31.12.2013 Aufrufe

Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

Krise des Kapitalismus und Neuorientierung der Wirtschaftspolitik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

September 2002<br />

<strong>Krise</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Neuorientierung</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

Diskussionsbeiträge<br />

von Werner G. Seifert<br />

<strong>und</strong> Hans-Joachim Voth


<strong>Krise</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Neuorientierung</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

Die Autoren<br />

Inhalt<br />

Werner G. Seifert<br />

ist seit 1993 Vorsitzen<strong>der</strong><br />

<strong>des</strong> Vorstands <strong>der</strong> Deutsche<br />

Börse AG. 1978 bis 1986<br />

war er Unternehmensberater<br />

bei McKinsey & Company,<br />

seit 1982 als Partner. 1987<br />

bis 1993 leitete er als Mitglied<br />

<strong>der</strong> Konzernleitung<br />

<strong>der</strong> Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft<br />

das Erstversicherungsgeschäft.<br />

Seifert lehrt an <strong>der</strong> European Business School Kapitalmarkt<br />

<strong>und</strong> Börse.<br />

Hans-Joachim Voth<br />

ist Associate Professor am<br />

Economics Department,<br />

Universitat Pompeu Fabra,<br />

Barcelona, <strong>und</strong> Associate<br />

Director <strong>des</strong> Centre for<br />

History and Economics,<br />

King’s College, Cambridge.<br />

Zuvor war er Research<br />

Fellow am Clare College,<br />

Cambridge, hat als Berater bei McKinsey & Company<br />

gearbeitet <strong>und</strong> hatte Gastprofessuren in Stanford <strong>und</strong><br />

am Massachusetts Institute of Technology inne.<br />

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

1. Kursverluste, Konkurse,<br />

„Kapital“verbrechen – Für eine Allianz<br />

von aufgeklärten Bürgern<br />

<strong>und</strong> starkem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

2. Die heimliche Abkehr von <strong>der</strong> Aktie –<br />

Realwirtschaftliche Ursachen<br />

<strong>der</strong> Kapitalmarktkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

3. Schluss mit <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Ausreden –<br />

Unter Schrö<strong>der</strong> entwickelte<br />

sich die deutsche Wirtschaft<br />

so schlecht wie seit den Ölkrisen<br />

nicht mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

4. Eine Bun<strong>des</strong>liga für<br />

die Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> –<br />

Wirtschaftsfö<strong>der</strong>alismus als<br />

Wettbewerbsveranstaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

© 2002 Werner G. Seifert <strong>und</strong> Hans-Joachim Voth.<br />

Gestaltung <strong>und</strong> Satz:<br />

F.A.Z.-Institut für Management-,<br />

Markt- <strong>und</strong> Medieninformationen GmbH<br />

Mainzer Landstraße 195, D-60326 Frankfurt am Main<br />

Die Artikel geben ausschließlich die Meinungen <strong>und</strong><br />

Einschätzungen <strong>der</strong> Autoren wie<strong>der</strong>, unabhängig von<br />

den Standpunkten irgendwelcher Institutionen o<strong>der</strong><br />

Unternehmen.<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

5. Die etwas an<strong>der</strong>e Teilung –<br />

Zweierlei Wirtschaft<br />

in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

6. Gerechtigkeit <strong>und</strong> Risiko –<br />

Überlegungen zur För<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> „neuen“ Aktienkultur<br />

in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

2


Einleitung<br />

Deutschland in <strong>der</strong> doppelten Vertrauenskrise:<br />

Die Enttäuschung über die <strong>Wirtschaftspolitik</strong> <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung<br />

nimmt zu, das Vertrauen in die Marktwirtschaft,<br />

beson<strong>der</strong>s in die Kapitalmärkte, nimmt ab. Die Regierung<br />

Schrö<strong>der</strong>, die mit einem Programm zur Erhaltung <strong>des</strong><br />

alten bun<strong>des</strong>republikanischen Sozialstaats angetreten war,<br />

hat sich zwar nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines einer<br />

unternehmensfre<strong>und</strong>licheren Politik zugewendet. Doch die<br />

erhofften Ergebnisse bleiben weit gehend aus. Beson<strong>der</strong>s<br />

die hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> das schwache<br />

Wachstum lassen Kritik immer lauter werden. Die Wahlchancen<br />

<strong>der</strong> Regierungskoalition scheinen dahinzuschwinden.<br />

Gleichzeitig wird die <strong>Krise</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> heraufbeschworen,<br />

da das Vorbild Amerika in einer überraschend<br />

heftigen Rezession steckt <strong>und</strong> die Anleger ihr Vertrauen in<br />

Aktien verlieren, <strong>der</strong>en Kurse, beson<strong>der</strong>s bei den Wachstumswerten,<br />

in den letzten zwei Jahren erheblich gefallen<br />

sind. Da wirkt die breitere Anwendung marktwirtschaftlicher<br />

Prinzipien für viele nicht mehr als überzeugende<br />

Alternative zum bun<strong>des</strong>republikanischen Modell, Ratlosigkeit<br />

<strong>und</strong> diffuse Ablehnung nehmen zu, <strong>und</strong> ein<br />

bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin spricht bereits<br />

vom drohenden „Raubtierkapitalismus“.<br />

Im Vorfeld <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>tagswahl soll unsere Aufsatzsammlung<br />

zur wirtschaftspolitischen Diskussion beitragen. Sie<br />

baut auf Daten <strong>und</strong> Fakten auf, analysiert Ausmaß <strong>und</strong><br />

Ursachen <strong>der</strong> gegenwärtigen Vertrauenskrise, bewertet<br />

die Leistungen <strong>der</strong> Regierung Schrö<strong>der</strong> <strong>und</strong> zeigt ethische<br />

Implikationen <strong>der</strong> jüngsten Entwicklungen in den OECD-<br />

Volkswirtschaften <strong>und</strong> Kapitalmärkten auf. Einige Kernaussagen<br />

<strong>der</strong> sechs Aufsätze:<br />

> Die Gefahr einer „Rebellion gegen den Markt“ <strong>und</strong><br />

einer zunehmenden Repolitisierung von Wirtschaftsprozessen<br />

wächst. In <strong>der</strong> Tat zeigen die Entwicklungen<br />

<strong>der</strong> letzten drei Jahre, dass Märkte weniger sich selbst<br />

überlassen bleiben dürfen als bisher. Die richtige Antwort<br />

ist jedoch mehr Staat – <strong>und</strong> weniger Politik.<br />

> Die <strong>Krise</strong> an den Kapitalmärkten ist nur zum Teil<br />

durch spekulative Übertreibungen <strong>und</strong> kriminelle<br />

Machenschaften verursacht – sie ist vor allem auch<br />

eine Schuldenkrise <strong>der</strong> Unternehmen, die in guten<br />

Jahren massive Verbindlichkeiten aufgehäuft haben.<br />

> Kurzfristige Konjunkturausschläge drohen zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

dass die Strukturprobleme in Deutschland angegangen<br />

werden. Ein Blick auf die entscheidenden<br />

wirtschaftlichen Kennzahlen zeigt, dass <strong>der</strong> „Gegenwind“<br />

<strong>des</strong> weltweiten Konjunktureinbruchs nicht für<br />

die schlechte Lage in Deutschland verantwortlich ist.<br />

Vielmehr ist – auch im europäischen Vergleich – mangelnde<br />

„Leidenschaft für den Markt“ zu beklagen.<br />

> Stoiber ist in Fragen <strong>der</strong> wirtschaftlichen Performance<br />

schlechter als sein Ruf. Wir vergleichen die Entwicklung<br />

in den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n unter verschiedenen<br />

Ministerpräsidenten <strong>und</strong> finden nur begrenzte Unterschiede<br />

zwischen den beiden Spitzenkandidaten. Die<br />

großen Parteien <strong>und</strong> die von ihnen geführten Lan<strong>des</strong>regierungen<br />

hingegen unterscheiden sich erheblich bei<br />

den Erfolgen ihrer <strong>Wirtschaftspolitik</strong>. Diese deutlichen<br />

Performanceunterschiede zwischen den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n<br />

könnten für die Verbesserung <strong>der</strong> gesamtwirtschaftlichen<br />

Verhältnisse in Deutschland genutzt<br />

werden, wenn sich fö<strong>der</strong>aler Wettbewerb mehr<br />

lohnen würde.<br />

> Wirtschaftlich ist Deutschland tief gespalten. Doch<br />

die Bruchlinie verläuft nicht entlang <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Zonengrenze – son<strong>der</strong>n mitten durch die Unternehmenslandschaft.<br />

Der an den Börsen gelistete Teil <strong>der</strong><br />

Volkswirtschaft ist hochgradig erfolgreich <strong>und</strong> schlägt<br />

sich auch als Motor <strong>der</strong> Beschäftigung hervorragend;<br />

<strong>der</strong>jenige Teil jedoch, dem <strong>der</strong> „Stachel <strong>der</strong> Kapitalmärkte“<br />

fehlt, eilt von Problem zu Problem. So betrachtet<br />

hat selbst <strong>der</strong> verlustreiche Neue Markt preiswertere<br />

Arbeitsplätze generiert als die öffentlichen<br />

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.<br />

> Eine neue Ethik für das Wirtschafsleben ist dringend<br />

notwendig. Dabei muss <strong>der</strong> Schwerpunkt <strong>der</strong> Diskussion<br />

von <strong>der</strong> Einkommens- auf die Risikoverteilung<br />

verlagert werden. Hierzu gehören Transparenz <strong>und</strong><br />

Ehrlichkeit, aber auch eine Abkehr von <strong>der</strong> ex-post-<br />

Betrachtung <strong>der</strong> Vermögensverteilung als Zeichen<br />

<strong>der</strong> „Gerechtigkeitslücke“.<br />

Unsere Beiträge sind keine Abrechnung mit <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

<strong>der</strong> Regierung Schrö<strong>der</strong>, <strong>und</strong> sie sollen<br />

auch nicht die Notwendigkeit eines Regierungswechsels<br />

demonstrieren. Nicht so sehr die Antwort auf die Frage<br />

„Schrö<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Stoiber?“ entscheidet über den wirtschaftlichen<br />

Erfolg. Wir möchten vielmehr die wirtschaftliche<br />

Diskussion zur Bun<strong>des</strong>tagswahl 2002 nutzen, um mit<br />

einigen Missverständnissen über die Ursachen <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

<strong>Krise</strong> aufzuräumen. Dass Deutschland eine<br />

an<strong>der</strong>e <strong>Wirtschaftspolitik</strong> braucht, gehört allerdings zu<br />

unseren Thesen. Unsere Analysen zeigen, dass es durchaus<br />

Lösungsmöglichkeiten jenseits von rechts <strong>und</strong> links<br />

gibt.<br />

3


Aufsätze<br />

Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler aus dem Frühjahr 2000<br />

1. Kursverluste, Konkurse, „Kapital“verbrechen –<br />

Für eine Allianz von aufgeklärten Bürgern<br />

<strong>und</strong> starkem Staat<br />

2. Die heimliche Abkehr von <strong>der</strong> Aktie –<br />

Realwirtschaftliche Ursachen <strong>der</strong> Kapitalmarktkrise<br />

3. Schluss mit <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Ausreden – Unter<br />

Schrö<strong>der</strong> entwickelte sich die deutsche Wirtschaft<br />

so schlecht wie seit den Ölkrisen nicht mehr<br />

4. Eine Bun<strong>des</strong>liga für die Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> – Wirtschaftsfö<strong>der</strong>alismus<br />

als Wettbewerbsveranstaltung<br />

5. Die etwas an<strong>der</strong>e Teilung –<br />

Zweierlei Wirtschaft in Deutschland<br />

6. Gerechtigkeit <strong>und</strong> Risiko –<br />

Überlegungen zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> „neuen“<br />

Aktienkultur in Deutschland<br />

> It’s the economy, stupid<br />

> Instrumenten-Notstand im Kanzleramt<br />

> Der Gier eine Gasse – ein Bonus für die Politik<br />

> Wer hat Angst vorm bösen DAX?<br />

> Runter mit <strong>der</strong> Produktivität!<br />

Mike Jordan <strong>und</strong> die fleißigen Deutschen<br />

> Raumschiff Enterprise <strong>und</strong> die soziale Gerechtigkeit<br />

Gebetsmühlenartig wie<strong>der</strong>holte Rezepte von „Flexibilisierung“,<br />

„Lohnnebenkosten runter“ <strong>und</strong> „Gürtel enger<br />

schnallen“ greifen zu kurz. Nicht, dass sie falsch o<strong>der</strong> im<br />

Ergebnis unbedeutend wären. Nur gibt es gute Gründe,<br />

warum in Deutschland das als richtig Erkannte manchmal<br />

nicht umzusetzen ist. Der nun schon seit Jahren<br />

beschworene Ruck lässt sich nicht herbeireden, we<strong>der</strong> in<br />

Talkshows noch an r<strong>und</strong>en Tischen. Wo sozialer Friede<br />

einen so hohen Stellenwert hat <strong>und</strong> die Macht <strong>der</strong> Gewerkschaften<br />

auch bei vier Millionen Arbeitslosen eher<br />

zu- als abnimmt, sind Reformen auch mit dem Brecheisen<br />

nicht umzusetzen. Wir argumentieren, dass sich<br />

weite Teile <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft – ganze Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>,<br />

aber auch die breite Gruppe <strong>der</strong> börsennotierten AGs<br />

unter den Unternehmen – trotz aller strukturellen Nachteile<br />

hervorragend schlagen. Wer auf solche Erfolge aufbauen<br />

will, sollte zuerst die Gespensterdebatten über die<br />

nicht umsetzbaren Lösungsvorschläge beenden <strong>und</strong> auf<br />

alternative marktwirtschaftliche Rezepte setzen. Gerade<br />

die Kapitalmärkte sollten bei <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gewinnung <strong>der</strong><br />

volkswirtschaftlichen Dynamik eine bedeutende Rolle<br />

spielen.<br />

Im Frühjahr 2000 sahen wir Anzeichen einer marktorientierten<br />

Politik <strong>der</strong> Regierung Schrö<strong>der</strong>, <strong>und</strong> einer <strong>der</strong><br />

beiden Autoren richtete in <strong>der</strong> Wochenzeitung „Welt am<br />

Sonntag“ zehn fre<strong>und</strong>liche, aber auch kritische Briefe an<br />

den Bun<strong>des</strong>kanzler. Angesichts <strong>der</strong> mittlerweile eingetretenen<br />

Ernüchterung konnten wir <strong>der</strong> Versuchung nicht<br />

wi<strong>der</strong>stehen, einige dieser kurzen Kommentare den vorliegenden<br />

Aufsätzen an die Seite zu stellen. Sie machen<br />

einen Umschwung zum Schlechten innerhalb von zwei<br />

Jahren deutlich.<br />

Wir wollen dem Kanzler mit dieser Erinnerung kein<br />

hämisches „I told you so“ entgegenrufen. Der Kontrast<br />

von Ratschlag 2000 <strong>und</strong> Situation 2002 soll freilich zum<br />

Nachdenken anregen <strong>und</strong> an Lösungswege erinnern, die<br />

in <strong>der</strong> öffentlichen Diskussion manchmal in Vergessenheit<br />

geraten. In diesem Sinne verstehen wir auch die vorliegende<br />

Sammlung von Aufsätzen – als Anstoß <strong>und</strong> Anregung<br />

in <strong>der</strong> öffentlichen Debatte über eine bessere <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

für Deutschland. Ganz bewusst haben wir<br />

sie nicht in eine rigide, buchartige Struktur übertragen,<br />

son<strong>der</strong>n in ihrer ursprünglichen Form als Denk-Stücke<br />

<strong>und</strong> vertiefte Analysen von Einzelaspekten belassen.<br />

Frankfurt/Main <strong>und</strong> Barcelona, im August 2002<br />

Werner G. Seifert <strong>und</strong> Hans-Joachim Voth<br />

4


1. Kursverluste, Konkurse, „Kapital“verbrechen – Für eine<br />

Allianz von aufgeklärten Bürgern <strong>und</strong> starkem Staat<br />

Märkte funktionieren nicht automatisch. Sie bedürfen klarer Regeln<br />

sowie <strong>des</strong> Schutzes durch staatliche Institutionen. Die jüngsten<br />

Skandale zeigen auf, wie intelligente Regulierung die Effizienz <strong>und</strong><br />

Fairness von Märkten stärken kann. Eine wichtige Voraussetzung ist<br />

jedoch, dass Anleger sich ihrer Verantwortung bewusst werden <strong>und</strong><br />

diese nicht nur passiv akzeptieren, son<strong>der</strong>n als Chance begreifen.<br />

Betrügereien bei Enron <strong>und</strong> WorldCom, Steuerhinterziehung<br />

durch Tyco-Chef Kozlowski, jede Woche ein neuer<br />

Skandal; hier ein Finanzchef, <strong>der</strong> Luftbuchungen zur Manipulation<br />

<strong>des</strong> Aktienkurses vornimmt, dort <strong>der</strong> CEO, <strong>der</strong><br />

mit windigen Briefkastenfirmen Kosten <strong>und</strong> Einnahmen<br />

verschob, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Firmenchef, <strong>der</strong> noch schnell Aktien<br />

<strong>des</strong> eigenen Unternehmens verkaufte, bevor Gewinnwarnungen<br />

herausgegeben wurden. Wie die Firmen im produzierenden<br />

Sektor, so die Investmentbranche. Analysten,<br />

die eine Aktie hausintern als Schrott bezeichneten, um sie<br />

im gleichen Atemzug <strong>der</strong> Öffentlichkeit in höchsten Tönen<br />

anzupreisen – wie jüngst bei Merrill Lynch offen gelegt.<br />

Investmentbanken, welche die Kurse von IPOs manipuliert<br />

haben, Verdacht auf Insi<strong>der</strong>handel allerorten, selbst<br />

bei <strong>der</strong> Ikone amerikanischer Häuslichkeit, Martha Steward.<br />

Kein W<strong>und</strong>er also, wenn vielen Anlegern <strong>der</strong> Kapitalmarkt<br />

wie eine Selbstbedienungsveranstaltung <strong>der</strong> Reichen <strong>und</strong><br />

Mächtigen vorkommt. Die von Vivendi <strong>und</strong> Deutsche Telekom,<br />

von DaimlerChrysler <strong>und</strong> EMTV gebeutelten Anleger<br />

verlieren das Vertrauen nicht nur in die Firmen, in die sie<br />

investiert haben, son<strong>der</strong>n auch in die Wirtschaftsordnung,<br />

die ihre Ersparnisse zu einem Teil vernichtet hat. Manche<br />

drosseln ihren Konsum, weil sie sich ärmer fühlen. Und<br />

an die Ausgabe neuer Aktien ist für die meisten Firmen<br />

kaum noch zu denken – mit durchaus greifbaren Folgen<br />

für die Realwirtschaft. Deshalb scheint es so, dass die<br />

neuesten Skandale an <strong>der</strong> Wall Street den noch schwächlichen<br />

Aufschwung in den USA im Keim zu ersticken<br />

drohen. Schon brechen das Verbrauchervertrauen <strong>und</strong><br />

die Konsumausgaben ein, <strong>und</strong> eine Belebung <strong>der</strong><br />

Investitionstätigkeit <strong>der</strong> Unternehmen (vor allem im IT<strong>und</strong><br />

Telekom-Bereich) scheint in weite Ferne gerückt.<br />

Was ist wirklich dran an <strong>der</strong> zunehmenden Kritik an <strong>der</strong><br />

Rolle <strong>der</strong> Aktienmärkte? Wird die Funktion von Aktienoptionen,<br />

von breit gestreutem Aktienbesitz in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> kurzfristiger Gewinnorientierung etwa zu Recht<br />

anprangert? Sind Betrügereien <strong>und</strong> ungehemmte Gier<br />

notwendigerweise Bestandteil einer auf die Kapitalmärkte<br />

bauenden Marktwirtschaft? Keine Frage, die Skandale <strong>der</strong><br />

letzten Zeit zeigen unmoralisches Verhalten. Der Ruf nach<br />

dem Staatsanwalt ist richtig – es kann nicht sein, dass<br />

sich die großen Gewinner <strong>der</strong> Spekulationsblase, die auch<br />

mit gezielt falschen Informationen reich geworden sind,<br />

neue Häuser bauen, während Rentner einen guten Teil<br />

ihrer Ersparnisse verloren haben. Wo die Finanzbehörden<br />

noch nach dem letzten Euro an Zinseinnahmen suchen,<br />

dürfen Bilanzbetrüger schon aus Gründen <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

nicht straffrei davonkommen. Anreize wie hohe IPO-<br />

Gewinne <strong>und</strong> Aktienoptionspläne, die Betrügereien profitabel<br />

gemacht haben, sind <strong>der</strong> systemimmanente Teil<br />

eines aktienmarktzentrierten Wirtschaftsmodells.<br />

Wir meinen dennoch, dass die <strong>der</strong>zeit größte Gefahr die<br />

einer krassen, populistisch motivierten Überreaktion seitens<br />

<strong>der</strong> Politik ist. Der vernünftige Weg nach vorn wäre<br />

es, die Voraussetzungen für reibungslos funktionierende<br />

Kapitalmärkte zu schaffen, statt den Verlockungen einer<br />

Politik gegen den Markt zu erliegen. Betrügereien <strong>des</strong><br />

jüngst zu Tage gekommenen Ausmaßes sind nicht unvermeidlich;<br />

sie häufen sich in gewissen Phasen <strong>des</strong> Marktzyklus.<br />

Die realwirtschaftlichen Vorteile <strong>der</strong> Finanzierung<br />

über Aktienmärkte sind auch zu wichtig, um nun die<br />

Rückkehr zu staatlicher Kreditbewirtschaftung o<strong>der</strong> die<br />

Kreditfinanzierung via Hausbank zum überlegenen Modell<br />

machen zu wollen. Wir analysieren zuerst, wann es<br />

typischerweise zu Verstößen wie bei Enron <strong>und</strong> WorldCom<br />

kommt. Betrug, Hinterziehung <strong>und</strong> Rechtsbruch sind<br />

nicht integrale Bestandteile eines normalen finanziellen<br />

<strong>Krise</strong>n-Zyklus, aber in den Phasen außergewöhnlich starker<br />

Haussen kommen sie häufiger vor. Wer den Gleichlauf<br />

von Boom <strong>und</strong> Betrug verhin<strong>der</strong>n will, muss das Verhältnis<br />

von Anreizen <strong>und</strong> Strafen verän<strong>der</strong>n. Darüber hinaus<br />

konnten viele Verstöße nur erfolgen, weil vergleichsweise<br />

unbedarfte <strong>und</strong> uninformierte Anleger den Betrugsversuchen<br />

ausgesetzt waren. Folglich hat auch <strong>der</strong> Staat<br />

in seiner Informations- <strong>und</strong> Bestrafungsrolle versagt <strong>und</strong><br />

durch zu minimalistische Standards die gegenwärtige<br />

<strong>Krise</strong> möglich gemacht. Wir analysieren diese drei<br />

Faktoren <strong>und</strong> machen Vorschläge zur Verbesserung.<br />

Erstens: Betrügereien <strong>und</strong> Skandale an den Kapitalmärkten<br />

sind lei<strong>der</strong> keine neuartige Dimension moralischen<br />

5


Verfalls. Gerade in den Jahren <strong>der</strong> Euphorie sind sie<br />

immer wie<strong>der</strong> anzutreffen. Das macht sie nicht min<strong>der</strong><br />

verwerflich, aber erklärbarer.<br />

Zur Zeit <strong>der</strong> berüchtigten South Sea Bubble, in den<br />

Jahren 1719 bis 1720, fand in England eine wahre<br />

Gründungswelle neuer Firmen statt. Der Handel mit Menschenhaar<br />

war eine Geschäftsidee, <strong>der</strong> Bau von Schiffen<br />

zur Bekämpfung <strong>der</strong> Piraterie eine an<strong>der</strong>e, die Gewinnung<br />

von Silber aus Blei eine dritte. An Originalität schlägt wohl<br />

niemand das Geschäftsgenie, das eine Gesellschaft zur<br />

Ausführung eines „hochprofitablen Unternehmens, von<br />

dem jedoch niemand wissen soll, welches“ vermarktete.<br />

Die Anteile im Wert von 2.000 Pf<strong>und</strong> an <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

waren am ersten Tag verkauft, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> setzte<br />

sich auf den Kontinent ab.<br />

Auch die Eisenbahnspekulation zur Mitte <strong>des</strong> vorletzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts führte zu einer Welle von Betrügereien <strong>und</strong><br />

