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Die Tugend der Gerechtigkeit aus Aristoteles - dramma.de

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_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

<strong>Die</strong> <strong>Tugend</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

<strong>aus</strong><br />

<strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik<br />

im Vergleich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>aus</strong><br />

Platons Politeia<br />

Hauptseminararbeit<br />

Dozent: Dr. Bauer (i. V.: Prof. Dr. Hubig)<br />

Seminartitel: <strong>Aristoteles</strong> – Nikomachische Ethik<br />

WS 2006/07<br />

Christian Schlatow<br />

Mostgasse 3<br />

74572 Blaufel<strong>de</strong>n<br />

christianschlatow@gmx.net<br />

Mtrknr. 2265827<br />

cand. phil., cand. rer.nat. (Philosophie / Physik, Lehramt)<br />

Universität Stuttgart<br />

Seite | i<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

0 Abstract ......................................................................................... 1<br />

1 Ante ............................................................................................... 2<br />

2 Einleiten<strong><strong>de</strong>r</strong> Überblick über Politeia und Nikomachische Ethik .................... 5<br />

2.1 Platon – Politeia ......................................................................... 5<br />

2.1.1 Übersicht über <strong>de</strong>n Inhalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Politeia ...................................... 6<br />

2.1.1.1 Einleitung ...................................................................... 6<br />

2.1.1.2 Teil I – <strong>Die</strong> Suche nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ............................ 7<br />

2.1.1.3 Teil II – <strong>Die</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s gerechten Staates 8<br />

2.1.1.4 Teil III – Endgültige Prüfung <strong>de</strong>s Nutzens <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ..... 9<br />

2.1.1.4 Schluss ...................................................................... 10<br />

2.1.2 Zur Unterscheidung verschie<strong>de</strong>ner Typen von <strong>Gerechtigkeit</strong> (in<br />

Bezug auf Platon) ............................................................................. 10<br />

2.2 <strong>Aristoteles</strong> - Nikomachische Ethik ................................................ 11<br />

2.2.1 Kurze Übersicht über die Nikomachische Ethik ......................... 12<br />

2.2.2 Kritik <strong>Aristoteles</strong>‘ an Platon .................................................. 15<br />

3 Vergleich <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeptionen bei Platon und <strong>Aristoteles</strong> ........ 17<br />

3.1 <strong>Gerechtigkeit</strong> in Platons Politeia................................................... 17<br />

3.1.1 Verworfene Charakterisierungen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ............ 17<br />

3.1.1.1 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Kephalos ............................... 17<br />

3.1.1.2 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Polemarchos ......................... 18<br />

3.1.1.3 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Thrasymachos ....................... 19<br />

3.1.2 Glaukons Re<strong>de</strong> wi<strong><strong>de</strong>r</strong> die <strong>Gerechtigkeit</strong> ................................ 21<br />

3.1.3 Endgültige Bestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ............................ 22<br />

3.2 <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>‘ Nikomachischer Ethik (Buch V) ............ 28<br />

3.2.1 Austeilen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ..................................................... 30<br />

3.2.2 Ausgleichen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> .............................................. 33<br />

3.2.2.1 Ungewollte Transaktionen .............................................. 33<br />

3.2.2.2 Gewollte Transaktionen ................................................. 35<br />

Seite | ii<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

3.2.3 Politische <strong>Gerechtigkeit</strong> .................................................... 36<br />

3.2.3.1 Natürliche vs. Gesetzte <strong>Gerechtigkeit</strong> ............................ 36<br />

3.2.3.2 Arten <strong><strong>de</strong>r</strong> Schädigungen in Transaktionen ....................... 38<br />

3.2.3.3 Von <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen <strong>Gerechtigkeit</strong> unterschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Formen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> .......................................................................... 38<br />

3.2.4 Aequitas – Billigkeit .......................................................... 39<br />

3.3 Unterschie<strong>de</strong> und Gemeinsamkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeptionen 39<br />

4 Abschließen<strong>de</strong> Bemerkungen ............................................................ 42<br />

5 Literatur ....................................................................................... 45<br />

Seite | iii<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

0 Abstract<br />

<strong>Die</strong> vorliegen<strong>de</strong> Arbeit untersucht die zwei Konzepte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> von Platon<br />

und <strong>Aristoteles</strong> auf Gemeinsamkeit und Unterschie<strong>de</strong> hin, da diese Konzepte<br />

die ersten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophiegeschichte sind, die sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> befassen.<br />

Daher wer<strong>de</strong>n eben jene Konzepte kurz dargestellt und in <strong>de</strong>n Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> sie<br />

umgeben<strong>de</strong>n Untersuchung eingebettet, was heißt: es wird ein kurzer Überblick<br />

über die Politeia von Platon gegeben und dabei die platonische <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeption<br />

(>Platonische Formel


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

1 Ante<br />

<strong>Die</strong> Frage nach<strong>de</strong>m,<br />

was <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> was gerecht ist,<br />

hat sich wahrscheinlich<br />

schon je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

min<strong>de</strong>stens einmal<br />

gefragt, auch wenn er<br />

kein Philosoph ist o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zu glauben scheint.<br />

Schon im Kin<strong>de</strong>salter<br />

ist man darauf bedacht,<br />

nicht hintenan<br />

zu stehen; wenn zum<br />

Beispiel unter Geschwistern<br />

Aufgaben<br />

zu verteilen sind, stellt<br />

sich auch keine min<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Frage als diejenige<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>.<br />

In Abb.1.1 sehen wir<br />

zwei Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>. Das eine<br />

hat irgen<strong>de</strong>twas in<br />

einem Eimer, mit <strong>de</strong>m<br />

es nichts so recht<br />

anzufangen weiß, wobei<br />

die schwarze<br />

Abb.1.1 Zur <strong>Gerechtigkeit</strong> (<strong>aus</strong> [9])<br />

Seite | 2<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Freundin behilflicht ist und zu zeigen gibt, das es sich um etwas han<strong>de</strong>lt, das man<br />

in <strong>de</strong>n Mund stecken kann. Das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kind erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t diese Hilfe, in<strong>de</strong>m es ihr<br />

auch dieses Etwas (<strong>de</strong>n Begriff >>Eis>schwesterlichgerecht< be<strong>de</strong>utet.<br />

Und eben jene Fairness, jene <strong>Gerechtigkeit</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigste Grundstein dafür,<br />

dass ein Gemeinwesen – in diesem Fall eine Spielgmeineschaft – existieren kann,<br />

da dieses in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenseitigkeit und im Ausgleich mehrerer besteht.<br />

Aber gera<strong>de</strong> nun in dieser Gemeinschaft stößt man natürlich immer und immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> >gegen< <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, wie es im Wort >Gegen-seitigkeit< eben zu lesen ist,<br />

sodass ein Interessen<strong>aus</strong>gleich stattzufin<strong>de</strong>n hat. Und dies gilt für alle Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Menschheitsgeschichte! Immer sind es unterschiedliche Interessen, die<br />

gegeneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> angeglichen wer<strong>de</strong>n müssen. Und immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> stellt sich die<br />

Frage: wie? Ein wichtiger Punkt ist, dass bei<strong>de</strong> Partei nun einen Kompromiß<br />

einzugehen bereit sind, dass bei<strong>de</strong> sich in diesem nun gerecht behan<strong>de</strong>lt fühlen.<br />

Neue Erkenntnisse <strong><strong>de</strong>r</strong> Hirnforschung zeigen sogar, dass solch einen<br />

<strong>Gerechtigkeit</strong>ssinn auch Tiere besitzen und dieser sich beim Menschen auch mit<br />

Magnetfel<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>aus</strong>schalten lässt. 1<br />

Von daher scheint es <strong><strong>de</strong>r</strong> Mühe wert zu sein, sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage zu befassen,<br />

was die Gerechigkeit nun <strong>aus</strong>macht und dabei die ersten philosophischen<br />

Behandlungen dieser Frage, die wir bei Platon und <strong>de</strong>ssen Schüler <strong>Aristoteles</strong><br />

fin<strong>de</strong>n, die vor circa 2000 Jahren lebten. Inwiefern trifft nun <strong><strong>de</strong>r</strong>en Untersuchung<br />

auf unsere Zeit zu, in <strong><strong>de</strong>r</strong> immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach mehr <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

gestellt wird, in <strong><strong>de</strong>r</strong> es eine immer größere wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> >>Kluft zwischen Arm und<br />

1 s.[9], S.52<br />

Seite | 3<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Reich


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

2 Einleiten<strong><strong>de</strong>r</strong> Überblick über Politeia und Nikomachische Ethik<br />

In dieser Arbeit möchten wir die die Konzeptionen und Beschreibungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

><strong>Gerechtigkeit</strong>< von Platon und <strong>Aristoteles</strong>, <strong>de</strong>m Schüler von Platon, untersuchen.<br />

Platon und <strong>Aristoteles</strong> sind die wirkungsmächtigsten aller Philosophen <strong><strong>de</strong>r</strong> Antike<br />

(und auch wichtigen Quellen eben jener an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Philosophen <strong>aus</strong> dieser Zeit), wobei<br />

Platon hier noch tiefer auf seine Nachwelt eingewirkt als <strong>Aristoteles</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> gewissermaßen<br />

– als <strong>de</strong>ssen Schüler – <strong>aus</strong> Platon hervorgegangen ist. 2 Daher wird es<br />

interessant sein, ob und welche unterschiedlichen von bei<strong>de</strong>n zur <strong>Tugend</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

geäußert wer<strong>de</strong>n.<br />

Zu Beginn unserer Untersuchungen müssen wir uns nun zuerst kurz <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />

zu vergleichen<strong>de</strong>n Schriften widmen, um später die jeweiligen Beschreibungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Tugend</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> vergleichen zu können.<br />

Wir beginnen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> älteren Schrift, also <strong><strong>de</strong>r</strong> Politeia von Platon.<br />

Anmerkung:<br />

<strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Werke sind unterschiedlichen stilistischen Formen geschrieben:<br />

Während Platons Werk formal als Dialog daherkommt, wenngleich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hauptredner Sokrates ist und daher stellenweise von einem Monolog gesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n kann, ist <strong>Aristoteles</strong>‘ NE einer wissenschaftlichen Abhandlung<br />

