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Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

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Instrumenten-Notstand im Kanzleramt<br />

Sehr verehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

Sie fliegen bestimmt min<strong>des</strong>tens so oft wie ich. Und fühlen sich, zu Recht, viel wohler in ihrer Haut, wenn Sie<br />

wissen, dass <strong>der</strong> Pilot dank Radar, künstlichem Horizont, Leitstrahl <strong>und</strong> Dutzenden von Instrumenten stets die<br />

Position <strong>und</strong> den Zustand <strong>der</strong> Maschine kennt – nur so können Start, Flug <strong>und</strong> Landung sicher gelingen. Kommt<br />

Ihnen dabei gelegentlich auch <strong>der</strong> Gedanke an die Maschine, die Sie selbst hauptberuflich steuern? Mir schon.<br />

Und wohl ist mir als Staatsbürger dabei nicht. Denn im Cockpit Ihres Jets, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, herrscht<br />

Instrumenten-Notstand. Genau genommen befindet sich Ihre Maschine fast im Blindflug.<br />

Da kenne ich wohl nicht die Berge von Papier, die Tag für Tag über Ihren Schreibtisch hereinbrechen?<br />

All die Statistiken, Meinungsspalten, Analysen? Ich weiß, ich weiß. Aber ist auch das Richtige dabei?<br />

Sehen Sie, ich kaufe regelmäßig beim Bäcker um die Ecke ein <strong>und</strong> frage mich, wie es dem Bäckermeister<br />

wohl wirtschaftlich ginge, wenn er seinen Laden unter den gleichen Bedingungen führen müsste wie Sie.<br />

Was an Geld hereinkommt <strong>und</strong> hinausgeht, wissen Sie beide, <strong>der</strong> Bäckermeister <strong>und</strong> Sie, <strong>und</strong> wofür das Geld<br />

eingenommen o<strong>der</strong> ausgegeben wurde, ebenfalls. Doch da endet auch schon die Parallele. Der Bäcker weiß,<br />

was seine Öfen <strong>und</strong> Theken, seine Vitrine <strong>und</strong> seine sonstige Ausstattung wert sind. Nicht so die Bun<strong>des</strong>regierung.<br />

Die Infrastruktur <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, von den Flughäfen bis zu den Universitäten, die je<strong>des</strong> Jahr Milliarden an Investitionen<br />

<strong>des</strong> Staates beansprucht – wer kennt ihren Wert? Wie soll man da entscheiden, ob es Zeit ist, in neue<br />

Umluftöfen zu investieren? Dem Bäckermeister fiele eine solche Entscheidung unendlich schwer, wenn er keine<br />

Bilanz erstellen würde, in die neue Anlagen eingebracht <strong>und</strong> dann abgeschrieben werden. Nur was gemessen<br />

wird, kann auch gemanagt werden.<br />

Auch <strong>des</strong>halb haben wir kaum einen Sinn dafür, wie die Prioritäten zu setzen sind – Hochschulen o<strong>der</strong> Transrapid?<br />

Autobahnen o<strong>der</strong> Internet in allen Schulen? Im Zeitalter knapper Kassen muss man Güterabwägungen treffen,<br />

mit Leidenschaft <strong>und</strong> Augenmaß. Und dafür fehlen <strong>der</strong> Regierung schlicht die Informationen.<br />

Doch damit nicht genug. Angesichts <strong>der</strong> Zahlungsverpflichtungen für zukünftige Renten dürfte selbst einem<br />

Krösus schwindelig werden, aber – dokumentiert sind sie nirgendwo. We<strong>der</strong> bei einer „Rente mit 60“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

nächsten Anpassung <strong>der</strong> Altersbezüge könnten sie angemessen ins Kalkül eingehen. Wie wäre meinem Bäcker<br />

zumute, sähe er Zahlungen für seine Angestellten auf sich zukommen, die schnell den Wert <strong>des</strong> Betriebes<br />

übersteigen können?<br />

Schon im Interesse <strong>der</strong> nachfolgenden Generationen sollten alle „Anlagevermögen“ <strong>und</strong> Zahlungsverpflichtungen<br />