Firmenzusammenbrüchen. So entschied beispielsweise<br />

George Hudson, CEO <strong>der</strong> Eastern Counties Railways, die<br />

Dividende im Jahr 1846 von zwei auf sechs Prozent zu<br />

erhöhen, bevor auch nur ein Versuch unternommen<br />

worden war, die Jahresbilanz aufzustellen. Da es an<br />

ausreichenden Gewinnen fehlte, wurde aus dem Kapital<br />

gezahlt. Als nach seinem Rücktritt diese (<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e)<br />

Praktiken bekannt wurden, folgten Rechtsstreit <strong>und</strong><br />

Desavouierung. Ein an<strong>der</strong>er berühmt-berüchtigter Manager<br />

zu Zeiten <strong>der</strong> Eisenbahn-Spekulationsblase war Robert<br />

Schuyler. Er verkaufte unrechtmäßig Aktien <strong>der</strong> New<br />

York <strong>und</strong> New Haven Eisenbahn, <strong>der</strong>en Präsident er war,<br />

<strong>und</strong> verabschiedete sich mit den Erlösen nach Europa.<br />

Ganz ähnlich in den USA vor dem Börsencrash 1929,<br />

als beispielsweise Wall-Street-Firmen geschlossene Investmentfonds<br />

mit hohen Aufschlägen verkauften, die<br />

wie<strong>der</strong>um lediglich in an<strong>der</strong>e geschlossene Investmentfonds<br />

(mit hohen Aufschlägen auf den Kurswert <strong>der</strong> enthaltenen<br />

Aktien) investierten; eine pyramidenartige<br />

Konstruktion, bei <strong>der</strong> selbst Charles Ponzi, <strong>der</strong> zu Beginn<br />

<strong>der</strong> 1920er Jahre in Amerika Anlagen nach dem Kettenbriefprinzip<br />

vertrieb, gestaunt hätte. Die Middle West<br />

Utilities Company wie<strong>der</strong>um veranstaltete unter Samuel<br />

Insull eine Einkaufsorgie, die nur von wenigen Telekom-<br />

Unternehmen <strong>der</strong> letzten Zeit überboten wurde. Vor allem<br />

schlecht geführte Versorger wurden zu einem Vielfachen<br />

<strong>des</strong> Buchwertes übernommen. Der resultierende Schuldenberg<br />

erdrückte schlussendlich die Firma, als nach<br />

1929 die Umsätze zurückgingen. Insull floh nach Europa.<br />

Man muss die Parallelen mit den Telekommunikations<strong>und</strong><br />

Internet-Firmen nicht im Detail nachzeichnen (<strong>und</strong><br />

nur die spektakulärsten Fälle krimineller Machenschaften<br />

<strong>und</strong> handfester Manipulation haben wir hier kurz erwähnt).<br />

Boomende Börsen gehen Hand in Hand mit<br />

Betrug, so zumin<strong>des</strong>t legt es auch <strong>der</strong> kürzeste Ausflug<br />

in die Finanzgeschichte nahe. Eine Analyse <strong>der</strong> Hausse<br />

in den 1980er Jahren wäre ohne Mike Milken <strong>und</strong> Ivan<br />

Boesky, <strong>der</strong> 1920er ohne Kreuger, Toll <strong>und</strong> Insull nicht<br />

denkbar. In seinem Buch Manias, Panics and Crashes,<br />

schil<strong>der</strong>t Charles Kindleberger Betrug, Hinterziehung <strong>und</strong><br />

Rechtsbruch als häufiger anzutreffende Bestandteile eines<br />

normalen finanziellen Zyklus von Hausse <strong>und</strong> Baisse, von<br />

Boom <strong>und</strong> Bust. Nachdem durch ein zufälliges, äußeres<br />

Ereignis die Preise von Aktien (o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Anlagen)<br />

nach oben gehen, beginnt frisches Geld in den Sektor zu<br />

fließen. Eine Zeitlang sehen die Aussichten ungewöhnlich<br />

gut aus, vielleicht steigen sogar die Gewinne tatsächlich<br />

(<strong>und</strong> nicht nur in den Bilanzen) an; mit dem frischen Geld<br />

wird massiv investiert, Goldgräberstimmung bricht aus,<br />

<strong>und</strong> Akquisitionen werden immer häufiger genutzt, um<br />

marktbeherrschende Stellungen zu erlangen. Eine Zeitlang<br />

trotzt die Spekulationsblase allen Unkenrufen <strong>der</strong> Skeptiker.<br />

Neugründungen, häufig <strong>der</strong> unsoliden Art, sprießen<br />

aus dem Boden. Gehen die Pläne in dieser Phase nicht<br />

auf, häufen sich die Betrugsfälle, werden aber häufig noch<br />

nicht entdeckt. Irgendwann aber brechen durch Zufall<br />

o<strong>der</strong> durch einen Skandal die Kurse ein, <strong>und</strong> viele in Erwartung<br />

ständig steigen<strong>der</strong> Kurse gebaute Unternehmensimperien<br />

fallen wie Kartenhäuser zusammen. Schließlich<br />

leidet durch die Finanzkrise auch die Realwirtschaft,<br />

spätestens dann, wenn sich die Bankenkrisen häufen <strong>und</strong><br />

die Menschen das Geld lieber unter die Matratze stopfen.<br />

Warum die Häufung von kriminellen – o<strong>der</strong> zumin<strong>des</strong>t<br />

moralisch verwerflichen – Handlungen während eines<br />

abflachenden Booms? Und warum die dicht gedrängten<br />

Nachrichten über diese Betrügereien, sobald die Hausse<br />

vorbei ist? Warum scheint es so, als ob ungewöhnlich<br />

kräftige Kurssteigerungen von überdurchschnittlich vielen<br />

Rechtsbrüchen begleitet werden? Die Strafen für Betrügereien<br />

hängen nicht vom Zyklus <strong>der</strong> Aktienkurse ab; <strong>der</strong><br />

mögliche Gewinn aber steigt an, je rascher die Kurse nach<br />

oben schnellen. Wo Firmenchefs wie Bernie Ebbers sich<br />

Millionen von <strong>der</strong> eigenen Firma leihen können, um die<br />

Aktien <strong>der</strong>selben zu kaufen, sind Kurssteigerungen gleichbedeutend<br />

mit märchenhaftem Reichtum; Kursstürze<br />

können schnell zum persönlichen Bankrott führen.<br />

Damit wirkt die Kursentwicklung direkt ein auf die Anreize,<br />

die Gesetze zu brechen. Betrug scheint sich eher<br />

in Zeiten <strong>des</strong> Booms zu lohnen.<br />

Die Neigung, hohe Risiken bis hin zum Rechtsbruch<br />

einzugehen, ist im Prinzip eine drastischere Form <strong>des</strong> so<br />

6


genannten Principal-Agent-Problems – <strong>der</strong> Tatsache, dass<br />

die Interessen von Eigentümern <strong>und</strong> Unternehmensführung<br />

nicht automatisch identisch sind. Schon Adam Smith<br />

hielt das Problem in Aktiengesellschaften für völlig natürlich<br />

<strong>und</strong> schrieb 1776 im Wohlstand <strong>der</strong> Nationen: Of<br />

„the directors of … companies, however, being the managers<br />

rather of other people’s money than of their own,<br />

it cannot well be expected that they should watch over it<br />

with the same anxious vigilance with which the partners<br />

in a private copartnery frequently watch over their own.<br />

… Negligence and profusion … must always prevail,<br />

more or less…“. Im Vergleich zu den Tagen Adam Smiths<br />

sind wir <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Principal-Agent-Problematik deutlich<br />

näher; Nachlässigkeit <strong>und</strong> Extravaganz sind nicht<br />

mehr automatisch zu erwarten, auch in Aktiengesellschaften.<br />

Doch die in den letzten Jahrzehnten entwickelten<br />

Instrumente zur Überwindung <strong>des</strong> Problems wie Aktienoptionspläne<br />

(vor allem solche, die nicht an einen Index,<br />

son<strong>der</strong>n nur an den eigenen Aktienkurs gekoppelt sind)<br />

haben die Anreize zum Betrug deutlich erhöht. Was<br />

eigentlich den Interessenkonflikt zwischen Aktionär <strong>und</strong><br />

Management auflösen sollte – die Belohnung <strong>der</strong> Chefs<br />

über Aktien <strong>und</strong> Optionen –, ist im Regelfall tatsächlich<br />

effektiv. Wo aber kriminelle Neigungen mit den neuen,<br />

erhöhten Anreizen zusammentreffen, steigt das Risiko <strong>des</strong><br />

Rechtsbruchs. Die weltweiten Kursverluste aber zeigen,<br />

dass das „im Regelfall gut genug“ nicht ausreicht – auch<br />

die Aktionäre von Firmen, <strong>der</strong>en CEOs die Bilanzen nicht<br />

getürkt haben, mussten massive Kursverluste hinnehmen.<br />

Diese beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Lösung <strong>des</strong> Principal-Agent-<br />

Problems kann nur funktionieren, wenn sie auch sicherstellt,<br />

dass praktisch nicht betrogen werden kann.<br />

Eine aufgeklärte Betrachtungsweise, die sich nicht nur<br />

im eigenen moralischen Eifer über Entgleisungen <strong>und</strong><br />

moralisch verwerfliches Handeln gefällt, muss den Zusammenhang<br />

zwischen Marktentwicklung <strong>und</strong> Neigung<br />

zum Rechtsbruch berücksichtigen. Ökonomisch rationaler<br />

Rechtsbruch konzentriert sich in Zeiten <strong>der</strong> Hausse; <strong>und</strong><br />

so, wie die Anreize heute strukturiert sind, können viele<br />

dieser Betrügereien <strong>und</strong> Verhaltensweisen in <strong>der</strong> Grauzone<br />

erst sichtbar werden, wenn die Kurse einbrechen.<br />

Damit wird Betrug nicht akzeptabel – verstehen bedeutet<br />

keineswegs verzeihen, soll aber zum Vorbeugen anregen.<br />

Wer den Gleichlauf von Boom <strong>und</strong> Betrug verhin<strong>der</strong>n<br />

will, muss das Verhältnis von Anreizen <strong>und</strong> Strafen verän<strong>der</strong>n.<br />

Eine Predigt über die Unmoral <strong>der</strong> Prostitution verspricht<br />

wenig Erfolg, wenn die Zuhörer Seeleute sind, die von<br />

jahrelanger Fahrt zurückkehren. Eigentlich müsste die<br />

Schärfe von Strafen zyklisch mit den Aktienkursen<br />

schwanken – freilich ist das eine kaum praktikable Idee.<br />

Das gesetzliche Strafmaß kann nicht von <strong>der</strong> Höhe <strong>des</strong><br />

Dow o<strong>der</strong> DAX abhängen. Jedoch: Die „Selbstbestrafung“<br />

<strong>der</strong> Märkte durch den Enron- <strong>und</strong> WorldCom-Bankrott,<br />

das Ende von An<strong>der</strong>sen usw. sind drastischer ausgefallen,<br />

als dies in normalen Börsenzeiten wohl <strong>der</strong> Fall gewesen<br />

wäre. Dies zeigt, dass die Märkte diesen Zusammenhang<br />

verstanden haben. Alternativ kann das Strafmaß je<strong>der</strong>zeit<br />

so hoch angesetzt werden, dass Betrug sich nie lohnt.<br />

Dies scheint die konsequentere Option – die Märkte<br />

würden damit nicht in ihrer Wirkungsweise eingeschränkt,<br />

<strong>und</strong> auch an<strong>der</strong>e negative Folgen sind nicht zu erwarten.<br />

Eine deutliche Verschärfung <strong>der</strong> Strafbestimmungen erscheint<br />

somit geboten, sowohl in den USA als auch in<br />

Deutschland. Gerade die Aktienoptionsprogramme, die<br />

einfach auf den eigenen Kurs zielen (statt beispielsweise<br />

auf den Performance-Vergleich zum geografisch o<strong>der</strong> nach<br />

Branche eingegrenzten Marktindex), sowie die Möglichkeiten<br />

zur Kreditaufnahme bei <strong>der</strong> eigenen Firma, um Aktien<br />

zu erwerben, verstärken die Anreize zu zweifelhaftem<br />

Verhalten. Hier können Anreize besser strukturiert werden<br />

– kein Aktienverkauf bis zum Ausscheiden aus dem<br />

Unternehmen, viel längere Zeiträume, innerhalb <strong>der</strong>er<br />

Optionen nicht verkauft werden dürfen („vesting“), usw.<br />

All dies würde viele Anreize zur kurzfristigen Manipulation<br />

drastisch reduzieren. Um das Verhältnis von Zuckerbrot<br />

<strong>und</strong> Peitsche wie<strong>der</strong> ins Lot zu bringen, bedarf es außerdem<br />

besserer Bestrafungsmechanismen. Während viele<br />

Beobachter die amerikanische Aufsichtsbehörde SEC kritisieren,<br />

ist die Anzahl <strong>der</strong> angestrengten (<strong>und</strong> gewonnenen)<br />

Verfahren in Europa immer noch deutlich geringer.<br />

Deutschland gilt vielen ausländischen Investoren immer<br />

noch als „closed shop“, in dem bis vor kurzem Insi<strong>der</strong>handel<br />

noch nicht einmal strafbar war. Doch die <strong>Krise</strong> <strong>der</strong><br />

Märkte weltweit kann leicht zur Chance für Europa werden<br />

– <strong>und</strong> auch für Deutschland. Traditionellerweise wird<br />

das angelsächsische Rechtsmodell als komplementär zur<br />

Aktienkultur gesehen – Anleger- statt Kreditorenschutz<br />

lautete die Erklärung. Doch schärfere Strafbestimmungen<br />

lassen sich in Staaten mit kodifiziertem Recht wesentlich<br />

leichter durchsetzen. Kein obskurer Präzedenzfall würde<br />

es den deutschen Staatsanwaltschaften erschweren,<br />

Betrug <strong>und</strong> Bilanzfälschung zu bestrafen, wenn die entsprechenden<br />

Gesetze erstmal verabschiedet sind; keine<br />

mit Laien besetzte Jury würde verhin<strong>der</strong>n, einen Rechtsbruch<br />

„beyond reasonable doubt“ glaubhaft zu machen.<br />

Während in den USA beispielsweise reiche Angeklagte –<br />

bis hin zu O. J. Simpson – oft straffrei ausgehen, so sie<br />

nur die richtigen Anwälte haben, trägt in Europa die<br />

Justitia häufig noch ihre Binde über den Augen. Dies gilt<br />

es zu stärken, beispielsweise durch eine eigene Karriereleiter<br />

für Staatsanwälte mit Kenntnissen in Wertpapier-<br />

7


echt, die dann auch entsprechend ihres Marktwertes<br />

entlohnt werden müssen.<br />

Zweitens: Bürger müssen sich <strong>der</strong> eigenen Verantwortung<br />

für ihr Handeln auch in finanziellen Fragen bewusst<br />

werden. Auch dabei kann <strong>der</strong> Staat einen wichtigen<br />

Beitrag leisten.<br />

Warren Buffett, einer <strong>der</strong> erfolgreichsten Investoren <strong>der</strong><br />

letzten Jahrzehnte, kauft nur Beteiligungen von Unternehmen,<br />

<strong>der</strong>en Geschäftsmodell er genau versteht, von denen<br />

er erwartet, dass sie auch noch in 30 Jahren eine gute<br />

Investition sein werden, <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Produkte er persönlich<br />

schätzt – so wie beispielsweise Cherry Coke, das gleich<br />

kistenweise an den Firmensitz in Omaha, Nebraska, geliefert<br />

wird. Welcher Anleger kann von sich behaupten,<br />

so gehandelt zu haben? Wohl nur die allerwenigsten.<br />

Dies bedeutet nicht, dem Vorwurf <strong>des</strong> moralischen Versagens<br />

ein einfaches „selber schuld“ entgegenzusetzen.<br />

Analysten veröffentlichten Tagestipps, das Börsenfernsehen<br />

heizte die Stimmung an, <strong>und</strong> auf Privatisierungseinnahmen<br />

erpichte Politiker trugen dazu bei, dass viele<br />

Menschen meinten, die Kurse könnten nur nach oben<br />

gehen. Verantwortungsbewusst war dies nicht – doch wir<br />

erwarten von Bürgern in allen an<strong>der</strong>en Lebensbereichen,<br />

dass sie trotz vollm<strong>und</strong>iger Versprechungen in <strong>der</strong><br />

Werbung selbstständige Urteile fällen können. Häufig betreiben<br />

Verbraucher den Gebrauchtwagenkauf sorgfältiger<br />

als die Investition ihrer Lebensersparnisse <strong>und</strong> vergleichen<br />

die Preise für eine Kiste Weißbier detaillierter als EBIT <strong>und</strong><br />

Verschuldungsgrad <strong>der</strong> Firmen, <strong>der</strong>en Anteile sie noch<br />

schnell im Rahmen <strong>des</strong> IPO gezeichnet hatten. Und während<br />

falsche Versprechungen <strong>und</strong> betrügerische Praktiken<br />

zu Recht für die Nichtigkeit von Verträgen sorgen, führt<br />

we<strong>der</strong> die Waschmittelwerbung <strong>der</strong> Konzerne noch so<br />

manches rosarote Wahlversprechen von Politikern gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

weniger in die Irre als die windigen Prognosen<br />

<strong>der</strong> Internet-Gurus. Selbst wenn keine Betrügereien <strong>und</strong><br />

Bilanzfälschungen vorgekommen wären, hätten vermutlich<br />

viele leichtgläubig in die Aktien einzelner Unternehmen<br />

investiert, ohne auch nur die Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong><br />

Risikodiversifikation <strong>und</strong> <strong>der</strong> richtigen Anlagehorizonte<br />

zu bedenken. Die Gesamtzahl <strong>der</strong> bekannt gewordenen<br />

Betrugsfälle – selbst am vielgescholtenen Neuen Markt –<br />

ist dagegen bislang zumin<strong>des</strong>t eher klein.<br />

So traurig das Ergebnis im Einzelfall sein mag – so lange<br />

man den Bürgern das Wahlrecht <strong>und</strong> die eigenen Konsumentscheidungen<br />

lässt (so wie die Möglichkeit, sich<br />

mit Alkohol <strong>und</strong> Tabak das Leben zu verkürzen), muss<br />

man ihnen auch die Gelegenheit lassen, aus Sympathien<br />

für den netten Manfred Krug Aktien zu zeichnen. Damit<br />

sie aber in Zukunft sinnvollere Anlageentscheidungen<br />

treffen – beispielsweise, indem sie in breit diversifizierte<br />

Fonds investieren o<strong>der</strong> Index-Tracker kaufen –, müssen sie<br />

umfassen<strong>der</strong> informiert werden. Seit Jahren propagiert<br />

man den unabhängigen Finanzberater, <strong>der</strong> nicht von den<br />

Provisionen <strong>der</strong> von ihm vertriebenen Produkte lebt – <strong>und</strong><br />

wo ist er? Ähnlich wie bei den ehrlichen Bilanzen o<strong>der</strong><br />

den Nebenwirkungen von Pharmaka löst <strong>der</strong> Markt manche<br />

Probleme nicht automatisch, son<strong>der</strong>n bedarf <strong>der</strong><br />

planenden, schützenden Hand <strong>des</strong> Staates. Dass <strong>der</strong><br />

Autohändler einem etwas verkaufen will <strong>und</strong> <strong>der</strong> Rat,<br />

doch S- statt A-Klasse zu fahren, nicht ganz selbstlos ist,<br />

weiß je<strong>der</strong>. Kaum jedoch bei Bank o<strong>der</strong> Versicherung angekommen,<br />

werden viele gutgläubig <strong>und</strong> vertrauen dem<br />

Anlageberater mit seinem Hang zu hauseigenenen Investmentfonds<br />

o<strong>der</strong> dem Versicherungsvertreter <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

immer neuen „Unterversicherung“, die er entdeckt.<br />

Warum kann sich in Deutschland immer noch fast je<strong>der</strong><br />

Investmentberater nennen, ohne eine qualifizierte Ausbildung<br />

vorweisen zu müssen, wenn selbst das Backen<br />

von Brötchen in Deutschland eine dreijährige Lehrzeit<br />

erfor<strong>der</strong>t? Ein eigener Beruf „unabhängiger Finanzberater“,<br />

mit FH-Studium <strong>und</strong> mit dem Verbot, über Provisionen<br />

bezahlt zu werden, wäre nicht nur ein Beitrag zu deutlich<br />

besserer Beratung <strong>der</strong> K<strong>und</strong>en – es könnte auch eine<br />

neue Berufsgruppe ins Leben gerufen werden, die dank<br />

Gebühren gut von einer volkswirtschaftlich wertvollen<br />

Dienstleistung lebt. Sobald <strong>der</strong> Staat den Gütestempel<br />

<strong>des</strong> unabhängigen Finanzberaters schafft, kann <strong>der</strong> Markt<br />

durch die normalen Konkurrenzmechanismen dafür<br />

sorgen, dass immer mehr Menschen Zweifel an <strong>der</strong> Unvoreingenommenheit<br />

ihres Anlageberaters bei <strong>der</strong> Hausbank<br />

bekommen – jede Werbeanzeige <strong>der</strong> Berufsstände<br />

für die neuen Dienstleister müsste klarmachen, wo die<br />

Gefahren <strong>der</strong> traditionellen Lösungen liegen.<br />

Damit würde es für Anleger insgesamt leichter, auf<br />

objektive Informationsverarbeitung als Dienstleistung<br />

zuzugreifen. Doch auch das eigene Urteilsvermögen<br />

<strong>der</strong> Menschen kann <strong>und</strong> muss geschärft werden. Das<br />

Deutsche Aktieninstitut (DAI) for<strong>der</strong>t seit Jahren, bereits<br />

Schülern das kleine Einmaleins <strong>des</strong> Investierens beizubringen.<br />

Darüber hinaus könnten Volkshochschulkurse<br />

<strong>und</strong> Fernsehprogramme <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Sen<strong>der</strong><br />

zum Thema den Kenntnisstand verbessern. Auch bei<br />

hohen Unfallraten auf den Straßen for<strong>der</strong>t ja niemand,<br />

allen Menschen den Führerschein wegzunehmen,<br />

son<strong>der</strong>n umfassen<strong>der</strong>e Fahrst<strong>und</strong>en, mehr Sicherheit<br />

in den Fahrzeugen, striktere Geschwindigkeitsbeschränkungen<br />

etc.; warum sollte dieser Gr<strong>und</strong>satz nicht auch<br />

für das Investieren gelten?<br />

8


Drittens: Transparenz <strong>und</strong> zuverlässige Information sind<br />

zu wichtig, um sie allein den Kräften <strong>des</strong> freien Marktes<br />

zu überlassen.<br />

Die wahren F<strong>und</strong>amentalisten <strong>der</strong> Marktwirtschaft sind<br />

<strong>der</strong> Ansicht, dass je<strong>der</strong> sein eigenes Geld drucken sollte –<br />

das beste, stabilste werde sich schon durchsetzen. Zulassung<br />

von Pharmaka durch die Ges<strong>und</strong>heitsämter?<br />

Staatliche Qualifikationsprüfungen für Richter <strong>und</strong> Staatsanwälte?<br />

Alles falsche Intervention. Doch immer da, wo<br />

es Privatpersonen schwerfällt, zuverlässige Informationen<br />

selbst zu sammeln (o<strong>der</strong> sie es nur unter Einsatz ihres<br />

Lebens <strong>und</strong> ihres Vermögens tun können), wird es zumeist<br />

akzeptiert, dass <strong>der</strong> Staat auf den Plan tritt <strong>und</strong><br />

dem individuellen Bereicherungsinteresse zur Not<br />

Schranken setzt.<br />

Die Situation bei <strong>der</strong> Bilanzierung ist im Prinzip nicht<br />

an<strong>der</strong>s – kaum ein Privatmann kann wirklich die Bilanzen<br />

eines Unternehmens lesen, geschweige denn sich eine<br />

Meinung darüber bilden, ob die Zahlen plausibel sind.<br />

We<strong>der</strong> die hoch bezahlten Analysten noch <strong>der</strong> Professor<br />

für Bilanzierung von <strong>der</strong> Stanford Business School, <strong>der</strong><br />

bei Enron im Aufsichtsrat saß, haben die wahre Situation<br />

verstanden. Bis weit in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert war veröffentlichten<br />

