasert sich, schweigend, unbarmherzig, wenn auch seine Eitelkeit dabei<br />

noch wächst 36 (denn der Wille zum Wert wird durch jede negative Wertung der<br />

eigenen Person nur noch heftiger), er richtet und verfemt sich immerwährend. Jener<br />

hat das Bedürfnis nach der Position, <strong>die</strong>ser nach der Negation überhaupt; der<br />

Philautische bejaht, der Misautische verneint sich und <strong>die</strong> Welt. 37<br />

Der philautische Mensch ist der starke und beständige Erotiker. Um andere<br />

Menschen zu lieben oder zu hassen, muß man zuerst sich selbst lieben oder hassen.<br />

Man liebt und man haßt nur, womit man irgend eine Ähnlichkeit hat; womit er gar<br />

keine hat, das kann der Mann höchstens fürchten (das alte Weib ist jene Frau, <strong>die</strong> der<br />

Mann gar nicht versteht und nur fürchtet) ebenso wie er – <strong>die</strong> andere Grenze – das<br />

fürchtet, womit er vollkommen übereinstimmt (den Doppelgänger). Die Selbsthasser<br />

freilich werden immer <strong>von</strong> sich sagen, sie könnten nur einen Menschen lieben, der<br />

gar keine Ähnlichkeit mit ihnen habe, und behaupten, <strong>die</strong> Liebe sei nichts als ein<br />

Versuch <strong>von</strong> sich loszukommen – weil sie überhaupt nicht lieben können, und doch<br />

das stärkste Bedürfnis danach haben, zu lieben. Womit sie Ähnlichkeit haben, das<br />

können sie aber nur hassen und so versuchen sie ihr Liebesbedürfnis an solchen zu<br />

befriedigen, <strong>die</strong> ihnen nicht gleichen; ohne daß ihnen <strong>die</strong>s der Natur der Sache nach je<br />

gelingen kann. Etwas lieben heißt: ihm Seele schenken, <strong>die</strong> eigene Seele völlig in es<br />

projizieren, allen Wert auf es häufen: dazu muß es indifferent oder ähnlich sein, aber<br />

nicht entgegengesetzt. Und noch <strong>die</strong>s: wie käme der Negativist zum Kinde, das <strong>die</strong><br />

Position in der Liebe direkt verkörpert? Wie der niedere Sexualtrieb das Leben<br />

bejaht, setzt, so ist Liebe höchste Position, Bejahung des höheren, ewigen Lebens,<br />

und so erscheint sie im Evangelium Christi. Wer liebt, liebt überhaupt; wer haßt, haßt<br />

überhaupt wer bejaht, bejaht überhaupt; wer verneint, verneint überhaupt. Dies ist<br />

nicht so zu verstehen, als wäre dem Selbsthasser <strong>die</strong> Verneinung mehr denn ein<br />

Durchgangspunkt zur Bejahung. Es gibt keinen großen Menschen, der nicht zuletzt<br />

doch bejahte. Dies ist auch der letzte Grund, warum es ungeachtet des einleitend<br />

Bemerkten kein Genie gibt, das nicht produktiv wäre. Auch aus der Liebe zu den<br />

Ideen und ihrer Bejahung, in der Platon und Schopenhauer das Wesen der Genialität<br />

am tiefsten erkannt haben, entstehen Kinder. Dem Selbsthaß des misautischen Typus<br />

ist <strong>die</strong> Verneinung nie Selbstzweck, sondern nur Mittel, 38 um das wahrhaft<br />

Liebenswerte und nichts vor <strong>die</strong>sem zu lieben. Nur vermag er nichts anderes zu<br />

bejahen als <strong>die</strong> Ewigkeit. Er kann nicht ein konkretes Weib lieben, und so oft er auch<br />

Ansätze dazu macht, d. h. zu lieben, sich in der Leidenschaft zu bestärken versucht, er<br />

fällt immer in Kürze aus ihr heraus: er kann nicht lieben.<br />

Nur der philautische Mensch ist deshalb auch im eigentlichen, engeren Sinne<br />

Vater, er hat das Bedürfnis nach dem leiblichen Kinde, denn er will sich mit allen<br />

seinen Eigentümlichkeiten, auch mit seiner Subjektivität, seiner äußeren und inneren<br />

Erscheinung im Kinde wiederfinden. Sogar zu seinen geistigen Schöpfungen hat der<br />

extreme Selbsthasser kein rechtes warmes, inniges Verhältnis. Denn <strong>die</strong> Vaterschaft<br />

36 Darum ist er der richtige Aphoristiker.<br />

37 Was nicht hindert, daß der Misautische das größte Bedürfnis hat zu bejahen.<br />

38 Der Philautische liebt, der Misautische haßt sein empirisches, beide lieben ihr intelligibles Ich. Das intelligible<br />

Wesen haßt nur der Verbrecher.<br />

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