Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker
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nur auf der Grundlage des Selbstzweckes ist alles Naturverständnis und alle<br />
Naturempfindung möglich; daher ist der sittlichste Mensch – das Genie.<br />
Vielleicht kann durch <strong>die</strong>se Betrachtung <strong>die</strong> Lehre <strong>Weininger</strong>s vom Verbrecher<br />
leichter verständlich gemacht werden. Es heißt bei der Psychologie des Verbrechers,<br />
S. 117 <strong>die</strong>ses Buches, daß alles Böse in der Neigung zum Funktionalismus bestehe.<br />
Dieser Ausdruck ist aber sehr geeignet, Mißverständnisse hervorzurufen. Denn das<br />
Funktionale ist gerade dasjenige, das allein Gegenstand der Erkenntnis werden kann;<br />
und <strong>die</strong> Kantische Frage „Wie ist Erfahrung möglich“ fand ihre Antwort in dem –<br />
Funktionalismus. Das ist nämlich so. Jeder Körper dehnt sich aus, wenn er erwärmt<br />
wird; jedem Grade der Erwärmung entspricht ein bestimmtes Maß der Ausdehnung.<br />
Man sagt: Das Volumen ist eine Funktion der Temperatur, v. = (f)t. Diese Beziehung<br />
hat zur Konstruktion des Thermometers geführt; der Bau des Thermometers ist durch<br />
sie bedingt. Ebenso sind alle unsere Denkgesetze durch <strong>die</strong> Natur aller möglichen<br />
Funktionalbeziehungen bedingt (z.B. der Satz der Identität durch das Phänomen der<br />
Stabilität in der Natur, welches einen Teil des Funktionalen ausmacht); dem liegt ein<br />
tiefer apriorischer (transzendenter) Zusammenhang zugrunde.<br />
Böse ist der Wunsch, alles Psychische in der Welt in eine derartige funktionale 10<br />
Verbindung zu bringen, daß es jede Freiheit und Selbständigkeit einbüßt<br />
(Verschmolzenheit). Wie das Volumen des Quecksilbers mit der Temperatur, so sollen<br />
sich <strong>die</strong> Handlungen des Sklaven mit dem Willen des Despoten ändern. – Dies ist nun<br />
in der Psychologie des Verbrechers weiter ausgeführt.<br />
Die Erkenntnis des Funktionalen ist aber natürlich nicht böse. Was man erkennt,<br />
da<strong>von</strong> hat man sich befreit. Wir nehmen <strong>die</strong> Drehung der Erde nicht wahr, weil wir<br />
uns selbst mitdrehen; um eine Sache zu erkennen, muß man außerhalb derselben<br />
seinen Standpunkt haben. Damit hängt es zusammen, daß Hume, Mach, Avenarius,<br />
welche <strong>die</strong> Kausalität als eine bloße Naturerscheinung ansehen, <strong>die</strong> Vorstellung <strong>von</strong><br />
der Willensfreiheit entschieden abweisen (siehe S.71 <strong>die</strong>ses Buches), während gerade<br />
Kant, der der Kausalität eine viel größere Bedeutung zuerkennt, eine Lehre vom<br />
freien Willen aufgestellt hat. Das zur Klärung des Funktionalbegriffes. – Ich kehre<br />
nach <strong>die</strong>ser Abschweifung, welche vielleicht das Verständnis des Buches zu<br />
erleichtern hilft, wieder zur Biographie zurück.<br />
<strong>Otto</strong> <strong>Weininger</strong> war in hohem Grad zum Verbrecher veranlagt, und zugleich besaß<br />
er ein ungeheures sittliches Streben. Er kannte sehr wohl alles Böse; in ihm wirkte<br />
aber auch eine riesenhaft Wahrheitsliebe, eine an Heiligkeit streifende Seelengüte. Ich<br />
will nur erwähnen, daß er niemals über eine Wiese ging, um keinen Grashalm<br />
zertreten, keinen Lebenskeim zerstören zu müssen. Er litt es auch bei niemand<br />
anderem, der mit ihm ging. Wenn er einem Bettler etwas gab, so zog er stets dabei<br />
den Hut ab, um ihn nicht zu beschämen. – Gutmütig im gewöhnlichen Sinne, d.h.<br />
duldsam gegen alle jene gemeinen Züge, <strong>die</strong> zum Lebensgenuß beitragen, ohne<br />
anderen Menschen direkt zu schaden, war er nicht. Damit dürfte es auch<br />
zusammenhängen, daß er niemals „gemütlich“ war. Von „Güte“ in höherem Sinne<br />
hatte er sehr viel in sich.<br />
10 Das Funktionale als das Gegenteil des Selbstzweckes.<br />
vii