Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
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Was war <strong>2012</strong> eure grösste<br />
Sorge? Und was hat<br />
euch im Gegenzug zuversichtlich<br />
gestimmt?<br />
Philipp Meier: Mich beschäftigte natürlich, dass<br />
<strong>2012</strong> das Cabaret Voltaire quasi in ein Wachkoma<br />
versetzte wurde. Und dass das Kunsthaus im Gegenzug<br />
massiv ausgebaut wird, also eine Art Neofeudalisierung<br />
der Kultur zum Blühen kommt. Die<br />
Dadaisten verstanden sich ja explizit als Pazifisten,<br />
im Kunsthaus aber geht es um die Kunstsammlung<br />
eines Waffenhändlers. Dieses Statement der Stadt<br />
war und ist für mich erschreckend. Und wenn ich<br />
Stadt sage, meine ich die Politik, aber auch das<br />
Stimmvolk, das an der Urne dazu Ja gesagt hat.<br />
Städtepolitisch zuversichtlich gestimmt hat mich<br />
kürzlich, dass es Richi Wolff von der Alternativen<br />
Liste in den Stadtrat geschafft hat. Und allgemein<br />
gefällt mir auch die zunehmende Digitalisierung<br />
der Umwelt. Roger Merguin: Bei mir stand sicher<br />
der Wechsel von der Berner Dampfzentrale an die<br />
Zürcher Gessnerallee im Mittelpunkt und damit<br />
vielleicht die Frage, wie ich meinen Begriff von<br />
Tanz und Theater in diesem neuen Umfeld positionieren<br />
kann. Die Aufgabe bin ich zuversichtlich<br />
angegangen, da ein neues Betätigungsfeld noch<br />
einmal alles öffnet und ich diese Herausforderung<br />
gesucht habe.<br />
Roger, dein Weg führte vom<br />
KV über den Tanz zur<br />
künstlerischen Leitung<br />
eines Kulturhauses. Philipp,<br />
du warst einmal Landschaftsgärtner<br />
im Aargau<br />
und vor dem Cabaret<br />
Voltaire viele Jahre lang<br />
Klubkurator in Zürich. Wie<br />
kam es zu diesen ständigen<br />
Richtungswechseln?<br />
Merguin: Nach meiner Ausbildung zum Tänzer<br />
und einigen Jahren auf der Bühne stellte ich irgendwann<br />
fest, dass immer mehr die Leidenschaft<br />
fehlt, um nur als Tänzer zu arbeiten. Ich begann<br />
dann, als Choreograph meine Idee von Tanz auf die<br />
Bühne zu bringen. Nach drei Stücken suchte ich<br />
die Arbeit in verschiedenen Künstlerkollektiven<br />
und rutschte dabei immer mehr in die Doppelrolle<br />
Künstler/Manager. Ich absolvierte parallel zu<br />
meiner Arbeit als Produzent von Tanzstücken ein<br />
Studium als Kulturmanager und landete schliesslich<br />
als Co-Leiter in der Dampfzentrale Bern. Trotz<br />
des Angebots, den Vertrag zu verlängern, wechselte<br />
ich anschliessend an die Gessnerallee Zürich. Hier<br />
läuft mein Vertrag bis 2016, und er könnte danach<br />
maximal um weitere vier Jahre verlängert werden.<br />
Über kurz oder lang steht bei mir also wieder ein<br />
Richtungswechsel an. Doch ich mache mir noch<br />
keine Gedanken über die Zukunft. Prinzipiell finde<br />
ich den Moment spannend, in dem man sich aufgrund<br />
des beruflichen Richtungswechsels neu definieren<br />
muss. Aber natürlich ist das nicht immer<br />
leicht. Als Tänzer landete ich nach einem Unfall<br />
kurzfristig bei der Sozialhilfe. Ich kenne also auch<br />
die weniger gloriosen Seiten eines erzwungenen<br />
Richtungswechsels. Meier: Ich vollzog den Richtungswechsel<br />
immer aus einem anderen Grund:<br />
Zum Wechsel von der Landschaftsgärtnerei ins<br />
Kunststudium und in die Partyszene kam es, weil<br />
die Beziehung mit meiner Jugendliebe in die Brüche<br />
gegangen war, die ich als 25-Jähriger geheiratet<br />
hatte. Bei der zweiten Richtungsänderung war<br />
mein kommerzielles Scheitern als Gesamtprogrammleiter<br />
der Toni-Molkerei der Hauptgrund.<br />
Der Konkurrenzdruck innerhalb der Klubkultur<br />
wurde damals immer grösser, und es gelang mir<br />
nicht mehr, mit den Einnahmen des Wochenendes<br />
den Wochenbetrieb zu subventionieren. Daraufhin<br />
wurde meine Anstellung reduziert, und ich machte,<br />
was ich heute als Arbeitsloser wiederum mache:<br />
Ich aktivierte mein Netzwerk. So lernte ich genau<br />
im richtigen Moment die Leute kennen, die das Cabaret<br />
Voltaire neu besetzen mussten. Amüsant ist,<br />
dass ich eigentlich immer dachte, dass ich in dem<br />
Bereich bleiben würde, in dem ich gerade tätig war.<br />
Nun finde ich es okay, dass ich nicht weiss, in welche<br />
Richtung es gehen wird. Tendenziell könnte ich<br />
mir einen erneuten Bruch vorstellen. Ich arbeite<br />
viel mit dem Internet. Es könnte also gut sein, dass<br />
