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Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker

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Darum will er alle Vergangenheit töten: Er reitet seine Mutter in den Tod hinüber.<br />

Denn er muß „vergessen, was ihn drückt“. Seine Mutter 32 hat ihm gegenüber immer<br />

<strong>die</strong> Moral und <strong>die</strong> Einsicht vertreten; nun entzieht er sich gleichsam selbst seinen<br />

Mutterboden. Vielleicht liegt auch hier keimhaft der Gedanke zugrunde, daß er<br />

gerade in seinem Verhältnis zum Weibe allein er selbst war. 33<br />

So sehen wir ihn denn im vierten Akte am tiefsten gesunken. Der Mensch lebt<br />

nun in völliger Gemeinschaft mit den Affen, als welche sich das Trollpack des<br />

zweiten Aktes endgültig entpuppt (absichtliche Wiederholung des Wortes: Der „Alte<br />

war schlimm, <strong>die</strong> Jungen sind Bestien“); ja der Gyntismus wird zur Losung der<br />

Menschheit überhaupt: Peer Gynt wird Prophet. In <strong>die</strong>ser Eigenschaft bietet er alles<br />

auf, um – <strong>von</strong> einem Mädchen beachtet zu werden und hierdurch etwas für sich zu<br />

gewinnen. Am Ende erfällt sich nun gar sein alter Traum: Er wird Kaiser. Aber mit<br />

Schrecken muß er zuletzt gewahren, daß er in einem Irrenhause steckt und der Kaiser<br />

der wahnsinnigen, vertierten Menschheit ist.<br />

In <strong>die</strong>ser Szene im Irrenhause liegt wohl <strong>die</strong> gräßlichste Ironie, <strong>die</strong> fürchterlichste<br />

Satire, auf <strong>die</strong> je ein Mensch verfallen ist.<br />

Peer Gynt im Verein mit den Irren, <strong>von</strong> denen <strong>die</strong>ser wie eine Feder ist, <strong>die</strong> nie<br />

zum Schreiben, sondern stets nur als Streusand gebraucht wird, jener wie ein Papier,<br />

das nie beschrieben wurde: ein unaufgeschlagenes Buch in seiner Mutter Schoß, sich<br />

als verdruckt erweisend, da es aufgemacht wird. Das absolute Fehlen eines Ich und<br />

das damit verbundene völlige Fehlen eines Soll; den Menschen, der nicht mehr weiß,<br />

was er ist und danach schreit, <strong>von</strong> irgend jemand seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt<br />

zu werden, <strong>die</strong> er selbst nicht mehr finden und nicht aktiv mehr verwirklichen<br />

kann; <strong>die</strong> Verzweiflung daran, je das sein zu können, wozu man geboren ist – <strong>die</strong>s<br />

alles sagt in seinen wenigen wilden Rhythmen der Dialog mit dem Minister Hussein.<br />

Es ist nicht meine Absicht, einen fortlaufenden Kommentar zu der Dichtung zu<br />

liefern, in der mir so manche Einzelheiten gar nicht durchsichtig sind. Solche<br />

Unternehmungen haben, abgesehen <strong>von</strong> ihrem Umfange, immer zu viel Prätention<br />

und können darum nur geschmacklos wirken.<br />

Ich will nur noch auf einige große Schönheiten der Dichtung hinweisen: außer auf<br />

den in <strong>die</strong>ser Hinsicht allgemein berühmten Schluß des dritten noch auf <strong>die</strong> erste<br />

Szene des zweiten und auf <strong>die</strong> außerordentliche Mitte des fünften Aktes, wo Peer<br />

Gynt des nicht gelebten Lebens seines höheren Ich gedenken muß („Knäuel“, „Welke<br />

32 Eine der vorzüglichsten Frauengestalten Ibsens, wenn auch ohne sonderliche Tiefe behandelt.<br />

33 Die Interpretation <strong>die</strong>ser Schlußszene des dritten Aktes, <strong>die</strong> ich hier versuche, ist, ich fühle es, sehr gewagt und<br />

ich kann sie nur noch durch den Hinweis auf den fünften Akt stützen, wo <strong>die</strong> Mutter dem endlich zum Bewußtsein<br />

seiner Schuld gelangten Sohne ebenfalls als Anklägerin eben im Hinblick auf <strong>die</strong>sen Ritt erscheint. Aber <strong>die</strong>se<br />

Szene des dritten Aktes – für <strong>die</strong> naive Auffassung <strong>die</strong> leichteste der Dichtung – muß in einer so durchaus<br />

symbolischen Tragö<strong>die</strong> doch auch einen tieferen Sinn besitzen. Sollte <strong>die</strong>ser sein, daß in Peer jetzt der Egoismus<br />

des Patienten, des <strong>von</strong> eigenen Leiden Geplagten und darum, für <strong>die</strong> der anderen Achtlosen zum Vorschein<br />

komme? Daß er an allen anderen Wesen rächen wolle, daß ihm kein Glück mit Solveig beschieden ist? Ich kann es<br />

nicht ganz glauben. Auch schiene mir nur noch folgendes möglich. Ibsen, der in den Zeiten seiner eigentlichen<br />

hervorragenden Produktion durchaus Masochist ist (Beweis vor allem <strong>die</strong> „Nordische Heerfahrt“ und „Baumeister<br />

Solness“), war in seiner Jugend nicht frei <strong>von</strong> sadistischen Zügen (in vielen der <strong>von</strong> ihm lange zurückgehaltenen<br />

Gedichten und in „Olafs Liljekrans“, auch im „Fest auf Solhaug“ ist noch eine Spur <strong>von</strong> Sadismus). Es sind nun<br />

wirklich in den Peer Gynt des zweiten („Raub der Ingride“) und des ersten Aktes (Drohung an Solveig) sadistische<br />

Züge geraten; möglich, daß Ibsen auch <strong>die</strong>se Züchtigung an sich vornehmen wollte. Für den Charakter des Peer<br />

Gynt wäre das aber durchaus unwesentlich und also ein Fehler der Dichtung.<br />

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