26.12.2013 Aufrufe

Jahresbericht stiftung netzwerk 2012

Jahresbericht stiftung netzwerk 2012

Jahresbericht stiftung netzwerk 2012

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Elisa<br />

Elisa, 18: «Ich weiss, was es heisst, keine Eltern zu haben, . dieses Gefühl vermittelt dir kein Buch.»<br />

Wohnt in einer Jugendwohnung der<br />

Stiftung Netzwerk und macht ein<br />

Praktikum in einer Kinderkrippe<br />

Ich absolviere zurzeit ein Praktikum in einer Kinderkrippe<br />

in Zürich. Den Job habe ich mir alleine<br />

organisiert. Die Stelle war ausgeschrieben, ich<br />

habe angerufen und das Praktikum bekommen.<br />

Ich arbeite gerne mit Kindern: Egal, wie schlecht<br />

du drauf bist, Kinder muntern dich immer auf.<br />

Mein Alltag ist abwechslungsreich; langweilig wird<br />

mir mit den Knirpsen eigentlich nie. Ich habe zuvor<br />

schon ein Praktikum in einem Altersheim und in<br />

einer anderen Krippe absolviert, aber dort stimmte<br />

die Chemie mit dem Team nicht. An meiner neuen<br />

Stelle ist das anders: Es kommt ja eher selten vor,<br />

dass Männer in Kinderkrippen arbeiten, aber bei<br />

meiner jetzigen Stelle ist das so. Nicht nur das Team<br />

profitiert, sondern die Durchmischung ist auch für<br />

die Kids gut. Die Buben können zum Beispiel mit<br />

den männlichen Betreuern «tschutten».<br />

Mein Vater ist halb Angolaner, halb Kongolese,<br />

meine Mutter halb Holländerin, halb Deutsche.<br />

Meinen Vater sehe ich sehr selten. Er lebt in der<br />

Westschweiz. Wenn er in Zürich ist, ruft er mich<br />

manchmal an, und wir sehen uns irgendwo für<br />

20 Minuten. Dann muss er aber auch schon wieder<br />

weiter. Mit meiner Mutter habe ich gar keinen<br />

Kontakt mehr. Sie wohnt in Zürich, aber ich weiss<br />

nicht einmal genau, wo. Ich will sie nicht mehr treffen,<br />

und sie mich auch nicht. Damit habe ich abgeschlossen.<br />

In meiner Kindheit pendelte ich zwischen Pflegefamilie<br />

und Heim. Es war eine schwierige Zeit,<br />

denn ich musste mich immer wieder auf neue Leute<br />

einlassen. Am längsten, drei Jahre lang, wohnte<br />

ich im Heim in Aathal, wo ich auch die Sek B abschloss.<br />

In der Schule war ich nach einer kurzen<br />

Angewöhnungszeit ziemlich streberhaft. Als dann<br />

jedoch kurz vor meinem Abschluss meine Bezugsperson<br />

im Heim kündigte, warf mich das total aus<br />

der Bahn. Die Beziehung zwischen mir und diesem<br />

Betreuer war sehr eng gewesen. Er war irgendwie<br />

alles für mich: Kumpel, Mami, Papi. In den letzten<br />

zwei Wochen ging ich nicht mehr zur Schule. Ich<br />

hatte den «Koller», tauchte total ab. Den Abschluss<br />

habe ich wohl nur geschafft, weil man mir sehr<br />

wohlgesinnt war.<br />

Nach dem Heim kam ich erstmals ins Netzwerk,<br />

das war 2011, und zwar in die Jugendwohnungen,<br />

in eine Wohngemeinschaft. Der Wechsel<br />

war krass. Denn eigentlich war Eigenverantwortung<br />

gefragt, doch ich sah nur die neuen Freiheiten<br />

und übertrieb alles: Das Rauchen, das Ausgehen,<br />

das Herumtrödeln. Als ich dann noch meine Tagesstruktur<br />

verlor, musste ich wieder ausziehen.<br />

Ein Jahr verbrachte ich daraufhin in einer Jugendwohnung<br />

in Oerlikon. Dort musste ich keine Tagesstruktur<br />

vorweisen, konnte aber nur ein Jahr lang<br />

bleiben. Nach Ablauf dieser Frist war ich immer<br />

noch am gleichen Punkt. Ich klopfte wieder beim<br />

Netzwerk an. Doch es war kein WG-Zimmer frei.<br />

Nach vielen Diskussionen war das Netzwerk bereit,<br />

mir einen Platz im Einzelwohnen zu geben. Ich war<br />

total erleichtert: Die Zusage erhielt ich an einem<br />

Dienstag, abends um sieben Uhr, um neun Uhr am<br />

nächsten Tag musste ich am anderen Ort in Oerlikon<br />

ausziehen.<br />

Es ist schön, eine eigene Wohnung zu haben.<br />

Oft kriege ich zu hören: «Hey, du bist erst 18 und<br />

wohnst schon alleine, cool!» Meine Antwort lautet<br />

dann aber immer: «Was macht deine Mutter für<br />

dich, waschen, kochen, einkaufen? Siehst du, das<br />

muss ich alles selber machen. Und das ist nicht<br />

nur cool.» Mittlerweile habe ich mich aber daran<br />

gewöhnt. Wenn ich am Abend nach Hause komme,<br />

mache ich zuerst den Abwasch vom Vortag. Das ist<br />

so ein Ritual. Am Samstag sauge ich die Wohnung<br />

und wasche meine Klamotten. Ab und zu schaut<br />

jemand vom Netzwerk vorbei. Einmal in der Woche<br />

findet auch ein Gespräch statt. Darüber bin<br />

ich froh, jetzt gerade hilft man mir zum Beispiel<br />

mit der Steuererklärung. Mein Ziel ist, eine Lehre<br />

als Fachfrau Betreuung abzuschliessen und später<br />

einmal Sozialpädagogik zu studieren. Bereits als<br />

12-Jährige im Heim dachte ich immer, dass ich einmal<br />

zurückkommen möchte, um die Sachen besser<br />

zu machen. Meine Biografie hilft mir sicher, weil<br />

ich beide Seiten kenne. Ich weiss, was es heisst,<br />

keine Eltern zu haben; dieses Gefühl vermittelt dir<br />

kein Buch.<br />

<br />

80<br />

81

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!