Bilanzen eigentlich so gut wie nie zu trauen;<br />

Firmen konnten mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> schalten <strong>und</strong> walten,<br />

wie es ihnen gefiel. Und Anleger konnten nur anhand <strong>der</strong><br />

ausgezahlten Dividenden ansatzweise (siehe George<br />

Hudson <strong>und</strong> die Eastern Counties Railways) erkennen,<br />

ob eine Firma profitabel war. Das reduzierte das Problem<br />

<strong>des</strong> Informationsnachteils <strong>der</strong> Anleger einigermaßen;<br />

gleichzeitig aber schloss die mangelnde Transparenz all<br />

die Firmen vom Aktienmarkt aus, die noch keine Gewinne<br />

machen, <strong>und</strong> erhöhte die Finanzierungskosten für die, die<br />

beson<strong>der</strong>s profitable Investitionsmöglichkeiten besaßen.<br />

Soll <strong>der</strong> Aktienmarkt nicht nur als die Teilkasko-Variante<br />

<strong>des</strong> Anleihenmarktes funktionieren, müssen Anleger einen<br />

Sinn für die Wertschöpfung innerhalb <strong>des</strong> Unternehmens<br />

– auch ohne Dividenden – erhalten. Dafür sind ehrliche<br />

Informationen unerlässlich. Um die Vereinbarkeit <strong>der</strong> aufgestellten<br />

Bilanzen mit den Prinzipien <strong>der</strong> Klarheit <strong>und</strong><br />

Wahrheit (<strong>und</strong> mit den üblichen Regeln <strong>und</strong> Normen) zu<br />

überprüfen, gibt es Bilanzprüfer. Doch sie werden von den<br />

Firmen bezahlt, die sie überprüfen, <strong>und</strong> haben häufig ein<br />

Interesse daran, an<strong>der</strong>e hochprofitable Dienstleistungen<br />

wie Beraterverträge usw. zu verkaufen. Trotz aller gegenteiligen<br />

Beteuerung – es scheint, als ob schon mal mehr<br />

als ein Auge zugedrückt wurde, um sich lukrative Aufträge<br />

zu sichern. Sowohl aus realwirtschaftlichen wie auch aus<br />

moralischen Gründen muss <strong>des</strong>halb dafür gesorgt werden,<br />

dass Bilanzen den Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong> Klarheit <strong>und</strong> Wahrheit<br />

entsprechen. Zusätzlich sollten Firmen verpflichtet werden,<br />

ihr Geschäftsmodell zu beschreiben. Das bedeutet,<br />

nicht nur wohlklingende Worte auf Hochglanzpapier zu<br />

verbreiten, son<strong>der</strong>n klar <strong>und</strong> anschaulich nachzuzeichnen,<br />

wie das Unternehmen Geld verdient o<strong>der</strong> verdienen will.<br />

Auch hierfür sind Min<strong>des</strong>tstandards an Klarheit <strong>und</strong><br />

Wahrheit geboten.<br />

Wenn es eine Notwendigkeit staatlicher Intervention gibt,<br />

dann bei <strong>der</strong> Überprüfung <strong>der</strong> Unternehmensbilanzen.<br />

Ein selbstregulieren<strong>der</strong> Markt für Wahrheit existiert ebensowenig<br />

wie einer für die Nebenwirkungen von Pharmaka.<br />

Auch wer allgemein an das Laissez-faire glaubt, wird<br />

diese Funktion staatlichen Handelns für so essentiell wie<br />

die Feuerwehr o<strong>der</strong> Zulassung von Medikamenten halten.<br />

Eine Verstaatlichung <strong>der</strong> Bilanzprüfung selbst dürfte das<br />

Kernproblem lösen, würde aber zu hohen Kosten führen.<br />

Ein so radikaler <strong>und</strong> kostspieliger Schritt erscheint auch<br />

nicht notwendig. Statt<strong>des</strong>sen könnten die Aufsichtsämter<br />

stichprobenartig die Bilanzierungspraxis <strong>der</strong> großen<br />

auditing firms auf den Prüfstand stellen, <strong>und</strong> im Falle von<br />

Verstößen diese öffentlich machen <strong>und</strong> deutliche Strafen<br />

(bis hin zum Berufsverbot) verhängen. Dadurch würde<br />

die Bilanzprüfung mit Sicherheit teurer – aber nichts ist<br />

so teuer wie <strong>der</strong> Vertrauensverlust <strong>des</strong> letzten Jahres.<br />

Auch bei <strong>der</strong> Auftragsvergabe müssen an<strong>der</strong>e Regeln<br />

gelten. Schnell ist in den letzten Monaten ein Konsens<br />

entstanden, dass Bilanzprüfung <strong>und</strong> Beratungsdienste<br />

nicht für das gleiche Unternehmen von <strong>der</strong>selben Firma<br />

angeboten werden sollten. Darüber hinaus darf nicht<br />

mehr <strong>der</strong> Bock zum Gärtner gemacht werden, indem das<br />

zu prüfende Management selbst entscheidet, welche <strong>der</strong><br />

großen Auditing-Firmen den Auftrag erhält. Die Auftragsvergabe<br />

lässt sich problemlos delegieren. Sie kann ohne<br />

größere Probleme nach dem Zufallsprinzip o<strong>der</strong> durch<br />

einen Vertreter <strong>der</strong> Aufsichtsbehörden erfolgen.<br />

Zusammenfassung<br />

Von <strong>der</strong> Wiege bis zur Bahre sind Deutsche den Interventionen<br />

<strong>des</strong> Staates ausgesetzt; kaum ein Schritt, <strong>der</strong> sich<br />

nicht ohne Anmeldung, Abmeldung, Ummeldung, ohne<br />

Prüfung, Inspektion o<strong>der</strong> Zertifizierung staatlicher Stellen<br />

tun ließe. Gerade Menschen aus <strong>der</strong> Privatwirtschaft ist –<br />

schon wegen <strong>der</strong> Umständlichkeit vieler Prozeduren<br />

sowie <strong>des</strong> politischen Beigeschmacks vieler Regelungen –<br />

<strong>der</strong> gesamte Staatsinterventionismus ein Alptraum. Doch<br />

auch die Wirtschaft <strong>und</strong> die Märkte selbst funktionieren<br />

ohne staatliche Intervention nicht. Lug <strong>und</strong> Trug bei den<br />

Bilanzen, schräge Geschäfte am Aktienmarkt – sie führen<br />

nicht nur die Verführbarkeit von Menschen <strong>und</strong> die<br />

9


enormen Anreize zum Rechtsbruch vor Augen, die in<br />

reichen Län<strong>der</strong>n entstehen können. Vielmehr zeigt sich<br />

hier in erheblichem Ausmaß Staatsversagen. In einem<br />

Land wie <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik, wo noch je<strong>der</strong> ausländische<br />

Abschluss zum Führen <strong>des</strong> Doktortitels heute geprüft<br />

werden muss („Oxford? Nie gehört!“) <strong>und</strong> das Anmelden<br />

eines PKW ohne Meldebestätigung <strong>des</strong> Einwohnermeldeamtes<br />

nicht zu machen ist, gibt es keine staatliche<br />

Kontrolle <strong>der</strong> Bilanzprüfung; die Prüfung durch den<br />

Berufsstand selbst ist rein formal <strong>und</strong> ohne jeden Biss.<br />

Hier muss dringend Abhilfe geschaffen werden. Dabei<br />

muss Staat zuerst für Transparenz <strong>und</strong> Ehrlichkeit in den<br />

Bilanzen sorgen. Der Markt selbst produziert keine vertrauenswürdigen<br />

Jahresabschlüsse. Deshalb sollte die<br />

Rolle <strong>der</strong> Wirtschaftsprüfer direkt <strong>der</strong> staatlichen Kontrolle<br />

unterstellt werden, durch stichprobenartige Prüfungen,<br />

Strafen mit Abschreckungscharakter <strong>und</strong> eine Auftragsvergabe,<br />

die nicht mehr dem Management die Wahl <strong>der</strong><br />

eigenen Kontrolleure überlässt.<br />

Eine faire Beurteilung <strong>der</strong> Fehlentwicklungen in den letzten<br />

Jahren muss aber auch das Unverständnis <strong>und</strong> die<br />

Leichtgläubigkeit vieler Anleger in Betracht ziehen. Mehr<br />

Eigenverantwortung kann man nicht verordnen, doch<br />

<strong>der</strong> Staat kann – durch Erziehungskampagnen etwa o<strong>der</strong><br />

durch die Schaffung neuer, geschützter Berufe – dafür<br />

sorgen, dass Investoren in Zukunft bessere Entscheidungen<br />

treffen. Damit würde insgesamt <strong>der</strong> Rahmen staatlicher<br />

Intervention in Deutschland keineswegs erweitert –<br />

<strong>der</strong> Staat würde lediglich an den Kapitalmärkten das tun,<br />

was er selbstverständlich bei <strong>der</strong> Zulassung von Ärzten<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verfolgung von Falschgeldherstellern, bei Urk<strong>und</strong>enfälschern<br />

<strong>und</strong> Heiratsschwindlern tut. Mehr Staat,<br />

weniger Politik: So funktionieren nicht nur die Kapitalmärkte<br />

insgesamt besser, son<strong>der</strong>n sie können dann ihre<br />

wichtige Katalysatorwirkung für die Volkswirtschaft voll<br />

entfalten.<br />

Hinzu kommt die nicht unbeträchtliche Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

für die richtigen Kontroll- <strong>und</strong> Strafinstanzen bei Betrug<br />

<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en kriminellen Machenschaften zu sorgen.<br />

So kann <strong>der</strong> Staat dazu beitragen, dass sich die Kräfte<br />

<strong>der</strong> Marktwirtschaft nutzbringend entfalten. Er kann die<br />

Strafbestimmungen für Bilanzbetrug <strong>und</strong> Kursmanipulation<br />

verschärfen sowie die Ermittlungsbehörden stärken,<br />

sodass Insi<strong>der</strong>handel mit größerer Wahrscheinlichkeit als<br />

Falschparken bestraft wird. Millionenstrafen nach Vorbild<br />

<strong>der</strong> SEC könnten dafür sorgen, dass sich die neuen<br />

Ermittler selbst bezahlt machen. In Europa müssen vor<br />

allem bessere Institutionen mit höher qualifizierten Mitarbeitern<br />

geschaffen werden; weltweit müssen die Strafen<br />

bei Vergehen so hoch sein, dass sich Betrug auch bei<br />

nur geringer Aufdeckungswahrscheinlichkeit nicht lohnt.<br />

Dazu passen die Bestimmungen <strong>des</strong> US-amerikanischen<br />

Sarbanes-Oxley Gesetzes ganz gut, auch wenn die<br />

extraterritoriale Anwendung viele Probleme bereitet.<br />

Zusätzlich sollte die Aufdeckungswahrscheinlichkeit<br />

selbst um ein Vielfaches erhöht werden, durch zusätzliche<br />

Kontrollinstanzen <strong>und</strong> neue Regeln bei <strong>der</strong> Vergabe von<br />

Bilanzprüfungsaufträgen. Auch hier sind die USA mit <strong>der</strong><br />

besseren finanziellen Ausstattung <strong>der</strong> SEC vorangegangen.<br />

Europa sollte baldmöglichst gleichziehen.<br />

10


2. Die heimliche Abkehr von <strong>der</strong> Aktie:<br />

Realwirtschaftliche Ursachen <strong>der</strong> Kapitalmarktkrise<br />

Der Absturz <strong>der</strong> Kurse an den Aktienmärkten in den letzten Jahren wird<br />

häufig als Ursache <strong>der</strong> realwirtschaftlichen <strong>Krise</strong> in Europa <strong>und</strong> Amerika<br />

genannt. Dabei werden zwei Aufgaben <strong>der</strong> Märkte nur unzureichend<br />

unterschieden – sie übermitteln Informationen über den Wert von Unternehmen,<br />

<strong>und</strong> sie stellen Eigenkapital zur Verfügung. Die letztere Funktion<br />

aber wird kaum noch genutzt. Statt<strong>des</strong>sen verschuldeten sich die Konzerne<br />

in den Neunzigerjahren zunehmend. Wir zeigen auf, warum gerade<br />

diese Schieflage bei <strong>der</strong> Unternehmensfinanzierung zur realwirtschaftlichen<br />

<strong>Krise</strong> beigetragen hat.<br />

Die Ernüchterung ist groß. Millionen von Kleinanlegern<br />

sollten endlich Renditen wie Millionäre erwirtschaften,<br />

indem sie wie diese in Aktien anlegen. Die drohende<br />

Rentenkrise ließe sich so vermeiden, so die Hoffnung.<br />

Die Unternehmen sollten, durch den „Stachel <strong>der</strong> Kapitalmärkte“<br />

getrieben, rationaler wirtschaften, intelligenter<br />

investieren, schneller wachsen <strong>und</strong> mehr Arbeitsplätze<br />

schaffen. Und <strong>der</strong> Staat würde sich mit Hilfe umfangreicher<br />

Privatisierungen aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen,<br />

Effizienzsteigerungen ermöglichen <strong>und</strong> seine<br />

Schulden durch hohe Einnahmen abbauen. Journalisten<br />

<strong>und</strong> Politiker, Wissenschaftler <strong>und</strong> Börsianer, Analysten<br />

<strong>und</strong> Manager sangen in den 1990er Jahren das Hohelied<br />

<strong>des</strong> (Aktien-) Marktes, zitierten Weltbankstudien, dass<br />

Län<strong>der</strong> mit größeren Aktienmärkten schneller wachsen,<br />

produktiver sind <strong>und</strong> mehr Arbeitsplätze schaffen. Auch<br />

wir, die Autoren, gehörten dazu. Und viele schauten stolz<br />

auf ihre Anlagedepots mit den Neuemissionen <strong>und</strong><br />

Privatisierungsaktien, die schöne Gewinne abwarfen.<br />

Heute lesen enttäuschte Investoren die Hymnen <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahre mit Verbitterung. Zynisch kommen ihnen<br />

die Prognosen <strong>und</strong> optimistisch-einseitigen Szenarien vor.<br />

Die Aktienmärkte sind im Sommer 2002 auf das Niveau<br />

von 1997 gesunken, an den Börsen ist die Kapitalisierung<br />

um Tausende von Milliarden zurückgegangen – allein in<br />

den USA entstanden seit März 2000 insgesamt 7000<br />

Milliarden US-Dollar an Kursverlusten. In vielen Fällen hat<br />

sich das Management mittels Aktienoptionen auf die Erzielung<br />

immer höherer Kurse konzentriert, mit gefälschten<br />

Zahlen geglänzt. Betrug <strong>und</strong> gefälschte Bilanzen waren<br />

kein Einzelfall, wenn auch nur selten so ausgedehnt wie<br />

bei Enron; h<strong>und</strong>erte von US-Firmen haben bereits dieses<br />

Jahr ihre alten Bilanzen rückwirkend geän<strong>der</strong>t. Die einst<br />

glitzernde Welt <strong>der</strong> Telekom- <strong>und</strong> Internet-Unternehmen<br />

meldet ständig neue Pleiten <strong>und</strong> Überschuldungsprobleme.<br />

Hinzu kommen Meldungen über Arbeitsplatzabbau –<br />

laut Spiegel aus dem August 2002 sind 22.000 Stellen<br />

bei <strong>der</strong> Telekom bedroht, 11.700 bei Siemens usw. Die<br />

Glasfaserkabel, in den Jahren <strong>der</strong> Euphorie überall in<br />

<strong>der</strong> Welt vergraben, bleiben weit gehend ungenutzt, die<br />

Geschäftsaussichten <strong>der</strong> Firmen, die sie vergraben haben,<br />

düster. Die absackenden Kurse verteuern die Kapitalaufnahme,<br />

machen Fusionen <strong>und</strong> Übernahmen schwieriger<br />

<strong>und</strong> führen dazu, dass die Unternehmen deutlich mehr<br />

Mittel für die Pensionen ihrer Mitarbeiter zur Seite legen<br />

müssen. Lebensversicherungen schaffen es nur noch zum<br />

Teil, die garantierte Min<strong>des</strong>tverzinsung <strong>der</strong> eingezahlten<br />

Beiträge zu erwirtschaften; viele müssen ihre Aktienbestände<br />

auf den Markt werfen <strong>und</strong> sich aus dem Neugeschäft<br />

verabschieden. Privatanleger, die das Aktiensparen<br />

als Form <strong>der</strong> Rentenvorsorge betrieben haben, stehen<br />

heute oft schlechter da, als wenn sie ihr Erspartes in<br />

Sparstrumpf, Matratze o<strong>der</strong> Pfandbrief gesteckt hätten.<br />

Menschen in ihren Fünfzigern in den USA, die mittels<br />

401k-Plänen für ihr Alter vorsorgen wollten, müssen nun<br />

länger arbeiten, um im Alter nicht zu verarmen. Kein<br />

W<strong>und</strong>er also, dass sie – nach kurzem <strong>und</strong> heißem Flirt<br />

mit <strong>der</strong> Anlageform Aktie in den 1990er Jahren – wie<strong>der</strong><br />

zu traditionellen Sparformen zurückkehren. Allein in<br />

Deutschland ist im letzten Jahr die Zahl <strong>der</strong> Aktionäre von<br />

5,7 auf 4,7 Millionen gesunken; die Anzahl <strong>der</strong> Aktienfondsbesitzer<br />

fiel von 6 auf 5,1 Millionen.<br />

Was ist schief gegangen? War <strong>der</strong> Boom <strong>der</strong> 1990er Jahre<br />

<strong>und</strong> die Aktienspekulation, die ihn begleitete, nur eine<br />

zynische Bereicherungsveranstaltung für korrupte Manager<br />

<strong>und</strong> coole Dotcom-Grün<strong>der</strong>? Taugt <strong>der</strong> Aktienmarkt noch<br />

als Allokationsmechanismus, wenn Milliarden an Wert<br />

von einem Monat zum nächsten verschwinden? Das Titelblatt<br />

<strong>des</strong> Spiegel vom 8.7.2002 mit den Tigeraugen, in<br />

denen sich die Dollarzeichen spiegeln, <strong>und</strong> das Wort vom<br />

Raubtierkapitalismus bringen das ungläubige Entsetzen<br />

<strong>der</strong> Menschen auf den Punkt; <strong>und</strong> selbst die liberale ZEIT<br />

spricht von <strong>der</strong> „<strong>Krise</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>“, ausgelöst von<br />

den Kursverlusten, Betrugsfällen <strong>und</strong> Firmenpleiten.<br />

11


Eine simplistische Betrachtung hilft jedoch nicht weiter,<br />

denn <strong>der</strong>zeit überlagern sich mehrere <strong>Krise</strong>n. Wer die<br />

richtigen Schlussfolgerungen aus dem Einbruch heute<br />

ziehen will, muss die Ursachen klar unterscheiden. Zwei<br />

Phänomene treffen in den Augen <strong>der</strong> Öffentlichkeit zusammen<br />

– das Platzen einer Spekulationsblase sowie<br />

realwirtschaftliche Verwerfungen als Folge <strong>des</strong> Booms<br />

Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre.<br />

Die Spekulationswelle hatte nahezu alle Kapitalmärkte<br />

in entwickelten Län<strong>der</strong>n erfasst <strong>und</strong> sorgte für historisch<br />

einmalig hohe Bewertungsniveaus. Das Verhältnis <strong>der</strong><br />

Aktienkurse zu den Gewinnen <strong>der</strong> Unternehmen stieg in<br />

den USA auf das über 50-fache an (im S&P-500) –<br />

normal im langfristigen Durchschnitt ist eher <strong>der</strong> Faktor<br />

15 bis 18. Heute liegt er immer noch beim Faktor 20 –<br />

<strong>und</strong> dies, ohne dass die Folgen von Aktienoptionen für<br />

die Unternehmensgewinne vernünftig berücksichtigt<br />

werden. Bei realistischer Betrachtung <strong>der</strong> Gewinnsituation<br />

liegt das Kurs-/Gewinn-Verhältnis immer noch bei 25;<br />

<strong>der</strong> S&P-500 müsste noch um ein Drittel fallen, um auch<br />

nur den „normalen“ Durchschnittswert zu erreichen.<br />

Diese Spekulationsblase führte auch zu realwirtschaftlichen<br />

Verwerfungen, da sehr erhebliche Überkapazitäten<br />

aufgebaut wurden. Dabei sind die Überinvestitionen vor<br />

allem in <strong>der</strong> Telekomindustrie beson<strong>der</strong>s hervorzuheben.<br />

Eine Gr<strong>und</strong>idee <strong>der</strong> New Economy, nämlich dass sich<br />

dank Skalenerträgen <strong>und</strong> sinken<strong>der</strong> Grenzkosten immer<br />

neue Teile <strong>der</strong> Wirtschaft in eine Goldgrube verwandeln<br />

würden, ging nicht auf. Im Konjunkturabschwung<br />

erdrückt <strong>der</strong> hohe Fixkostenblock viele Firmen.<br />

Die Spekulationsblase dient vielen als Beweis für die<br />

„Irrationalität“ <strong>der</strong> Märkte. Wenn Internet-Startups heute<br />

Milliarden wert sein können, um dann morgen gleich pleite<br />

zu machen, dann stimmt für viele Beobachter irgendetwas<br />

nicht. Doch gerade die Unsicherheit über die zukünftige<br />

Entwicklung nach einem Technologieschub trägt<br />

zu „Übertreibungen“ bei – weil nicht genug Menschen mit<br />

ausreichen<strong>der</strong> Sicherheit wussten, dass dogfood.com <strong>und</strong><br />

das 1001. Internet-Reisebüro Pleite gehen würden, konnten<br />

die Kurse eine Zeitlang explodieren. Und als langsam<br />

aber sicher klar wurde, dass die magischen drei Buchstaben<br />

nach dem Firmennamen nicht gleichbedeutend<br />

mit <strong>der</strong> Lizenz zum Gelddrucken sind, stürzten auch die<br />

Kurse ab. Das allerdings ist nicht Irrationalität, son<strong>der</strong>n<br />

es sind genau die Kursschwankungen, die in Umbruchssituationen<br />

in funktionierenden Märkten zu erwarten sind.<br />

Über die tieferen Ursachen <strong>der</strong> kapital- <strong>und</strong> realwirtschaftlichen<br />

<strong>Krise</strong> jedoch ist noch nicht genug nachgedacht<br />

worden. Unserer Ansicht nach werden die negativen<br />

Folgen, die seit dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Spekulationsblase<br />

an den Märkten im Jahr 2000 deutlich werden,<br />

zu summarisch als <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Aktienmärkte sowie <strong>der</strong><br />

Kapitalmärkte insgesamt gedeutet. Bei genauerer Betrachtung<br />

zeigt sich, dass eine Reihe von Son<strong>der</strong>faktoren zusammenkamen,<br />

die für den Aufstieg <strong>und</strong> Fall <strong>der</strong> Technologiewerte,<br />

<strong>der</strong> Aktienkurse allgemein sowie <strong>der</strong> Investitionen<br />

verantwortlich waren. Getrieben wurde die Entwicklung<br />

allerdings zu einem erheblichen Teil auf sehr traditionelle<br />

Weise – durch massive Schuldenaufnahme <strong>der</strong><br />

Unternehmen, begünstigt von <strong>der</strong> jahrelangen Niedrigzinspolitik<br />

<strong>der</strong> Zentralbanken. Der Einbruch <strong>der</strong> Aktienkurse<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Wachstums ist nur zum Teil durch Fehler<br />

im „System“ <strong>des</strong> aktienmarktbasierten <strong>Kapitalismus</strong> wie<br />

die hohen Kursschwankungen <strong>und</strong> die Möglichkeit von<br />

Spekulationsblasen verursacht; er ist zu einem erheblichen<br />

Teil Folge einer Schuldenkrise <strong>der</strong> Unternehmen<br />

sowie <strong>des</strong> übermäßigen Aktionismus staatlicher Stellen.<br />

Dabei gehört auch die Rolle <strong>der</strong> Notenbanken auf den<br />

Prüfstand.<br />

Marktwirtschaft im politikfreien Raum?<br />

Ist Alan Greenspans Nimbus noch berechtigt?<br />

Ein Wirtschaftsberater von Bill Clinton gestand in den<br />

frühen 1990er Jahren einmal, davon zu träumen, als<br />

Anleihenmarkt wie<strong>der</strong>geboren zu werden – „you can intimidate<br />

everyone“; ein je<strong>der</strong> würde vor einem erzittern.<br />

So wurde auch die Rolle <strong>des</strong> Kapitalmarkts in den 1990er<br />

Jahren allgemein interpretiert – als objektiver, emotionsloser,<br />

allmächtiger, nicht <strong>der</strong> Einmischung <strong>der</strong> Politik<br />

ausgesetzter Allokationsmechanismus. Nach diesem Bild<br />

regelt <strong>der</strong> Kapitalmarkt „entry, conduct and exit“, ohne zu<br />

denken <strong>und</strong> ohne Performanceziele. Doch de facto gab<br />

es die klare Trennung von Politik <strong>und</strong> Markt nicht.<br />

Als 1997 <strong>der</strong> Hedgefond LTCM in eine Schieflage geriet,<br />

die das Finanzsystem <strong>der</strong> Welt erschütterte, intervenierte<br />

die Fed an den Märkten, um die Liquidität aufrechtzuerhalten,<br />

<strong>und</strong> zwang indirekt die großen Banken zu einer<br />

Rettungsaktion. Doch nicht nur in extremen Situationen<br />

wurden die Kapitalmärkte immer mehr zum Spielball <strong>der</strong><br />

Zentralbanken. Je<strong>des</strong>mal, wenn die Kurse an <strong>der</strong> Wall<br />

