Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
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Michi<br />
Michi, 22: «Hier in der Küche ist der Umgangston gepflegt, draussen wird das womöglich nicht mehr so sein.»<br />
Absolviert im AIP Restaurant Viadukt<br />
in Zürich eine Kochlehre<br />
Meine Schulzeit in Zürich war ein Kampf. Als Einzelgänger<br />
kam ich immer unter die Räder, war<br />
nicht schlagfertig genug. Im 8. Schuljahr wechselte<br />
ich in eine Privatschule. Es folgten die besten zwei<br />
Jahre meiner Schulzeit. Die Mitschülerinnen und<br />
Mitschüler akzeptierten mich so, wie ich war. Von<br />
einer 4,0 schaffte ich es auf Anhieb auf einen Notendurchschnitt<br />
von 5,5. Ich merkte: Ich muss an<br />
mich glauben, und dann kommt es schon gut.<br />
Mit meinem guten Sek-B-Abschluss hatte ich<br />
keine Probleme, eine Lehrstelle zu finden. Ich fand<br />
einen Lehrplatz als Fachmann Betriebsunterhalt,<br />
also Hauswart. Mein Vater arbeitet in diesem Job,<br />
und in meinen Ferien hatte ich jeweils in seinem<br />
Betrieb ein bisschen gejobbt. Kaum in der Lehre,<br />
merkte ich aber ziemlich schnell, dass ich mit diesem<br />
Beruf nicht wirklich warm wurde. Ausserdem<br />
kam ich am Arbeitsplatz nicht mit allen Ausbildnern<br />
klar. Dann löste mein Lehrbetrieb das Lehrverhältnis<br />
ohne Vorwarnung wegen schlechter<br />
Leistungen auf; auch zur Lehrabschlussprüfung<br />
meldete mich mein Arbeitgeber nicht an, obwohl<br />
ich mit meinem Notendurchschnitt zugelassen<br />
worden wäre. Auf einen so abrupten Abgang war<br />
ich nicht vorbereitet. Ich versuchte mich zu wehren<br />
– vergeblich.<br />
Mein Plan, die Lehre in einem anderen Betrieb<br />
zu beenden, fruchtete nicht. Ich fand keine Lehrstelle.<br />
Darum war ich fast zwei Jahre lang arbeitslos<br />
und verdiente mit Tageseinsätzen bei Job Shop<br />
mein Taschengeld. Mein Vater und ich lagen uns<br />
oft in den Haaren. Er verstand nicht, wieso ich oft<br />
müde und unmotiviert war. Dies änderte sich, als<br />
bei mir 2010 eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung<br />
(ADS) diagnostiziert wurde. Viele Probleme der<br />
vergangenen Jahre liessen sich vor diesem Hintergrund<br />
erklären. Die Diagnose führte zu einer spürbaren<br />
Entspannung zu Hause. Seit drei Jahren besuche<br />
ich nun ein Neurotraining, da muss ich vor<br />
allem Konzentrationsübungen machen.<br />
Es war meine damalige Therapeutin, die mich<br />
darauf hinwies, dass Jugendliche mit Defiziten<br />
eine AIP-Lehre im Restaurant Viadukt absolvieren<br />
können. Kochen war schon immer eine Leidenschaft<br />
von mir, und ich esse auch gerne. Was ich<br />
hier sah, gefiel mir auf Anhieb: die Stimmung, der<br />
Umgang mit den Lehrlingen und die Chefs. Leider<br />
lehnte die Stadt eine Finanzierung der Ausbildung<br />
ab. Ich liess aber nicht locker und gab Rekurs ein.<br />
Neun Monate später wurde die Finanzierung gutgeheissen,<br />
ausschlaggebend war der Bericht meines<br />
Therapeuten. Bis zum Lehrbeginn im Sommer <strong>2012</strong><br />
absolvierte ich im Netzwerk ein Arbeitstraining.<br />
Ich verlor ein Jahr, dachte aber immer: Es kann nur<br />
besser werden, und ich will nun vor allem zeigen,<br />
was ich kann.<br />
Nun bin ich auf Kurs. Ich arbeite gerne am Herd<br />
und lerne viel. Meistens übernehme ich den Entremetier-Posten,<br />
stelle die Menüs fertig und bereite<br />
À-la-carte-Gerichte für den Abend vor. Da hier alles<br />
gut strukturiert ist, komme ich mit dem Stress klar.<br />
Dass es Sozialarbeiter gibt, an die ich mich wenden<br />
kann, wenn ich ein Probleme habe, kommt mir<br />
ebenfalls entgegen. Mir ist aber auch bewusst, dass<br />
es nach meiner Lehre mit der Wohlfahrt vorbei ist.<br />
Ich muss dann auf dem freien Markt bestehen können.<br />
Hier in der Küche ist der Umgangston gepflegt,<br />
draussen wird das womöglich nicht mehr so sein.<br />
Nach der Lehre könnte ich mir einen Job als Koch<br />
in einem kleinen Betrieb vorstellen. Mein Fernziel<br />
ist ein eigenes Restaurant.<br />
Nach dem Abschluss 2014 werde ich voraussichtlich<br />
die Wohnung meiner Eltern übernehmen<br />
und dort mit meiner Freundin leben. Wir haben<br />
uns im Internet kennengelernt. Unsere gemeinsame<br />
Leidenschaft ist Eishockey. Sie ist Fan der SCL<br />
Tigers in Langnau, ich bin Anhänger der ZSC Lions.<br />
Ich reise an die meisten Spiele, verpasse quasi keinen<br />
Match. Auch wenn mein Lieblingsfussballclub<br />
GC spielt, bin ich meistens dabei. Ich leide mit meinen<br />
Clubs extrem mit. Mit zwei älteren Kollegen<br />
habe ich eine Hip-Hop-Band. Wir nennen uns Rap<br />
Meal, weil wir alle Köche sind oder waren. Ich stehe<br />
als Rapper extrem gerne auf der Bühne, für mich ist<br />
das Ganze aber pures Hobby. Was die Zukunft anbelangt,<br />
bin ich zuversichtlich. Es sieht alles viel<br />
besser aus als noch vor drei Jahren.<br />
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