Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

echt, die dann auch entsprechend ihres Marktwertes
entlohnt werden müssen.
Zweitens: Bürger müssen sich der eigenen Verantwortung
für ihr Handeln auch in finanziellen Fragen bewusst
werden. Auch dabei kann der Staat einen wichtigen
Beitrag leisten.
Warren Buffett, einer der erfolgreichsten Investoren der
letzten Jahrzehnte, kauft nur Beteiligungen von Unternehmen,
deren Geschäftsmodell er genau versteht, von denen
er erwartet, dass sie auch noch in 30 Jahren eine gute
Investition sein werden, und deren Produkte er persönlich
schätzt – so wie beispielsweise Cherry Coke, das gleich
kistenweise an den Firmensitz in Omaha, Nebraska, geliefert
wird. Welcher Anleger kann von sich behaupten,
so gehandelt zu haben? Wohl nur die allerwenigsten.
Dies bedeutet nicht, dem Vorwurf des moralischen Versagens
ein einfaches „selber schuld“ entgegenzusetzen.
Analysten veröffentlichten Tagestipps, das Börsenfernsehen
heizte die Stimmung an, und auf Privatisierungseinnahmen
erpichte Politiker trugen dazu bei, dass viele
Menschen meinten, die Kurse könnten nur nach oben
gehen. Verantwortungsbewusst war dies nicht – doch wir
erwarten von Bürgern in allen anderen Lebensbereichen,
dass sie trotz vollmundiger Versprechungen in der
Werbung selbstständige Urteile fällen können. Häufig betreiben
Verbraucher den Gebrauchtwagenkauf sorgfältiger
als die Investition ihrer Lebensersparnisse und vergleichen
die Preise für eine Kiste Weißbier detaillierter als EBIT und
Verschuldungsgrad der Firmen, deren Anteile sie noch
schnell im Rahmen des IPO gezeichnet hatten. Und während
falsche Versprechungen und betrügerische Praktiken
zu Recht für die Nichtigkeit von Verträgen sorgen, führt
weder die Waschmittelwerbung der Konzerne noch so
manches rosarote Wahlversprechen von Politikern grundsätzlich
weniger in die Irre als die windigen Prognosen
der Internet-Gurus. Selbst wenn keine Betrügereien und
Bilanzfälschungen vorgekommen wären, hätten vermutlich
viele leichtgläubig in die Aktien einzelner Unternehmen
investiert, ohne auch nur die Grundregeln der
Risikodiversifikation und der richtigen Anlagehorizonte
zu bedenken. Die Gesamtzahl der bekannt gewordenen
Betrugsfälle – selbst am vielgescholtenen Neuen Markt –
ist dagegen bislang zumindest eher klein.
So traurig das Ergebnis im Einzelfall sein mag – so lange
man den Bürgern das Wahlrecht und die eigenen Konsumentscheidungen
lässt (so wie die Möglichkeit, sich
mit Alkohol und Tabak das Leben zu verkürzen), muss
man ihnen auch die Gelegenheit lassen, aus Sympathien
für den netten Manfred Krug Aktien zu zeichnen. Damit
sie aber in Zukunft sinnvollere Anlageentscheidungen
treffen – beispielsweise, indem sie in breit diversifizierte
Fonds investieren oder Index-Tracker kaufen –, müssen sie
umfassender informiert werden. Seit Jahren propagiert
man den unabhängigen Finanzberater, der nicht von den
Provisionen der von ihm vertriebenen Produkte lebt – und
wo ist er? Ähnlich wie bei den ehrlichen Bilanzen oder
den Nebenwirkungen von Pharmaka löst der Markt manche
Probleme nicht automatisch, sondern bedarf der
planenden, schützenden Hand des Staates. Dass der
Autohändler einem etwas verkaufen will und der Rat,
doch S- statt A-Klasse zu fahren, nicht ganz selbstlos ist,
weiß jeder. Kaum jedoch bei Bank oder Versicherung angekommen,
werden viele gutgläubig und vertrauen dem
Anlageberater mit seinem Hang zu hauseigenenen Investmentfonds
oder dem Versicherungsvertreter und der
immer neuen „Unterversicherung“, die er entdeckt.
Warum kann sich in Deutschland immer noch fast jeder
Investmentberater nennen, ohne eine qualifizierte Ausbildung
vorweisen zu müssen, wenn selbst das Backen
von Brötchen in Deutschland eine dreijährige Lehrzeit
erfordert? Ein eigener Beruf „unabhängiger Finanzberater“,
mit FH-Studium und mit dem Verbot, über Provisionen
bezahlt zu werden, wäre nicht nur ein Beitrag zu deutlich
besserer Beratung der Kunden – es könnte auch eine
neue Berufsgruppe ins Leben gerufen werden, die dank
Gebühren gut von einer volkswirtschaftlich wertvollen
Dienstleistung lebt. Sobald der Staat den Gütestempel
des unabhängigen Finanzberaters schafft, kann der Markt
durch die normalen Konkurrenzmechanismen dafür
sorgen, dass immer mehr Menschen Zweifel an der Unvoreingenommenheit
ihres Anlageberaters bei der Hausbank
bekommen – jede Werbeanzeige der Berufsstände
für die neuen Dienstleister müsste klarmachen, wo die
Gefahren der traditionellen Lösungen liegen.
Damit würde es für Anleger insgesamt leichter, auf
objektive Informationsverarbeitung als Dienstleistung
zuzugreifen. Doch auch das eigene Urteilsvermögen
der Menschen kann und muss geschärft werden. Das
Deutsche Aktieninstitut (DAI) fordert seit Jahren, bereits
Schülern das kleine Einmaleins des Investierens beizubringen.
Darüber hinaus könnten Volkshochschulkurse
und Fernsehprogramme der öffentlich-rechtlichen Sender
zum Thema den Kenntnisstand verbessern. Auch bei
hohen Unfallraten auf den Straßen fordert ja niemand,
allen Menschen den Führerschein wegzunehmen,
sondern umfassendere Fahrstunden, mehr Sicherheit
in den Fahrzeugen, striktere Geschwindigkeitsbeschränkungen
etc.; warum sollte dieser Grundsatz nicht auch
für das Investieren gelten?
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