ähnlicher.<br />

2.1 Platon – Politeia<br />

Platon stellt in seinem Werk keine geringere Frage als die nach eben jenem<br />

Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>, <strong>de</strong>n wir mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s <strong>Aristoteles</strong> zu vergleichen suchen.<br />

Somit lautet schlechthin seine Ausgangsfrage:<br />

2 s.[8], S.126<br />

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Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

„Was ist <strong>Gerechtigkeit</strong>?“,<br />

welche er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Politeia behan<strong>de</strong>lt.<br />

Um nun die <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeption Platons verstehen zu können, müssen wir<br />

uns kurz mit <strong>de</strong>m groben Inhalt <strong>de</strong>s Werkes vertraut machen.<br />

2.1.1 Übersicht über <strong>de</strong>n Inhalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Politeia<br />

Das Werk ist in zehn Büchern aufgeteilt, diese wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um in Unterkapiteln; die<br />

Bücher können ebenso unter Oberthemen subsummiert wer<strong>de</strong>n, sodass sich folgen<strong>de</strong><br />

Einteilung <strong>de</strong>s Textes ergibt (vgl. Einteilung <strong><strong>de</strong>r</strong> angegebenen Ausgabe <strong>de</strong>s<br />

Textes):<br />

1. Einleitung – Das Problem <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> und ihres Nutzens<br />

2. Teil I – <strong>Die</strong> Suche nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

3. Teil II – <strong>Die</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s gerechten Staates<br />

4. Teil III – Endgültige Prüfung <strong>de</strong>s Nutzens <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

5. Schluss<br />

Man sieht, dass die Diskussion <strong>aus</strong>geht von alltäglichen Meinungen und Konzepten<br />

von „gerecht sein“ resp. <strong>Gerechtigkeit</strong>, welche wie<strong><strong>de</strong>r</strong>legt o<strong><strong>de</strong>r</strong> zumin<strong>de</strong>st<br />

angezweifelt wer<strong>de</strong>n, hin zu einem von Sokrates / Platon geleiteten Dialog, welcher<br />

sich jedoch hauptsächlich als Monolog von ebenjenem erweist, übergeht in Platons<br />

Konzeption <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>. Abschließend wird noch auf die <strong>Gerechtigkeit</strong>svorstellung<br />

in Bezug auf ein Leben nach <strong>de</strong>m Tod und die damit verbun<strong>de</strong>nen Vorstellungen<br />

eingegangen, was in dieser Abhandlung jedoch weggelassen wird.<br />

2.1.1.1 Einleitung<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Einleitung wird zum beabsichtigten Thema hingeführt, in<strong>de</strong>m eine Diskussion<br />

zum moralischen Problem <strong>de</strong>s guten Lebens und <strong><strong>de</strong>r</strong> inhärenten <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

begonnen wird. Hierin wer<strong>de</strong>n u. a. folgen<strong>de</strong> Thesen von <strong>Gerechtigkeit</strong> aufgezeigt:<br />

a. G. als die Erstattung <strong>de</strong>ssen man schuldig ist<br />

Seite | 6<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

b. Das Gerechte ist das <strong>de</strong>m Stärkeren zuträgliche.<br />

c. Ungerechtigkeit ist nützlicher als G.<br />

d. etc.,<br />

welche sich jedoch im Verlauf alle als fehlerbehaftet her<strong>aus</strong>stellen (da man (ad a.)<br />

i. e. auch unvernünftige For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen schuldig wäre o<strong><strong>de</strong>r</strong> (ad b.) <strong><strong>de</strong>r</strong> Stärkere nicht<br />

unfehlbar ist, usf.), sodass Sokrates argumentiert, die <strong>Gerechtigkeit</strong> sei die <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Seele „eigentümliche <strong>Tugend</strong>“ 3 .<br />

2.1.1.2 Teil I – <strong>Die</strong> Suche nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

Infolge dieser Argumentation wird nun Sokrates, <strong>de</strong>m Protagonisten <strong><strong>de</strong>r</strong> platonischen<br />

Werke (s.o.), auf das Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> aufmerksam (Einleitung),<br />

welcher Art diese ist, bzw. in <strong><strong>de</strong>r</strong> platonischen Terminologie: was die I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

<strong>aus</strong>macht.<br />

Dazu versucht er zuerst die <strong>Gerechtigkeit</strong> anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> im Staate<br />

zu fassen, da diese – wie er meint – am größeren Objekt, <strong>de</strong>m Staat, besser zu<br />

schauen ist als am kleineren, <strong>de</strong>m einzelnen Menschen. Wie man sieht nimmt er<br />

an, die <strong>Gerechtigkeit</strong> habe eine in allen unterschiedlichen Sprachgebräuchen <strong>de</strong>s<br />

Wortes eine inhärente Be<strong>de</strong>utung, da er hier zwei verschie<strong>de</strong>ne >Typen< von <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

zu vergleichen versucht, zum einen die <strong>Gerechtigkeit</strong> in einem Staat –<br />

also eines Verbun<strong>de</strong>s von Menschen – mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> eines einzelnen Menschen.<br />

Inwieweit dies gerechtfertigt ist o<strong><strong>de</strong>r</strong> wo sich dies als problematisch einstufen<br />

lässt, wollen wir anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Diskussion mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik her<strong>aus</strong>zufin<strong>de</strong>n<br />

versuchen.<br />

3 s. PP, S. 242<br />

Seite | 7<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

2.1.1.3 Teil II – <strong>Die</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s gerechten Staates<br />

Desweiteren stellt Sokrates Überlegungen über die Stabilität dieses gerechten<br />

Staates an und stellt fest, dass Philosophen am geeignetsten wären, um zu herrschen,<br />

da sie das Wahre selbst schauen 4 .<br />

Im <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Kapiteln führt Platon nun <strong>aus</strong>, wie sich für ihn ein gerechter<br />

Staat darstellt, und skizziert sowohl die Institutionen als auch damit zusammenhängen<strong>de</strong><br />

Vorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung, mitsamt seiner Vorstellung wie Philosophen zu<br />

sein hätten 5 (bzw. durch was diese gefähr<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n) als auch die „Bildungsnormen“<br />

(Linien-, Sonnen- und Höhlengleichnis, u.a.). Somit stellt sich die Politeia als<br />

ein sehr umfassen<strong>de</strong>s und weitrechen<strong>de</strong>s, über die Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Moralphilosophie,<br />

in welcher heute die Diskussion über die <strong>Gerechtigkeit</strong> verortet wird, hin<strong>aus</strong>gehen<strong>de</strong>s,<br />

Werk dar.<br />

Einem Parforceritt gleichend entwirft er nun ein Staatenmo<strong>de</strong>ll <strong>aus</strong>gehend von<br />

einer Urpolis 6 , die <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Bedürfnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Anwesenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitmenschen und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Arbeitserleichterung - immer weiter hin zu einem „üppigen“ – und nach Platon auch<br />

realisierbarem – Staat hin erwächst, in <strong>de</strong>m alle Positionen/Ämter aufgezeigt wer<strong>de</strong>n<br />

und sowohl die Ausbildung als auch die Umgangsweisen und Charaktere <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Wehr- und Lehrstands eingehend erläutert wird.<br />

Anmerkung:<br />

Im Text wird von drei Stän<strong>de</strong>n gesprochen: <strong><strong>de</strong>r</strong> Nährstand (Handwerker,<br />

Bauern, etc.), <strong><strong>de</strong>r</strong> Wehrstand (für die Verteidigung zuständig) und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

4 s. PP 484a<br />

5 s. PP 485a<br />

6 Hierbei muss beachtet wer<strong>de</strong>n, dass zur Zeit Platons Staaten Stadtstaaten waren und es<br />

somit eigentlich unerheblich ist, ob man von einem Staat o<strong><strong>de</strong>r</strong> einer Stadt gesprochen wird. Jedoch<br />

wird in diesem Text überwiegend von einem Staat gesprochen.<br />

Seite | 8<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Lehrstand (Philosophen); diese Dreiteilung begrün<strong>de</strong>t er mythologisch mit<br />

vom Demiurgen 7 <strong><strong>de</strong>r</strong> Seelen beigemischten Teilen von Erz, Silber bzw. Gold.<br />

Man beachte auch die Analogie <strong><strong>de</strong>r</strong> Dreiteilung <strong>de</strong>s Staates durch die Stän<strong>de</strong><br />

zur Dreiteilung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele mit ihren Teilen: Begier<strong>de</strong>, Mut und Vernunft<br />

(vgl. Abb.2.1).<br />

Abb.2.1 Analogie Seele – Staat (<strong>aus</strong> [1], S. 44)<br />

2.1.1.4 Teil III – Endgültige Prüfung <strong>de</strong>s Nutzens <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

Er fin<strong>de</strong>t fünf verschie<strong>de</strong>ne Verfassungen eines Staates – <strong><strong>de</strong>r</strong> gerechte Staat<br />

und seine vier Verfallsformen –, wobei er gleichzeitig neben <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Form <strong>de</strong>s<br />

Staates, diese auf die menschliche Seele projiziert, um dar<strong>aus</strong> <strong>de</strong>n jeweiligen Menschen<br />

charakterisieren zu können und somit neben <strong>de</strong>m gerechten Menschen auch<br />

die vier verschie<strong>de</strong>nen Verfallsformen <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Seele her<strong>aus</strong>arbeitet. Daher<br />

gibt es folgen<strong>de</strong> Verfassungen: aristokratisch, welches die rechte Form <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Seele und <strong>de</strong>s Staates darstellt und die vier Verfallsformen: timokratisch, oligarchisch,<br />

<strong>de</strong>mokratisch und tyrannisch; wobei dies sozusagen die Reihenfolge ihrer<br />

7 <strong>Die</strong>ser ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Weltenbildner <strong><strong>de</strong>r</strong> materiellen Welt, <strong><strong>de</strong>r</strong> diese gemäß <strong><strong>de</strong>r</strong> Vernunft planvoll anlegt,<br />

in<strong>de</strong>m er sie nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>en gestaltet. (s. [1], S.39)<br />