<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in einer Bilanz zusammengefasst werden. Je<strong>des</strong> Jahr könnten dann Sie, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, diese<br />

Bilanz vorstellen. Dann würden nicht nur Einnahmen <strong>und</strong> Ausgaben diskutiert wie bisher bei den Haushaltsdebatten.<br />

Statt<strong>des</strong>sen könnten Sie Opposition <strong>und</strong> Bürger damit beeindrucken, wie ihr Team den Wert <strong>der</strong><br />

Deutschland AG gesteigert hat. Denn machen wir uns nichts vor – Sparen auf Kosten <strong>der</strong> Investitionen ist kein<br />

Rezept für nachhaltigen Erfolg. In einem Bäckerladen aus den fünfziger Jahren würden we<strong>der</strong> Sie noch ich gern<br />

einkaufen gehen.<br />

Dringende Investitionen zu vertagen ist viel weniger sinnvoll als etwa Einsparungen durch intelligentere Teilzeitarbeit<br />

im Bäckerladen. Auch <strong>des</strong>halb darf es nicht mehr egal sein, wie in öffentlichen Haushalten gespart wird.<br />

Statt die Effizienz zu steigern <strong>und</strong> mit weniger Beamten die gleiche Arbeit zu schaffen, kann man natürlich einfach<br />

bei Straßenbau <strong>und</strong> Bildungsinvestitionen streichen. Aber <strong>der</strong> Effekt sollte klar in den Büchern stehen.<br />

Eine Utopie? Träumereien eines Managers, <strong>der</strong> den Staat zum Wirtschaftsunternehmen machen will? Natürlich<br />

lassen sich Analogien aus dem Wirtschaftsleben nur begrenzt auf ein ganzes Land übertragen. Wer will schon<br />

den Goodwill quantifizieren, den die Entschädigung für die Zwangsarbeiter weltweit einbringt? O<strong>der</strong> den Wert <strong>der</strong><br />

Bun<strong>des</strong>wehr? Trotzdem – auch wenn keine Perfektion zu erreichen ist, fast alles wäre besser als <strong>der</strong> heutige<br />

Blindflug.<br />

Auch Vorbil<strong>der</strong> gibt es bereits. Neuseeland hat Bilanzen für den Staat eingeführt; Investitionsgüter wie Straßen<br />

werden aktiviert <strong>und</strong> abgeschrieben, <strong>und</strong> je<strong>der</strong> Bürger kann sehen, wann die Regierung <strong>und</strong> er über ihre Verhältnisse<br />

leben. In den USA berechnet das Congressional Budget Office, welche finanziellen Folgen beispielsweise<br />

Än<strong>der</strong>ungen am Rentensystem o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Dynamisierung <strong>der</strong> Sozialleistungen in den nächsten 25 Jahren haben<br />

werden. Auch in Deutschland wird schon mal eine ähnliche Rechnung angestellt, von Forschungsinstituten <strong>und</strong><br />

halbamtlichen Stellen. Aber nirgendwo gibt es eine allgemein akzeptierte Einschätzung, die als Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong><br />

Regierungsarbeit taugt.<br />

Dass Politik Spaß macht, weil man etwas gestalten kann, gönne ich Ihnen gern. Im Moment führt die primitive<br />

Rechnungslegung <strong>des</strong> Staates aber dazu, dass wichtige gestalterische Entscheidungen ohne ausreichende<br />

Informationen getroffen werden müssen. Selbst bei sinnvollen Maßnahmen Ihrer Regierung, wie beispielsweise<br />

<strong>der</strong> Rentenanpassung in Höhe <strong>der</strong> Inflation, ist wenig zu vernehmen außer dem Wehklagen <strong>der</strong> Lobbyisten.<br />

Würden hingegen auf Heller <strong>und</strong> Pfennig auch die Vorteile mutiger Politik bilanziert, dann wäre Popularität nicht<br />

mehr so auf Populismus angewiesen. Vielleicht wählt mein Bäckermeister Sie dann sogar ein zweites Mal?<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

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