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Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

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Wer hat Angst vorm bösen Dax?<br />

Sehr geehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

nicht an <strong>der</strong> Börse, son<strong>der</strong>n links schlägt angeblich das Herz. Was genau Ihr Parteifre<strong>und</strong> <strong>und</strong> ehemaliger<br />

Kabinettskollege damit meinte, kann ich nur ahnen. Aber vielleicht stand ihm dieses Szenario vor Augen:<br />

Während die Schlange <strong>der</strong> Arbeitslosen länger <strong>und</strong> länger wird, steigen die Aktienkurse. Mal schneller <strong>und</strong> mal<br />

langsamer, aber immer dann beson<strong>der</strong>s schwungvoll, wenn gerade wie<strong>der</strong> ein Konzern kräftigen Beschäftigungsabbau<br />

angekündigt hat. Was den Gewinnen hilft <strong>und</strong> Aktionäre beglückt, belastet zugleich die Sozialkassen <strong>und</strong><br />

bringt Tausende um Lohn <strong>und</strong> Brot. Die Presse wird nicht müde, auf den zynischen Gegensatz hinzuweisen,<br />

kombiniert mit Informationen über die steil steigenden Gehälter <strong>der</strong> Bosse.<br />

Klingt vertraut? Natürlich. Das Jahr ist 1995, <strong>und</strong> das Land – Amerika. Seitdem hat sich dort allerdings einiges<br />

geän<strong>der</strong>t, wie wir wissen. Heute herrscht Vollbeschäftigung wie in Deutschland seit 1970 nicht mehr. Getragen<br />

wurde <strong>der</strong> Aufschwung auch von <strong>der</strong> Börse. Was ist geschehen?<br />

Noch zu Beginn <strong>der</strong> Neunzigerjahre galten die USA als hoffnungslos den Deutschen <strong>und</strong> Japanern unterlegen.<br />

Doch dann wurde Präsident Clintons Amtszeit zum Glanzstück wirtschaftlichen Wachstums – dank entschiedener<br />

Defizitbekämpfung <strong>und</strong> flexibler Geldpolitik, aber auch durch eine beispiellose Restrukturierungswelle in <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Wirtschaft. Mit ihr gewannen Unternehmen Produktivität <strong>und</strong> Profitabilität zurück <strong>und</strong> stellten sich<br />

auf den internationalen Wettbewerb ein.<br />

Im Zuge dieses kompromisslosen „Downsizing“ wurden natürlich auch Mitarbeiter entlassen; die Alternative<br />

wäre jedoch oft <strong>der</strong> Konkurs gewesen, mit noch dramatischerer Arbeitslosigkeit. Wozu die Rosskur nötig <strong>und</strong> gut<br />

war, zeigt sich heute in <strong>der</strong> viel bestaunten „Robustheit“ <strong>der</strong> amerikanischen Wirtschaft. Honoriert wird sie unter<br />

an<strong>der</strong>em mit gestiegenen Aktienkursen, <strong>und</strong> die haben – so führende Ökonomen – die strukturelle Arbeitslosenquote<br />

in den USA seit 1996 um gut zwei Prozentpunkte verringert.<br />

Nicht zuletzt <strong>des</strong>halb meine Zuversicht: Mittelfristig werden auch in Deutschland von den neu ausgerichteten<br />

Firmen belebende Impulse ausgehen, wenn auch, ebenso wie in den USA, mit einer gewissen Zeitverzögerung.<br />

Und in einer blühenden Wirtschaft finden dann auch Arbeitslose sehr viel schneller wie<strong>der</strong> einen neuen Job.<br />

Das Gebot <strong>der</strong> St<strong>und</strong>e bei uns ist <strong>des</strong>halb nicht die Erhaltung von Arbeitsplätzen um jeden Preis, sei es an den<br />

Hochöfen, bewacht von IG-Metallern, o<strong>der</strong> in hoffnungslos unwirtschaftlichen landwirtschaftlichen Betrieben.<br />