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_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

natürlichen Erscheinung nach Platon darstellt (er beschreibt diesen Verfassungskreislauf<br />

auch).<br />

Da sich nun her<strong>aus</strong>gestellt hat, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechte sich zum Gerechten verhält<br />

wie das Tyrannische zum Aristokratischen, meint er <strong>aus</strong> folgen<strong>de</strong>n drei Grün<strong>de</strong>n,<br />

dass „<strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechte glücklicher sei als <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechte“:<br />

1. Unglückseligkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechtigkeit in <strong><strong>de</strong>r</strong> tyrannisch regierten Stadt<br />

2. <strong>Die</strong> vom tyrannischen Charakter erstrebte Lust ist nicht die wahre<br />

3. Weitere Ver<strong>de</strong>utlichung durch ein Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele und <strong><strong>de</strong>r</strong> Sitte<br />

2.1.1.4 Schluss<br />

Im Schluss folgt nun noch eine abschließen<strong>de</strong> Diskussion über <strong>de</strong>n Ausschluss<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Dichter <strong>aus</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr <strong>de</strong>s Ver<strong><strong>de</strong>r</strong>bs <strong><strong>de</strong>r</strong> tugendhaften Menschen<br />

und eine mythologische Darstellung <strong>de</strong>s Lebens nach <strong>de</strong>m Tod und <strong>de</strong>n Lohn<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>.<br />

2.1.2 Zur Unterscheidung verschie<strong>de</strong>ner Typen von <strong>Gerechtigkeit</strong> (in Bezug auf Platon)<br />

Wenn man die neuere Unterscheidung – zum Beispiel nach Rawls – dieser<br />

oben genannten Typen von <strong>Gerechtigkeit</strong> in lokale <strong>Gerechtigkeit</strong>, <strong>de</strong>n die einzelnen<br />

Personen betreffen<strong>de</strong>n Typus, Binnengerechtigkeit, die sich an Institution in einer<br />

Sozialgemeinschaft richtet, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Globalgerechtigkeit, wobei hier die Adressaten<br />

die verschie<strong>de</strong>nen Sozialgemeinschaften sind, 8 anschaut, stellt man fest, dass Platon<br />

stillschweigend die lokale <strong>Gerechtigkeit</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Binnengerechtigkeit vergleichen<br />

will, also die lokale <strong>Gerechtigkeit</strong> anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Binnengerechtigkeit erläutern möchte.<br />

8 s. [2] Abschn. 4.2<br />

Seite | 10<br />

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_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

<strong>Die</strong> Intention hierfür dürfte diejenige sein, dass bei Platon die <strong>Gerechtigkeit</strong> – also<br />

allen gera<strong>de</strong> beschrieben Typi <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> gemeine Eigenschaft – sucht,<br />

was man mit seiner I<strong>de</strong>enlehre 9 verstehen kann.<br />

2.2 <strong>Aristoteles</strong> - Nikomachische Ethik<br />

<strong>Die</strong> NE von <strong>Aristoteles</strong> ist offen gegen Platon angelegt, was man auch im Text<br />

explizit wie<strong><strong>de</strong>r</strong>fin<strong>de</strong>t. 10 Es stellt sich nun die Frage, ob es sich daher zeigen wird, ob<br />

die <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeption von <strong>Aristoteles</strong> eine etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>e sein wird als die<br />

Platons.<br />

<strong>Die</strong> NE ist eines <strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigsten Werke, welches von <strong>Aristoteles</strong> erhalten ist.<br />

Sie gehört zum Bereich <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen Philosophie (>praxistheoriapraxis< das (durch Menschen)<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>liche das Untersuchungsobjekt darstellt – heute: Soziale Wissenschaften<br />

und Ethische Philosophie –.<br />

Wobei noch angemerkt wer<strong>de</strong>n muss, dass <strong>Aristoteles</strong> unter <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen<br />

Philosophie keine Anwendungswissenschaft versteht, was heute unter Ingenieurwissenschaft,<br />

die ja in Praxis angewen<strong>de</strong>t wird, um ein Ding herzustellen, bekannt<br />

ist.<br />

9 Nach Platon kann man eine I<strong>de</strong>e als eine Immaterialität ansehen, die einer Gruppierung von<br />

Materialien innewohnt, wodurch sie im Materiellen (Phänomene) als eine Gruppe ähnlicher Dinge<br />

(auch: Mannigfaltigkeit) in Erscheinung tritt (i.e. I<strong>de</strong>e „Mensch“, an <strong><strong>de</strong>r</strong> alle Menschen teilhaben und<br />

somit zu Gruppe „Mensch“ zu zählen ist).<br />

10 s.NE 1095b2<br />

Seite | 11<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich vielmehr bei <strong><strong>de</strong>r</strong> aristotelischen praxis um Han<strong>de</strong>ln i. S. v. lateinisch<br />

agere = han<strong>de</strong>ln, miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen, und nicht i.S.v. herstellen<br />

(lateinisch facere = machen). Hier wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um teilt <strong>Aristoteles</strong> <strong>de</strong>n Gegenstandsbereich<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hinsicht auf, dass eine Hierarchie vom kleineren zum größeren hin<br />

erkennbar wird: erstens ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Adressat <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen resp. die einzelnen<br />

miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> agieren<strong>de</strong>n Menschen, zweitens mit <strong>de</strong>m größeren Verbund <strong>de</strong>s<br />

H<strong>aus</strong>es, zu <strong>de</strong>m je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch gehört, beschäftigt sich die Ökonomie, wobei wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um<br />

das H<strong>aus</strong>wesen zur/m Polis/Staat gehört, mit welchem sich die Politik<br />

beschäftigt.<br />

Also: a) Politik<br />

b) Ökonomie<br />

c) Ethik.<br />

Wie man erkennt ist die NE eine <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n 11 Schriften, die noch erhalten sind,<br />

die zur Ethik gehören.<br />

2.2.1 Kurze Übersicht über die Nikomachische Ethik<br />

Ähnlich <strong><strong>de</strong>r</strong> PP ist die NE in <strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Form in zehn Büchern unterteilt und<br />

glie<strong><strong>de</strong>r</strong>t somit das Werk. Durch die oben genannte Einordung <strong><strong>de</strong>r</strong> NE in die praktische<br />

Philosophie ergibt sich natürlich das Untersuchungsobjekt <strong>Aristoteles</strong>‘ von<br />

selbst: das Han<strong>de</strong>ln <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen. Beginnend bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage, was <strong>de</strong>nn das gute<br />

menschliche Leben sei, beginnt seine Untersuchung, die nun schon darin mün<strong>de</strong>t,<br />

eine Definition für eben jenes Gut zu geben, was das Ziel allen menschlichen Han<strong>de</strong>lns<br />

ist, da alles – sowohl tun als auch han<strong>de</strong>ln nach <strong><strong>de</strong>r</strong> obigen Unterscheidung –<br />

nach einem Gut strebt.<br />

11 <strong>Die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Schrift ist die Eu<strong>de</strong>mische Ethik, wobei es noch eine weitere Schrift gibt (Magna<br />

Moralia), die jedoch nicht von <strong>Aristoteles</strong> stammen soll. (vgl. angegeben Ausgabe von NE, S.10)<br />

Seite | 12<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Auch wenn je<strong>de</strong> Tätigkeit ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Ziel hat, gibt es ein übergeordnetes Ziel,<br />

welches man um seiner selbst willen anstrebt (da es sonst noch ein höheres Ziel<br />

gäbe), um <strong>de</strong>ssen Willen man je<strong>de</strong> mögliche Tätigkeit überhaupt durchführt (wenn<br />

es kein (auch temporäres) Ziel gäbe, wür<strong>de</strong> man keine Handlung durchführen). Und<br />

eben dieses Ziel ist „ (eudaimonia) “ 12 , was soviel heißt, als „dass<br />

man gut lebt (eu zēn) und gut han<strong>de</strong>lt (eu prattein)“ 13 . Im dritten Abschnitt <strong>de</strong>s<br />

ersten Buches gibt <strong>Aristoteles</strong> nun die drei wichtigsten Lebensformen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Glücke (i.S.v. eudaimonia) unterschiedlicher Art sind; es sind:<br />

1. Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Lust<br />

2. Politisches Leben<br />

3. Betrachten<strong>de</strong>s (o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch: philosophisches) Leben,<br />

wobei das erste als eine „sklavenhafte Art […] [<strong>de</strong>s] Leben[s] <strong>de</strong>s Viehs“ 14 bezeichnet<br />

wird, aber auch das politisches Leben, <strong><strong>de</strong>r</strong> „kultivierten und aktiven (praktikoi)<br />

Menschen“ 15 , die die Ehre wählen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Ziel die „Gutheit (aretē) “ 16 ist, wäre nach<br />

<strong>Aristoteles</strong> „zu wenig fertig“ 17 , da sie sowohl positiv als auch negativ >>eingesetzt


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

in <strong>de</strong>n Büchern II-V und Buch IV und die zweite Hälfte von Buch X befasst sich mit<br />

<strong>de</strong>m Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie. Wir erhalten also folgen<strong>de</strong> Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> zehn Bücher 18 :<br />

I<br />

II<br />

III 1-7<br />

Begriff <strong>de</strong>s Ziels, <strong>de</strong>s Guten und <strong>de</strong>s Glücks<br />

Definition <strong><strong>de</strong>r</strong> ethischen <strong>Tugend</strong><br />

Han<strong>de</strong>ln <strong>aus</strong> eigenem Wollen und Vorsatz<br />

III 8-V <strong>Die</strong> einzelnen ethischen <strong>Tugend</strong>en (darunter wichtig:)<br />