ich im Onlinebereich lande. Die Kulturförderung<br />
kommt ja auch an den Punkt, an dem sie feststellt,<br />
dass das Internet für den Bereich Kulturvermittlung<br />
interessant sein könnte.<br />
Roger, du hast als erste<br />
Amtshandlung in der<br />
Gessnerallee einen Einheitseintrittspreis<br />
von<br />
16 Franken eingeführt.<br />
Wie ist dieser Entscheid<br />
in der Szene, in anderen<br />
Theaterhäusern, beim<br />
Vorstand angekommen?<br />
Merguin: Mit dem Einheitseintrittspreis wollte ich<br />
die Gessnerallee für ein grösseres Publikum öffnen<br />
– die Devise lautete: Theater zum Kinopreis. Ich<br />
habe mich mit dieser Eintrittspolitik, die neben<br />
dem solidarischen Einheitspreis ebenso beinhaltet,<br />
dass es keine Freibillette mehr gibt, bewusst gleich<br />
zu Beginn aus dem Fenster gelehnt. Natürlich gab<br />
es Stimmen, die diese Preispolitik in Frage stellten.<br />
Mein Ziel ist, mit dem solidarischen Einheitspreis<br />
mehr Leuten den Zugang zu zeitgenössischem Theater<br />
und Tanz zu ermöglichen und vor allem auch<br />
die Experimentierfreudigkeit zu fördern. Der Vorstand<br />
der Gessnerallee hat den Einheitseintrittspreis<br />
soeben noch einmal, für das zweite Spieljahr,<br />
bestätigt; wir konnten inzwischen auch mit Zahlen<br />
belegen, dass wir bei den Einnahmen keine grossen<br />
Einbussen gemacht haben, die Zuschauerzahlen<br />
jedoch gestiegen sind. Das Publikum hat den neuen<br />
Eintrittspreis also gut aufgenommen. Von den<br />
Häusern rundherum hätte man vielleicht mit mehr<br />
Kritik rechnen können, doch die blieb aus. Einige<br />
meinten sogar: Hey, das hätten wir eigentlich auch<br />
machen können. Ich fände es interessant, die Idee<br />
einer Einheitseintrittspreis-Kollaboration mit einem<br />
anderen Kulturbetrieb einzugehen.<br />
Wie geht ihr persönlich<br />
mit Risiken um, wenn ihr<br />
Entscheidungen trefft?<br />
Meier: Ich habe das Cabaret Voltaire als Betrieb immer<br />
sehr unternehmerisch betrachtet. Und in der<br />
Tat ist das Risiko in diesem Fall natürlich nie so<br />
gross, wie wenn man mit dem eigenen Geld haften<br />
würde. Im Nachhinein kann man heute sagen, dass<br />
wir während meiner Zeit wahrscheinlich zu wenig<br />
aufs Historische gesetzt haben, da mich persönlich<br />
Neuinterpretationen einfach viel mehr interessierten.<br />
Es mag komisch klingen, aber es war mir<br />
während meiner Zeit als Co-Direktor wichtig, dass<br />
das Haus immer am Abgrund stand. Denn ich hatte<br />
genauso Angst, dass das Cabaret Voltaire so werden<br />
könnte wie eine Rote Fabrik. Dass vielleicht alle<br />
paar Jahre eine kurze Diskussion entbrennt, es jedoch<br />
keine Aufreibung mehr gibt, dass die Subventionen<br />
fliessen, aber der Geist stirbt. Mit anderen<br />
Worten: dass das Cabaret als etablierter Kulturort<br />
endet – wie die Gessnerallee, das Schauspielhaus<br />
oder das Opernhaus. Wir wollten auch keine Zielgruppe<br />
definieren, obwohl dies gewünscht wurde.<br />
So gesehen ist es absolut richtig, dass ich nach<br />
der erneuten Finanzkrise gehen musste. Ich habe<br />
das Haus politisch lange auf dieser Kippe gehalten.<br />
Merguin: Der Umgang mit Risiken gehört zur<br />
Kernkompetenz der Gessnerallee. Und obwohl wir<br />
als Kulturbetrieb etabliert sind, ist der freie Geist<br />
noch spürbar. Wir hinterfragen die Institution<br />
Gessnerallee ständig und suchen zusammen mit<br />
den Künstlern neue Formen des Dialogs mit dem<br />
Publikum. Ein etablierter Kulturort muss in seiner<br />
aktuellen Ausrichtung immer hinterfragt werden.<br />
Bestenfalls ermöglicht er auf einer professionellen<br />
Ebene die ständige Auseinandersetzung mit Kultur,<br />
Künstlern, Publikum. Ein Beispiel dafür ist unser<br />
Südbühnenkuratorium. Die Idee hier: Externe<br />
Gruppen programmieren die Südbühne und erhalten<br />
von uns dafür Programmgelder. Wir wählen die<br />
Gruppen zwar aus und arbeiten mit ihnen zusammen,<br />
aber wir wählen vor allem die Kuratoren aus,<br />
die uns irritieren und es eben nicht so machen wie<br />
wir. Ich finde, auf diese Weise bekommt das Risiko<br />
eine sehr lustvolle Note.<br />
Geld ist immer ein Thema<br />
und die Frage: Was<br />
darf Kultur kosten? Ermüdet<br />
dieser Umstand<br />
oder seht ihr dies mit<br />
Blick auf die Krise als<br />
Herausforderung, erfinderisch<br />
zu bleiben?<br />
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