Street zu rutschen begannen, kam Greenspan zur Hilfe –<br />

<strong>der</strong> berühmte Greenspan-Put, wie ihn Analysten <strong>und</strong><br />

Anleger nannten, eine quasi kostenfreie Garantie, dass<br />

die Notenbank die Geldpolitik än<strong>der</strong>n werde, um größere<br />

Kursverluste zu vermeiden. Dabei stand die Furcht vor<br />

einer Konjunkturdelle wegen <strong>des</strong> zurückgehenden Konsumentenvertrauens<br />

häufig im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Bei allen<br />

Erklärungsversuchen dafür, warum sich die Aktienmärkte<br />

12


offensichtlich so weit von ihrem f<strong>und</strong>amental richtigen<br />

Bewertungsniveau entfernen konnten, kommt <strong>der</strong> Zinspolitik<br />

<strong>der</strong> Notenbanken eine erhebliche Rolle zu. Im<br />

Durchschnitt <strong>der</strong> Jahre 1995 bis 2000 reagierte die Fed<br />

bei großen Kurssteigerungen nicht, senkte aber immer<br />

dann die Zinsen, wenn die Kurse fielen. Verschärft wurde<br />

die Situation noch durch die Ostasien- <strong>und</strong> Russlandkrise<br />

<strong>der</strong> Jahre 1997/98. Wie<strong>der</strong>um sorgten die Zentralbanken<br />

durch Zinskürzungen <strong>und</strong> Offenmarktpolitik dafür, dass<br />

größere Liquiditätsprobleme ausblieben – <strong>und</strong> ein guter<br />

Teil <strong>des</strong> billigen Gel<strong>des</strong> fand seinen Weg in die Aktienmärkte,<br />

wo es zu den Übertreibungen an <strong>der</strong> NASDAQ<br />

<strong>und</strong> am Neuen Markt beitrug. Der Chairman <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>al<br />

Reserve unter Eisenhower, Kennedy <strong>und</strong> Johnson, Bill<br />

Martin, sagte einmal, es sei <strong>der</strong> <strong>und</strong>ankbare Job <strong>der</strong> Zentralbank,<br />

die Schüssel mit dem Punsch wegzunehmen,<br />

wenn die Party gerade so richtig lustig würde. Doch genau<br />

das Gegenteil war die Politik <strong>der</strong> Notenbanken in den<br />

1990er Jahren. Jahrelang als Spielver<strong>der</strong>ber verschrieen,<br />

gaben sie allen Akteuren im Wirtschaftsprozess „einen<br />

aus“, indem zu lange die Zinsen zu niedrig blieben.<br />

Verschärft wurden die Übertreibungen noch durch die<br />

Analysen <strong>und</strong> öffentlichen Äußerungen <strong>der</strong> Notenbanken,<br />

allen voran <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>al Reserve. Hatte Greenspan im Dezember<br />

1996 noch in einer mittlerweile berühmten Rede<br />

vor den Gefahren <strong>der</strong> „irrational exuberance“ gewarnt, so<br />

schien er gegen Ende <strong>des</strong> Jahrzehnts eine Kehrtwendung<br />

zu vollziehen. In immer neuen Reden vor Industrievertretern<br />

<strong>und</strong> dem US-Kongress betonte <strong>der</strong> Notenbankchef,<br />

dass die Produktivitätsgewinne so hoch seien, dass man<br />

mit einer neuen Ära inflationsfreien <strong>und</strong> sehr zügigen<br />

Wachstums rechnen könne. Die zweifelhaften Produktivitätsmessungen,<br />

vor allem hochgetrieben durch den<br />

stark übertriebenen Verfall <strong>der</strong> Computerpreise, erhielten<br />

damit ein fast als unfehlbar anerkanntes „Imprimatur“<br />

von höchster Stelle. An den Aktienmärkten wurde dies<br />

als direkte Auffor<strong>der</strong>ung zum Kaufen verstanden.<br />

Das aber bedeutet: So wie in den 1960er <strong>und</strong> 1970er<br />

Jahren mittels so genannter keynesianischer Wirtschaftsprogramme<br />

die Nachfrage gesteuert werden sollte, betreiben<br />

heute die Notenbanken die Feinsteuerung mit ihren<br />

Zinsschritten. Und dabei berücksichtigen sie in zunehmendem<br />

Ausmaß auch die Kursentwicklung <strong>der</strong> Aktien.<br />

Wer in den Zentralbanken die richtigen zentralen Planer<br />

<strong>des</strong> Wirtschaftsprozesses sieht, kann dies nur für vernünftig<br />

halten; Kursverluste sorgen für Vertrauenseinbußen,<br />

die Konsum- <strong>und</strong> Investitionsausgaben leiden; die Wirkung<br />

ist einer Zinserhöhung nicht unähnlich. Doch die<br />

Politisierung <strong>der</strong> Märkte hat in den Jahren 1995 bis 2001<br />

zur großen Spekulationsblase zumin<strong>des</strong>t beigetragen.<br />

Mittlerweile for<strong>der</strong>n immer mehr Wissenschaftler, dass<br />

die Notenbanken bei <strong>der</strong> Zinspolitik allein auf Inflation<br />

<strong>und</strong> (allenfalls) auf das Wachstum schauen sollten, nicht<br />

aber auf die Aktienkurse. In den entsprechenden Modellen<br />

wird schnell klar: Eine Zentralbank, die versucht,<br />

auch die Kapitalmärkte zu steuern, sorgt nur für mehr<br />

Instabilität beim Wachstum, den Inflationsraten <strong>und</strong> an<br />

den Kapitalmärkten selbst.<br />

Weit gehend unabhängige Notenbanken wie die Fe<strong>der</strong>al<br />

Reserve o<strong>der</strong> die EZB gelten vielen als Verkörperung<br />

apolitischer staatlicher Interventionen. Doch in Wirklichkeit<br />

sind sie politischem Druck von vielen Stellen ausgesetzt;<br />

statistische Analysen zeigen regelmäßig, dass selbst<br />

die für ihre Unabhängigkeit berühmte Bun<strong>des</strong>bank häufig<br />

in ihrer Zinspolitik mehr Rücksichten auf Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> Wachstum nahm, als sie öffentlich zugab. Rational ist<br />

dies durchaus – fast überall kann die Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />

Zentralbanken auch wie<strong>der</strong> abgeschafft werden, institutionell<br />

verankert ist sie beispielsweise in den USA nur zum<br />

Teil. Damit aber ist bei genauerer Betrachtung das Wort<br />

vom Marktversagen im politikfreien Raum falsch; ein guter<br />

Teil <strong>der</strong> Katerstimmung heute ist auch dadurch verursacht,<br />

dass die Zentralbanken noch etwas Wodka in den Punsch<br />

gerührt haben, als die Party so richtig lustig wurde.<br />

Aktienkrise o<strong>der</strong> Schuldenkrise?<br />

Von einem Wirtschaftseinbruch ohne Parallele ist immer<br />

wie<strong>der</strong> die Rede, sowie von Überinvestitionen in <strong>der</strong><br />

Boomphase <strong>der</strong> Aktienmärkte, die zu enormer Fehlallokation<br />

von Kapital insgesamt geführt haben. Bei genauer<br />

Betrachtungsweise ist die Wirtschaftskrise allerdings<br />

realwirtschaftlich nicht „schlimmer“ als frühere <strong>Krise</strong>n <strong>der</strong><br />

Nachkriegszeit. Das Wachstum <strong>und</strong> die Beschäftigung<br />

verzeichneten nur einen relativen milden Rückgang, trotz<br />

<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> zitierten Meldungen über Beschäftigungsverluste.<br />

Und auch die Kapazitätsauslastung in den<br />

USA liegt nicht auf katastrophalem Niveau. Während im<br />

Durchschnitt <strong>der</strong> guten wie <strong>der</strong> schlechten Jahre seit<br />

1967 die Kapazitäten zu 81,8 Prozent ausgelastet waren,<br />

sind es im Jahr 2002 nur noch 75,4 Prozent (76,7 im<br />

Juni). Damit aber liegt dieser Wert immer noch besser als<br />

in den Rezessionsjahren 1975 (74,6 Prozent) <strong>und</strong> 1982<br />

(74,5 Prozent). Im Rückblick gab es zweifellos zu hohe<br />

Investitionen, <strong>und</strong> einzelne Branchen wie die Telekommunikation<br />

waren tatsächlich deutlich zu optimistisch. Hier<br />

unterliefen wohl eher nur gewöhnliche, „ehrliche“ Fehler,<br />

wie sie in Expansionsphasen immer wie<strong>der</strong> auftreten. Im<br />

Durchschnitt aller Branchen jedoch hat die Spekulationswelle<br />

an den Kapitalmärkten nicht zu einem ungewöhnlich<br />

hohen Niveau ungenutzter Kapazitäten geführt<br />

13


Schaubild 1: Kapazitätsauslastung in den USA, 1967 bis 2002<br />

(Gesamte Industrie einschließlich Rohstoffe <strong>und</strong> Baubetriebe; in %)<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1970 75 80 85 90 95 2001<br />

Quelle: Fe<strong>der</strong>al Reserve, Release G.17.<br />

(Schaubild 1) – wie zu erwarten gewesen wäre, wenn<br />

<strong>der</strong> Telekommunikations- <strong>und</strong> Internet-Boom zu einer insgesamt<br />

zu kräftigen Expansion <strong>des</strong> Kapitalstocks geführt<br />

hätte.<br />

Warum aber dann die enorm schlechte Verfassung <strong>der</strong><br />

Aktienmärkte, <strong>der</strong> Eindruck einer allgemeinen <strong>Krise</strong> sowie<br />

die schlagartig zurückgegangene Profitabilität <strong>der</strong> Unternehmen?<br />

Nicht <strong>der</strong> enorme Optimismus, <strong>der</strong> sich an den<br />

Aktienmärkten spiegelte, <strong>und</strong> auch nicht zu hohe Investitionen<br />

insgesamt sind verantwortlich. Den Ausschlag gab<br />

vielmehr die zunehmend auf Schulden ausgerichtete<br />

Finanzierungspolitik <strong>der</strong> Unternehmen.<br />

Wer in guten Zeiten als Unternehmer Schulden macht<br />

<strong>und</strong> damit zusätzliches Geschäft betreibt, kann seine<br />

Profitabilität deutlich erhöhen. Je mehr Kredit relativ zum<br />

Eigenkapital genutzt wird, <strong>des</strong>to höher die Rendite <strong>des</strong><br />

Eigenkapitals – <strong>der</strong> einfache Gr<strong>und</strong>satz aus <strong>der</strong> BWL-Vorlesung<br />

<strong>des</strong> ersten Semesters wurde in den USA <strong>und</strong> zum<br />

Teil auch in Europa tausendfach in den Vorstandsetagen<br />

in die Praxis übertragen. Eine Firma, die mit ihren Investitionen<br />

eine Rendite von 9 Prozent erzielt <strong>und</strong> sich 70/30<br />

mit Kredit <strong>und</strong> Eigenkapital versorgt, kann bei einem Zins<br />

von 7 Prozent eine EK-Rendite von 13,6 Prozent ausweisen.<br />

Finanziert sie sich zu 90 Prozent über Kredite,<br />

steigt die EK-Rendite auf 27 Prozent.<br />

Doch mit den höheren EK-Renditen in den Jahren <strong>des</strong><br />

Booms geht auch die Gefahr eines rapiden Einbruchs in<br />

<strong>der</strong> <strong>Krise</strong> einher. Plötzlich fehlen die Einnahmen, um die<br />

fixen Zahlungen noch aufzubringen, <strong>und</strong> die Rendite auf<br />

das eingesetzte Kapital wird plötzlich negativ. Im Extremfall<br />

droht <strong>der</strong> Konkurs. Im Falle <strong>der</strong> konservativen Firma<br />

(mit 70/30 Finanzierung) muss die Rendite auf die eingesetzten<br />

Anlagegüter auf 4,9 Prozent fallen, bis es zu Kapitalverlusten<br />

kommt; in <strong>der</strong> „aggressiv“ geführten Firma<br />

ist die <strong>Krise</strong>nzone bereits bei 6,3 Prozent erreicht. Was in<br />

den Augen <strong>der</strong> Beobachter in den fetten Jahre wie eine<br />

deutliche Steigerung <strong>der</strong> Profitabilität aussah, war häufig<br />

einfach Ergebnis <strong>der</strong> Entscheidung, Schulden zu machen.<br />

Und sobald <strong>der</strong> erste Einbruch da ist, wird schnell deutlich,<br />

dass <strong>der</strong> eindrucksvolle Prunkbau <strong>des</strong> gewinnträchtigen<br />

Unternehmens auf sandigem Boden erstellt wurde.<br />

Verstärken lässt sich <strong>der</strong> Effekt, wenn zusätzlich mit den<br />

neuen Schulden Aktien zurückgekauft werden. Genau<br />

dies ist in den USA in den letzten Jahren passiert. Die<br />

Unternehmen nahmen zwischen 1995 <strong>und</strong> 2001 insgesamt<br />

2.700 Mrd. US-Dollar an Schulden in Form von<br />

Krediten <strong>und</strong> Anleihen auf. 930 Mrd. wurden zur Refinanzierung<br />

verwandt. Von den verbleibenden 1.770 Mrd.<br />

US-Dollar wurden 900 Mrd. zur Investitionsfinanzierung<br />

genutzt, da für 870 Mrd. US-Dollar Aktien von den<br />

Firmen selbst zurückgekauft wurden. Statt ein Verhältnis<br />

14


Schaubild 2: Kursentwicklung Dow-Jones <strong>und</strong> AAA-Unternehmen (3.1.2000=100)<br />

130<br />

120<br />

110<br />

100<br />

AAA-Unternehmen<br />

90<br />

80<br />

70<br />

Dow-Jones<br />

60<br />

Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul<br />

2000 2001 2002<br />

von Schulden zum Nettowert <strong>der</strong> Unternehmen von<br />

57 Prozent aufzuweisen, wären ohne die „Schuldenorgie“<br />

<strong>und</strong> die Rückkäufe nur 39,8 Prozent zu verzeichnen gewesen.<br />

Hätte man auch nur auf die Rückkaufprogramme<br />

verzichtet, läge die Quote bei 47 Prozent (<strong>und</strong> damit<br />

unter dem Wert von 1995).<br />

Die sichtbarste Folge <strong>der</strong> rapide zunehmenden Verschuldung<br />

ist das Aussterben <strong>der</strong> AAA-Unternehmen –<br />

kaum eine Firma, die heute noch das höchste Rating von<br />

Moody’s erhält. Gab es in den USA 1979 noch 60 Firmen<br />

mit höchster Bonität, so waren es 1992 (mitten in <strong>der</strong><br />

Rezession) immerhin noch 21. Heute sind lediglich acht<br />

AAA-Unternehmen übrig geblieben. Wer daran zweifelt,<br />

ob die rapide Zunahme <strong>der</strong> Verschuldung tatsächlich<br />

ursächlich für den Kursverfall ist, muss nur die Anlageperformance<br />

dieser Unternehmen analysieren. Während<br />

<strong>der</strong> Dow zwischen Januar 2000 <strong>und</strong> Ende Juli 2002 um<br />

knapp 28 Prozent fiel, gingen die Kurse <strong>der</strong> Unternehmen<br />

mit AAA-Rating nur um 9,7 Prozent zurück (Schaubild 2).<br />

In <strong>der</strong> Rezession geraten nicht nur hoch verschuldete<br />

Unternehmen wie die Telekomfirmen in finanzielle Notlagen,<br />

weil sie ihre Verbindlichkeiten lediglich mit Mühe<br />

bedienen können. Mittlerweile werden Dividenden in den<br />

USA häufig aus dem Kapital gezahlt. Im Jahr 2000 wurden<br />

gut 70 Prozent <strong>der</strong> Gewinne nach Steuern an die<br />

Aktionäre ausgeschüttet; im ersten Quartal 2002 waren<br />

es über 180 Prozent. Unternehmen neigen dazu, Dividenden<br />

möglichst auf konstanter Höhe zu halten. Doch in <strong>der</strong><br />

<strong>Krise</strong> wird aus <strong>der</strong> weit verbreiteten Usance eine Gefahr,<br />

wenn immer mehr Firmen ihre Kapitalreserven angreifen,<br />

um den Offenbarungseid vor den Aktionären zu vermeiden.<br />

Hierbei handelt es sich keineswegs um einen immer<br />

wie<strong>der</strong> in Rezessionen anzutreffenden Vorgang – das<br />

letzte Mal, als <strong>der</strong> US-Unternehmenssektor als Ganzes<br />

Dividenden aus dem Kapital zahlte, war während <strong>der</strong><br />

Großen Depression zu Beginn <strong>der</strong> 1930er Jahre.<br />

Eigentlich sagt die mo<strong>der</strong>ne Finanztheorie: Schulden o<strong>der</strong><br />

Eigenkapital, na <strong>und</strong>? Nach dem berühmten Modigliani-<br />

Miller-Theorem verän<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong> Wert einer Firma<br />

nicht, wenn <strong>der</strong> Finanzierungsmix modifiziert wird. In <strong>der</strong><br />

Realität ist zumeist die Schuldenaufnahme „billiger“, weil<br />

steuerlich begünstigt. Jahrzehntelang war kaum zu erklären,<br />

warum Firmen sich nicht viel kräftiger verschuldeten.<br />

Aber seit den 1980er Jahren haben sie die Lektion gelernt<br />

– wie die schwindende Zahl <strong>der</strong> AAA-Unternehmen zeigt.<br />

Die Folgen werden heute sichtbar. Dabei besteht die<br />

Gefahr noch ungleich größerer Verwerfungen. Noch 1997<br />

betrug <strong>der</strong> Gesamtwert <strong>der</strong> von den (nicht finanziellen)<br />

Unternehmen bezahlten Zinsen 423 Mrd. US-Dollar;<br />

heute, im Jahr 2002, sind es (annualisiert) 554 Mrd.,<br />

eine Zunahme um 31 Prozent. Gleichzeitig sind aber die<br />

15


Profite um 13 Prozent niedriger ausgefallen, sodass im<br />

Laufe dieses Jahres die Unternehmen mehr Zinsen zahlen<br />

werden, als sie Gewinne nach Steuern erwirtschaften.<br />

Hinzu kommt, dass <strong>der</strong>zeit <strong>der</strong> Schuldenberg mit relativ<br />

geringen Zinsen bedient wird. Sollten die Zinsen nach<br />

ihrem zurzeit ungewöhnlichen Tief wie<strong>der</strong> steigen,<br />

so werden noch viel mehr Firmen schnell in die Gefahr<br />

geraten, Zins <strong>und</strong> Tilgung nicht mehr leisten zu können.<br />

Wenn die Zinsen auch nur auf das durchschnittliche<br />

Niveau <strong>der</strong> Jahre 1985 bis 2001 steigen würden, würden<br />

Zahlungen in Höhe von 733 Mrd. US-Dollar fällig, ein<br />

Drittel mehr als heute <strong>und</strong> 73 Prozent mehr als 1997.<br />

Auch wenn damit noch nicht automatisch die Pleite<br />

programmiert ist – für viele Unternehmen dürfte wohl nur<br />

die Restrukturierung mittels Chapter elf usw. bleiben.<br />

Damit aber ist <strong>der</strong> traditionelle Zusammenhang von Unternehmensgewinnen<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftswachstum radikal<br />

verän<strong>der</strong>t worden. Wegen <strong>der</strong> höheren Schuldenlast <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> schmalen Kapitalbasis <strong>der</strong> Unternehmen wachsen<br />

die Gewinne im Boom deutlich schneller als früher, aber<br />

sie brechen auch schneller ein, wenn das Wachstum<br />

schwächelt. Schaubild 4 zeigt den Zusammenhang von<br />

Unternehmensgewinnen <strong>und</strong> Wirtschaftswachstum in den<br />

USA seit 1960. Dabei zeigt die untere Linie die Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Gewinne in Abhängigkeit von den Wachstumsraten<br />

für die Jahre 1960 bis 1987. Die zweite, mit<br />

Dreiecken versehene Linie zeigt den Zusammenhang für<br />

die Jahre 1988 bis 2001.<br />

Im Durchschnitt stiegen die Unternehmensgewinne in<br />

den Jahren 1960 bis 1987 um 2,7 Prozent, wenn die<br />

US-Wirtschaft um einen Prozentpunkt schneller wuchs.<br />

Seit 1988 ist <strong>der</strong> Zusammenhang viel stärker – mit<br />

jedem Prozentpunkt Wachstum schnellen die Gewinne<br />

im Schnitt um 8,9 Prozent nach oben. Damit wurde die<br />

US-Wirtschaft insgesamt dem Hedgefond LTCM immer<br />

ähnlicher – hochprofitabel in guten Zeiten, da man sich<br />

sehr viel Geld billig borgen konnte, aber extrem schwankungsanfällig,<br />

sobald die ersten Zeichen <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> sichtbar<br />

werden. Dies aber bedeutet, dass die Aktienmärkte den<br />

Unternehmen vor allem den Spiegel für verfehlte Investitionspläne<br />

<strong>und</strong> –finanzierung vorhalten; sie sind nicht die<br />

Verantwortlichen, son<strong>der</strong>n die Boten, die <strong>der</strong>zeit für die<br />

überbrachte Nachricht gescholten werden. Es sind eben<br />

nicht nur Spekulation <strong>und</strong> Betrug, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

massive, realwirtschaftliche Verwerfungen <strong>und</strong> Ungleichgewichte,<br />

die für die <strong>Krise</strong> verantwortlich sind.<br />

Die Deutschen haben übrigens keinen Gr<strong>und</strong> zur<br />

Schadenfreude – die Eigenkapitaldecke ist hierzulande<br />

im internationalen Vergleich beson<strong>der</strong>s dünn <strong>und</strong> müsste<br />

dringend aufgestockt werden. So schwierig <strong>der</strong> Vergleich<br />

über Grenzen hinweg wegen <strong>der</strong> unterschiedlichen Bilan-<br />

Schaubild 3: Profitabilität <strong>und</strong> Dividenden amerikanischer Unternehmen in Mrd. US-Dollar<br />

2000<br />

2002*<br />

502<br />

-186<br />

308<br />

0<br />

-267<br />

0<br />

49<br />

-128<br />

Gewinne vor<br />

Steuern<br />

Steuern Dividenden Einbehaltene<br />

Gewinne<br />

Gewinne vor<br />

Steuern<br />

Steuern<br />

-329<br />

Dividenden<br />

-149<br />

Kapitalverzehr<br />

* 1. Quartal, annualisiert.<br />

Quelle: Fe<strong>der</strong>al Reserve, Bureau of Economic Analysis.<br />

16


zierungssysteme ist – die großen deutschen Industrieunternehmen<br />

liegen nach Zahlen <strong>des</strong> IDW bei den<br />

Eigenkapitalquoten noch hinter den USA. Beim Mittelstand<br />

dürfte es kaum an<strong>der</strong>s aussehen. Hier sind die<br />

Eigenmittel im Verhältnis zum Verschuldungsgrad vermutlich<br />

noch geringer (Schaubild 5). Die Gesamtverbindlichkeiten<br />

<strong>der</strong> nicht finanziellen Kapitalgesellschaften nahmen<br />

zwischen 1995 <strong>und</strong> 2000 noch schneller zu als in den<br />

USA (+75 Prozent statt +60 Prozent), <strong>und</strong> die Kredite<br />

<strong>und</strong> Unternehmensanleihen stiegen fast im Gleichschritt<br />

(+55 Prozent in Deutschland, +60 Prozent in den USA).<br />

Allerdings wurden hierzulande die aufgenommenen Mittel<br />

nur selten zum Rückkauf von Aktien verwandt – unter<br />

an<strong>der</strong>em wegen lange bestehen<strong>der</strong> rechtlicher Beschränkungen.<br />