V <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

VI Vernunfttugen<strong>de</strong>n<br />

VII 1-11 Unbeherrschtheit<br />

VII 12-15 Lust (erste Abhandlung)<br />

VIII-IX Freundschaft<br />

X 1-5 Lust (zweite Abhandlung)<br />

X 6-9 Zwei Antworten auf die Frage nach <strong>de</strong>m Glück<br />

X 10 Überleitung zur Politik<br />

Somit haben wir <strong>de</strong>n Rahmen abgesteckt, in <strong>de</strong>m <strong>Aristoteles</strong> seine Untersuchung<br />

durchführt. Wenn wir alleine die Einteilung <strong>de</strong>s Textes mit <strong>de</strong>m Platons vergleichen,<br />

erkennen wir schon einen Unterschied: während sich Platons Politeia in<br />

drei aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong> folgen<strong>de</strong>n Teilen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>ntifizierung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> und <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Realsierung beschäftigt, ist bei <strong>Aristoteles</strong> die Untersuchung eher auf ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es<br />

>>Bleiben<strong>de</strong>s


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

2.2.2 Kritik <strong>Aristoteles</strong>‘ an Platon<br />

Es gibt keine Formen für etwas, das in eine Reihenfolge von >früher< und<br />

>später< gepackt wer<strong>de</strong>n kann; >>gut>gut>gut>gut>Gut>taugt>gut>gut>gut


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

ansehen, die das als <strong>aus</strong>gangsbe<strong>de</strong>utung erschlieszbare verhältnis <strong>de</strong>s verbun<strong>de</strong>nseins,<br />

passens, taugens (vgl. sp. 1228) auf das gebiet <strong>de</strong>s psychischen<br />

überträgt“ 21<br />

Ist gut dann zufällig immer homonym? Es bestün<strong>de</strong> eine Analogie zwischen <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nen Be<strong>de</strong>utungen von >>gut


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

3 Vergleich <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeptionen bei Platon und <strong>Aristoteles</strong><br />

3.1 <strong>Gerechtigkeit</strong> in Platons Politeia<br />

Wir haben bereits oben kurz angesprochen, dass Platon zu Beginn einige I<strong>de</strong>en<br />

über die <strong>Gerechtigkeit</strong> äußert, die wir uns jetzt nochmals kurz ins Gedächtnis rufen<br />

möchten.<br />

3.1.1 Verworfene Charakterisierungen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

3.1.1.1 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Kephalos<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s Textes steht ein erstes Gespräch Sokrates’ mit Kephalos, einem<br />

älteren, gut betuchten Gewerbsmann, bei <strong>de</strong>m er zuerst von <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage <strong>de</strong>s Alters<br />

über <strong>de</strong>ssen Genuss wegen vorhan<strong>de</strong>nem Reichtums (Kephalos‘) zur Frage <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Gerechtigkeit</strong> kommt. Ausgehend vom Volksglauben, nach <strong>de</strong>m es ein Leben nach<br />

<strong>de</strong>m Tod gäbe, - und in Anbetracht seines fortgeschrittenen Alters - wird von Kephalos<br />

die <strong>Gerechtigkeit</strong> dahingehend <strong>de</strong>finiert, nicht „einem Gott irgend Opfergaben<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> einem Menschen Geld schuldig [zu] bleiben“ 26 ; man könnte auch sagen:<br />

>>schul<strong>de</strong>nfrei


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

dass man ihm so (d.h. ihm die Waffen in diesem Zustand wi<strong><strong>de</strong>r</strong>gebend) nicht <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

wi<strong><strong>de</strong>r</strong>fahren lassen wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, so nun Sokrates 29 .<br />

3.1.1.2 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Polemarchos<br />

Im darauf folgen<strong>de</strong>n Gespräch mit Polemarchos, <strong>de</strong>m Sohn Kephalos‘, wird die<br />

These <strong>de</strong>s Simoni<strong>de</strong>s diskutiert, die da lautet: >><strong>Gerechtigkeit</strong> ist die Erstattung<br />

<strong>de</strong>ssen, was man schuldig ist>Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>geben>sichere Sache


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

betreiben<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> Heilkunst im Arzt) übertroffen. Somit kann die <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

nichts „sehr Wichtiges [sein], wenn sie nur in bezug auf das Unnütze nützlich ist“ 34 .<br />

Weiterhin stellt Sokrates nun noch fest, dass „es auf keine Weise gerecht sein<br />

könne, irgend jemand Scha<strong>de</strong>n zuzufügen“ 35 und schon gar nicht für <strong>de</strong>n Gerechten,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> gut ist. Da es nicht die Eigenschaft von etwas ist sein Gegenteil zu bewirken<br />

(Sokrates bringt hier z.B. das Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Trockenheit, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Sache es ist<br />

nicht ist anzufeuchten 36 , o.ä.). Sodass die Simonidische Definition <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

als nicht richtig gelten kann, da <strong><strong>de</strong>r</strong>en Kern ja im Verteilen von Nutzen und Scha<strong>de</strong>n<br />

jeweils für Freund und Feind liegt.<br />

3.1.1.3 … <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gespräch mit Thrasymachos<br />

Nun mischt sich Thrasymachos in das Gespräch ein, das er schon länger beobachtet<br />

hat. Er wirft Sokrates vor, nur „leeres Geschwätz“ 37 von sich zu geben und<br />

nur umeinan<strong><strong>de</strong>r</strong> zu re<strong>de</strong>n, als auch greift er die >>Metho<strong>de</strong>


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

jedoch nicht als Regent handle)) die Gesetze mache, und diese einzuhalten gerecht<br />

sei.<br />

Doch Sokrates wi<strong><strong>de</strong>r</strong>legt auch diese Definition, da je<strong>de</strong> Kunst nicht das ihr<br />

selbst Zuträgliche im Blick hat, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>de</strong>ssen Kunst sie ist, wie etwa <strong><strong>de</strong>r</strong> Arzt<br />

nicht „auf das <strong>de</strong>m Arzt Zuträgliche“ 40 absieht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n „das <strong>de</strong>m Kranken“ 41 . So<br />

ist steht es nun auch mit <strong>de</strong>m Regenten: >ein Regieren<strong><strong>de</strong>r</strong> befiehlt nicht das ihm<br />

selbst Zuträgliche, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das <strong>de</strong>m Regierten Zuträgliche< 42 .<br />

Thrasymachos entgegnet nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um – im Bild <strong>de</strong>s Hirten und <strong><strong>de</strong>r</strong> Schafe –<br />

dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Stärkere natürlicherweise für seinen Vorteil die Gesetze mache, sodass<br />

die Ungerechtigkeit daher nützlicher für die Beherrschten sei („das Ungerechte<br />

aber ist das je<strong>de</strong>m selbst Vorteilhafte und Zuträgliche“ 43 ). <strong>Die</strong>sem wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spricht nun<br />

Sokrates, <strong>de</strong>nn „<strong><strong>de</strong>r</strong> Hirtenkunst liegt […] nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es ob, als daß sie <strong>de</strong>m, worüber<br />

sie gesetzt ist, das Beste darreichte“ 44 . Denn die <strong><strong>de</strong>r</strong> Kunst Zuträgliches ist<br />

von <strong>de</strong>m die Kunst Ausführen<strong>de</strong>n Zuträgliches (d.i. <strong><strong>de</strong>r</strong> Lohn) abgetrennt, sodass<br />

<strong>de</strong>m Meister „sie [die Kunst, Anm.] […] auch keinen Vorteil dann [bringt], wenn er<br />

sie umsonst <strong>aus</strong>übt“ 45 . Deshalb – so Sokrates – sollen die Gerechten regieren,<br />

obgleich sie nicht davon profitieren. Wie sieht es nun mit <strong><strong>de</strong>r</strong> These <strong>aus</strong>, dass die<br />

Ungerechtigkeit nützlicher sei als die <strong>Gerechtigkeit</strong>?<br />

Sokrates sagt hierzu, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechte <strong>de</strong>m Törichten ähnlich sei, während<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechte <strong>de</strong>m Kundigen gleiche. Und zwar, da <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechte sowohl <strong>de</strong>m<br />

Gerechten als auch Ungerechten – also auch seinesgleichen – etwas vor<strong>aus</strong> haben<br />

will, wie etwa <strong><strong>de</strong>r</strong> Törichte sowohl <strong>de</strong>m Weisen als auch seinesgleichen vor<strong>aus</strong> sein<br />

will, will <strong><strong>de</strong>r</strong> Weise hingegen nur <strong>de</strong>m Unkundigen vor<strong>aus</strong> sein. Des Weiteren sei<br />

40 s. PP 342d<br />

41 ebd.<br />

42 s. PP 342e<br />

43 s. PP 344c<br />

44 s. PP 345d<br />

45 s. PP 346d-e<br />

Seite | 20<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

es auch nicht möglich nur mit Ungerechtigkeit <strong>aus</strong>zukommen, da diese die <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

benötige („Denn die Ungerechtigkeit […] verursacht […] Zwietracht und Haß<br />

und Streit untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>; die <strong>Gerechtigkeit</strong> aber Eintracht und Freundschaft.“ 46 ).<br />

Sodass insgesamt z.B. eine Stadt nur dann etwas zustan<strong>de</strong> brächte, wenn in ihr<br />

die <strong>Gerechtigkeit</strong> (mit ihr ist die Weisheit verbun<strong>de</strong>n, s.o.) herrsche. Ebenso ist<br />

dies auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, da nur die gerechte Seele gut lebe.<br />

So scheint es, als dass die <strong>Gerechtigkeit</strong> nicht ihrer selbst willen gewollt wird,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n wegen ihrer Folgen (<strong>de</strong>m guten Leben). Zur Prüfung <strong>de</strong>ssen wird nun das<br />

Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> untersucht.<br />

3.1.2 Glaukons Re<strong>de</strong> wi<strong><strong>de</strong>r</strong> die <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

So fragt nun <strong>de</strong>nn Glaukon an dieser Stelle, ob „es auf alle Weise besser<br />

[… sei], gerecht zu sein als ungerecht“ 47 , um her<strong>aus</strong>zufin<strong>de</strong>n, welcher Art dieses<br />

Gut – d.i. die <strong>Gerechtigkeit</strong> – ist. Von <strong>de</strong>n Gütern gebe es drei Arten, die <strong>aus</strong> verschie<strong>de</strong>nen<br />

Grün<strong>de</strong>n gewollte wer<strong>de</strong>n; die Grün<strong>de</strong> (und die sich dar<strong>aus</strong> ergeben<strong>de</strong>n<br />

