Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
Jahresbericht stiftung netzwerk 2012
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Elisa<br />
Elisa, 18: «Ich weiss, was es heisst, keine Eltern zu haben, . dieses Gefühl vermittelt dir kein Buch.»<br />
Wohnt in einer Jugendwohnung der<br />
Stiftung Netzwerk und macht ein<br />
Praktikum in einer Kinderkrippe<br />
Ich absolviere zurzeit ein Praktikum in einer Kinderkrippe<br />
in Zürich. Den Job habe ich mir alleine<br />
organisiert. Die Stelle war ausgeschrieben, ich<br />
habe angerufen und das Praktikum bekommen.<br />
Ich arbeite gerne mit Kindern: Egal, wie schlecht<br />
du drauf bist, Kinder muntern dich immer auf.<br />
Mein Alltag ist abwechslungsreich; langweilig wird<br />
mir mit den Knirpsen eigentlich nie. Ich habe zuvor<br />
schon ein Praktikum in einem Altersheim und in<br />
einer anderen Krippe absolviert, aber dort stimmte<br />
die Chemie mit dem Team nicht. An meiner neuen<br />
Stelle ist das anders: Es kommt ja eher selten vor,<br />
dass Männer in Kinderkrippen arbeiten, aber bei<br />
meiner jetzigen Stelle ist das so. Nicht nur das Team<br />
profitiert, sondern die Durchmischung ist auch für<br />
die Kids gut. Die Buben können zum Beispiel mit<br />
den männlichen Betreuern «tschutten».<br />
Mein Vater ist halb Angolaner, halb Kongolese,<br />
meine Mutter halb Holländerin, halb Deutsche.<br />
Meinen Vater sehe ich sehr selten. Er lebt in der<br />
Westschweiz. Wenn er in Zürich ist, ruft er mich<br />
manchmal an, und wir sehen uns irgendwo für<br />
20 Minuten. Dann muss er aber auch schon wieder<br />
weiter. Mit meiner Mutter habe ich gar keinen<br />
Kontakt mehr. Sie wohnt in Zürich, aber ich weiss<br />
nicht einmal genau, wo. Ich will sie nicht mehr treffen,<br />
und sie mich auch nicht. Damit habe ich abgeschlossen.<br />
In meiner Kindheit pendelte ich zwischen Pflegefamilie<br />
und Heim. Es war eine schwierige Zeit,<br />
denn ich musste mich immer wieder auf neue Leute<br />
einlassen. Am längsten, drei Jahre lang, wohnte<br />
ich im Heim in Aathal, wo ich auch die Sek B abschloss.<br />
In der Schule war ich nach einer kurzen<br />
Angewöhnungszeit ziemlich streberhaft. Als dann<br />
jedoch kurz vor meinem Abschluss meine Bezugsperson<br />
im Heim kündigte, warf mich das total aus<br />
der Bahn. Die Beziehung zwischen mir und diesem<br />
Betreuer war sehr eng gewesen. Er war irgendwie<br />
alles für mich: Kumpel, Mami, Papi. In den letzten<br />
zwei Wochen ging ich nicht mehr zur Schule. Ich<br />
hatte den «Koller», tauchte total ab. Den Abschluss<br />
habe ich wohl nur geschafft, weil man mir sehr<br />
wohlgesinnt war.<br />
Nach dem Heim kam ich erstmals ins Netzwerk,<br />
das war 2011, und zwar in die Jugendwohnungen,<br />
in eine Wohngemeinschaft. Der Wechsel<br />
war krass. Denn eigentlich war Eigenverantwortung<br />
gefragt, doch ich sah nur die neuen Freiheiten<br />
und übertrieb alles: Das Rauchen, das Ausgehen,<br />
das Herumtrödeln. Als ich dann noch meine Tagesstruktur<br />
verlor, musste ich wieder ausziehen.<br />
Ein Jahr verbrachte ich daraufhin in einer Jugendwohnung<br />
in Oerlikon. Dort musste ich keine Tagesstruktur<br />
vorweisen, konnte aber nur ein Jahr lang<br />
bleiben. Nach Ablauf dieser Frist war ich immer<br />
noch am gleichen Punkt. Ich klopfte wieder beim<br />
Netzwerk an. Doch es war kein WG-Zimmer frei.<br />
Nach vielen Diskussionen war das Netzwerk bereit,<br />
mir einen Platz im Einzelwohnen zu geben. Ich war<br />
total erleichtert: Die Zusage erhielt ich an einem<br />
Dienstag, abends um sieben Uhr, um neun Uhr am<br />
nächsten Tag musste ich am anderen Ort in Oerlikon<br />
ausziehen.<br />
Es ist schön, eine eigene Wohnung zu haben.<br />
Oft kriege ich zu hören: «Hey, du bist erst 18 und<br />
wohnst schon alleine, cool!» Meine Antwort lautet<br />
dann aber immer: «Was macht deine Mutter für<br />
dich, waschen, kochen, einkaufen? Siehst du, das<br />
muss ich alles selber machen. Und das ist nicht<br />
nur cool.» Mittlerweile habe ich mich aber daran<br />
gewöhnt. Wenn ich am Abend nach Hause komme,<br />
mache ich zuerst den Abwasch vom Vortag. Das ist<br />
so ein Ritual. Am Samstag sauge ich die Wohnung<br />
und wasche meine Klamotten. Ab und zu schaut<br />
jemand vom Netzwerk vorbei. Einmal in der Woche<br />
findet auch ein Gespräch statt. Darüber bin<br />
ich froh, jetzt gerade hilft man mir zum Beispiel<br />
mit der Steuererklärung. Mein Ziel ist, eine Lehre<br />
als Fachfrau Betreuung abzuschliessen und später<br />
einmal Sozialpädagogik zu studieren. Bereits als<br />
12-Jährige im Heim dachte ich immer, dass ich einmal<br />
zurückkommen möchte, um die Sachen besser<br />
zu machen. Meine Biografie hilft mir sicher, weil<br />
ich beide Seiten kenne. Ich weiss, was es heisst,<br />
keine Eltern zu haben; dieses Gefühl vermittelt dir<br />
kein Buch.<br />
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