Außerdem wurden in Deutschland lediglich zehn<br />

Prozent <strong>der</strong> Außenfinanzierung durch die Ausgabe frischer<br />

Aktien bestritten – <strong>und</strong> somit zwar mehr als in den USA,<br />

aber immer noch erstaunlich wenig, wenn man die Finanzierungsströme<br />

insgesamt betrachtet. Doch damit stiegen<br />

die Schulden schneller als die Eigenmittel, <strong>und</strong> es droht<br />

die Aushöhlung <strong>der</strong> Bilanzen wie in den USA. Die große<br />

Pleitewelle <strong>der</strong> Jahre 2001 bis 2002, die historische<br />

Höchststände in Deutschland erreicht hat, zeigt die Gefahren<br />

nur zu deutlich. Sie ist allerdings nur die Spitze<br />

eines längerfristigen Trends. Seit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

ist je<strong>des</strong> Jahr die Zahl <strong>der</strong> Insolvenzen in Deutschland<br />

angestiegen.<br />

Im letzten Jahrzehnt, das angeblich das Zeitalter <strong>der</strong><br />

Aktie war, nutzten nur sehr wenige Firmen die Ausgabe<br />

von Eigenkapital als Finanzierungsinstrument. Häufig<br />

wurden beim Börsengang keine o<strong>der</strong> nur wenige frische<br />

Mittel aufgebracht. Netto war <strong>der</strong> Finanzierungsbeitrag<br />

häufig negativ; die IPOs <strong>der</strong> Firmen am Neuen Markt <strong>und</strong><br />

an <strong>der</strong> NASDAQ wurden mehr als aufgewogen durch die<br />

Aktienrückkäufe etablierter Firmen. Damit aber wird das<br />

eigentliche Paradox <strong>des</strong> letzten Jahrzehnts sichtbar –<br />

einerseits explodierten die Kurse, unter an<strong>der</strong>em auch<br />

wegen <strong>des</strong> reduzierten Angebots, sodass die Größe <strong>der</strong><br />

Aktienmärkte relativ zum Bruttosozialprodukt fast überall<br />

historische Höchststände erreichte. Gleichzeitig aber<br />

wurde selten ein so geringer Anteil <strong>der</strong> Investitionen über<br />

die Ausgabe von Aktien bezahlt. Ein zentraler Faktor für<br />

die Vertrauenskrise <strong>und</strong> den Kursverfall sind somit die Abkehr<br />

von <strong>der</strong> Aktie als Finanzierungsinstrument <strong>und</strong> die<br />

Schuldenaufnahme zum Rückkauf <strong>der</strong> eigenen Anteile.<br />

Was für jede einzelne Firma durchaus sinnvoll sein kann,<br />

wird für die Volkswirtschaft als Ganzes zur Gefahrenquelle.<br />

Schon die englischen Ökonomen <strong>des</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

schrieben über die „Tragödie <strong>der</strong> Allmende“ – die Tatsache,<br />

dass die Dorfweide immer zu intensiv genutzt wird,<br />

solange niemand individuelle Eigentumsrechte an ihr hat.<br />

Ganz ähnlich die Lage <strong>der</strong> Wirtschaft heute – niemand<br />

bestraft die Unternehmen für die Schuldenberge, die sie<br />

Schaubild 4: Zusammenhang von Unternehmensgewinnen <strong>und</strong> Wirtschaftswachstum in den USA seit 1960<br />

Gewinn (logarithmiert)<br />

1,5<br />

1<br />

0,5<br />

0<br />

1974<br />

1980<br />

1979<br />

1991<br />

1990<br />

1982<br />

1970<br />

2001<br />

1996<br />

1995<br />

2000<br />

1999<br />

1993<br />

1992<br />

1988<br />

1985<br />

1989<br />

1978<br />

1987<br />

1977<br />

1967<br />

1973<br />

1975 1981<br />

1969<br />

1994<br />

1998<br />

1963<br />

1966<br />

1965<br />

1976<br />

1972<br />

1964<br />

1962<br />

1960<br />

1961<br />

1988 bis 2001<br />

1960 bis 1987<br />

Wachstum<br />

-5% 0 +5% +10%<br />

1983<br />

1968<br />

1997<br />

1971<br />

1984<br />

17


Schaubild 5: Verhältnis Eigenkapital zu Verbindlichkeiten<br />

(Produzieren<strong>des</strong> Gewerbe, 1998)<br />

90%<br />

Neue Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

70%<br />

Alte Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

50%<br />

30%<br />

10%<br />

0%<br />

100<br />

Umsätze in Mio. DM<br />

Quelle: Deutsche Bun<strong>des</strong>bank.<br />

anhäufen. Die Märkte reagieren oft zu spät. Für je<strong>des</strong><br />

einzelne „rechnete“ sich noch ein bisschen mehr corporate<br />

paper hier, noch ein Kredit dort, da die EK-Rendite<br />

anstieg <strong>und</strong> die Aktionäre sich lange über die niedrigeren<br />

Kapitalkosten freuten – ganz ähnlich wie bei <strong>der</strong> zusätzlichen<br />

Kuh, die man auf die Allmende stellt. Doch wenn<br />

dies je<strong>der</strong> tut, wird plötzlich aus <strong>der</strong> blühenden Weide ein<br />

kaputt getrampelter Abstellplatz. So auch bei <strong>der</strong> Schuldenpolitik<br />

<strong>der</strong> Unternehmen. Für die allgemeinen Risiken,<br />

die so für Wachstum <strong>und</strong> Stabilität entstehen, zahlt <strong>der</strong>zeit<br />

kein Unternehmen. Solange die Firma selbst nicht in<br />

die Insolvenz gerät, ist alles in Ordnung. Die gesamtwirtschaftlichen<br />

Folgen bleiben unbeachtet, da die Eigenkapitalquoten<br />

nicht reguliert werden. Statt<strong>des</strong>sen treibt<br />

die Ungleichbehandlung von Zinsen <strong>und</strong> Dividenden die<br />

Firmen in die Schuldenkrise – nach Steuern ist Kreditfinanzierung<br />

fast immer billiger, trotz Modigliani-Miller.<br />

Ein erster <strong>und</strong> dringend notwendiger Schritt wäre <strong>des</strong>halb<br />

die steuerliche Gleichbehandlung von Fremd- <strong>und</strong> Eigenkapitalfinanzierung.<br />

Damit würde auch <strong>der</strong> Anreiz zu<br />

Aktienrückkäufen reduziert.<br />

Der Mangel an <strong>der</strong>artiger Regulation gilt für alle Unternehmensbereiche<br />

– mit einer Ausnahme: die Banken.<br />

Hier haben die bitteren Erfahrungen mit Bankenkrisen<br />

in den letzten 200 Jahren in allen entwickelten Län<strong>der</strong>n<br />

dazu geführt, dass den Finanzinstituten eine Min<strong>des</strong>t-<br />

Kapitaldecke vorgeschrieben wird. Diese wurde mittlerweile<br />

in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Baseler Kapitalrichtlinien sogar institutionalisiert.<br />

Vieles spricht dafür, dass ähnliche Regeln<br />

auf den Unternehmenssektor insgesamt angewandt werden<br />

sollten. Droht bei je<strong>der</strong> Rezession eine Pleitewelle immer<br />

höheren Ausmaßes, beginnt die Akzeptanz <strong>der</strong> Marktwirtschaft<br />

selbst zu schwinden. Wo hingegen den Firmen<br />

vom Staat eine Min<strong>des</strong>tkapitalquote vorgeschrieben wird,<br />

können auch unvorhergesehene <strong>Krise</strong>n überw<strong>und</strong>en<br />

werden. Pleitewelle <strong>und</strong> Arbeitsplatzverluste bleiben aus;<br />

<strong>der</strong> gesamtwirtschaftlichen Stabilität wäre so ein erheblicher<br />

Dienst erwiesen. Drastische Zunahmen <strong>der</strong> Profitabilität<br />

pro Aktie, getrieben durch Rückkäufe <strong>und</strong> Schuldenmacherei,<br />

wären ebenso unmöglich wie <strong>der</strong> plötzliche<br />

Einbruch in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>. Damit würden höhere Gewinne<br />

zum Teil gegen mehr Sicherheit <strong>und</strong> Stabilität eingetauscht.<br />

Der Tausch wird sich wahrscheinlich lohnen. Mit<br />

dem größeren Vertrauen in die Überlebensfähigkeit <strong>der</strong><br />

Unternehmen stiege auch die Konsumneigung <strong>der</strong> Bürger<br />

wie<strong>der</strong> an, <strong>und</strong> bei geringerer Volatilität <strong>der</strong> Aktienkurse<br />

würden die sich selbst verstärkenden Zyklen von Investitionsneigung,<br />

Wachstum, Gewinnsituation, Konsumentenvertrauen<br />

<strong>und</strong> Kursentwicklung stabiler werden.<br />

18


Mehr Staat, weniger Politik<br />

Manchester- <strong>und</strong> Raubtierkapitalismus, <strong>der</strong> Schrecken<br />

<strong>des</strong> entfesselten Marktes mit dem Kapitalmarkt als eigentlichem<br />

Unglücksbringer – so sehen viele Beobachter die<br />

Situation heute, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ruf nach <strong>der</strong> Politik, nach einer<br />

Rückkehr zur lenkenden Hand <strong>des</strong> Staates wird lauter.<br />

Die Probleme, die seit dem Wachstumseinbruch in den<br />

USA erkennbar werden, sind in <strong>der</strong> Tat bestürzend.<br />

Märkte, so man sie sich allein überlässt, funktionieren<br />

nicht immer <strong>und</strong> kennen lange Phasen <strong>der</strong> Übertreibung<br />

<strong>und</strong> Instabilität. Doch <strong>der</strong> Ruf nach einer Repolitisierung<br />

<strong>der</strong> Märkte ist <strong>der</strong> falsche Weg. Umfassende Reformen<br />

sind in <strong>der</strong> Tat notwendig, aber sie müssen die Rolle <strong>des</strong><br />

Staates als Schiedsrichter im Wirtschaftsprozess stärken –<br />

statt die Politik selbst an den Ball zu lassen.<br />

Regeln für ein bestimmtes Min<strong>des</strong>teigenkapital aufzustellen,<br />

zu überwachen <strong>und</strong> gegebenenfalls zu sanktionieren,<br />

ist „mehr Staat“ im besten Sinne. Über die Notenbank<br />

Zinspolitik zu machen, um den Aufschwung nicht abreißen<br />

zu lassen, ist „Politik“ im schlechtesten Sinne.<br />

Auch die Rahmenbedingungen für unternehmerische<br />

Entscheidungen können <strong>und</strong> müssen schärfer reguliert<br />

werden. Eine genauere Analyse zeigt: Die wirtschaftliche<br />

Instabilität, die angeblich von den Aktienmärkten auszugehen<br />

droht, ist zu einem erheblichen Teil durch die Verschuldungspolitik<br />

<strong>der</strong> Unternehmen bedingt. Hier kann<br />

<strong>und</strong> sollte <strong>der</strong> Staat eingreifen, da übergeordnete Werte<br />

wie ökonomische Stabilität bedroht sind. Statt mit öffentlichen<br />

Reden <strong>und</strong> Zinsschritten, „Firmenrettungen“ <strong>und</strong><br />

Son<strong>der</strong>abschreibungen die Feinsteuerung im Wirtschaftsprozess<br />

selbst übernehmen zu wollen, sollte er die Gr<strong>und</strong>regeln<br />

für stabiles Wirtschaften modifizieren.<br />

Nur ein Staat, <strong>der</strong> sich auf seine Kernfunktionen beschränkt,<br />

ist auch ein „starker“ Staat. Wir argumentieren,<br />

dass zu diesen Funktionen auch Regeln für die Wirtschaft<br />

gehören. Zu den ersten Schritten sollten die Abschaffung<br />

<strong>der</strong> Ungleichbehandlung von Zinszahlungen <strong>und</strong> Dividenden,<br />

Min<strong>des</strong>tkapitalquoten für alle Unternehmen sowie<br />

eine Rückbesinnung <strong>der</strong> Zentralbankpolitik auf die Inflationsbekämpfung<br />

gehören. Viel <strong>des</strong> falschen Zaubers in<br />

den letzten Jahren kann vermieden werden, wenn Firmen<br />

nicht mehr dem bizarren Anreiz zur Maximierung ihrer<br />

Schuldenquote unterworfen werden <strong>und</strong> durch Min<strong>des</strong>tquoten<br />

die makroökonomischen Folgen <strong>der</strong> Überschuldung<br />

vermieden werden können. Eine Umorientierung<br />

<strong>der</strong> Zentralbankpolitik würde die Politisierung <strong>der</strong> Märkte<br />

reduzieren <strong>und</strong> die Volatilität wegen immer neuer,<br />

orakeln<strong>der</strong> Deutungen <strong>der</strong> Wirtschaftslage seitens <strong>der</strong><br />

Notenbank reduzieren.<br />

Schon einmal, in den Dreißigerjahren <strong>des</strong> vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, fand angesichts einer dramatischen Wirtschaftskrise<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> scheinbar <strong>des</strong>tabilisierenden Rolle<br />

<strong>der</strong> Kapitalmärkte ein „Aufstand gegen den Markt“ statt.<br />

In vielen Län<strong>der</strong>n folgten auf den Börsencrash von 1929,<br />

den Wachstumseinbruch <strong>der</strong> Großen Depression <strong>und</strong><br />

die millionenfache Arbeitslosigkeit nicht nur die massive<br />

staatliche Intervention im Wirtschaftsleben, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Auslöschung <strong>der</strong> Demokratie. Von den 26 Demokratien,<br />

die es in Europa 1920 gab, waren 1939 gerade<br />

noch 13 übrig. Und selbst wo Rechtsstaat <strong>und</strong> Parlamentarismus<br />

überlebten, übernahm <strong>der</strong> Staat einen erheblichen<br />

Teil <strong>der</strong> Wirtschaftslenkung direkt. In vielen Volkswirtschaften<br />

sank die Rolle <strong>der</strong> Aktienmärkte im Wirtschaftsprozess<br />

auf nahe Null, <strong>und</strong> so blieb es viele<br />

Jahrzehnte.<br />

Nur in wenigen Län<strong>der</strong>n wurden die Märkte nicht an den<br />

Rand gedrängt – <strong>und</strong> dort gelang es mit Hilfe neuer Institutionen,<br />

<strong>der</strong> kriminellen Machenschaften Herr zu werden<br />

<strong>und</strong> begründetes Vertrauen in die Spielregeln <strong>und</strong> Spieler<br />

sowie den Schiedsrichter aufzubauen. Unter Franklin D.<br />

Roosevelt wurde Joseph Kennedy zum ersten Chairman<br />

<strong>der</strong> SEC ernannt – <strong>und</strong> <strong>der</strong> im Alkoholschmuggel reich<br />

gewordene Vater von JFK räumte tatsächlich auf. Wie die<br />

Amerikaner sagen – „it takes a thief to catch one“. Mit<br />

Prozessen gegen Insi<strong>der</strong>handel <strong>und</strong> hohen Strafgebühren<br />

wurde <strong>der</strong> Sumpf fragwürdiger Machenschaften an <strong>der</strong><br />

Wall Street trockengelegt. In vielen an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n<br />

dauerte es oft noch Jahrzehnte, bevor die ersten Insi<strong>der</strong>verfahren<br />

angestrengt wurden. In den entwickelten Län<strong>der</strong>n<br />

muss heute ein ähnlich radikaler Sprung nach vorn<br />

bei <strong>der</strong> Regulierung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong> staatlichen<br />

Aufsicht gelingen. So lassen sich die extremen Schwankungen<br />

an den Kapitalmärkten abmil<strong>der</strong>n. Im Gegensatz<br />

beispielsweise zur frühen Neuzeit ist heute <strong>der</strong> Staat groß<br />

<strong>und</strong> (zumin<strong>des</strong>t potenziell) auch informiert genug, um<br />

das geregelte Funktionieren <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> zu sichern.<br />

Eine mit dem Markt vereinbarte Vorgehensweise muss<br />

auch nicht unpopulär sein. Nach den jüngsten Umfragen<br />

sind erstmals seit 1996 mehr Menschen <strong>der</strong> Ansicht,<br />

dass die soziale Marktwirtschaft in Deutschland vor<br />

allem mehr Markt braucht <strong>und</strong> nicht zusätzliche soziale<br />

Absicherung. F.D. Roosevelt, <strong>der</strong> als Demokrat eigentlich<br />

zu deutlich interventionistischeren Maßnahmen hätte<br />

greifen müssen, wurde dreimal wie<strong>der</strong>gewählt – häufiger<br />

als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e US-Präsident.<br />

19


3. Schluss mit <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Ausreden –<br />

Unter Schrö<strong>der</strong> entwickelte sich die deutsche Wirtschaft<br />

so schlecht wie seit den Ölkrisen nicht mehr<br />

Schrö<strong>der</strong>s Leistungen in <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong> sind schlechter als die fast<br />

aller Nachkriegskanzler – <strong>und</strong> die Arbeitslosigkeit ist noch nicht einmal<br />

das Hauptproblem. Der Konjunkturabschwung <strong>der</strong> Jahre 2001 <strong>und</strong> 2002<br />

<strong>und</strong> die <strong>Krise</strong> in Amerika sind keine ausreichenden Erklärungen für die<br />

Wirtschaftskrise Deutschlands. Ein Blick ins Ausland lehrt – die <strong>Krise</strong> ist<br />

hausgemacht; die Regierung Schrö<strong>der</strong> redet sich heraus. Wo bei unseren<br />

Nachbarn <strong>Wirtschaftspolitik</strong> mit statt gegen den Markt gemacht wurde,<br />

brummt auch die Wirtschaft.<br />

Wie schlecht die Zeiten wirtschaftlich sind, ist nicht mehr<br />

allein den Reden <strong>der</strong> Opposition zu entnehmen. In den<br />

Statistiken von OECD, Eurostat <strong>und</strong> Statistischem Bun<strong>des</strong>amt<br />

ist die <strong>Krise</strong> unübersehbar. Deutschland ist mittlerweile<br />

Schlusslicht bei den Wachstumsraten in <strong>der</strong> Europäischen<br />

Union, die international vergleichenden Studien<br />

über Wettbewerbsfähigkeit sehen das Land auf den hinteren<br />

Rängen, <strong>und</strong> die Arbeitslosigkeit steigt, nach einer<br />

kurzen Erholung in den Jahren 2000 <strong>und</strong> 2001, wie<strong>der</strong><br />

an. Die Zahl <strong>der</strong> Unternehmenspleiten ist im ersten<br />

Halbjahr 2002 auf Rekordniveau gestiegen. Als Gerhard<br />

Schrö<strong>der</strong> in seiner letzten Regierungserklärung vor dem<br />

Bun<strong>des</strong>tag die Wirtschaft als robust <strong>und</strong> leistungsstark<br />

bezeichnete, haben sich wohl viele Bürger gew<strong>und</strong>ert, in<br />

welchem Land <strong>der</strong> Kanzler wohl lebt. Die Entschuldigungen<br />

– <strong>der</strong> 11. September, die Konjunkturkrise in Amerika,<br />

die Enron- <strong>und</strong> WorldCom-Pleiten – mag niemand so<br />

recht glauben. Und die neuesten Vorschläge <strong>der</strong> Hartz-<br />

Kommission zur Bekämpfung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit erscheinen<br />

eher als Wahlkampftaktik denn als ernstgemeinter<br />

Vorschlag.<br />

Die Wirtschaftskompetenz ist zum zentralen Thema <strong>des</strong><br />

Wahlkampfes geworden <strong>und</strong> wird auch von <strong>der</strong> Flutkatastrophe<br />

nicht in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt. Nach<br />

einer Umfrage <strong>des</strong> Instituts für Demoskopie Allensbach<br />

aus dem Juli 2002 waren 80 Prozent <strong>der</strong> deutschen Führungskräfte<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong> <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung<br />

unzufrieden; 60 Prozent hielten die CDU für kompetenter.<br />

Die Umfragen in <strong>der</strong> Bevölkerung führen zu ähnlichen<br />

Ergebnissen. Doch wie schlecht ist die wirtschaftliche<br />

Leistung <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung wirklich? Und was ist dran<br />

an den immer wie<strong>der</strong> zu hörenden Erklärungen, dass <strong>der</strong><br />

weltweite Wachstumseinbruch für die Schwierigkeiten in<br />

Deutschland verantwortlich sei? Wir verwenden einen<br />

international anerkannten Indikator für die Performance<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong> <strong>und</strong> versuchen, neue Antworten zu<br />

geben. Um die deutsche Entwicklung in den internationalen<br />

Kontext zu stellen <strong>und</strong> die Folgen <strong>der</strong> internationalen<br />

Verlangsamung <strong>des</strong> Wachstums angemessen zu berücksichtigen,<br />

betrachten wir außerdem die an<strong>der</strong>en großen<br />

Län<strong>der</strong> Europas sowie die USA.<br />

Das Maß <strong>der</strong> Misere<br />

Der Harvard-Ökonom Robert Barro hat einen so genannten<br />

„Misery Index“ entwickelt, <strong>der</strong> Glanz <strong>und</strong> Elend <strong>der</strong><br />

<strong>Wirtschaftspolitik</strong> messen soll. Als Barro das letzte Mal<br />

seinen Index auf den neuesten Stand brachte, lautete<br />

seine Frage – wer war wirtschaftlich <strong>der</strong> beste Präsident<br />

Tabelle 1: „Barro Misery Index“ für die USA<br />

Rang Regierungschef Gesamt Arbeitslosigkeit Inflation Wachstum Zinsen<br />

1 Reagan – 10,90 0,37 – 8,85 0,19 – 2,61<br />

2 Clinton – 4,07 – 2,29 – 0,45 – 0,35 – 0,98<br />

3 Kennedy – 0,73 0,40 0,09 – 1,09 – 0,12<br />

4 Johnson – 0,42 – 1,47 1,33 – 1,92 1,65<br />

5 Bush Jr. 0,00 1,09 – 0,97 1,20 – 1,33<br />

6 Bush Sr. 1,19 0,81 0,26 1,96 – 1,84<br />

7 Nixon 3,06 1,43 0,77 – 0,33 1,19<br />

8 Carter 6,57 – 1,16 3,94 – 0,05 3,85<br />

9 Ford 7,49 2,38 2,41 1,92 0,77<br />

20


<strong>der</strong> Nachkriegszeit, Reagan o<strong>der</strong> Clinton? Dabei gehen<br />

vier Indikatoren ein – die Wachstumsrate, die Inflation,<br />

die Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> die langfristigen Zinsen.<br />

Wir haben Barros Zahlen auf den neuesten Stand gebracht<br />

<strong>und</strong> auch Bush Jr. berücksichtigt; außerdem weisen<br />

wir die Zahlen pro Präsident statt für jede Amtszeit<br />

getrennt aus. Reagan schlägt Clinton immer noch, trotz<br />

<strong>des</strong> märchenhaften Booms in den 1990er Jahren.<br />

Und Bush Jr. steht fast so schlecht da wie sein Vater.<br />

„It’s the economy, stupid!“, <strong>der</strong> Wahlslogan Clintons<br />

1992, könnte auch dem Sohn gefährlich werden, wenn<br />

sich die Konjunkturlage in den USA nicht bald aufhellt.<br />

Natürlich kann man über die verwendeten Indikatoren<br />

streiten. Konsensfähig aber dürfte sein, dass eine <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

gescheitert ist, wenn sie we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Inflation,<br />

beim Wachstum, bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit noch<br />

bei den Zinsen zu Verbesserungen führt. Nützlich ist die<br />

größere Zahl von Indikatoren unter an<strong>der</strong>em <strong>des</strong>halb,<br />

weil „trade-offs“ mit einbezogen werden. So können beispielsweise<br />

kurzfristige Fortschritte bei Wachstum <strong>und</strong><br />

Arbeitslosigkeit um den Preis höherer Inflation erkauft<br />

worden sein. Die umfassende Betrachtungsweise macht<br />

den Barro Indikator nützlicher als <strong>der</strong> oft zu hörende Vergleich<br />

mit den Wachstumsraten an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong>. Auch die<br />

„Erblasten“ <strong>der</strong> Vorgänger – schon unter Kohl eine beliebte<br />