Art <strong>de</strong>s Guts) sind:<br />

1. „um seiner selbst willen“ 48<br />

2. „teils seiner selbst […], teils auch wegen <strong>de</strong>s dar<strong>aus</strong> Entstehen<strong>de</strong>n“ 49<br />

3. „wegen <strong>de</strong>s Lohnes und <strong>de</strong>ssen, was uns sonst noch dar<strong>aus</strong> entsteht“ 50 .<br />

Wobei nun die <strong>Gerechtigkeit</strong> zur zweiten Art gehöre, also wegen ihrer selbst als<br />

auch wegen ihrer Folgen angestrebt wird.<br />

So <strong>de</strong>nn will nun Glaukon <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechtigkeit preisen und <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

schlecht re<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m er die Meinung <strong>de</strong>s Volkes vertretend, die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

46 s. PP 351d<br />

47 s. PP 357a<br />

48 s. PP 357b<br />

49 s. PP 357c<br />

50 ebd.<br />

Seite | 21<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

<strong>Gerechtigkeit</strong> und Ungerechtigkeit als auch <strong>de</strong>n größeren Nutzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungerechtigkeit<br />

darzustellen versucht, um sozusagen Sokrates >>her<strong>aus</strong>zufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>taillierten Aufbau <strong>de</strong>s Staates beschäftigt, <strong><strong>de</strong>r</strong> jedoch für unsere Untersuchung<br />

eher zweitrangig ist, weshalb an dieser Stelle darauf verzichtet wird. Daher<br />

wer<strong>de</strong>n wir uns jetzt <strong>de</strong>n Übergang vom Staat (<strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt/Polis) zum Menschen<br />

anschauen, und wie sich dabei die <strong>Tugend</strong>en transformieren. <strong>Die</strong>s fin<strong>de</strong>n wir ab<br />

Abschnitt 54.<br />

Da nun die Stadt vollkommen gut angelegt sei, wird sie „weise und tapfer und<br />

besonnen und gerecht sein“ 52 , sodass sich alles in ihr fin<strong>de</strong>n lassen wird und wenn<br />

man etwas gefun<strong>de</strong>n habe, „das übrige […] allemal das nicht Gefun<strong>de</strong>ne sei[…]“,<br />

weshalb Sokrates nun zuerst die Weisheit, die Tapferkeit und die Besonnenheit<br />

suchen wolle, wobei dann die <strong>Gerechtigkeit</strong> das Übriggebliebene sei.<br />

Weisheit.<br />

„Weise dünkt mich die Stadt zu sein; (…) <strong>de</strong>nn sie ist wohlberaten.<br />

(…) Und eben diese ist […] eine Erkenntnis.“<br />

Hierbei kann natürlich die Erkenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Befehlshaber nur gemeint sein, da<br />

diese bestimmen, wie die Stadt mit sich und <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Städten umgehen soll,<br />

und so wohlberaten zu nennen ist, sodass die ganze Stadt also weise erscheint<br />

und ist.<br />

Tapferkeit.<br />

„Wer möchte wohl […] auf irgend etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es sehend,<br />

die Stadt feige o<strong><strong>de</strong>r</strong> tapfer nennen, als auf <strong>de</strong>n Teil <strong><strong>de</strong>r</strong>selben,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sie verficht und für sie zu Fel<strong>de</strong> zieht?“ 53<br />

„Also auch tapfer ist die Stadt durch einen Teil ihrer selbst.“ 54 Weiter <strong>de</strong>finiert<br />

Sokrates die Tapferkeit ebd. nun folgen<strong><strong>de</strong>r</strong>maßen, und zwar als „durchgängige Auf-<br />

52 s. PP 427e<br />

53 s. PP 429a-b<br />

54 s. PP 429b<br />

Seite | 23<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

rechterhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> richtigen und gesetzlichen Vorstellung von <strong>de</strong>m, was furchtbar<br />

ist und was nicht“; also als Kraft, die Gesetze in allen Fällen >>eingesaugt


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Tapferkeit und Weisheit wohnt nur einem Teil inne; Besonnenheit ist in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ganzen Stadt als Einmütigkeit zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Bestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

„<strong>Die</strong>ses […] scheint die <strong>Gerechtigkeit</strong> zu sein, daß je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

das Seinige verrichtet.“ 60<br />

Daher ergibt sich für die <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt, dass sie das ist, „daß je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

das Seinige verrichtet […], wozu seine Natur sich am geschicktesten ereignet“ 61 . -<br />

Warum? – Weil dasjenige das noch Übrige – neben <strong><strong>de</strong>r</strong> eben besprochenen Besonnenheit,<br />

Tapferkeit und Weisheit - in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt ist, „was jenen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en die Kraft<br />

gibt dazusein […] [und wenn] es […] da ist zu erhalten, solange es selbst vorhan<strong>de</strong>n<br />

ist“ 62 .<br />

Ungerechtigkeit ist <strong><strong>de</strong>r</strong> größte Frevel; und das ist, wenn sich >>Klassen


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

rechtigkeit im Menschen bestimmen lasse, wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ähnlichkeit <strong>de</strong>s gerechten<br />

Staates mit <strong>de</strong>m gerechten Manne.<br />

Daher bestimmt Sokrates nun zuerst die drei Teile <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, wie es eben auch<br />

die drei Stän<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt gibt, zu (vgl. Abb.2.1)<br />

1. Begehrlichen Seelenteil ↔ Nährstand<br />

2. Eifrigen Seelenteil ↔ Wehrstand<br />

3. Vernünftigen Seelenteil ↔ Lehrstand.<br />

<strong>Die</strong>s erhalten wir <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m von Sokrates angewandten Prinzip <strong><strong>de</strong>r</strong> Untersuchung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Seelenteile, wonach „nichts bleibend und zugleich in <strong>de</strong>m selben Sinne<br />

Entgegengesetztes sein“ 64 kann; und dar<strong>aus</strong> bekommen wir dann eben die verschie<strong>de</strong>nen<br />

dargestellten Seelenteile.<br />

Daher ergibt sich auch für die einzelne Seele als gerecht, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> Seeleneil<br />

seine Aufgabe erfülle; diese sind<br />

1. für <strong>de</strong>n vernünftigen Seelenteil:<br />

„gebührt […] [es] zu herrschen, weil es weise ist und für die gesamte Seele<br />

Vorsorge hat“ 65 ,<br />

2. für <strong>de</strong>n eifrigen Seelenteil:<br />

„diesem [d.i. <strong><strong>de</strong>r</strong> vernünftigem Seelenteil, Anm.] folgsam zu sein und verbün<strong>de</strong>t“<br />

66 , welcher – zusammen mit <strong>de</strong>m erstgenannten – für die Verteidigung<br />

<strong>de</strong>s Gesamten (Leib und Seele) zuständig ist – in<strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> obige berät<br />

und dieser das Beschlossene vollzieht –; und<br />

3. für <strong>de</strong>n begehrlichen Seelenteil:<br />

„welches wohl das meiste ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele eines je<strong>de</strong>n und seiner Natur<br />

64 s. PP 436e-437a<br />

65 ebd.<br />

66 s. PP 441e<br />

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Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

nach das Unersättlichste“ 67 und welchem die bei<strong>de</strong>n erst genannten vorstehen.<br />

Ungerechtigkeit besteht – nur um es nochmals zu wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen, da wir dies<br />

oben schon sahen – im „naturwidrigen Herrschen und Beherrschtwer<strong>de</strong>n“ 68 eines<br />

Seelenteils, <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht hierfür vorgesehen ist (vgl. oben: Einmischerei von >>unteren>Herrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Entsprechend <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfassungsformen ergeben sich auch die Charakterformen:<br />

a) Aristokratie ↔ Herrschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Vernunft<br />

b) Timokratie ↔ Herrschaft <strong>de</strong>s Ehrgeiz‘<br />

c) Oligarchie ↔ Herrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s<br />

d) Demokratie ↔ keine Herrschaft o<strong><strong>de</strong>r</strong> Herrschaft aller,<br />

je<strong><strong>de</strong>r</strong> kann tun was er will<br />

e) Tyrannis ↔ Herrschaft von einem, beim Menschen<br />

von schlechten Trieben beherrscht<br />

Wobei <strong><strong>de</strong>r</strong> tyrannische Mensch hierbei als Prototyp <strong>de</strong>s Ungerechten gelten<br />

kann und somit genau gegenüber <strong>de</strong>m aristokratischen, gerechten Menschen<br />

steht.<br />

3.2 <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>‘ Nikomachischer Ethik (Buch V)<br />

Bei <strong>Aristoteles</strong> fin<strong>de</strong>n wir nun folgen<strong>de</strong> Hinführung zur <strong>Tugend</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>.<br />

Da – wie oben bereits angesprochen – die aristotelische Untersuchung auf <strong>de</strong>n<br />

Bereich menschlichen Han<strong>de</strong>lns angelegt ist, also auch je<strong>de</strong> <strong>Tugend</strong> sich durch <strong>de</strong>n<br />

Vollzug mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen äußert, wird sich dies bei <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> wahrscheinlich<br />

auch ebenso zeigen. Des Weiteren ergibt sich auch je<strong>de</strong> <strong>Tugend</strong> als die<br />

Mitte zwischen zwei (schlechten) Extremen (sog. Mesotes-Lehre).<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> geht <strong>Aristoteles</strong> nun so vor, dass er sich<br />

insgesamt das Gegensatzpaar >>gerecht>ungerecht>gerecht>ungerecht


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, wer mehr haben will.“ 69 Zum Bereich dieses >>Mehrhabenwollens


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

selben Name hat“ 74 , folgert er nun. So wird nun diese <strong>Gerechtigkeit</strong> im speziellen<br />

Sinn zum Interessenpunkt, sodass „wir [die ganze charakterliche Gutheit] beiseite<br />

lassen wollen“, weil sich diese <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Gesetze ersehen lässt, was - wie wir oben<br />

gesehen haben – diese ganze charakterliche Gutheit ja hervorbringt.<br />

Es fin<strong>de</strong>t sich daher für die <strong>Gerechtigkeit</strong> die Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Verteilung von Gütern,<br />

„die unter <strong>de</strong>n Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatsgemeinschaft teilbar sind“ 75 , und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form<br />

