Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Tanner: Wir waren kürzlich an einer Veranstaltung,<br />
an der es um die Revision des Sozialhilfegesetzes<br />
des Kantons Zürich ging. Für unsere Arbeit<br />
ist diese Revision sehr relevant. Doch die Befürchtung<br />
ist, dass sich die politische Debatte vor allem<br />
um Missbrauch und im Speziellen um die Möglichkeiten<br />
zur Verhinderung von Missbrauch drehen<br />
wird. Dabei geht es um ein Gesetz, das unser<br />
Grundrecht tangiert. Dennoch ist es aus meiner<br />
Warte schwierig, einzuschätzen, ob es einen grundsätzlichen<br />
Werteverlust gibt. Ob es nicht immer so<br />
war, dass man auf die zeigte, die das Gesetz missbrauchen<br />
oder aus der Reihe tanzen. Ich persönlich<br />
weiss, dass ich privilegiert bin, und mache mir keine<br />
Sorgen um die Zukunft. Dass Leute verunsichert<br />
sind und Angst haben, wenn sie ins nahe Ausland<br />
schauen, kann ich nachvollziehen. Krauer: Ich<br />
denke, Solidarität gibt es noch. Vor allem wenn<br />
Unvorhersehbares passiert, etwas, das niemand<br />
offensichtlich verschuldet hat. Wenn man also<br />
nicht sagen kann: Der oder die trägt eine Schuld.<br />
Im Moment sind gewisse Themen in den Medien<br />
omnipräsent. Headlines wie Sozialschmarotzer bedrohen<br />
Sozialstaat oder Europa steht vor dem aus.<br />
Das macht den Leuten zunehmend Angst und verunsichert<br />
sie. Aber mir geht es ähnlich wie Brigitte:<br />
In meinem Alltag ist diese Angst nicht präsent.<br />
Bolliger: Natürlich würde ich mir wünschen, dass<br />
die Solidarität im Alltag mehr zum Tragen käme.<br />
Bezüglich des Werteverlusts bin ich mir auch nicht<br />
sicher, ob das nicht jede Generation behauptet, so<br />
in dem Sinn: Früher war alles besser. Die Vergangenheit<br />
wird gerne schöngeredet.<br />
Die Jugend von heute<br />
wächst in einer von Konkurrenz,<br />
Effizienz und<br />
Vorteilsstreben geprägten<br />
Welt heran. Welche<br />
Veränderungen machen<br />
den von euch betreuten<br />
Jugendlichen vor allem<br />
zu schaffen?<br />
Tanner: Unsere Jugendlichen sind teils kognitiv<br />
schwach und nicht ressourcenstark. Ob der Anteil<br />
solcher Jugendlicher allgemein zugenommen<br />
hat, kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist aber,<br />
dass es für diese schwieriger geworden ist, einen<br />
Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Für Leute,<br />
die keine anspruchsvolle Arbeit machen können,<br />
gibt es keine einfache Arbeit mehr. Wo früher viele<br />
Hand anlegten, erledigen heute Maschinen den<br />
Job. Bolliger: In dieser leistungsorientierten Gesellschaft<br />
finden viele unserer Jugendlichen ihren<br />
Platz nicht mehr. Einige versuchen auszubrechen,<br />
andere glauben schon lange nicht mehr daran, den<br />
Anschluss zu schaffen, da dieses Ziel für sie so fern<br />
liegt. Gleichzeitig fehlt ihnen oft der Rückhalt, ein<br />
Umfeld, das sie fördert, fordert und unterstützt.<br />
Aus diesem Grund bieten wir im AIP unseren Jugendlichen<br />
eine individuelle Unterstützung und<br />
Begleitung an, um sie optimal zu coachen und ihnen<br />
das nötige «Werkzeug» für ihre weitere Zukunft<br />
mitzugeben.<br />
Ihr arbeitet seit rund<br />
zehn Jahren für die Stiftung.<br />
Was findet ihr reizvoll<br />
an eurer Stelle und<br />
eurer Aufgabe? Wie stark<br />
identifiziert ihr euch mit<br />
eurem Arbeitgeber?<br />