Entschuldigung, die auch die Regierung Schrö<strong>der</strong> in ihren<br />

ersten Jahren nicht verschmähte – werden insofern berücksichtigt,<br />

als <strong>der</strong> Barro-Index den Durchschnittswert<br />

unter dem jeweiligen US-Präsidenten mit den Kennziffern<br />

vor <strong>der</strong> Regierungsübernahme vergleicht.<br />

Wir haben den Barro Misery Index für die Bun<strong>des</strong>republik<br />

seit 1950 berechnet. Schrö<strong>der</strong> liegt auf Rang fünf unter<br />

den sieben deutschen Nachkriegskanzlern <strong>und</strong> somit weit<br />

hinter den Regierungschefs mit den geringsten „Elends-<br />

Kennziffern“ – denen, die die Wirtschaftssituation <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> beson<strong>der</strong>s deutlich verbessern konnten. Nur<br />

die sozialdemokratischen Kanzler Brandt <strong>und</strong> Schmidt<br />

schneiden noch schlechter ab als Schrö<strong>der</strong>. Damit gilt –<br />

die ersten vier Plätze gehen an die Kanzler <strong>der</strong> CDU,<br />

die letzten drei an die <strong>der</strong> SPD. Ein Zufall?<br />

Tabelle 1 zeigt, dass <strong>der</strong> Weg zu einem guten Listenplatz<br />

sehr verschieden sein kann. Adenauer schlug sich bei<br />

Arbeitslosigkeit, Wachstum <strong>und</strong> Inflation hervorragend,<br />

konnte aber bei den Zinsen nicht punkten. Ihm kam allerdings<br />

die beson<strong>der</strong>s schlechte Ausgangssituation 1949<br />

zu Hilfe, die noch geprägt war von Kriegsschäden <strong>und</strong><br />

Besatzungszeit. Kiesinger hingegen brachte die Inflation<br />

unter Kontrolle <strong>und</strong> konnte einen Weg aus dem Wachstumsloch<br />

unter Erhard finden. Kohl schließlich schneidet<br />

extrem schlecht bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> den Wachstumsraten<br />

ab; gleichzeitig sanken in seinen Jahren als<br />

Kanzler die Zinsen <strong>und</strong> die Inflation kräftig. Hier half<br />

die Überwindung <strong>der</strong> Ölkrise, die die Ausgangssituation<br />

vor <strong>der</strong> Regierungsübernahme vor allem bei den Preissteigerungen<br />

<strong>und</strong> den Zinsen verschlechterte <strong>und</strong> so<br />

Gelegenheit zu schnellen Erfolgen gab.<br />

Das untere Ende <strong>der</strong> Tabelle zeigt, dass ebensoviele Wege<br />

ins wirtschaftliche Unglück wie zur Prosperität führen<br />

können. Unter Brandt ging die Arbeitslosigkeit etwas<br />

zurück, <strong>und</strong> die massiven Konjunkturprogramme nach<br />

Tabelle 2: „Barro Misery Index“ für die Bun<strong>des</strong>republik Deutschland<br />

Rang Regierungschef Gesamt Arbeitslosigkeit Inflation Wachstum Zinsen<br />

1 Adenauer – 13,66 – 3,5 – 5,5 – 4,66 0<br />

2 Kiesinger – 2,15 0,57 – 1,3 – 0,62 – 0,8<br />

3 Kohl – 1,36 3,3 – 3,0 2,94 – 4,6<br />

4 Erhard – 0,43 – 0,07 – 0,1 – 0,13 – 0,13<br />

5 Schrö<strong>der</strong> 0,46 – 1,3 – 0,24 2,8 – 0,8<br />

6 Schmidt 2,01 2,95 – 2,4 2,96 – 1,5<br />

7 Brandt 6,71 – 0,23 3,8 – 0,46 3,6<br />

Erläuterung: Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Inflation berechnet als Differenz <strong>des</strong> Durchschnitts während <strong>der</strong> Kanzlerschaft zum Wert <strong>des</strong> letzten Monats vor<br />

Amtsantritt. Die Wachstumsvariable ist die Differenz zwischen <strong>der</strong> durchschnittlichen Wachstumsrate <strong>des</strong> BSP pro Beschäftigtem im langfristigen<br />

Durchschnitt <strong>der</strong> Jahre 1950 bis 1998 vom Durchschnitt <strong>der</strong> Amtszeit – unter Adenauer war das Wachstum also um 4,66 Prozent höher als im<br />

langfristigen Mittel. Die Zinsvariable ergibt sich aus <strong>der</strong> Differenz <strong>der</strong> langfristigen Umlaufrendite von Anleihen inländischer Emittenten im letzten<br />

Amtsjahr <strong>und</strong> vor Amtsantritt. „Gesamt“ ist die Summe aller Indikatoren. Für die Amtszeit Adenauers weist die Bun<strong>des</strong>bank erst ab 1955 Zahlen<br />

über die Rendite langfristiger Anleihen aus. Es wurde <strong>des</strong>halb die Zahl dieses Jahres verwendet. Die Ziffern für die Amtszeit Schrö<strong>der</strong>s sind auf<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Daten bis einschließlich Juli 2002 errechnet.<br />

21


keynesianischem Rezept konnten das Wachstum leicht<br />

erhöhen. Gleichzeitig aber schnellten Inflation <strong>und</strong> Zinsen<br />

so stark nach oben, dass er den zweifelhaften Ruhm hat,<br />

<strong>der</strong> wirtschaftlich am wenigsten erfolgreiche Kanzler<br />

<strong>der</strong> Nachkriegszeit zu sein. Seinem Nachfolger Helmut<br />

Schmidt hingegen gelang es, die Inflation unter Kontrolle<br />

zu bringen; die Zinsen sanken wie<strong>der</strong>. Gleichzeitig aber<br />

brach das Wachstum ein – mit hochgradig negativen<br />

Folgen für die Beschäftigungslage.<br />

Unter Schrö<strong>der</strong> ist Wachstum das Problem Nummer eins<br />

– eine Abweichung vom langfristigen Wachstumspfad um<br />

2,3 Prozentpunkte ist dramatisch. Bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

hingegen weist <strong>der</strong> Barro Index für Schrö<strong>der</strong> sogar eine<br />

Verbesserung auf – 1997 ist wegen hoher Arbeitslosigkeit<br />

als Vergleichsjahr beson<strong>der</strong>s günstig, <strong>und</strong> die Reduktion<br />

<strong>der</strong> Erwerbslosigkeit in den Jahren 2000 <strong>und</strong> 2001 hilft<br />

dem Durchschnitt. Bei Inflation <strong>und</strong> Zinsen hingegen sind<br />

kaum Verän<strong>der</strong>ungen festzustellen.<br />

Ist Schrö<strong>der</strong> also besser als sein Ruf? Interessant ist, wie<br />

sich in den letzten Jahrzehnten die als wesentlich wahrgenommenen<br />

Probleme verschoben haben. Während in<br />

den Siebzigerjahren die Inflation zum Sorgenkind Nummer<br />

eins wurde, ist es heute die Arbeitslosigkeit <strong>und</strong>, in<br />

geringerem Umfang, das Wachstum. Unser Index gewichtet<br />

diese Faktoren gleich <strong>und</strong> damit fairer als die Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Zeitgenossen, die stets auf die als beson<strong>der</strong>s<br />

drückend empf<strong>und</strong>enen Problemfel<strong>der</strong> zusätzliches<br />

Gewicht legt. Bei <strong>der</strong> ins Stocken geratenen Steigerung<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftsleistung ist die Kritik an Schrö<strong>der</strong> berechtigt.<br />

Hier schneidet er ähnlich schlecht wie Kohl ab,<br />

ohne dass die Inflationsbekämpfung dafür eine gute Entschuldigung<br />

böte. Bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit scheint Kritik<br />

weniger berechtigt zu sein. Schrö<strong>der</strong> startete mit einer<br />

extrem hohen Erwerbslosenquote <strong>und</strong> hat diese relativ<br />

erfolgreich in den ersten Jahren <strong>der</strong> Amtszeit reduziert. Im<br />

Durchschnitt ergibt sich eine Abnahme <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit,<br />

so schlecht die Zahlen <strong>des</strong> Jahres 2002 auch wie<strong>der</strong><br />

geworden sind. Bei <strong>der</strong> Verbesserung <strong>der</strong> Arbeitslosenzahlen<br />

schlägt ihn unter den deutschen Kanzlern nur<br />

Adenauer. Allerdings zeigen sich hier die Grenzen <strong>des</strong><br />

Indikators. Schwer zu berücksichtigen sind Faktoren wie<br />

<strong>der</strong> demografische Rückenwind, <strong>der</strong> eine Reduktion <strong>der</strong><br />

Arbeitslosenzahlen deutlich erleichtert hat – je<strong>des</strong> Jahr<br />

war die Anzahl <strong>der</strong> frisch gebackenen Rentner höher als<br />

die Zahl <strong>der</strong> neu in den Arbeitsmarkt eintretenden jungen<br />

Menschen. Für die Wahrnehmung <strong>und</strong> das Urteil sind<br />

nicht nur Verän<strong>der</strong>ungen ausschlaggebend – auch die<br />

absolute Höhe <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, die allgemein als unakzeptabel<br />

angesehen wird, zählt. Die Enttäuschung ist<br />

hier umso erklärlicher, als Schrö<strong>der</strong> sein selbst gestecktes<br />

Ziel einer Reduktion <strong>der</strong> Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen<br />

weit verfehlt hat.<br />

Die Politik <strong>der</strong> Ausreden <strong>und</strong> die hausgemachte <strong>Krise</strong><br />

Schrö<strong>der</strong> wurde zu einem guten Teil auch wegen <strong>der</strong><br />

Enttäuschung <strong>und</strong> wachsenden Frustration <strong>der</strong> Menschen<br />

nach <strong>der</strong> jahrelangen wirtschaftlichen Stagnation <strong>und</strong> Reformunfähigkeit<br />

unter Kohl gewählt. Nach katastrophalem<br />

Start mit Finanzminister Lafontaine sah es zunächst so<br />

aus, als ob die Regierung ihre ideologischen Scheuklappen<br />

ablegen <strong>und</strong> pragmatisch neue Wege beschreiten<br />

würde. Im Jahr 2000 schienen sich Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Regierung in ihren Auffassungen näher zu kommen.<br />

Die Steuerreform <strong>und</strong> die Freistellung von Veräußerungserlösen<br />

aus Firmenverkäufen waren Schritte in die richtige<br />

Richtung. Gleichzeitig aber wurden diese Erfolge durch<br />

Rücknahme <strong>der</strong> Minireformen unter Kohl bei <strong>der</strong> Rente,<br />

<strong>der</strong> Lohnfortzahlung <strong>und</strong> beim Kündigungsschutz diese<br />

Leistungen sofort wie<strong>der</strong> relativiert. Hektischer Aktivismus<br />

bei <strong>der</strong> „Rettung“ <strong>der</strong> Holzmann AG ging Hand in Hand<br />

mit <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> „ruhigen Hand“ Schrö<strong>der</strong>s, die immer<br />

mehr an das Aussitzen unter Kohl erinnert. Die mangelnde<br />

Kohärenz in <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong> wirkt gerade so, als<br />

hätten die Sozialdemokraten Karl Marx als ideologisches<br />

Vorbild gegen die tolpatschigen Marx Brothers eingetauscht.<br />

An wirtschaftspolitischen Fehlern herrscht also kein<br />

Mangel. Doch die Regierung versucht, die Misere durch<br />

Verweis auf den „Gegenwind <strong>der</strong> Weltwirtschaft“ zu entschuldigen.<br />

Der Barro Index berücksichtigt Verän<strong>der</strong>ungen<br />

im gesamtwirtschaftlichen Umfeld wie die weltweite<br />

Wachstumsschwäche seit 2001 nicht direkt. Es stellt sich<br />

<strong>des</strong>halb die Frage, ob diese von <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung immer<br />

wie<strong>der</strong> vorgebrachte Erklärung für das schlechte Abschneiden<br />

tatsächlich sinnvoll ist. Trotz diverser Mängel<br />

haben wir nicht den Barro Index selbst verän<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n<br />

ihn auf eine Reihe an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> angewandt. Durch<br />

den Vergleich wird damit deutlich, ob es tatsächlich<br />

einen weltweit wirksamen Trend gibt, <strong>der</strong> die höchst<br />

mittelmäßige Platzierung <strong>der</strong> Regierung Schrö<strong>der</strong> entschuldigen<br />

könnte.<br />

In den USA finden wir auf den letzten Plätzen, ähnlich<br />

wie in Deutschland, die Präsidenten aus den Siebzigerjahren,<br />

denen die Ölschocks die Bilanz verhagelten –<br />

Carter, Nixon <strong>und</strong> Ford. Clinton liegt hinter Reagan of<br />

Platz zwei, während sich Bush Jr. nur knapp vor seinem<br />

Vater auf Rang fünf behauptet. Die beiden US-Präsidenten,<br />

die zeitgleich mit Schrö<strong>der</strong> regiert haben, liegen in<br />

ihrer wirtschaftspolitischen Performance zwischen Mittel-<br />

22


Tabelle 3: „Barro Misery Index“ für Frankreich, Großbritannien, Spanien <strong>und</strong> die USA<br />

Rang Regierungschef Gesamt Arbeitslosigkeit Inflation Wachstum Zinsen<br />

Frankreich<br />

1 Mitterand – 9,4 3,5 – 8,3 1,1 – 5,7<br />

2 Chirac – 3,6 – 1,2 – 0,3 0,5 – 2,5<br />

3 de Gaulle – 0,5 0,7 – 0,3 – 1,8 0,8<br />

4 Pompidou 1,8 – 0,1 1,8 – 2,4 2,4<br />

5 Giscard d’Estaing 13,0 2,1 5,7 0,4 4,8<br />

Großbritannien<br />

1 Callaghan – 11,2 1,4 – 10,2 – 0,5 – 1,9<br />

2 Blair – 5,5 – 2,2 – 0,1 – 0,1 – 3,2<br />

3 Major – 1,6 2,5 – 3,7 1,0 – 1,5<br />

4 Thatcher 1,0 4,1 – 0,1 – 0,1 – 2,9<br />

5 Heath 3,2 0,4 2,6 – 1,4 1,7<br />

6 Wilson* 23,8 0,6 13,1 2,9 7,3<br />

Spanien<br />

1 Aznar – 12,0 – 5,2 – 1,8 1,2 – 6,2<br />

2 Gonzalez – 5,3 4,7 – 7,1 1,8 – 4,8<br />

3 Calvo-Sotelo 5,7 2,2 – 1,0 4,7 – 0,2<br />

4 Navarro 6,6 0,1 2,1 4,4 0,0<br />

5 Suarez 6,9 2,7 1,7 2,5 0,0<br />

Erläuterung: Kennzahlen errechnet wie in Tabelle 2; spanische Politiker erst ab 1974 berücksichtigt.<br />

* berechnet für die beiden Amtszeiten Wilsons.<br />

position <strong>und</strong> nah am Spitzenplatz. Damit steht Bush Jr.,<br />

<strong>der</strong> gerade zu Beginn <strong>der</strong> Rezession in den USA Präsident<br />

wurde, ungefähr da, wo Schrö<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> deutschen<br />

Rangliste zu finden ist. So weit, so gut. Nur – die relativ<br />

guten Jahre in den späten Neunzigerjahren, die Bill<br />

Clinton zu einem hervorragenden zweiten Platz verhalfen,<br />

hat Schrö<strong>der</strong> nicht nützen können. Damit aber verliert die<br />

Erklärung <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung, dass weltweite Trends die<br />

Erfolge <strong>der</strong> eigenen Politik nicht deutlich werden lassen,<br />

viel von ihrer Plausibilität. Wie wenig von dieser achselzuckenden<br />

Entschuldigung zu halten ist, wird auch deutlich,<br />

wenn man auf die an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong> blickt.<br />

Aznar liegt in Spanien klar auf Platz eins, mit Verbesserungen<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftszahlen, wie es sie in Deutschland<br />

seit Adenauer nicht mehr gab. Bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, <strong>der</strong><br />

Inflation <strong>und</strong> den Zinsen konnte <strong>der</strong> Konservative Punkte<br />

sammeln, während das Wachstum eher mo<strong>der</strong>at blieb.<br />

Die Verbesserung bei den Zinsen war vor allem eine –<br />

durch die erfolgreiche Umsetzung <strong>der</strong> Währungsunion<br />

erreichte – Annäherung an das niedrige deutsche Niveau.<br />

Wären die Zinsen in Deutschland unter Schrö<strong>der</strong> ähnlich<br />

stark gefallen wie in Spanien, dann müssten sie mittlerweile<br />

negativ sein. Dennoch ist <strong>der</strong> europäische Vergleich<br />

insgesamt fair, denn die Leistung <strong>der</strong> Regierungschefs<br />

wird ja an ihrer jeweiligen Ausgangssituation <strong>und</strong> im<br />

Vergleich mit den Vorgängern gemessen. Wenn auch in<br />

Deutschland ein Sprung bei Zinsen wie in Spanien nicht<br />

gelingen kann, weil die Ausgangslage bereits günstiger<br />

war, so ist <strong>der</strong> Vergleich unter den Regierungschefs <strong>des</strong><br />

jeweiligen Lan<strong>des</strong> sinnvoll. Schrö<strong>der</strong> liegt eben unter den<br />

deutschen Politikern sehr weit hinten, <strong>und</strong> Aznar unter<br />

den spanischen ganz vorn.<br />

Auch in Großbritannien <strong>und</strong> in Frankreich scheinen die<br />

<strong>der</strong>zeit regierenden Politiker alles an<strong>der</strong>e als benachteiligt<br />

von einem weltweiten „Gegenwind“. Chirac liegt in Frankreich<br />

auf Platz zwei, beflügelt von guten Werten bei den<br />

Zinsen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit. Ähnlich Tony Blair, <strong>der</strong><br />

ebenfalls die zweitbeste Wirtschaftsperformance seines<br />

Lan<strong>des</strong> in <strong>der</strong> Nachkriegszeit verbuchen kann. Während<br />

Wachstum <strong>und</strong> Inflation kaum verän<strong>der</strong>t sind, zeigen<br />

sich bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> den Zinsen bedeutende<br />

Erfolge. Hier half sicherlich die Entscheidung, die Bank<br />

of England nach dem Vorbild <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>bank unabhängig<br />

zu machen.<br />

23


IT’S THE ECONOMY, STUPID!<br />

Amerika hat es bekanntlich besser. Kanzler Schrö<strong>der</strong>s Amtskollege offenbar auch: Sein wirtschaftspolitischer Erfolg,<br />

so <strong>der</strong> Harvard-Ökonom Robert Barro, rückt ihn unter den Präsidenten <strong>der</strong> USA nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

auf einen Spitzenplatz. Lediglich Ronald Reagan schneidet noch ein wenig besser ab, wenn Barro seinen „Misery<br />

Index“ anlegt – den Indikator aus Inflationsrate, langfristigem Zinssatz, Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit.<br />

Mit dem Slogan „It's the economy, stupid“ gewann Bill Clinton 1992 den US-Wahlkampf. Eine umfassende<br />

Erneuerung <strong>der</strong> amerikanischen Wirtschaft stand auf dem Programm. Und er hat Wort gehalten. Ihm könnte es<br />

sogar noch gelingen, mit <strong>der</strong> besten wirtschaftlichen Entwicklung seit über fünfzig Jahren in die Geschichte <strong>der</strong><br />

USA einzugehen. Und bei uns? Mit großem Abstand angeführt von Konrad Adenauer, liegen fünf <strong>der</strong> sieben<br />

Nachkriegs-Bun<strong>des</strong>kanzler vor dem heutigen Amtsinhaber. Nach <strong>der</strong> bisherigen – zugegeben kurzen – Frist macht<br />

Ihm den letzten Platz nur noch Willy Brandt streitig.<br />

Der Vergleich läßt aber auch hoffen. Denn am besten schneiden in Amerika die letzten Amtsinhaber ab. Die<br />

Zeiten für „Turnaro<strong>und</strong>s“ sind also nicht vorbei. Gut für Schrö<strong>der</strong> <strong>und</strong> seine Truppe, die doch „vieles besser<br />

machen“ will <strong>und</strong>, nach schlechtem Start, nun mutige Schritte in die richtige Richtung unternimmt.<br />

Bei Zinsen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Inflation gibt es nur geringfügige Verschlechterungen, <strong>und</strong> zum größten Teil sind die Frankfurter<br />

Währungshüter verantwortlich. Dramatisch erscheint mir hingegen die Wachstumsschwäche. 1998 <strong>und</strong><br />

1999 lag das Wachstum weit unter dem langfristigen Durchschnitt; die homöopathische Belebung in <strong>der</strong> zweiten<br />

Jahreshälfte 1999 hat diesen Wert nur unwesentlich aufgepäppelt. Und auch die Arbeitslosigkeit, die nicht so<br />

recht wanken, geschweige denn weichen will, treibt den Misery Index nach oben.<br />

Eine unfaire Sichtweise, weil <strong>der</strong> Maßstab falsch gewählt <strong>und</strong> die Zeitspanne zu kurz ist? Nun, <strong>der</strong> Barro Index<br />

ist sicher kein wissenschaftlich exaktes Analyseverfahren: Entscheidend für den nationalen Wohlstand sind nicht<br />

vereinzelte Wirtschaftsaufschwünge <strong>und</strong> -abschwünge o<strong>der</strong> auch ein halber Prozentpunkt niedrigere Zinsen o<strong>der</strong><br />

Inflation binnen Jahresfrist. Und das deutsche Wirtschaftsw<strong>und</strong>er während <strong>des</strong> Wie<strong>der</strong>aufbaus unter Adenauer<br />

ist kaum zu wie<strong>der</strong>holen. Da hatten es Clinton <strong>und</strong> Reagan vergleichsweise leichter, die relativ mo<strong>der</strong>aten Erfolgszahlen<br />

<strong>der</strong> Regierung Eisenhower zu übertreffen. Trotzdem läßt sich am Barro Index auch bei uns ablesen, ob<br />

wesentliche Leistungsgrößen sich in die richtige Richtung bewegen.<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

Und <strong>der</strong> Beobachtungszeitraum? Gewiß, bezogen auf die Netto-Arbeitszeit einer Regierung zwischen Wahlkampfnachwehen<br />

<strong>und</strong> -vorspiel, ist jetzt noch nicht einmal Halbzeit. Trotzdem könnte sich <strong>der</strong> Wahlbürger auch jetzt<br />

schon eine bessere Bilanz vorstellen. Wie die ausssehen könnte, wage ich hier kaum zu sagen – wir haben es<br />

alle zu oft bis zum Überdruß gehört. Und trotzdem stimmt’s halt: Hätte es, zum Beispiel, statt <strong>des</strong> Fabulierens<br />

unter Lafontaine über Gewaltmaßnahmen<br />

zur Bändigung irrationaler<br />

Finanzmärkte, einige entschlossene „Barro Misery Index“ für die Bun<strong>des</strong>republik Deutschland<br />

Deregulierungsschritte gegeben ...<br />

Hätte es, statt <strong>des</strong> dilettantischen Rang Gesamt Arbeitslosigkeit Inflation Wachstum Zinsen<br />

Kampfes gegen die „Scheinselbständigkeit“,<br />

eine echte Vereinfachung 2 Kiesinger – 2,15 0,57 – 1,3 – 0,62 – 0,8<br />

1 Adenauer – 13,66 – 3,5 – 5,5 – 4,66 0,0<br />

<strong>des</strong> Steuerrechts gegeben ... Hätten<br />

3 Kohl – 1,36 3,3 – 3,0 2,94 – 4,6<br />

Sie den Sozialminister endlich die<br />

4 Erhard – 0,43 – 0,07 – 0,1 – 0,13 – 0,13<br />

Wahrheit über die Rentensituation<br />

5 Schmidt 2,01 2,95 – 2,4 2,96 – 1,5<br />

sagen lassen, statt mit <strong>der</strong> Rücknahme<br />

<strong>der</strong> Mini-Reformen unter Kohl 6 (7) Brandt 6,71 – 0,23 3,8 – 0,46 3,6<br />

das alte System noch schneller in den (6) Schrö<strong>der</strong> 3,10 0,17 0,09 2,64 0,2<br />

sicheren Bankrott zu steuern …<br />

Dann hätte auch eine so neue Regierung durchaus damit rechnen können, sich im Misery Index nicht ganz<br />

so weit hinter dem jetzt drittplazierten Vorgänger Kohl zu finden. Und erst recht nicht so nah beim Schlußlicht,<br />

<strong>der</strong> Regierung Brandt, die ja unter an<strong>der</strong>em von <strong>der</strong> ersten Ölkrise gebeutelt war. Seien wir realistisch: Bei <strong>der</strong><br />

Schwerfälligkeit <strong>des</strong> Supertankers, den Kanzler Schrö<strong>der</strong> befehligt, steuert er auf ein höchst mittelmäßiges Abschneiden<br />

zu. R<strong>und</strong>e Tische im Kanzleramt werden das nicht verhin<strong>der</strong>n. In <strong>der</strong> Steuerpolitik ist das Kommando<br />

zum Kurswechsel erteilt; schnelle Umsetzung tut Not. Und auch in an<strong>der</strong>en Fragen muß mit <strong>der</strong> gleichen pragmatischen<br />