<strong>de</strong>s „Ausgleichs in Transaktionen zwischen Menschen.“ 76<br />

3.2.1 Austeilen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

Wie bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Findung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Tugend</strong>en argumentiert <strong>Aristoteles</strong> auch hier, dass die<br />

Ungleichheit sich in zwei verschie<strong>de</strong>nen Extremen manifestiert, <strong>de</strong>m Zuvielen und<br />

Zuwenigen, sodass nun das Gleiche das Mittlere zwischen diesen bei<strong>de</strong>n ist und<br />

daher „wird das Gerechte ein Mittleres sein“ 77 , da wir oben gesehen haben, dass<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechte eine Einstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit habe.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>aus</strong>teilen<strong>de</strong>n <strong>Gerechtigkeit</strong> ist es nun so, dass man vier Dinge benötigt,<br />

um etwas verteilen zu können. Es sind (min<strong>de</strong>stens) zwei Personen vonnöten und<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Sachen, die auch zwei an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahl sind. <strong>Aristoteles</strong> meint nun, dass sie ihrer<br />

Person nach nun die Dinge erhalten, also „[w]enn diese [d.i. Personen, Anm.] nicht<br />

gleich sind, wer<strong>de</strong>n sie nicht gleiche Anteile haben“. <strong>Aristoteles</strong> nennt dies eine<br />

Proportionalität, wie auch leicht eingesehen wer<strong>de</strong>n kann. Es gilt<br />

A<br />

B = C D , (3.1)<br />

74 s. NE 1130a34<br />

75 s. NE 1130b30ff.<br />

76 ebd.<br />

77 s. NE 1131a14<br />

Seite | 30<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

wobei nun z.B. A und B die Personen und C und D die Sachen wären, sodass in<br />

(3.1) <strong><strong>de</strong>r</strong> Quotient <strong><strong>de</strong>r</strong> Sachen gleich <strong>de</strong>m Quotienten <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> ist.<br />

<strong>Aristoteles</strong> sagt hier jedoch nicht, wodurch die Ungleichheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen gekennzeichnet<br />

ist o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie sie sich äußert. Wir können diese Proportionalität auch einfacher<br />

<strong>aus</strong>drücken durch<br />

f x = φ ∙ x , (3.2)<br />

wor<strong>aus</strong> wir leicht die lineare Proportionalität erkennen, die in Abb.3.1 aufgetragen<br />

ist. Denn es gilt<br />

f A = C = A ∙ φ und (3.2a)<br />

f B = D = B ∙ φ , (3.2b)<br />

sodass wir dar<strong>aus</strong> erhalten<br />

A ∙ φ = A ∙ D B = C,<br />

(3.2a1)<br />

wor<strong>aus</strong> sich nun leicht (3.1) ergibt.<br />

Hier<strong>aus</strong> sehen wir, dass <strong>Aristoteles</strong> als gerecht versteht, wenn die Steigung φ<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gera<strong>de</strong> in Abb.3.1 beträgt; an<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>aus</strong>gedrückt, wenn das Verhältnis zwischen<br />

Person und Sache, das in dieser Abb. <strong>aus</strong>gedrückt ist, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> gezeichneten Gera<strong>de</strong>n<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Steigung φ liegt und somit immer konstant ist 78 ; <strong>de</strong>s Weiteren ließe<br />

sich natürlich (3.2) auf nach φ auflösen, sodass wir erhalten<br />

φ =<br />

f x<br />

x<br />

, (3.2c)<br />

was ja nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es angibt als das Verhältnis von Sache zu Person.<br />

78 <strong>Aristoteles</strong> drückt φ = C als >Paarung [A + C]< <strong>aus</strong>: Es „steht […]das Ganze [A + C] im<br />

A<br />

selben Verhältnis zum Ganzen [B+D]“ (s. NE 1131b6f.), was jedoch dasselbe be<strong>de</strong>utet; auch soll<br />

darauf hingewiesen wer<strong>de</strong>n, dass das Verhältnis von Person zu Sache <strong><strong>de</strong>r</strong> Kehrwert φ −1 = A ist, C<br />

was jedoch auch konstant ist und einer Gera<strong>de</strong> ähnlich <strong><strong>de</strong>r</strong> in Abb.3.1 nur mit geringer Steigung<br />

(wenn φ > 1) entspricht.<br />

Seite | 31<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

3<br />

Lineare Proportionalität<br />

2,5<br />

2<br />

1,5<br />

1<br />

0,5<br />

0<br />

0 0,5 1 1,5 2 2,5 3<br />

Abb.3.1 Lineare Proportionalität <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>aus</strong>teilen<strong>de</strong>n <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

Sodann lässt sich nun sehr einfach feststellen, ob ein Verhältnis φ <strong>de</strong>m gerechten<br />

Verhältnis φ entspricht o<strong><strong>de</strong>r</strong> inwiefern nicht, <strong>de</strong>nn es gilt 79 – was sich leicht<br />

nachvollziehen lässt –<br />

φ < φ:<br />

φ > φ:<br />

Unrecht erlei<strong>de</strong>n<br />

Unrecht tun,<br />

mit φ von oben, also <strong><strong>de</strong>r</strong> Steigung <strong><strong>de</strong>r</strong> (gerechten) Gera<strong>de</strong>n <strong>aus</strong> Abb.3.1. <strong>Aristoteles</strong><br />

gibt selbst ein Beispiel für diese <strong>aus</strong>teilen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>.<br />

Beispiel:<br />

„[D]as Gerechte, das die gemeinsamen Güter verteilt, entspricht immer <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

beschriebenen Proportion. […] [E]eine Verteilung <strong>aus</strong> gemeinsamen Geldmitteln<br />

erfolgt […] nach <strong>de</strong>mselben Verhältnis […], das die eingebrachten<br />

Beiträge zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> haben.“ 80<br />

Wir können uns dies etwa zu heutiger Zeit mit <strong><strong>de</strong>r</strong> gesetzlichen Rentenversicherung<br />

ver<strong>de</strong>utlichen, die durch das Umlageverfahren finanziert wird, bei<br />

79 s. NE 1131b16ff.<br />

80 s. NE 1131b29ff.<br />

Seite | 32<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sich die Rentenansprüche (oben >>Geldmittel>gerechtRichter< (dikastes) ähnlich zum Ausdruck >>für Teilung in zwei Teile>Richter>Recht>gerecht


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

1<br />

Un<strong>aus</strong>glichener Zustand<br />

1<br />

Ausgeglichener Zustand<br />

0,5<br />

0,8<br />

0<br />

0,6<br />

0,4<br />

-0,5<br />

1 2 3 4 5 6<br />

0,2<br />

-1<br />

0<br />

1 2 3 4 5 6<br />

(a)<br />

(b)<br />

Abb.3.2 Zur <strong>aus</strong>gleichen<strong>de</strong>n <strong>Gerechtigkeit</strong> (a) un<strong>aus</strong>geglichener Zustand (b) <strong>aus</strong>gegeglichener<br />

Zustand<br />

In Abb.3.3 ist dies ähnlich zum Vergleich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> verteilen<strong>de</strong>n <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

aufgetragen. Wir erkennen <strong>de</strong>n Unterschied zu Abb.3.1: die <strong>aus</strong>gleichen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

(dies entspräche <strong><strong>de</strong>r</strong> gestrichelten Linie in Abb.3.3) ist ein konstanter<br />

Wert, sodass alle dasselbe erhielten, nach <strong>de</strong>m Ausgleich von Gewinn und Verlust<br />

(durchgezogene Linie in Abb.3.3).<br />

1,6<br />

1,4<br />

1,2<br />

1<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,4<br />

0,2<br />

0<br />

Ausgleichen<strong>de</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

1 2 3 4 5 6<br />

un<strong>aus</strong>geglichener<br />

Zustand<br />

<strong>aus</strong>geglichener<br />

Zustand<br />

Abb.3.3 Vergleich: un<strong>aus</strong>geglichen-<strong>aus</strong>geglichene Sachverteilung<br />

Seite | 34<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Beispiel:<br />

Ein Beispiel für <strong>de</strong>n in Abb.3.3 gezeigten Fall könnte ein <strong>Die</strong>bstahl sein. <strong>Die</strong><br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> gestrichelten und <strong><strong>de</strong>r</strong> durchgezogenen Linie umschlossene Fläche<br />

rechts <strong><strong>de</strong>r</strong> gestrichelten wäre <strong><strong>de</strong>r</strong> Verlust, die die gleiche Größe <strong><strong>de</strong>r</strong> Fläche<br />

links von <strong><strong>de</strong>r</strong> gestrichelte hat (Gewinn <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>bs). (Es hätte also Person 4<br />

einen Verlust erlitten von <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Höhe wie Person 5 einen Gewinn hat;<br />

ein Schelm, <strong><strong>de</strong>r</strong> Böses dabei <strong>de</strong>nkt.)<br />

Wie bereits ersichtlich gilt dies für die Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Transaktionen, die nicht (von<br />

bei<strong>de</strong>n Seiten) gewollt sind, was ja meistens ein <strong>Die</strong>bstahl ist. Bei gewollten Transaktionen<br />

wer<strong>de</strong>n wir nun sehen, dass eine etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Form <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

gilt, als diese gera<strong>de</strong> eben dargestellte.<br />

3.2.2.2 Gewollte Transaktionen<br />

Unter gewollten Transaktionen verstehen wir zum Beispiel alle Arten von<br />

T<strong>aus</strong>chhandlungen. Zur Vereinfachung dieser wur<strong>de</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft das<br />

Geld eingeführt, zur Messung <strong><strong>de</strong>r</strong> einzelnen Güter, da eben in dieser T<strong>aus</strong>chhandlung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ursprung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft liegt, weil ohne Bedürfnis irgen<strong>de</strong>ines Gutes,<br />

das man nicht besitzt, keine Gemeinschaft zustan<strong>de</strong> käme, „[d]enn durch <strong>de</strong>n proportionalen<br />

reziproken Aust<strong>aus</strong>ch hält die Gemeinschaft zusammen“ 83 . Geld ist nur<br />

durch eine Vereinbarung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft von Wert, im Griechischen wird dies<br />

am Namen dafür sehr <strong>de</strong>utlich: Vereinbarung heißt nomos und Geld heißt nomisma.<br />

