Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker
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seiner Begierden und Trägheiten, denen er früher mit prinzipieller Abweisung aller<br />
Bedenken (vierter Akt, Anfang) fröhnte, ja, sich auf <strong>die</strong>ses Selbst alles zugute tat; daß<br />
es wenig verschlägt, einen Finger zu verlieren, etwas vom empirischen Ich<br />
einzubüßen, wenn man um <strong>die</strong>sen Preis seine Individualität behaupten kann (was er<br />
früher nicht begreifen konnte). „Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er <strong>die</strong> ganze<br />
Welt gewänne, und nähme an seiner Seele Schaden?“ Er sieht jetzt ein, daß das<br />
höhere Selbst mit dem niederen im Kampfe liegt, und daß der völlige Sieg des einen<br />
der Tod des anderen ist. „Du selbst sein, heißt sich selbst ertöten.“ 23 Das alles muß er<br />
sich sagen und sich selbst verurteilen. Nun verfällt er darauf, ob es nicht seine<br />
Bestimmung („des Meisters Meinung“, <strong>die</strong> er „als Aushängeschild“ hätte tragen<br />
sollen) gerade gewesen sei, prinzipiell und bewußt in allem und jedem gegen jene<br />
andere Bestimmung zu fehlen, sie zu bekämpfen, ob er nicht wenigstens böse<br />
gewesen sei, wenigstens etwas, nur nicht verwischt, gemein, nichts. Aber nein, er hat<br />
auch da nichts bedeutet. „Denn der Sünder im wirklich großen Stil – gibt’s heutzutage<br />
nicht eben viel.“ Auch den großen Verbrecher kann er sich nicht glauben, und der<br />
Magere (der Teufel), dem er sich so gern verschrieben hätte, um nur nicht nichts zu<br />
sein, würde durch ihn wenig fetter werden. Die Napoleons und <strong>die</strong> Don Juans, <strong>die</strong><br />
Jagos und Hagen sind ebenfalls dünn gesäet, nicht bloß <strong>die</strong> Heiligen. Hier spürt man<br />
den ganzen Zorn, <strong>die</strong> tiefe Verachtung des Dichters für das Gros der Menschheit<br />
einmal durch. Sie soll sich gar nicht einbilden, der Hölle wert zu sein, <strong>die</strong> für sie viel<br />
zu nobel, zu großartig ist; der Teufel ist für ganz andere Leute da, nicht für Affen und<br />
für Schweine. Dem Gedanken des Satan, dessen Majestät sie lieber nicht beleidigen<br />
sollten, stellt er <strong>die</strong> Konzeption seines Knopfgießers gegenüber. Den ver<strong>die</strong>ne <strong>die</strong><br />
Menschheit reichlich, der tue ihr not.<br />
Man denke an das Wort in der Apokalypse (3, 16): „Ich weiß deine Werke, daß<br />
du weder kalt noch warm bist. Ach daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau<br />
bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Peer<br />
Gynt wäre „unsterblich in Gott“ oder „unsterblich in Satan“ wenn er eine<br />
Individualität, im Guten oder im Bösen, mit Bewußtsein behauptet hätte. Aber er ist<br />
überhaupt ohne ein Ich gewesen, welches ihn der Zeit entrückt, ihm ein höheres, vom<br />
physischen Naturgesetz der Geburt und des Todes unabhängiges Dasein und<br />
Fortleben verbürgt hätte, er hat keine weiße, aber auch keine schwarze Seele. Peer<br />
Gynt ist der Typus der zahllosen unter uns wandelnden, unmoralischen Menschen,<br />
<strong>die</strong> für moralisch gelten, weil sie nicht antimoralisch sind, nicht Größe genug im<br />
Instinkt oder im freien Entschluß haben, um das Moralische zu verneinen, <strong>die</strong> nicht<br />
etwa nicht an das Gute und Wahre glauben und einem erklärten Unglauben gemäß<br />
offen handeln, ihn durch <strong>die</strong> Tat dokumentieren, <strong>die</strong> Moral demonstrativ verhöhnen 24 ,<br />
sondern <strong>die</strong> selbst zu glauben vermeinen ohne tiefe innerliche Frömmigkeit. Sie sind<br />
also nicht Verbrecher durch <strong>die</strong> Tat oder den Plan zur Tat, und doch Verbrecher an<br />
sich selbst, weil Betrüger ihrer selbst, indem das Gebot, das sie halten, nicht wirklich<br />
ihnen vom Herzen diktiert ist; sie handeln legal und äußerlich oft mehr als legal, aber<br />
ihr Motiv ist, ohne daß sie es klar wüßten, nicht, daß sie selbst, sondern daß <strong>die</strong><br />
anderen im anderen Falle <strong>die</strong> Achtung vor ihnen verlieren müßten. Es sind also in<br />
Peer Gynt alle <strong>die</strong>jenigen mitgetroffen, für welche stets der andere Mensch<br />
maßgebend bleibt, alle eigentlichen Jehovah-Anbeter in der Menschheit: Jehovah ist<br />
23 Vgl. Evang. Marci 8, 34-36. („Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert<br />
um meinet- und des Evangelii willen, der wird es behalten.“)<br />
24 Zur Annahme und Darstellung einer solchen Größe im Antimoralischen war ich hier verpflichtet, um lbsen nicht<br />
untreu zu werden. Ich selbst halte Größe im Bösen für eine Fiktion (Geschlecht und Charakter, 1. Aufl. S. 235 f.).<br />
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