Energie eines Hans Eichel <strong>der</strong> Befreiungsschlag versucht werden: Umstellung <strong>der</strong> Altersversorgung,<br />

Flexibilisierung <strong>der</strong> Arbeitsmärkte, Liberalisierung <strong>der</strong> Produktmärkte sind die wichtigsten Fragen.<br />

Bestärken kann uns in dieser Zuversicht das schwindende „Barro-Elend“ in den USA – kluge Politik kann,<br />

selbst bei einigen ideologischen Scheuklappen in <strong>der</strong> eigenen Partei, durchaus <strong>der</strong> wirtschaftlichen Vernunft zum<br />

Durchbruch verhelfen.<br />

Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand kommen nicht durch Umverteilung <strong>und</strong> Verunsicherung zustande –<br />

it's the economy ...<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

24


Freilich sind Blair, Chirac <strong>und</strong> Aznar schon länger im Amt<br />

als Schrö<strong>der</strong>, sodass die letzten Jahre weniger für ihre<br />

Durchschnittszahlen zählen. Doch die Entschuldigungen<br />

aus Berlin sind wenig glaubwürdig. Die einstigen, spezifisch<br />

deutschen Vorteile hingegen, wie geringe Inflation<br />

<strong>und</strong> Zinsen, sind mittlerweile in den meisten Teilen Europas<br />

anzutreffen <strong>und</strong> tragen nicht mehr zur Zufriedenheit<br />

mit den wirtschaftlichen Verhältnissen hierzulande bei.<br />

Auch wenn man die Betrachtung auf die letzten vier Jahre<br />

beschränkt, zeigt sich, dass in den an<strong>der</strong>en großen<br />

Staaten <strong>der</strong> EU einfach erfolgreichere Politik gemacht<br />

wurde. Das Kaliber <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>, dass die Kanzlerschaft<br />

Schrö<strong>der</strong>s in Rekordzeit zu beenden droht, ist weit gehend<br />

hausgemacht. Die an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong> leiden<br />

unter ähnlichen Problemen – starke Gewerkschaften in<br />

Frankreich <strong>und</strong> Spanien, <strong>der</strong> „Gegenwind“ <strong>der</strong> schwächeren<br />

Weltkonjunktur, die Notwendigkeit <strong>der</strong> Haushaltskonsolidierung<br />

nach jahrzehntelanger Misswirtschaft, getrieben<br />

von den Geboten <strong>des</strong> Stabilitätspaktes. Doch Spanien<br />

hat, trotz starker Arbeitnehmervertretungen <strong>und</strong> weit verbreiteter<br />

Versorgungsmentalität in <strong>der</strong> Bevölkerung, das<br />

heiße Eisen <strong>der</strong> Arbeitsmarktreform erfolgreich angepackt.<br />

Arbeitsverträge ohne beson<strong>der</strong>en Kündigungsschutz sind<br />

mittlerweile die Regel (bei Neueinstellungen). In Frankreich<br />

wurde selbst unter Lionel Jospin kräftig privatisiert,<br />

<strong>und</strong> Blair <strong>und</strong> Brown haben in England ähnlich stark<br />

auf den Markt gesetzt wie die Tories unter Thatcher <strong>und</strong><br />

Major. Der gemeinsame Nenner <strong>der</strong> erfolgreicheren Politik<br />

in an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n lässt sich leicht beschreiben.<br />

Keine <strong>der</strong> Maßnahmen von Aznar, Jospin o<strong>der</strong><br />

Blair ist eine echte Innovation. Statt<strong>des</strong>sen haben sie –<br />

weniger aus Leidenschaft als aus pragmatischer Einsicht –<br />

<strong>Wirtschaftspolitik</strong> mit statt gegen den Markt gemacht.<br />

Statt heißer Luft wie „Job-Floater“, Ich-AG <strong>und</strong> Job-Center<br />

wurden tatsächliche Einstellungshin<strong>der</strong>nisse beseitigt,<br />

<strong>der</strong> privaten Initiative neue Möglichkeiten eröffnet.<br />

Strukturkrise statt Konjunkturdelle<br />

Die wichtigsten Schlussfolgerungen aus dem Vergleich <strong>der</strong><br />

Barro Indices betreffen die zukünftige <strong>Wirtschaftspolitik</strong>.<br />

Erstens zeigt sich, dass eine mit statt gegen den Markt<br />

gemachte Politik auch in Europa in <strong>der</strong> Lage ist, greifbare<br />

Fortschritte bei Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Wachstum zu erzielen.<br />

Zweitens wird immer offensichtlicher, dass mit halbherzigen<br />

Reformschritten <strong>und</strong> einem eher symbolischen<br />

Sprung über den eigenen Schatten kein Staat zu machen<br />

ist. Nur mutige Reformen <strong>und</strong> kräftige Kursän<strong>der</strong>ungen –<br />

<strong>der</strong> Kampf gegen die katastrophalen Inflexibilität <strong>des</strong><br />

Arbeitsmarktes in Spanien unter Aznar, die mutige Absage<br />

an linke Experimente unter Blair <strong>und</strong> <strong>der</strong> ungewöhnliche<br />

Privatisierungseifer unter Jospin – tragen sichtbare Früchte.<br />

Das aber bedeutet – die Wirtschaftslage in Deutschland<br />

ist nicht wegen einer vorübergehenden Konjunkturdelle<br />

unbefriedigend. Vielmehr legen sich die Folgen einer<br />

schleichenden Strukturkrise wie Mehltau über das Land.<br />

Während bei allen Reförmchen Leiden vermieden werden<br />

sollen, wird <strong>der</strong> schmerzhafte Abstieg <strong>des</strong> Wirtschaftsw<strong>und</strong>er-Lan<strong>des</strong><br />

zum Hauptgr<strong>und</strong> dafür, warum<br />

die Bürger <strong>der</strong> Regierung den Rücken kehren.<br />

Wenn es tatsächlich im September zum Regierungswechsel<br />

kommt, dann zeigt sich, dass die Menschen in<br />

Deutschland immer weniger Geduld mit den Trippelschritten<br />

bei den Reformen <strong>und</strong> den immer mittelmäßigeren<br />

Ergebnissen haben. Damit aber die Erfolge tief greifen<strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ungen rechtzeitig zur Wahl 2006 auch<br />

erkennbar sind, darf die nächste Bun<strong>des</strong>regierung – egal<br />

welcher Couleur – nicht erstmal ein paar Jahre warten,<br />

bis die einheimischen Probleme angepackt werden. Statt<strong>des</strong>sen<br />

sollten ausgearbeite Pläne für die radikale Vereinfachung<br />

<strong>der</strong> Besteuerung, die Reform <strong>des</strong> Arbeitsmarktes<br />

<strong>und</strong> den Umbau <strong>der</strong> Rentenversicherung noch vor <strong>der</strong><br />

Wahl auf den Tisch. Die Verabschiedung könnte dann<br />

innerhalb von 100 Tagen nach <strong>der</strong> Regierungsübernahme<br />

geschehen, die Umsetzung noch im Laufe <strong>des</strong> Jahres<br />

2003 beginnen. Die Lähmung, die jede neue Bun<strong>des</strong>regierung<br />

angesichts <strong>der</strong> nächsten Landtagswahlen<br />

(„Denkzettel für Berlin“) erwischt, muss unbedingt vermieden<br />

werden. Vielleicht ließe sich mit schnellen<br />

Schritten <strong>und</strong> etwas mehr Leidenschaft für den Markt<br />

dafür sorgen, dass bei <strong>der</strong> nächsten Wahl niemand mehr<br />

an einen „Misery Index“ denkt, wenn es um die deutsche<br />

<strong>Wirtschaftspolitik</strong> geht.<br />

Wir vertiefen einige Themen in den folgenden Aufsätzen<br />

punktuell. Dabei gehen wir bewusst nicht auf Probleme<br />

wie Flexibilisierung <strong>des</strong> Arbeitsmarktes ein – hier gibt es<br />

keine Erkenntnis-, son<strong>der</strong>n Umsetzungsprobleme. Statt<strong>des</strong>sen<br />

betonen wir eine Reihe von Aspekten, die die<br />

Rolle von Kapitalmärkten in <strong>der</strong> Wirtschaft berühren <strong>und</strong><br />

es erlauben würden, marktwirtschaftliche Spielregeln auf<br />

neue Bereiche anzuwenden. Dabei argumentieren wir,<br />

dass trotz aller <strong>Krise</strong>nsymptome an den Aktienmärkten<br />

Deutschland ein Stück weiter nach vorn kommen kann,<br />

wenn es die Funktionsweise <strong>der</strong> Kapitalmärkte verbessert<br />

<strong>und</strong> ihren Einfluss im Wirtschaftsleben stärkt. Doch was<br />

für den Wirtschaftsprozess selbst gut ist, kann auch <strong>der</strong><br />

Politik helfen. Zu diesem Zweck schlagen wir eine marktwirtschaftlich<br />

verbesserte Form <strong>des</strong> Fö<strong>der</strong>alismus vor.<br />

25


4. Eine Bun<strong>des</strong>liga für die Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> –<br />

Wirtschaftsfö<strong>der</strong>alismus als Wettbewerbsveranstaltung<br />

Stoiber wird in seinen Fertigkeiten als „Macher“ in Bayern überschätzt;<br />

berücksichtigt man die Startvorteile <strong>des</strong> Freistaates, so schneiden Stoiber<br />

<strong>und</strong> Schrö<strong>der</strong> ähnlich erfolgreich bei <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong> ab. Deutliche<br />

Unterschiede zeigen sich jedoch bei den Parteien – die SPD regiert<br />

immer dann, wenn die Arbeitslosigkeit ansteigt <strong>und</strong> das Wachstum<br />

einbricht. In <strong>der</strong> unterschiedlichen Performance <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> liegt<br />

eine Chance für einen stärkeren Fö<strong>der</strong>alismus in <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik;<br />

um sie zu nutzen, ist mehr Wettbewerb zwischen den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n<br />

erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Im Jahr 2002 ist Wirtschaftskompetenz das zentrale<br />

Wahlkampfthema schlechthin. Das Gefühl <strong>der</strong> lähmenden<br />

<strong>Krise</strong>, das in den langen Jahren <strong>des</strong> „Reformstaus“ unter<br />

Kohl langsam wuchs, hat unter Kanzler Schrö<strong>der</strong> enorme<br />

Dimensionen erreicht. Ob bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit o<strong>der</strong> den<br />

Wachstumsraten, bei <strong>der</strong> Produktivität o<strong>der</strong> den Aktienkursen<br />

– kaum eine makroökonomische Kennziffer, die<br />

den Beobachter nicht zur Schwarzseherei verleiten würde.<br />

Das einstige Wirtschaftsw<strong>und</strong>erland <strong>der</strong> Adenauer-Jahre,<br />

die „Lokomotive <strong>der</strong> Weltwirtschaft“ unter Schmidt, belegt<br />

mittlerweile immer häufiger den letzten Platz beim Wirtschaftswachstum<br />

in <strong>der</strong> Europäischen Union. Keine<br />

Frage, in Deutschland muss dringend die richtige <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

gemacht werden. Die Wähler wissen es,<br />

<strong>und</strong> suchen nach Kandidaten mit „Wirtschaftskompetenz“.<br />

Doch wie kann dieser schwammige Begriff mit Bedeutung<br />

gefüllt o<strong>der</strong> gar gemessen werden?<br />

Unser Artikel versucht zweierlei. Erstens stellen wir dar,<br />

wie <strong>der</strong> Erfolg <strong>und</strong> das Scheitern von <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> angemessen bewertet<br />

werden kann. Zweitens diskutieren wir, wie die fö<strong>der</strong>ale<br />

Struktur besser zur Wie<strong>der</strong>gewinnung von Wachstums<strong>und</strong><br />

Beschäftigungsdynamik genutzt werden kann. Hier<br />

gibt es eine einfache <strong>und</strong> relativ schmerzlose Gelegenheit,<br />

unseren Vorschlag „Mehr Erhard, Gerhard!“ (siehe Kasten<br />

Seite 36) umzusetzen.<br />

Nationale <strong>Wirtschaftspolitik</strong> ist Zufällen aller Art ausgesetzt;<br />

bisweilen scheinen Kanzler <strong>und</strong> Finanzminister<br />

regelrecht vom Pech verfolgt. Für Einbrüche, wie sie den<br />

Ölschocks beispielsweise folgten, kann kein Kanzler. Vergleiche<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftsentwicklung unter verschiedenen<br />

Regierungsparteien sind damit konzeptionell schwierig.<br />

In <strong>der</strong> öffentlichen Debatte wird auch <strong>des</strong>halb immer<br />

wie<strong>der</strong> gern die Leistung von Kanzlerkandidaten während<br />

ihrer Zeit als Ministerpräsident als Vergleichsmaßstab herangezogen.<br />

Stoibers Befürworter betonen die boomende<br />

Biotechnologie in Bayern, den erfolgreichen Verkauf von<br />

Staatsbeteiligungen, die hohen Investitionen in Bildung<br />

<strong>und</strong> Infrastruktur. Wie Edm<strong>und</strong> Stoiber auf dem CDU-<br />

Bun<strong>des</strong>parteitag in Frankfurt verkündete: „Ich bin <strong>und</strong><br />

war <strong>der</strong> bessere Ministerpräsident als Schrö<strong>der</strong>, <strong>und</strong> ich<br />

werde <strong>der</strong> bessere Bun<strong>des</strong>kanzler sein.“ Kritiker hingegen<br />

verweisen auf die Kirch-Pleite <strong>und</strong> die staatliche Einflussnahme<br />

bei <strong>der</strong> Kreditvergabe – kurz das, was Kritiker als<br />

bajuwarischen Filz bezeichnen. Wie<strong>der</strong>holt wird beispielsweise<br />

dann versucht, die Leistungen Stoibers als Ministerpräsident<br />

mit denen Schrö<strong>der</strong>s in Nie<strong>der</strong>sachsen zu vergleichen.<br />

Tabelle 1: Wachstum <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit in den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n, 1976 bis 2001, nach Parteizugehörigkeit <strong>des</strong><br />

Ministerpräsidenten<br />

Alle Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> Alte Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> Neue Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

Wachstumsrate SPD 2,08% 1,84% 3,22%<br />

CDU 3,07% 2,46% 5,18%<br />

CSU 2,97%<br />

Arbeitslosenquoten SPD 10,72% 9,56% 18,24%<br />

CDU 9,50% 6,88% 16,86%<br />

CSU 6,15%<br />

26


Während die „Wirtschaftsleistung“ <strong>der</strong> Parteien auf nationaler<br />

Ebene schwer zu analysieren ist, hat die Betrachtung<br />

von Errungenschaften in den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n eine<br />

Reihe von Vorteilen. Eine aus dem Ausland importierte<br />

<strong>Krise</strong> wie die Ölschocks trifft CDU- <strong>und</strong> SPD-Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

gleichermaßen. Was zählt, sind auf Lan<strong>des</strong>ebene die<br />

Performance <strong>der</strong> Ministerpräsidenten <strong>und</strong> ihrer Kabinette.<br />

Und weil die Bedeutung regionaler Cluster für die Wirtschaftsentwicklung<br />

eher zu- als abnimmt, dürfte diese<br />

Betrachtungsweise in Zukunft an Bedeutung gewinnen.<br />

Vergleicht man einfach die beiden Hauptkriterien für<br />

wirtschaftlichen Erfolg – Wachstum <strong>und</strong> Beschäftigung –<br />

dann zeigt sich in <strong>der</strong> Tat ein gravieren<strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen CDU/CSU-regierten Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n einerseits,<br />

SPD-regierten Län<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>erseits. Im Durchschnitt<br />

wachsen CDU-regierte Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> seit 1976 um einen<br />

Prozentpunkt mehr als SPD-regierte Län<strong>der</strong> – ein dramatischer<br />

Unterschied. In den neuen Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong><br />

Abstand noch höher – ein Unterschied von knapp zwei<br />

Prozentpunkten beim Wachstum <strong>des</strong> realen Bruttoinlandsprodukts<br />

trennt die beiden Parteien. Die CSU, nur in<br />

Bayern vertreten, schlägt sich im Vergleich zu sowohl<br />

CDU als auch SPD in den alten Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n hervorragend<br />

– sie liegt 1,1 Prozentpunkte vor <strong>der</strong> SPD, <strong>und</strong><br />

um 0,5 Prozentpunkte vor <strong>der</strong> Schwesterpartei.<br />

Einfache Vergleiche dieser Art sind jedoch nur begrenzt<br />

geeignet, die Frage <strong>der</strong> „Wirtschaftskompetenz“ zu erhellen.<br />

Erstens sind Ministerpräsidenten nur in Maßen in <strong>der</strong><br />

Lage, über das wirtschaftliche Wohl o<strong>der</strong> Wehe ihrer<br />

Region zu entscheiden. Die Zinspolitik wurde <strong>und</strong> wird in<br />

Frankfurt gemacht, <strong>der</strong> Wechselkurs von Mark <strong>und</strong> Euro<br />

betrifft alle deutschen Regionen, <strong>und</strong> wichtige Rahmendaten<br />

wie Arbeitsgesetzgebung, Rechtsrahmen <strong>und</strong> Kultur<br />

sind von den einzelnen Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n kaum zu beeinflussen.<br />

Wenn in schlechten Zeiten mehr SPD- als CDU-<br />

Regierungen am Ru<strong>der</strong> waren, fällt die Bilanz für Sozialdemokraten<br />

negativ aus, weil so <strong>der</strong> Durchschnitt für<br />

die SPD gedrückt wird. Als wirtschaftlich erfolgreicher<br />

Lan<strong>des</strong>fürst soll aber nicht <strong>der</strong>jenige erscheinen, <strong>der</strong><br />

Glück hatte <strong>und</strong> während eines bun<strong>des</strong>weit wirksamen<br />

Wirtschaftsaufschwungs Ministerpräsident war.<br />

Tabelle 2: Spielstatistik <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>,<br />

nach Trainer<br />

Rang Trainer Team Durchschnittsrang<br />

<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

1 Walter Wallmann CDU 2,1<br />

2 Edm<strong>und</strong> Stoiber CSU 2,4<br />

3 Lothar Späth CDU 2,5<br />

4 Franz-Josef Strauß CSU 2,8<br />

5 Roland Koch CDU 2,8<br />

6 Max Streibl CSU 2,9<br />

7 Erwin Teufel CDU 3,3<br />

8 Hans Eichel SPD 4,1<br />

9 Uwe Barschel CDU 4,3<br />

10 Kurt Beck SPD 4,5<br />

11 Carl-Ludwig Wagner CDU 4,7<br />

12 Ortwin R<strong>und</strong>e SPD 5,5<br />

13 Björn Engholm SPD 5,8<br />

14 Heide Simonis SPD 5,8<br />

15 Rudolf Scharping SPD 5,8<br />

16 Klaus v. Dohnanyi SPD 6,1<br />

17 Gerhard Schrö<strong>der</strong> SPD 6,2<br />

18 Henning Voscherau SPD 6,7<br />

19 Johannes Rau SPD 6,7<br />

20 Peter Müller SPD 7,3<br />

21 Werner Zeyer CDU 7,3<br />

22 Oskar Lafontaine SPD 7,5<br />

23 Wolfgang Clement SPD 7,7<br />

24 Henning Scherf SPD 7,9<br />

25 Sigmar Gabriel SPD 8,0<br />

26 Klaus Wedemeier SPD 8,3<br />

Der erste Schritt also muß sein, die wirtschaftliche Entwicklung<br />

in jedem Bun<strong>des</strong>land um den deutschen Trend<br />

zu bereinigen. Wir betrachten <strong>des</strong>halb zunächst, wie je<strong>des</strong><br />

Bun<strong>des</strong>land von Jahr zu Jahr im Vergleich zum Bun<strong>des</strong>durchschnitt<br />

dasteht. Beträgt die bun<strong>des</strong>weite Arbeitslosigkeit<br />

beispielsweise 6,4 Prozent (wie im Jahr 1990)<br />

<strong>und</strong> Hessen unter Walter Wallmann liegt bei respektablen<br />

5,7 Prozent, so gehen wir davon aus, dass <strong>der</strong> Vorsprung<br />

von 0,7 Prozentpunkten gegenüber <strong>der</strong> bun<strong>des</strong>republikanischen<br />

Arbeitslosenquote <strong>der</strong> lan<strong>des</strong>spezifischen <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

„anzulasten“ ist. Um unserem Index eine<br />

nicht zu große Genauigkeit abzuverlangen, stellen wir <strong>des</strong>halb<br />

einfach für je<strong>des</strong> Jahr eine Rangliste <strong>der</strong> regierenden<br />

Ministerpräsidenten auf. Dann wird <strong>der</strong> Durchschnitt<br />

für die gesamte Regierungszeit gebildet. So reicht es für<br />

Hessen unter Wallmann bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit im Durchschnitt<br />

„nur“ für Platz drei, während beim Wachstum<br />

Platz eins zu verzeichnen war. SPD-Regierungen in <strong>der</strong><br />

alten Bun<strong>des</strong>republik lagen durchschnittlich auf Platz<br />

sechs, CDU-geführte Län<strong>der</strong> auf Platz vier, <strong>und</strong> Bayern<br />

unter <strong>der</strong> CSU lag durchschnittlich auf dem dritten Platz.<br />

Berechnet man einfach den Durchschnitts-Listenplatz <strong>der</strong><br />

Ministerpräsidenten seit 1976, so liegt Edm<strong>und</strong> Stoiber<br />

auf Platz zwei, hinter Walter Wallmann; von den zehn<br />

ersten Rängen gehen acht an die CDU/CSU. Schrö<strong>der</strong><br />

landet an 17. Stelle, <strong>und</strong> von den zehn letzten Listenplätzen<br />

sind neun in den Händen <strong>der</strong> SPD (vgl. Tabelle<br />

2). Es sind Statistiken wie diese, die beispielsweise zu<br />

Stoibers Eigenlob geführt haben.<br />

27


Instrumenten-Notstand im Kanzleramt<br />

Sehr verehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

Sie fliegen bestimmt min<strong>des</strong>tens so oft wie ich. Und fühlen sich, zu Recht, viel wohler in ihrer Haut, wenn Sie<br />

wissen, dass <strong>der</strong> Pilot dank Radar, künstlichem Horizont, Leitstrahl <strong>und</strong> Dutzenden von Instrumenten stets die<br />

Position <strong>und</strong> den Zustand <strong>der</strong> Maschine kennt – nur so können Start, Flug <strong>und</strong> Landung sicher gelingen. Kommt<br />

Ihnen dabei gelegentlich auch <strong>der</strong> Gedanke an die Maschine, die Sie selbst hauptberuflich steuern? Mir schon.<br />

Und wohl ist mir als Staatsbürger dabei nicht. Denn im Cockpit Ihres Jets, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, herrscht<br />

Instrumenten-Notstand. Genau genommen befindet sich Ihre Maschine fast im Blindflug.<br />

Da kenne ich wohl nicht die Berge von Papier, die Tag für Tag über Ihren Schreibtisch hereinbrechen?<br />

All die Statistiken, Meinungsspalten, Analysen? Ich weiß, ich weiß. Aber ist auch das Richtige dabei?<br />

Sehen Sie, ich kaufe regelmäßig beim Bäcker um die Ecke ein <strong>und</strong> frage mich, wie es dem Bäckermeister<br />

wohl wirtschaftlich ginge, wenn er seinen Laden unter den gleichen Bedingungen führen müsste wie Sie.<br />

Was an Geld hereinkommt <strong>und</strong> hinausgeht, wissen Sie beide, <strong>der</strong> Bäckermeister <strong>und</strong> Sie, <strong>und</strong> wofür das Geld<br />

eingenommen o<strong>der</strong> ausgegeben wurde, ebenfalls. Doch da endet auch schon die Parallele. Der Bäcker weiß,<br />

was seine Öfen <strong>und</strong> Theken, seine Vitrine <strong>und</strong> seine sonstige Ausstattung wert sind. Nicht so die Bun<strong>des</strong>regierung.<br />

Die Infrastruktur <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, von den Flughäfen bis zu den Universitäten, die je<strong>des</strong> Jahr Milliarden an Investitionen<br />

<strong>des</strong> Staates beansprucht – wer kennt ihren Wert? Wie soll man da entscheiden, ob es Zeit ist, in neue<br />

Umluftöfen zu investieren? Dem Bäckermeister fiele eine solche Entscheidung unendlich schwer, wenn er keine<br />