Im Deutschen wird dies nicht so <strong>de</strong>utlich, obwohl >>Geld>gelten>etwas>jeman<strong>de</strong>n


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Es wur<strong>de</strong> nun schon <strong><strong>de</strong>r</strong> >proportionale reziproke Aust<strong>aus</strong>ch< genannt, was<br />

nun erläutert wer<strong>de</strong>n soll. Durch <strong>de</strong>n Unterschied <strong><strong>de</strong>r</strong> Qualitäten verschie<strong>de</strong>ner<br />

hergestellter Waren, kann nicht Gleichheit wie in 3.2.2.1 gelten, welche zum Beispiel<br />

<strong>de</strong>s T<strong>aus</strong>ches von Schuh gegen Bett entspräche, was ja niemand als gerecht<br />

empfin<strong>de</strong>. Dementgegen wird also das Reziprok-proportionale beim Aust<strong>aus</strong>ch von<br />

Waren als gerecht empfun<strong>de</strong>n, das ähnlich <strong><strong>de</strong>r</strong> in 3.2.1 gesehenen <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

ist, sodass die Proportionalität <strong><strong>de</strong>r</strong> unterschiedlichen Waren gewahrt bleibt. Zur<br />

Bestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Proportionalität <strong><strong>de</strong>r</strong> Waren dient das Geld als Maßstab, <strong>de</strong>nn<br />

„[d]as Geld macht alle Dinge kommensurabel“ 84 . Man hat daher vorher wie nachher<br />

dieselbe >>GeldmengeGerechten überhaupt< und <strong>de</strong>m >politisch GerechtenGerechte überhaupt< sein soll, da sich dies an sonst keiner<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Stelle wi<strong><strong>de</strong>r</strong>fin<strong>de</strong>t. Aber wie sieht es nun mit <strong>de</strong>m ungerechten Charakter<br />

<strong>aus</strong>? <strong>Die</strong>s wird <strong>aus</strong> folgen<strong>de</strong>n Überlegungen <strong>de</strong>utlicher wer<strong>de</strong>n.<br />

Wir haben gesehen, dass in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft die sog. politische <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

zu fin<strong>de</strong>n ist und zwar als Gesetz, welches über die Menschen nicht <strong>aus</strong> eigenem<br />

Interesse herrscht, welches <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrscher jedoch als Wächter <strong>de</strong>s Gerechten<br />

vertritt; ein „Gerechtes existiert [daher] nur [dort], wo unter Menschen ein Gesetz<br />

84 s. NE 1133b22<br />

Seite | 36<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

für ihre gegenseitige Beziehungen besteht“. Jedoch ist „[d]as Gerechte im politischen<br />

Sinn“ 85 nicht nur dieses „durch das Recht [G]esetzt[e]“ 86 , son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch zum<br />

Teil von <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur gegeben, welches jedoch auch verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lich sein kann. (Daher<br />

kann auch verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, dass das Gerechte nicht immer und überall gleich<br />

sein muss.) Was dieses von Natur <strong>aus</strong> gerechte sein soll wird m.E. <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Text<br />

nicht sehr <strong>de</strong>utlich, da <strong>Aristoteles</strong> nur das Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> von Geburt an stärkeren<br />

rechten Hand bringt, die nicht notwendig dazu führen muss, dass kein Mensch<br />

beidhändig wird; er führt jedoch auch noch an, dass das „[v]on Natur <strong>aus</strong> gerechte<br />

[das] ist, was überall mit gleicher Kraft gilt und nicht davon abhängt, was die Menschen<br />

für richtig halten o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht“ 87 . Möglicherweise wird die anfangs benannte<br />

Disposition >><strong>Gerechtigkeit</strong>von Natur <strong>aus</strong>>stört>Gleichheit


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

durch Setzung, und eben dies ist, wenn es getan wor<strong>de</strong>n ist, eine ungerechte [o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

auch gerechte, Anm.] Handlung“ 90 .<br />

3.2.3.2 Arten <strong><strong>de</strong>r</strong> Schädigungen in Transaktionen<br />

Und eben daher gibt „[e]s […] nun drei Arten von Schädigungen in Transaktionen<br />

zwischen Menschen.“ 91 Zum ersten die durch [i] Unwissenheit <strong>aus</strong>geführte<br />

Handlung, die eben wegen dieser Unwissenheit nicht als ungerecht (o<strong><strong>de</strong>r</strong> gerecht)<br />

eingestuft wird. Zum zweiten (ii) nicht gewollte Handlung, weshalb die Handlung als<br />

solche dann ungerecht ist, jedoch erst beim dritten wird erst <strong><strong>de</strong>r</strong> Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> zum<br />

ungerechten, wenn sie als solches, d.h. als ungerecht, [iii] gewollt ist.<br />

Man kann nicht gewollt Unrecht erlei<strong>de</strong>n, da es bei je<strong>de</strong>m selbst liegt, was er<br />

tut, und niemand gegen seinen Wunsch han<strong>de</strong>lt (mit Wollen Scha<strong>de</strong>n zufügen gegen<br />

<strong>de</strong>ssen Wunsch = Unrecht tun).<br />

3.2.3.3 Von <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen <strong>Gerechtigkeit</strong> unterschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

Zur politischen <strong>Gerechtigkeit</strong> wird noch angeführt, dass diese – wie sie in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesetze im Staat vorliegt – nicht i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>m Gerechten ist, wie es<br />

in einem H<strong>aus</strong>halt vorzufin<strong>de</strong>n ist, wobei auch hier zwischen <strong>Gerechtigkeit</strong> zwischen<br />

Herrn (<strong>de</strong>s H<strong>aus</strong>es) und Ehefrau und <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> ebendieses gegenüber seinen<br />

Sklaven und Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n unterschie<strong>de</strong>n wird.<br />

90 s. NE 1135a10ff.<br />

91 s. NE 1135b11<br />

Seite | 38<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

3.2.4 Aequitas – Billigkeit<br />

Das allgemeine Gesetz umfasst nicht alle möglichen Fälle, sodass es Einzelfälle<br />

geben kann, welche nicht durch das Gesetz entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können. Daher<br />

muss das Billige als Richtschnur für eine Entscheidung in dieser Sache herhalten.<br />

Also ist „Billigkeit […] eine Art <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>“ 92 .<br />

3.3 Unterschie<strong>de</strong> und Gemeinsamkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeptionen<br />

Nun sollen die bei<strong>de</strong>n vorgestellten <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeptionen von Platon und<br />

<strong>Aristoteles</strong> miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> verglichen wer<strong>de</strong>n. Oben wur<strong>de</strong> bereits mehrfach ange<strong>de</strong>utet,<br />

dass die bei<strong>de</strong>n Konzeptionen unterschiedlich wären, was jedoch jetzt erst untersucht<br />

wer<strong>de</strong>n soll.<br />

Wir haben gesehen, dass Platons <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzept auf die Formel >>das<br />

Tun <strong>de</strong>s Seinigen


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Sowohl Platon als auch <strong>Aristoteles</strong> haben die <strong>Gerechtigkeit</strong> immer in Bezug auf<br />

die Gemeinschaft von Menschen betrachtet, weshalb wir im platonischen Text auch<br />

dann zum Großteil eine Abhandlung über einen gerechten Staat und <strong>de</strong>ssen Aufbau<br />

fin<strong>de</strong>n. <strong>Aristoteles</strong> ist dies nicht abzusprechen, jedoch legt er seinen Fokus in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

NE eher auf zwischenmenschliche Handlungen im Staat, wo Platon <strong>de</strong>n Staat als<br />

Gesamtes betrachtet, sowohl intern als auch extern, weshalb es dann auch gar<br />

nicht verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich ist, wenn wir bei <strong>Aristoteles</strong> keine Vorschläge über Verfassungen<br />

fin<strong>de</strong>n, was sich wahrscheinlich eher in <strong><strong>de</strong>r</strong> Politik <strong>de</strong>s <strong>Aristoteles</strong> fin<strong>de</strong>n lässt.<br />

Vielmehr fin<strong>de</strong>n wir nun folgen<strong>de</strong>s: <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke <strong><strong>de</strong>r</strong> Proportional-Rezprozität –<br />

wie wir ihn oben kennengelernt haben – ist prinzipiell <strong><strong>de</strong>r</strong> platonischen Formel <strong>de</strong>m<br />

>>Tun <strong>de</strong>s Seinigen>entgeht


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Ungerechtes Han<strong>de</strong>ln ist, wenn man sich zu viel von Gut und zu wenig vom Übel<br />

zuteilt, haben wir oben bei <strong>Aristoteles</strong> gesehen. Eine solche Gleichheit fin<strong>de</strong>n wir bei<br />

Platon nicht. Es ist zwar anfangs angedacht gewesen, und zwar im >>Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>geben<br />

<strong>de</strong>s EmpfangenemProblemI<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong><<br />

suchen möchte und diese so auch mit einem Begriff gewissermaßen<br />

festhalten will, so lautet meine These. <strong>Aristoteles</strong> schließt wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um – wie wir oben<br />

gesehen haben – eine eben solche I<strong>de</strong>e als >uninteressant< <strong>aus</strong>, da, falls man diese<br />

nun schauen wür<strong>de</strong>n, dies für das Leben (i.S.v. Han<strong>de</strong>ln) nichts brächte; <strong>de</strong>swegen<br />

kann er (<strong>Aristoteles</strong>) auch die <strong>Gerechtigkeit</strong> in mehreren Facetten (als <strong>aus</strong>teilen<strong>de</strong><br />

und <strong>aus</strong>gleichen<strong>de</strong>, politische und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> G.) darstellen, wenn<br />

Platon seiner I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> hinterherjagend diese Facetten als nicht konsistent<br />

und nicht-wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruchsfrei <strong>aus</strong>schließt.<br />

