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Jahresbericht stiftung netzwerk 2012

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Merguin: Über Umwege sind wir ja auch Arbeitgeber<br />

der bei uns produzierenden Künstlerinnen<br />

und Künstler, obwohl die Produktionen hauptsächlich<br />

von der Stadt und vom Kanton subventioniert<br />

werden. Ich spüre also eine soziale Verpflichtung,<br />

und wir haben deshalb auch eine neue Gagenpolitik<br />

eingeführt, die garantiert, dass die bei uns produzierenden<br />

Künstler korrekt entlohnt werden.<br />

Das ist mir sehr wichtig, und ich setze mich auch<br />

auf kulturpolitischer Ebene dafür ein. Was mir daneben<br />

manchmal fehlt, sind die chaotischen Experimente,<br />

die Lust aufs Risiko und die Lust am<br />

Scheitern. Auch die Künstlergruppen stehen unter<br />

einem Produktionszwang und müssen ein Projekt<br />

nach dem anderen abliefern, um Fördergelder zu<br />

erhalten. Das kann dazu führen, dass Projekte lanciert<br />

werden, denen die zündende Idee vielleicht<br />

fehlt. Um dieser Haltung ein bisschen entgegenzuwirken<br />

und Freiräume für neue Ideen zu schaffen,<br />

werden wir neben einem «Forschungslabor»<br />

im Sommer auch bald unser Projekt «Big Time»<br />

starten, eine offene Bühne. Ich hoffe, diese offene<br />

Bühne weckt wieder die Lust am Risiko, am Spielerischen,<br />

fördert das Trashige und Spontane. Meier:<br />

Theatermann Christoph Marthaler soll ja einmal<br />

gesagt haben, dass er die besten Theaterstücke gemacht<br />

habe, als er noch gar kein Geld gehabt habe.<br />

Meiner Meinung nach wird in dieser Stadt viel zu<br />

viel richtig Gutes richtig gut bezahlt. Ein Laie aber<br />

sieht den Unterschied zwischen Schauspielhaus,<br />

Gessnerallee und Fabriktheater nicht mehr. So gesehen<br />

fliesst also wahnsinnig viel Geld in einen<br />

wahnsinnig engen Bereich von Kunst. Selbst Leute<br />

wie Christoph Schlingensief mussten aus diesem<br />

Grund ins System eindringen, um aus dem Prekären,<br />

Brotlosen rauszukommen. Er musste Theater- und<br />

Opernstücke sowie Ausstellungen machen, weil<br />

seine Gueril la-Aktivitäten ausserhalb des Institutionellen<br />

auf Zeit nicht finanzierbar waren. Darum<br />

finde ich, dass Kunst aus den Institutionen befreit<br />

werden muss.<br />

Kennt ihr schlaflose<br />

Nächte?<br />

Meier: Wenn ich in der Nacht aufwache, weil<br />

mich etwas beschäftigt und belastet, zum Beispiel<br />

die Tatsache, dass ich am Tag zuvor eine Absage<br />

gekriegt habe, dann wird dieses Problem gerade<br />

in diesem Moment oft noch grösser. In der<br />

Nacht wächst alles. Am nächsten Morgen ist das<br />

Problem meistens nur noch halb so schlimm.<br />

Merguin: Wenn sich bei mir die Gedanken in der<br />

Nacht drehen, stehe ich einfach auf, sortiere meine<br />

Gedanken oder lenke mich ab. Am nächsten Morgen<br />

sieht dann alles wieder ganz anders aus.<br />

Wir reden täglich über<br />

Veränderungen, denen<br />

wir ausgesetzt sind.<br />

Über die Beschleunigung<br />

des Lebens, den rasanten<br />

Wandel der Technologie.<br />

Seht ihr diese<br />

Entwicklung als Chance,<br />

oder grenzt ihr euch davon<br />

ab?<br />

Meier: Es war noch nie so einfach, mit einem Musikstück,<br />

einem Bild oder einem Text so viele Menschen<br />

zu erreichen. Für einen Kunstvermittler<br />

ist die Situation dank des Internets also einfach<br />

nur der Himmel auf Erden. Das Problem ist – und<br />

da ziehe ich die Grenze –, dass sich Museum und<br />

Theater noch im Industriezeitalter befinden. In<br />

einem neuen Zeitalter wird nicht mehr definiert,<br />

