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Ueber die letzten Dinge (1904), von Otto Weininger - Natural Thinker

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ihn ausübte. Nach einer Siegfriedvorstellung sagte er einmal, er begreife nicht, wie –<br />

nach <strong>die</strong>ser Melo<strong>die</strong> – das Haus noch stehen bleiben könne. Noch in der verzweifelten<br />

Stimmung seiner <strong>letzten</strong> Lebenstage wurde er <strong>von</strong> dem Motiv – er selbst nannte es<br />

„<strong>die</strong> Resorption des Horizontes“ (weil der ganze Horizont hier gleichsam umarmt,<br />

verschlungen wird) – aufs furchtbarste erschüttert. Vor der zunehmenden<br />

Verdunkelung seiner Gemütsstimmung tat sich noch einmal ein weiter offener blauer<br />

Himmel auf; dem umdüsterten Auge erstrahlte noch einmal das „siegende Licht.“ –<br />

Sonst will ich noch das Regenbogen-Motiv (Rheingold) erwähnen, welches ihm etwas<br />

<strong>von</strong> der „Freiheit des Objektes“ zu enthalten schien; auch <strong>die</strong>ses schätzte er besonders<br />

hoch. – Einige musikpsychologische Bemerkungen über Wagnersche Melo<strong>die</strong>n, <strong>die</strong><br />

ihm besonders nahe gingen, hat er übrigens selbst in <strong>die</strong>sem Buche zur Sprache<br />

gebracht.<br />

Nächst Richard Wagner verehrte er Beethoven am meisten. Er hielt Beethoven für<br />

ein Genie, dessen Gefahr das Verbrechen gewesen ist, wie Knut Hamsun, Kant,<br />

Augustinus. Die Gefahr des Bösen, <strong>die</strong> Sehnsucht nach Reinheit, das furchtbare<br />

Leiden und der gewaltige Kampf waren es, <strong>die</strong> ihn bei Beethoven anzogen; vor allem<br />

aber jene merkwürdige, verklärte Freude, deren Beethoven allein fähig war – er<br />

nannte sie „<strong>die</strong> gerettete Freude.“ (Dabei dachte er besonders an das Adagio aus der<br />

IX. Symphonie, <strong>die</strong> Stelle in B-dur.) – Von den Mozartschen Opern schätzte er den<br />

Don Juan am höchsten; Mozart, Bach und Händel waren <strong>die</strong> – in seinem weiteren<br />

Sinne – frömmsten Komponisten. 5 Als <strong>die</strong> Gefahr Bachs sah er das Chaos an; <strong>die</strong><br />

Gefahr des Händel sei Zweifel an der Allmacht Gottes gewesen. Aus der modernen<br />

Musik schätzte er das Lied der Solveig in Griegs Peer-Gynt-Suite besonders hoch; er<br />

nannte dessen A-dur-Melo<strong>die</strong> „<strong>die</strong> größte Luftverdünnung, <strong>die</strong> jemals erreicht worden<br />

sei.“ – Die sogenannte „leichte Musik“ war ihm entweder gleichgültig oder (wie z.B.<br />

alle Walzer) direkt antipathisch.<br />

Ich will nun einiges über das Verhältnis <strong>Weininger</strong>s zur Natur anführen. Er besaß<br />

eine ungeheuer starke, sehr differenzierte und sehr umfassende Naturempfindung; hier<br />

zeigte sich recht eigentlich seine durchaus universelle Veranlagung. Das höchste für<br />

ihn war der Sonnenuntergang (der ihm wahrscheinlich das Erlöschen des göttlichen<br />

Lichtes beim Sündenfall symbolisierte). Alle Erscheinungen des Lichtes wirkten sehr<br />

stark auf ihn; am stärksten der Anblick des Feuers, das er als den Ausdruck des<br />

Bösen, der Vernichtung empfand. Auch für das Wasser in allen seinen Formen hatte<br />

er viel Sinn. Die Quelle bedeutete ihm <strong>die</strong> Geburt, der Fluß das apollinische und das<br />

Meer das dionysische Prinzip. Überhaupt wurde alles Sichtbare als das Symbol einer<br />

ethischen und psychischen Realität aufgefaßt. Nicht als ob sich jede Empfindung<br />

gleich in abstrakte Reflexion umgesetzt hätte; sondern das intensivste Naturerlebnis<br />

war ihm eins mit einer sicheren Erkenntnis über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>die</strong>ses Phänomens für<br />

das Universum. Mit der Form und der Farbe zugleich erschaute er <strong>die</strong> sittliche Potenz,<br />

<strong>die</strong> Idee, <strong>die</strong> Symbol eines Geistigen. „Alle Tiere sind Symbole verbrecherischer, alle<br />

Pflanzen Symbole neurasthenischer Phänomene im Menschen“ (Letzte Aphorismen).<br />

In <strong>die</strong>ser Symbolik traf sich seine Intuition mit der idealistischen Philosophie. „Die<br />

Welt ist meine Vorstellung“ –, somit kommt allen Erscheinungen nur soweit Realität<br />

zu, als sie Symbole jener zweiten Welt sind, <strong>die</strong> uns in verschiedenen Gestalten hier<br />

entgegentritt: als das höhere, ewige Leben; als das zeitlose Sein, als <strong>die</strong> intelligible<br />

5 Man lese <strong>die</strong> Stelle über <strong>die</strong> Arten der Frömmigkeit in „Geschlecht und Charakter“ (1. Auflage, S.433) nach. Da<br />

heißt es unter anderem: „Frömmigkeit braucht nicht in ewiger Betrachtung vor dem Weltganzen zu stehen (so wie<br />

Bach vor ihm steht); sie mag (wie bei Mozart) als eine alle Einzeldinge begleitende Religiosität sich offenbaren.“<br />

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