Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker
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Gynt. Der Knopfgießer mahnt, fordert, drängt; aber lauter, im Sonnenaufgang des<br />
Pfingstmorgens, ertönt das unsäglich wundervolle Lied, das Wiegenlied der Solveig:<br />
„Jeg skal vugge dig, jeg shal väge –<br />
Sov og drom du, gutten min!<br />
Ich will wiegen dich, ich will wachen ...<br />
Schlaf’ und träum’ du, Knabe mein.“<br />
“Jeg skal vugge dig, jeg shal väge –<br />
Sov og drom du, gutten min!<br />
Peer Gynt ist erlöst.<br />
Sein unsichtbares Selbst, das höhere Leben seines Geistes, wie es sich in ihm nur<br />
in der Liebe zu Solveig offenbart hat, behält am Ende seines Lebens dennoch den<br />
Sieg.<br />
Es ist nun klar: <strong>die</strong>ser Peer Gynt ist keine einzelne Person und kein einzelnes<br />
Volk. Der Mensch überhaupt wird in ihm gegeißelt, der das Tier losgeworden zu sein<br />
glaubt, sich seiner Menschheit brüstet, ohne auch nur zu ahnen, was <strong>die</strong>se bedeuten<br />
sollte.<br />
Der Affenmensch, in der Person des Dovre-Alten, beklagt sich darum über <strong>die</strong><br />
Ungerechtigkeit, daß man ihn für tot ausgebe:<br />
„Von den Tochterkindern, wie schon gesagt,<br />
Nach dem alten Großvater keins mehr fragt.<br />
Sie meinen, ich lebte gar nicht mehr,<br />
Nur höchstens in alten zerlesenen Schmöckern.“<br />
Der Mensch ist aber für Ibsen, wie für alle irgend tieferen Geister seit Anbeginn<br />
Leib und Seele, oder, in der Fassung, <strong>die</strong> Kant dem ältesten Dualismus gegeben hat,<br />
phänomenales und noumenales Subjekt, empirisches Ich und intelligibles als Gesetzgeber<br />
der Moral. Die meisten Menschen aber wissen nichts <strong>von</strong> der Existenz einer<br />
Seele und bestreiten <strong>die</strong>selbe, weil eben <strong>die</strong> große Mehrzahl <strong>von</strong> ihnen bis vielleicht<br />
auf wenige Augenblicke ganz seelenlos lebt. „Peer Gynt“ ist <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> des<br />
Menschen, der seine Seele sucht, und daher sicherlich <strong>die</strong> Dichtung, welche für <strong>die</strong><br />
größte Anzahl <strong>von</strong> Menschen (wenn nicht für alle) geschrieben ist.<br />
Die Seelenlosigkeit spielt in der Dichtung überhaupt <strong>die</strong> größte Rolle. Anitra<br />
repräsentiert sie in der ausgebildetsten Gestalt, in welcher sie beim Menschen<br />
möglich ist. Sie ist das, was den Mann sinnlich reizt, ohne ihm zu höherer Regung<br />
Gelegenheit zu geben, <strong>die</strong> kokette Puppe. In ihr ist nicht einmal ein Streben nach<br />
einem Selbst da, statt dessen lockt sie der glänzende Edelstein, wie eine Elster. 27 In<br />
Peer Gynt dagegen, dem Manne, ist ein Streben, wenn auch ein völlig mißleitetes, ein<br />
Sich-Suchen, ohne sich finden zu können, weil er fort und fort nur immer möglichst<br />
viel auf sein empirisches Ich häuft, ohne sich hierdurch mehr als einen Scheinwert<br />
geben zu können, der jeden Augenblick <strong>von</strong> ihm herunterfallen kann, wie der<br />
Prophetenmantel. Dieses Wesen des Peer Gynt wird uns nun <strong>von</strong> Ibsen – und <strong>die</strong>s ist<br />
27 Die Frauen suchen Seele nur beim Mann, als Sexualcharakter wie Bart und Muskelkraft, nicht für sich selbst.<br />
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