wo etwas stattfindet, sondern ich definiere, wo ich<br />

welche Leute erreiche. Ich habe diesbezüglich wie<br />

die Dadaisten ein Vorbild ausserhalb der Kunst gesucht.<br />

Und wen habe ich gefunden? Die Werber. Die<br />

Werber müssen sich überlegen, wo die Leute sind,<br />

die sie mit ihrer Werbung erreichen wollen. Es ist<br />

doch heute einfach wahnsinnig anachronistisch,<br />

in einem Haus ein Bild an die Wand zu hängen und<br />

dann zu warten, bis jemand vorbeikommt, um dieses<br />

Bild anzuschauen. Aber ja, es braucht alles seine<br />

Zeit: Die ersten Autos sahen wie Kutschen aus. Die<br />

ersten Online-Zeitungen gleichen Papierzeitungen.<br />

Ein grosser Bremsklotz ist sicher der Kulturpessimismus.<br />

Die Angst vor der Verdummung. Die<br />

hatte man ja übrigens auch, als das Fernsehen Einzug<br />

in die gute Stube hielt.<br />

Du betrachtest also<br />

prinzipiell nicht die Beschleunigung<br />

oder die<br />

Datenmenge als Problem,<br />

sondern alle, die das<br />

Internet nicht richtig zu<br />

nutzen wissen?<br />

Meier: Mein Sohn ist jetzt neun Jahre alt. Bis heute<br />

hat er noch kein Online-Gerät. In der Schule wird<br />

ihm vermittelt, dass das Internet gefährlich sei. Er<br />

sagt zu mir: Wenn er nur einen Wunsch frei hätte,<br />

wünschte er, dass Facebook abgeschafft würde.<br />

Dabei bin ich ja nicht ständig auf dem Netz. Was<br />

die Datenmenge betrifft, hat in meinem Fall die<br />

Erkenntnis, dass ich grundsätzlich immer alles<br />

verpasse, für am meisten Entspannung gesorgt.<br />

Ich nahm das Ruder in die eigene Hand und sagte:<br />

Okay, ich stelle hier die Filterschrauben ein und bestimme,<br />

was von dem wenigen, das ich bewältigen<br />

kann, bis zu mir gelangen soll. Ich habe mir einen<br />

Reader eingerichtet, über den ich etliche Blogs lese.<br />

Auch auf Twitter verfolge ich gewisse Leute. Ich bin<br />

also nicht mehr auf Zeitungen und Fernsehen angewiesen<br />

und gewinne auch wieder Zeit. Und ja: Ich<br />

gehe in den Ferien auch öfters an Orte, in die Berge<br />

oder nach Afrika, wo ich nicht online sein kann,<br />

und ich komme damit klar. Merguin: Der Umgang<br />

mit der Menge an Informationen, die ungefragt<br />

auf uns einprasseln, ist nicht zu unterschätzen.<br />

Ich persönlich versuche mir anzutrainieren, Freiräume<br />

ausserhalb der Informationsflut zu schaffen<br />

und selektiv damit umzugehen. Ich sehe in<br />

diesem Zusammenhang das Theater auch als<br />

Rückzugsort. Es hat eine eigene Zeitsouveränität,<br />

und während eines Stückes kann ich mich voll<br />

auf den Moment einlassen. So wirkt das Theater<br />

auch wie eine Entschleunigungsoase, da ich mich<br />

für die Dauer einer Vorstellung von allen anderen<br />

Informationskanälen verabschiede und mich voll<br />

auf die gegenwärtige Situation einlasse.<br />

Macht ihr noch eine klare<br />

Trennung zwischen Privatleben<br />

und Beruf?<br />

Meier: Mein Ziel wäre, dass ich bei einem neuen<br />

Job das Berufliche und Private wieder nicht trennen<br />

kann. Merguin: Und mein Ziel ist es, dass es<br />

eben nicht so ist. Berufliches und Privates sind<br />

auch in meinem Fall sehr verschränkt. Aber ich<br />

versuche, mir gewisse Auszeiten zu gönnen, mich<br />

aktiv aus dem Ganzen rauszuholen. Meier: Ich sehe<br />

da gar kein Problem. Für mich ist «online gehen»<br />

auch ein bisschen Wellness. Und ich habe es immer<br />

sehr genossen, samstags um 23 Uhr mit jemandem<br />

darüber zu streiten, ob das, was ich im Cabaret Voltaire<br />

mache, Dada ist oder nicht.<br />

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