Bolliger: Ich identifiziere mich stark mit dem Netzwerk.<br />
Ich fühle mich wohl hier, kann sein, wie ich<br />
bin. Wir arbeiten ja auch sehr wirtschaftsnah. Das<br />
wollte ich immer, denn ich war schon früh davon<br />
überzeugt, dass wirtschaftliche Faktoren in der Sozialarbeit<br />
eine Rolle spielen. Auch für Jugendliche<br />
sind wirtschaftsnahe Betriebe wichtig. Wie Brigitte<br />
bereits erwähnt hat, kommt hinzu, dass ich<br />
eine Macherin bin, eine, die gerne Neues anreisst.<br />
Diese Seite kann ich im Netzwerk ausleben. Wobei<br />
im letzten Jahr nun zum ersten Mal keine neuen<br />
Angebote hinzukamen. So oder so konnte ich in<br />
den vergangenen zehn Jahren viele Erfahrungen<br />
sammeln und mich weiterentwickeln. Tanner: Mir<br />
geht es ähnlich. Die Identifikation mit dem Netzwerk<br />
ist sehr hoch. Ausserdem empfinde ich es als<br />
Privileg, einen Job zu machen, der sinnstiftend<br />
ist. Auch wenn ich die Wirksamkeit nicht belegen<br />
kann, die Dankbarkeit der Jugendlichen spüre ich.<br />
Ich konnte immer wachsen innerhalb des Betriebs.<br />
Mein Handlungsspielraum ist gross, und ich kann<br />
mir momentan nicht vorstellen, dass es anderswo<br />
ebenfalls so wäre. Krauer: Dieses Mitwachsen ist<br />
wohl typisch fürs Netzwerk. Ich arbeite ja nun seit<br />
20 Jahren im Sozialbereich und seit langem nicht<br />
mehr an der Basis, sondern im Stab. Vor 20 Jahren<br />
hätte ich mir dies nicht vorstellen können. Doch<br />
hier wurde mir vermittelt: Du kannst das. Nun bin<br />
ich hinter den Kulissen tätig und dank des Wachstums<br />
mit vielen neuen, spannenden Herausforderungen<br />
konfrontiert worden. Das ist sehr reizvoll<br />
und hält mich wohl auch hier. Manchmal frage ich<br />
mich jedoch, wie es wäre, die Ärmel nach hinten zu<br />
krempeln und noch einmal etwas ganz Neues anzupacken.<br />
Wo und wie tankt ihr<br />
Energie?<br />
Tanner: Mir ist enorm wichtig, dass ich mit meinen<br />
Energien haushalte. Das wird mir manchmal auch<br />
zum Vorwurf gemacht. Ich habe seit einem Jahr einen<br />
Schrebergarten hinter dem Friedhof Sihlfeld in<br />
Zürich. Das ist ein toller Ausgleich. Allgemein liebe<br />
ich es, draussen zu sein, ich wandere und klettere.<br />
Bolliger: In den vergangenen Monaten ist der<br />
Ausgleich zum Job bei mir zu kurz gekommen. Ich<br />
habe meine Freunde nicht mehr so oft gesehen, da<br />
ich nach der Arbeit meine Ruhe wollte. Das ändert<br />
sich nun aber wieder. Ich weiss, Raum und Zeit für<br />
ein privates Leben sind wichtig. Meine Familie,<br />
Freundinnen und Freunde sind wichtig. Als Ausgleich<br />
zum Arbeitsalltag besuche ich gerne Konzerte<br />
und andere kulturelle Anlässe. Zudem gehe<br />
ich auch gerne ins Appenzellerland, wo ich aufgewachsen<br />
bin. Krauer: Ich arbeite ja 70 Prozent,<br />
darum haftet mir das Etikett «freizeitorientiert»<br />
an. Das ist mir egal – ich bin mir jedoch bewusst,<br />
dass ich in einer privilegierten Lage bin. Eine gute<br />
Balance ist mir wichtig. Ich schätze es sehr, meine<br />
Freizeit mit Freunden und der Familie verbringen<br />
zu können. Aber ich benötige auch Zeit für mich.<br />
Ich habe mein GA, meinen Museums- und Langlaufpass,<br />
reise kreuz und quer durch die Schweiz.<br />
Ich bin sehr gerne und viel an der frischen Luft, keine<br />
Sportfanatikerin, oft laufe ich einfach stundenlang<br />
irgendwohin. Ich merke, das gibt mir viel, ich<br />
brauche das.<br />
<br />
12 13