Statt<strong>des</strong>sen kommt es darauf an, den Umschwung zu beschleunigen.<br />

Dazu empfehle ich einen etwas genaueren Blick auf den Aktienmarkt. Steigende Kurse gibt es keineswegs nur<br />

bei Unternehmen, die Stellen abbauen. Auch Firmen, die mit einer neuen <strong>und</strong> interessanten Idee eine Marktnische<br />

erobern, können sich über die Wertschätzung <strong>der</strong> Aktionäre freuen. Der Neue Markt, <strong>der</strong> kleinen <strong>und</strong> häufig<br />

rasant wachsenden Firmen dringend benötigtes Wachstumskapital zuführt, hat in den letzten Jahren zeitweise ein<br />

geradezu atemberauben<strong>des</strong> Kursfeuerwerk dargeboten. Und <strong>der</strong> Scheingegensatz zwischen Aktienkursen <strong>und</strong><br />

Beschäftigung wurde dabei eindrucksvoll wi<strong>der</strong>legt.<br />

Denn die hier gelisteten Firmen – meist in „neuen“ Branchen mit hohem Wettbewerbsdruck durch Deregulierung<br />

o<strong>der</strong> schnelle Innovationszyklen – schaffen Jobs. Talentierte Mitarbeiter sind entscheidend für ihren Erfolg im<br />

Wettbewerb.<br />

Der Gang an die Börse macht also keineswegs nur Firmengrün<strong>der</strong> <strong>und</strong> Aktionäre reich: Von je<strong>der</strong> Mark Kapital,<br />

die den Firmen am Neuen Markt zufließt, wan<strong>der</strong>n 65 Pfennig in die Einstellung neuer Mitarbeiter. Wo jahrelang<br />

Bankkredit in Kleinstportionen verabreicht wurde, kann jetzt aus dem Vollen geschöpft werden – mit deutlichem<br />

Beschäftigungseffekt. Von manchen als „Zockerbude“ geschmäht, hat <strong>der</strong> Neue Markt von 1996 bis 1999 über<br />

40.000 neue Arbeitsplätze entstehen lassen. In vielen Fällen gab es wahre Wachstumssprünge, wie etwa von<br />

sechs Mitarbeitern auf 81 o<strong>der</strong> von 379 auf 890.<br />

Hier finden die wahren Bündnisse für Arbeit statt. Zumal sich zum reinen Stellenzuwachs häufig eine neue<br />

Qualität <strong>der</strong> Arbeitsbeziehungen gesellt: Viele <strong>der</strong> Firmen, die an den Neuen Markt gegangen sind, haben die<br />

Gelegenheit genutzt, ihre Mitarbeiter mit Aktienpaketen am Geschäftserfolg zu beteiligen.<br />

Alles Tropfen auf den heißen Stein, könnte man sagen – aber auch die höhlen ihn irgendwann aus, wenn es nur<br />

genügend viele sind. Und ich bin sicher, nur in diese Richtung kann die Wirtschaftsreise Deutschlands gehen.<br />

Dass <strong>der</strong> Gegensatz von Beschäftigung <strong>und</strong> Sharehol<strong>der</strong>-Value eine Schimäre ist, hatte schon Ludwig Erhard<br />

verstanden. Er sagte, das Schicksal <strong>und</strong> die soziale Sicherheit <strong>der</strong> Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsempfänger <strong>und</strong> <strong>des</strong> kleinen<br />

Sparers würden sich an <strong>der</strong> Börse ablesen lassen, weil sie <strong>der</strong> Gradmesser für Produktivität <strong>und</strong> Leistungskraft<br />

seien. Seine Konsequenzen: Ende von Preisbindung, Planwirtschaft <strong>und</strong> Devisenkontrollen.<br />

Derart rabiate Schritte verlangt Ihnen, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, niemand ab. Aber auch unser aufkeimen<strong>des</strong><br />

neues Jobw<strong>und</strong>er braucht mutigen politischen Feuerschutz. Mehr Erhard, Gerhard!<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Ihr Werner G. Seifert<br />

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