Es zeigt sich ja, dass die platonische Formel auch bei <strong>Aristoteles</strong> zu fin<strong>de</strong>n ist,<br />

sodass wir dies als hauptsächliche Gemeinsamkeit bei<strong><strong>de</strong>r</strong> ansehen wer<strong>de</strong>n. Aber<br />

die Definition gibt nicht alles wi<strong><strong>de</strong>r</strong>, was >>man>was man unter <strong>Gerechtigkeit</strong> versteht


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

(in <strong><strong>de</strong>r</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong> das Seinige tut Platon o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> han<strong>de</strong>ln<br />

<strong>Aristoteles</strong>) keine <strong>Gerechtigkeit</strong>, die eben eine bestimme Relation zwischen<br />

Menschen und Dingen herstellt, die vielleicht von <strong>Aristoteles</strong> besser be-griffen wur<strong>de</strong>,<br />

als es durch die platonische Definition möglich wäre, die jedoch wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um etwas<br />

>>handbarerreduzieren< versucht,<br />

jedoch dabei Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> außer Acht lässt, die bei <strong>Aristoteles</strong><br />

vorkommen. Daher ist m.E. die aristotelische <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeption zu bevorzugen.<br />

Jedoch gibt es zwischen bei<strong>de</strong>n keinen sehr großen Unterschied, da hier wie<br />

da ein grundlegen<strong>de</strong>s Prinzip <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> die Proportionalität ist und die<br />

Gleichheit bei <strong>Aristoteles</strong> einen eher zweiten Rang besitzt und direkt nur in Bezug<br />

zu ungewollten Transaktionen, indirekt bei gewollten Transaktionen zum Tragen<br />

Seite | 42<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

kommt, wobei diese gewollten wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um – wie gesehen – eine notwendige Bedingung<br />

für die Existenz <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft darstellt, wie es auch bei Platon eben ein<br />

solcher Grund für die Existenz <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft ist: Arbeitsteilung. Von daher ist<br />

nun doch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Gleichheit eine sehr wichtige Komponente, wie sie bei <strong>Aristoteles</strong><br />

zu fin<strong>de</strong>n ist; bei Platon ist – um es nochmals zu sagen – solch eine Gleichheit<br />

nicht aufzufin<strong>de</strong>n, ja selbst nicht einmal notwendig, da dort etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als eine<br />

Gemeinschaft nicht gerecht wäre, weil sich eben dadurch erst die <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

einstellte, wenn >je<strong><strong>de</strong>r</strong> das Seine tue< und daher niemand (wenn er zum Beispiel<br />

alleine wäre) alles tun könne, was >ungerecht< wäre.<br />

Was hier auch noch bemerkt wer<strong>de</strong>n soll: <strong>Aristoteles</strong> spricht zu Beginn <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Behandlung vom „Gerechten überhaupt“ 94 , wie wir dies schon in 3.2.3.1 angesprochen<br />

haben, was <strong>de</strong>n Anschein erweckt, dass es wie bei Platon auch ein Gerechtes<br />

wie die >I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Gerechten< o<strong><strong>de</strong>r</strong> >Guten< zu geben scheint; jedoch, wie<br />

schon oben angemerkt, wird an keiner Stelle mehr hierauf eingegangen (bis auf<br />

eine schon angemerkte Stelle in 2.2.2, wo er die Diskussion über die I<strong>de</strong>e an eine<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Stelle verschiebt), son<strong><strong>de</strong>r</strong>n es wird lediglich das Gerechte entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> als<br />

Charakterdisposition o<strong><strong>de</strong>r</strong> hauptsächlicher als politische Gerechtes beschrieben,<br />

weil es eben dieses ist, was er ja sucht. Es wird nicht klar was dieses >Gerechte<br />

überhaupt< sein soll; an an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle 95 schreibt er von <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>Gerechtigkeit</strong> […], die<br />

sich auf <strong>de</strong>nselben Bereich bezieht wie die ganze charakterliche Gutheit“, was möglicherweise<br />

damit gemeint sein könnte. <strong>Die</strong>s sehe ich als Schwachstelle in <strong><strong>de</strong>r</strong> aristotelischen<br />

Argumentation an und es zeigt, dass <strong>de</strong>ssen Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> platonischen<br />

doch nicht allzu fern scheint, wie <strong>Aristoteles</strong> sich selbst gerne gesehen hätte, was<br />

auch durch die Verwandtschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzepte zutage kommt,<br />

was wir her<strong>aus</strong>gefun<strong>de</strong>n haben.<br />

94 s. NE 1134a24<br />

95 s. NE 1130b18<br />

Seite | 43<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Des Weiteren ist sehr interessant, dass eben jene Konzeption <strong>Aristoteles</strong> im<br />

20. Jhd. eine Renaissance erlebt zu haben scheint, <strong>de</strong>nn die in 3.2.3.3 aufgeführte<br />

Unterscheidung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong> erinnert sehr an die von John Rawls ebenso<br />

durchgeführte – und auch im Text bereits angeführte – Unterscheidung in lokale<br />

<strong>Gerechtigkeit</strong>, Binnen- und Global-<strong>Gerechtigkeit</strong>, was wir auch an <strong><strong>de</strong>r</strong> platonischen<br />

Konzeption kritisiert haben; diese setzt alle verschie<strong>de</strong>nen Typi von <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

gleich, um dar<strong>aus</strong> <strong>de</strong>n ursprünglichen Gedanken ><strong>Gerechtigkeit</strong>< her<strong>aus</strong>zuarbeiten.<br />

Des Weiteren fin<strong>de</strong>t sich ebenso bei Rawls die Proportional-Reziprozität gepaart<br />

mit <strong>de</strong>m Gedanken <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form <strong>de</strong>s „Differenzprinzip[s]“ 96 (o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch<br />

„Maximin-<strong>Gerechtigkeit</strong>“ 97 ), wobei dieser ja auch eine politische <strong>Gerechtigkeit</strong>skonzeption<br />

zu erarbeiten versuchte, ebenso wie <strong>Aristoteles</strong>. Bei Rawls wird auch im<br />

Gegensatz zu <strong>Aristoteles</strong> <strong>de</strong>utlicher, dass dieser wie jener nur einen Rahmen für<br />

eine politische <strong>Gerechtigkeit</strong> sucht und auf eine common sense – <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

(also <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gerechtigkeit</strong>ssinn <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen) aufbaut, ja sogar vom Faktum <strong><strong>de</strong>r</strong> Pluralität<br />

spricht, also dass es mehrere solcher Vorstellungen darüber, was <strong>Gerechtigkeit</strong><br />

sei, gebe; bei <strong>Aristoteles</strong> und Platon kommt dies nicht so <strong>de</strong>utlich hervor, ist<br />

aber – wie bereits angesprochen – dort auch Grundlage ihrer Überlegungen.<br />

Also stellt sich insgesamt her<strong>aus</strong>, dass eben jener <strong>Gerechtigkeit</strong>ssinn, <strong>de</strong>n wir<br />

bildhaft in Abb.1.1 schon bei kleinsten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n ange<strong>de</strong>utet gesehen haben, die<br />

Grundlage <strong>de</strong>ssen, was man <strong>Gerechtigkeit</strong> nennt zu sein scheint, da dies sowohl<br />

bei Platon als auch bei <strong>Aristoteles</strong> implizit vorkommt und bei Rawls explizit erscheint.<br />

Christian Schlatow<br />

26.12.2007<br />

96 s.[2], §18<br />

97 s.[2], §2<br />

Seite | 44<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

5 Literatur<br />

[1] dtv-Atlas Philosophie, 8. Auflage August 1999, 1991 Deutscher<br />

Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG München,<br />

ISBN 3-423-03229-4<br />

[2] Rawls, John - <strong>Gerechtigkeit</strong> als Fairness – Übersetzung: Joachim<br />

Schulte – Erste Auflage 2003, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main,<br />

ISBN 3-518-58366-2<br />

[3] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 B<strong>de</strong>. [in<br />

32 Teilbän<strong>de</strong>n]. Leipzig: S. Hirzel 1854-1960. -- Quellenverzeichnis<br />

1971.<br />

Online-Ausgabe: http://germazope.uni-trier.<strong>de</strong>/Projects/DWB<br />

27.12.2007 00:18<br />

[4] http://vts.uni-ulm.<strong>de</strong>/docs/2000/448/vts_448.pdf<br />

10.12.2007 17:12<br />

[5] <strong>Aristoteles</strong> – Metaphysik – Übersetzung von Hermann Bonitz<br />

(ed. Wellmann) – 4. Auflage Januar 2005, Rowohlt Taschenbuch<br />

Verlag, Reibeck bei Hamburg, März 1994 ISBN 3-499-55544-1<br />

[6] <strong>Aristoteles</strong> – Nikomachische Ethik – Übersetzung: Ursula Wolf - Original<strong>aus</strong>gabe<br />

Januar 2006, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek<br />

bei Hamburg, Januar 2006, ISBN 13: 978-3-499-55651-7<br />

Seite | 45<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

[7] Platon – Politeia – Übersetzung: Friedrich Schleiermacher – 30. Auflage<br />

Mai 2004, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg,<br />

Dezember 1994, ISBN 3-499-5562-X<br />

[8] Russell, Bertrand – Philosophie <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s (Titel <strong><strong>de</strong>r</strong> Original<strong>aus</strong>gabe:<br />

A History of Western Philosophy) – Übersetzung: Elisabeth<br />

Fischer-Wernecke und Ruth Gillischewski – 1. Auflage 2007 (Limitierte<br />

Son<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>aus</strong>gabe), Europa Verlag AG Zürich, ISBN 978-3-<br />

89340-080-5<br />

[9] GEO 10/2007, Oktober 07, Gruner + Jahr AG & Co. KG, Druck-<br />

und Verlagsh<strong>aus</strong>, Hamburg<br />

Seite | 46<br />

Christian Schlatow


_ <strong>Gerechtigkeit</strong> in <strong>Aristoteles</strong>’ Nikomachischer Ethik und Platons Politeia<br />

Schriftliche Versicherung<br />

Hiermit versichere ich, dass ich diese Arbeit selbständig unter Zuhilfenahme<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> angegebenen Literatur verfasst habe.<br />

Christian Schlatow<br />

Seite | 47<br />

Christian Schlatow

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