Bilanz erstellen würde, in die neue Anlagen eingebracht <strong>und</strong> dann abgeschrieben werden. Nur was gemessen<br />

wird, kann auch gemanagt werden.<br />

Auch <strong>des</strong>halb haben wir kaum einen Sinn dafür, wie die Prioritäten zu setzen sind – Hochschulen o<strong>der</strong> Transrapid?<br />

Autobahnen o<strong>der</strong> Internet in allen Schulen? Im Zeitalter knapper Kassen muss man Güterabwägungen treffen,<br />

mit Leidenschaft <strong>und</strong> Augenmaß. Und dafür fehlen <strong>der</strong> Regierung schlicht die Informationen.<br />

Doch damit nicht genug. Angesichts <strong>der</strong> Zahlungsverpflichtungen für zukünftige Renten dürfte selbst einem<br />

Krösus schwindelig werden, aber – dokumentiert sind sie nirgendwo. We<strong>der</strong> bei einer „Rente mit 60“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

nächsten Anpassung <strong>der</strong> Altersbezüge könnten sie angemessen ins Kalkül eingehen. Wie wäre meinem Bäcker<br />

zumute, sähe er Zahlungen für seine Angestellten auf sich zukommen, die schnell den Wert <strong>des</strong> Betriebes<br />

übersteigen können?<br />

Schon im Interesse <strong>der</strong> nachfolgenden Generationen sollten alle „Anlagevermögen“ <strong>und</strong> Zahlungsverpflichtungen<br />

<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in einer Bilanz zusammengefasst werden. Je<strong>des</strong> Jahr könnten dann Sie, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, diese<br />

Bilanz vorstellen. Dann würden nicht nur Einnahmen <strong>und</strong> Ausgaben diskutiert wie bisher bei den Haushaltsdebatten.<br />

Statt<strong>des</strong>sen könnten Sie Opposition <strong>und</strong> Bürger damit beeindrucken, wie ihr Team den Wert <strong>der</strong><br />

Deutschland AG gesteigert hat. Denn machen wir uns nichts vor – Sparen auf Kosten <strong>der</strong> Investitionen ist kein<br />

Rezept für nachhaltigen Erfolg. In einem Bäckerladen aus den fünfziger Jahren würden we<strong>der</strong> Sie noch ich gern<br />

einkaufen gehen.<br />

Dringende Investitionen zu vertagen ist viel weniger sinnvoll als etwa Einsparungen durch intelligentere Teilzeitarbeit<br />

im Bäckerladen. Auch <strong>des</strong>halb darf es nicht mehr egal sein, wie in öffentlichen Haushalten gespart wird.<br />

Statt die Effizienz zu steigern <strong>und</strong> mit weniger Beamten die gleiche Arbeit zu schaffen, kann man natürlich einfach<br />

bei Straßenbau <strong>und</strong> Bildungsinvestitionen streichen. Aber <strong>der</strong> Effekt sollte klar in den Büchern stehen.<br />

Eine Utopie? Träumereien eines Managers, <strong>der</strong> den Staat zum Wirtschaftsunternehmen machen will? Natürlich<br />

lassen sich Analogien aus dem Wirtschaftsleben nur begrenzt auf ein ganzes Land übertragen. Wer will schon<br />

den Goodwill quantifizieren, den die Entschädigung für die Zwangsarbeiter weltweit einbringt? O<strong>der</strong> den Wert <strong>der</strong><br />

Bun<strong>des</strong>wehr? Trotzdem – auch wenn keine Perfektion zu erreichen ist, fast alles wäre besser als <strong>der</strong> heutige<br />

Blindflug.<br />

Auch Vorbil<strong>der</strong> gibt es bereits. Neuseeland hat Bilanzen für den Staat eingeführt; Investitionsgüter wie Straßen<br />

werden aktiviert <strong>und</strong> abgeschrieben, <strong>und</strong> je<strong>der</strong> Bürger kann sehen, wann die Regierung <strong>und</strong> er über ihre Verhältnisse<br />

leben. In den USA berechnet das Congressional Budget Office, welche finanziellen Folgen beispielsweise<br />

Än<strong>der</strong>ungen am Rentensystem o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Dynamisierung <strong>der</strong> Sozialleistungen in den nächsten 25 Jahren haben<br />

werden. Auch in Deutschland wird schon mal eine ähnliche Rechnung angestellt, von Forschungsinstituten <strong>und</strong><br />

halbamtlichen Stellen. Aber nirgendwo gibt es eine allgemein akzeptierte Einschätzung, die als Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong><br />

Regierungsarbeit taugt.<br />

Dass Politik Spaß macht, weil man etwas gestalten kann, gönne ich Ihnen gern. Im Moment führt die primitive<br />

Rechnungslegung <strong>des</strong> Staates aber dazu, dass wichtige gestalterische Entscheidungen ohne ausreichende<br />

Informationen getroffen werden müssen. Selbst bei sinnvollen Maßnahmen Ihrer Regierung, wie beispielsweise<br />

<strong>der</strong> Rentenanpassung in Höhe <strong>der</strong> Inflation, ist wenig zu vernehmen außer dem Wehklagen <strong>der</strong> Lobbyisten.<br />

Würden hingegen auf Heller <strong>und</strong> Pfennig auch die Vorteile mutiger Politik bilanziert, dann wäre Popularität nicht<br />

mehr so auf Populismus angewiesen. Vielleicht wählt mein Bäckermeister Sie dann sogar ein zweites Mal?<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

28


Doch eine solche Aufrechnung ist zu einfach. Der verzerrende<br />

Effekt von Erblasten o<strong>der</strong> „Erbvermögen“ muss ausgeschaltet<br />

werden. Nicht je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> reich stirbt, hat gut gewirtschaftet<br />

– bisweilen wurde auch aus einem enormen<br />

Vermögen ein „nur noch“ großes. Doch strukturschwache<br />

Gebiete, getroffen etwa von <strong>der</strong> unnatürlichen innerdeutschen<br />

Grenze vor 1989 o<strong>der</strong> dem Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Landwirtschaft,<br />

Stahlindustrie o<strong>der</strong> <strong>des</strong> Kohlebergbaus, leiden<br />

oft über Jahrzehnte. Wer als Ministerpräsident ein boomen<strong>des</strong><br />

Land ohne absteigende Regionen erbt, keinen<br />

wirtschaftlichen Turbulenzen ausgesetzt ist <strong>und</strong> durch<br />

Nichtstun den Erfolg nicht gefährdet, kann mit sehr<br />

respektablen Kennziffern beispielsweise für Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> Wachstum dastehen. Ein an<strong>der</strong>er Politiker<br />

mag ein Bun<strong>des</strong>land mit massiven Strukturproblemen<br />

übernehmen, <strong>und</strong> große Erfolge verzeichnen – seine<br />

Durchschnittszahlen aber scheinen eine mittelmäßige<br />

Performance an den Tag zu legen.<br />

Um die Erblasten zu berücksichtigen, vergleichen wir im<br />

zweiten Schritt den Listenplatz mit <strong>der</strong> Position, den ein<br />

Bun<strong>des</strong>land unter dem Vorgänger innehatte. Entscheidend<br />

ist also die Verän<strong>der</strong>ung <strong>des</strong> Abstands zum Bun<strong>des</strong>durchschnitt<br />

unter dem jeweiligen Ministerpräsidenten, relativ<br />

zum Vorsprung o<strong>der</strong> Rückstand zum Rest <strong>der</strong> Republik,<br />

den <strong>der</strong> Vorgänger erzielt hatte. Bei unserem Index <strong>der</strong><br />

Wirtschaftskompetenz schneidet <strong>der</strong>jenige Ministerpräsident<br />

gut ab, <strong>des</strong>sen Bun<strong>des</strong>land bei Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

Wachstum relativ zum Bun<strong>des</strong>durchschnitt weiter vorn<br />

liegt, als es dies unter dem Vorgänger <strong>der</strong> Fall war. Bleiben<br />

wir beim Beispiel Wallmann – von 1987 bis 1990<br />

an <strong>der</strong> Regierung, profitierte sein Land vom Wie<strong>der</strong>vereinigungsboom.<br />

Statt wie unter dem Vorgänger, Holger<br />

Börner von <strong>der</strong> SPD, mit 2,3 Prozent pro Jahr zu wachsen,<br />

erreichte das Land unter Wallmann stolze 5,7 Prozent.<br />

Auf den Ranglisten arbeitete sich Hessen jedoch<br />

nur um einen Posten nach vorn, da die „guten Zeiten“<br />

bun<strong>des</strong>weit zu beobachten waren – ein Durchschnitt von<br />

2,1 statt <strong>der</strong> 3,1 unter Börner.<br />

Die Zahlen belegen, dass die Län<strong>der</strong> schon heute in <strong>der</strong><br />

Lage sind, ihre eigene Wirtschaftsentwicklung erheblich<br />

zu beeinflussen. Ansiedlungen von Unternehmen <strong>und</strong><br />

Clusterbildung wie <strong>der</strong> Biotech-Gürtel um München können<br />

durch Kredite <strong>und</strong> Planungsgenehmigungen, durch<br />

gut geführte, korruptionsfreie öffentliche Verwaltungen<br />

<strong>und</strong> sinnvolle Hochschulpolitik geför<strong>der</strong>t werden. Wo jede<br />

Investition statt<strong>des</strong>sen von den Interessengruppen, von<br />

Anwohnern <strong>und</strong> den Fre<strong>und</strong>en <strong>der</strong> Feuchtbiotope angefeindet<br />

wird <strong>und</strong> keine Lan<strong>des</strong>regierung mit weit blicken-<br />

Schaubild 1: Wirtschaftliche Performance <strong>der</strong> Ministerpräsidenten (Rang innerhalb <strong>der</strong> alten 10 Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>)<br />

Uwe Barschel<br />

Franz-Josef Strauß<br />

Kurt Beck<br />

Roland Koch<br />

Ortwin R<strong>und</strong>e<br />

Walter Wallmann<br />

Werner Zeyer<br />

Lothar Späth<br />

Edm<strong>und</strong> Stoiber<br />

Henning Scherf<br />

Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

Peter Müller<br />

Heide Simonis<br />

Klaus Wedemeier<br />

Carl-Ludwig Wagner<br />

Max Streibl<br />

Oskar Lafontaine<br />

Johannes Rau<br />

Henning Voscherau<br />

Klaus v. Dohnanyi<br />

Erwin Teufel<br />

Wolfgang Clement<br />

Rudolf Scharping<br />

Björn Engholm<br />

Sigmar Gabriel<br />

Hans Eichel<br />

durchschnittlicher Rang<br />

0 2 4 6 8<br />

Rangverän<strong>der</strong>ung<br />

-2 0 2 4<br />

Verbesserung<br />

Verschlechterung<br />

* Durchschnitt <strong>des</strong> Rankings pro Jahr <strong>der</strong> Ministerpräsidentschaft, in den Kategorien Wachstum <strong>des</strong> BIP <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit.<br />

Quelle: Statistisches Bun<strong>des</strong>amt, Datastream.<br />

SPD<br />

CDU<br />

29


den Flächennutzungsplänen für die richtige Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> Platz für neue Gebäude sorgt, ist im wirtschaftlichen<br />

Sinne kaum Staat zu machen. Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> können sich<br />

als die besseren Unternehmer verstehen <strong>und</strong> lan<strong>des</strong>eigene<br />

Firmen hätscheln <strong>und</strong> versorgen, o<strong>der</strong> radikal privatisieren<br />

<strong>und</strong> die Erträge in Zukunftsinvestitionen stecken. Auch die<br />

Kultur ist teilweise Produkt <strong>der</strong> lan<strong>des</strong>spezifischen Politik<br />

– wo an<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Republik als in Bayern ließe sich eine<br />

Einrichtung wie das Münchener Maximilianeum denken?<br />

Eine Institution, die für Hochbegabte die seit vielen Jahren<br />

kleinkarierte För<strong>der</strong>ung auf Bun<strong>des</strong>ebene einfach aushebelt,<br />

indem einerseits noch stärker gesiebt wird als bei<br />

<strong>der</strong> Studienstiftung <strong>des</strong> deutschen Volkes – an<strong>der</strong>erseits<br />

talentierte Lan<strong>des</strong>kin<strong>der</strong> elternunabhängig geför<strong>der</strong>t werden<br />

<strong>und</strong> großzügige materielle <strong>und</strong> ideelle Unterstützung<br />

erhalten. Ein Bekenntnis zur Leistungselite, das so im<br />

Saarland <strong>und</strong>enkbar wäre, mit Signalwirkung weit über<br />

die Schulen <strong>und</strong> Hochschulen hinaus.<br />

Wie schlagen sich die Parteien auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage dieses<br />

Wirtschaftskompetenz-Indikators? Das Bild ist auf den<br />

ersten Blick alles an<strong>der</strong>e als eindeutig. So stürzte Baden-<br />

Württemberg unter dem Christdemokraten Erwin Teufel<br />

von einem durchschnittlichen Rang 2,5 (unter Späth) auf<br />

3,3 ab, während sich Schleswig-Holstein unter Barschel,<br />

ebenfalls von <strong>der</strong> CDU, um 1,5 Plätze verbessern konnte.<br />

Der Sozialdemokrat Kurt Beck wie<strong>der</strong>um schaffte eine<br />

Verbesserung von 1,3 Plätzen, während sein Parteifre<strong>und</strong><br />

Hans Eichel um knapp zwei Plätze abrutschte<br />

(Schaubild 1).<br />

Dramatisch sind die Folgen für die Einordnung Stoibers.<br />

Zwar steht Bayern unter ihm als Ministerpräsident besser<br />

da als nahezu alle an<strong>der</strong>en Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> – durchschnittlich<br />

Platz zwei bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, Rang drei beim<br />

Wachstum. Doch die Spitzenposition ist weniger erarbeitet<br />

denn ererbt – schon unter Strauß konnte Bayern sich<br />

deutlich vom Bun<strong>des</strong>durchschnitt absetzen. Dem Land<br />

gelang in den Jahren 1978 bis 1987 <strong>der</strong> Sprung auf<br />

einen Durchschnitt von 2,8 (nach 4,2 unter Goppel),<br />

den Streibl (2,9) verteidigen konnte – <strong>und</strong> unter Stoiber<br />

landete <strong>der</strong> Freistaat dann auf 2,4. Ähnlich Schrö<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

die Position Nie<strong>der</strong>sachsens von 6,5 (unter Albrecht) auf<br />

6,2 verbessern konnte. Beim Wachstum reichte es durchschnittlich<br />

für Rang fünf, während er sich bei <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

mit Platz acht begnügen musste. Der durchschnittliche<br />

Rang verbesserte sich also um 0,3 unter<br />

Schrö<strong>der</strong>, <strong>und</strong> um 0,5 unter Stoiber. Somit zeigt unser<br />

Index in <strong>der</strong> Tat, dass Stoiber auch bei Betrachtung aller<br />

Startvorteile <strong>der</strong> wirtschaftlich erfolgreichere Ministerpräsident<br />

war – doch <strong>der</strong> Unterschied gegenüber dem<br />

<strong>der</strong>zeitigen Kanzler ist relativ klein.<br />

Für die Frage <strong>der</strong> Wirtschaftskompetenz ist allerdings<br />

nicht nur die Leistung einzelner Politiker während ihrer<br />

Zeit als Ministerpräsident ausschlaggebend. In den Köpfen<br />

vieler Wähler entscheidend ist auch, ob es systematische<br />

Unterschiede in den messbaren Erfolgen <strong>der</strong> <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

zwischen den Parteien gibt. Wie Schaubild<br />

eins zeigt, liegen drei CDU/CSU-Ministerpräsidenten unter<br />

den ersten fünf bei <strong>der</strong> Verbesserung von Wachstum <strong>und</strong><br />

Arbeitslosigkeit. Und unter den ersten zehn sind nur drei<br />

SPD-Politiker vertreten – <strong>der</strong> Hamburger Ortwin R<strong>und</strong>e,<br />

Kurt Beck <strong>und</strong> Henning Scherf. Hierbei aber zeigen sich<br />

auch die Grenzen unseres Indikators – Koalitionen berücksichtigen<br />

wir nicht, auch wenn sie auf die <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

erheblichen Einfluss ausüben. Bei Koalitionen mit<br />

<strong>der</strong> FDP o<strong>der</strong> <strong>der</strong> CDU kommt natürlich nicht mehr die<br />

reine Wirtschaftslehre <strong>der</strong> Sozialdemokraten zum Zug.<br />

Somit ist <strong>der</strong> von uns gemessene Unterschied zwischen<br />

SPD <strong>und</strong> CDU notwendigerweise kleiner, als es <strong>der</strong> um<br />

Koalitionen bereinigte Effekt wäre. Fast spiegelbildlich<br />

<strong>der</strong> Eindruck von den zehn letzten Plätzen – hier sind<br />

SPD-Ministerpräsidenten achtmal vertreten, die <strong>der</strong> Christdemokraten<br />

zweimal. Stoiber schafft gerade noch, unter<br />

den zehn Ministerpräsidenten vertreten zu sein, die die<br />

Performance ihres Lan<strong>des</strong> am stärksten verbessert haben<br />

– zwei Plätze vor Schrö<strong>der</strong>.<br />

Insgesamt gelang unter CDU/CSU-Ministerpräsidenten<br />

in sieben von zehn Fällen eine Verbesserung <strong>der</strong> Lan<strong>des</strong>position<br />

auf den Ranglisten. An<strong>der</strong>s die SPD. In fünf von<br />

17 Fällen – 29 Prozent – kam es zu einer Verbesserung,<br />

während in 71 Prozent aller Ministerpräsidentschaften<br />

das Land auf den Ranglisten nach unten rutschte (Schaubild<br />

2). Unter CDU/CSU-Ministerpräsidenten verbesserte<br />

sich die durchschnittliche Wachstumsrate um 0,3 Prozentpunkte<br />

im Vergleich zum Vorgänger, während sie unter<br />

SPD-Regierungen um 0,5 Prozentpunkte einbrach.<br />

Der im langfristigen Mittel bun<strong>des</strong>weit nach oben zeigende<br />

Trend <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit beeinflusst sowohl schwarze<br />

wie rote Regierungen. Dennoch zeigen sich klare Unterschiede:<br />

Die durchschnittliche CDU-Regierung musste<br />

einen Anstieg <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit um 0,9 Prozent hinnehmen;<br />

unter SPD-Lan<strong>des</strong>regierungen waren es 1,3 Prozent.<br />

Ob die aufgezeigten Unterschiede kausal zu interpretieren<br />

sind, ist schwer zu entscheiden. Es könnte beispielsweise<br />

sein, dass Wählerinnen <strong>und</strong> Wähler in strukturschwachen<br />

Gegenden eher dazu neigen, SPD zu wählen. Dies würde<br />

in <strong>der</strong> Tat dazu führen, dass SPD-Ministerpräsidenten<br />

im Durchschnitt mit hohen Arbeitslosen- <strong>und</strong> geringen<br />

Wachstumsraten dastehen. Unseren Indikator <strong>der</strong> Rangverän<strong>der</strong>ung<br />

im Vergleich zum Vorgänger aber würde dies<br />

nicht beeinflussen. Um hier eine Umkehr <strong>der</strong> Wirkungs-<br />

30


Schaubild 2: Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ranglistenplätze, <strong>der</strong> Wachstumsraten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit,<br />

nach Parteizugehörigkeit <strong>des</strong> Ministerpräsidenten, 1976 bis 2001 (absolute Zahlen <strong>und</strong> in Prozent)<br />

Verschlechterung<br />

Verbesserung<br />

SPD<br />

12<br />

5<br />

-0,5<br />

1,3<br />

CDU/CSU<br />

3<br />

7<br />

0,1<br />

0,9<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>des</strong><br />

Ranglistenplatzes<br />

Quellen: Statistisches Bun<strong>des</strong>amt, Datastream.<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Wachstumsrate<br />

Steigerung <strong>der</strong><br />

Abeitslosenquote<br />

relation zu erreichen, müssten die Bürger kommende<br />

Wachstumseinbrüche vorausschauend erkennen <strong>und</strong><br />

schon einmal präventiv, mit Blick auf die kommende<br />

<strong>Krise</strong>, SPD wählen. Ausgeschlossen ist dies nicht. Allerdings<br />

ist die Vorhersagegenauigkeit wirtschaftlicher<br />

Prognosen, wie sie von den wissenschaftlichen Instituten<br />

o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> OECD produziert werden, sehr gering. Im<br />

Regelfall sind die Fehlermargen <strong>der</strong> Vorhersagen auch für<br />

das kommende Jahr so groß, dass man mit einer Prognose<br />

<strong>des</strong> Wachstums nach <strong>der</strong> Faustregel „wohl so wie im<br />

letzten Jahr“ genauso gut liegt. Um also den Kausalgehalt<br />

unseres Verän<strong>der</strong>ungsindikators auszuhebeln, müssten<br />

Wähler deutlich klüger <strong>und</strong> erfolgreicher bei <strong>der</strong> Prognose<br />

zukünftiger Wachstumsraten sein als die OECD <strong>und</strong> die<br />

Institute, <strong>und</strong> dies nicht nur für das jeweils nächste Jahr,<br />

son<strong>der</strong>n für die kommenden vier Jahre. Wir halten dies<br />

für eher unwahrscheinlich.<br />

Unsere Ergebnisse führen zu drei interessanten<br />

Implikationen. Erstens sind die Unterschiede in <strong>der</strong><br />

nachgewiesenen „Wirtschaftskompetenz“ zwischen<br />

Schrö<strong>der</strong> <strong>und</strong> Stoiber kleiner als zwischen den Parteien<br />

SPD <strong>und</strong> CDU. Die Christdemokraten schicken einen eher<br />

mittelmäßigen Ministerpräsidenten an den Start, zumin<strong>des</strong>t<br />

für ihre Verhältnisse. Für einen SPD-Ministerpräsidenten<br />

aber schlug sich Schrö<strong>der</strong> alles an<strong>der</strong>e als schlecht<br />

– nur drei sozialdemokratische Lan<strong>des</strong>fürsten schnitten<br />

besser ab. Das aber bedeutet, dass die Übertragung<br />

von wirtschaftspolitischem Talent von <strong>der</strong> Lan<strong>des</strong>- auf die<br />

Bun<strong>des</strong>ebene unter <strong>der</strong> CDU <strong>der</strong>zeit nicht beson<strong>der</strong>s<br />

gut funktioniert. Gleichzeitig scheint die SPD, trotz aller<br />

Rhetorik zur Besänftigung <strong>der</strong> Interessengruppen, mehr<br />

auf „Wirtschaftskompetenz“ zu achten, als ihr normalerweise<br />

zugebilligt wird.<br />

Zweitens zeigt sich, dass die Parteizugehörigkeit von<br />

Ministerpräsidenten einen signifikanten Einfluss auf die<br />

wirtschaftliche Entwicklung eines Bun<strong>des</strong>lan<strong>des</strong> hat. Die<br />

Unterschiede zwischen SPD- <strong>und</strong> CDU-regierten Län<strong>der</strong>n<br />

sind weitaus größer als die Differenz in <strong>der</strong> „Leistung“<br />

<strong>der</strong> Spitzenkandidaten. Drittens legen unsere Ergebnisse<br />

es nahe, dass ein intensiverer Wettbewerb zwischen<br />

den Län<strong>der</strong>n – jenseits aller bun<strong>des</strong>weiten Trends – für<br />

erheblichen Verbesserungsspielraum sorgen würde. Derzeit<br />

werden die Bürger schlecht geführter Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

jedoch durch den Län<strong>der</strong>finanzausgleich sowie durch die<br />

Fehlbetrags-Bun<strong>des</strong>ergänzungszuweisung weit gehend vor<br />

den Folgen ihrer eigenen Wahlentscheidungen geschützt.<br />

Stellen wir uns einmal vor – je<strong>des</strong> erfolgreiche DAX-Unternehmen<br />

zahlt direkt einen Teil <strong>der</strong> eigenen Gewinne an<br />

an<strong>der</strong>e Index-Firmen. Pro Mitarbeiter bleiben, unabhängig<br />

von <strong>der</strong> Performance, 95 Prozent <strong>der</strong> Durchschnittsgewinne<br />

– min<strong>des</strong>tens. Absurd. Doch genau so funktioniert<br />

Fö<strong>der</strong>alismus in Deutschland heute. Damit aber fehlt ein<br />

guter Teil <strong>des</strong> Anreizes, auf gutes Management zu achten<br />

– wen kümmert es, dass die eigene Firma schlecht wirtschaftet,<br />

wenn Investitionen <strong>und</strong> Infrastruktur, Dividende<br />

<strong>und</strong> Betriebskin<strong>der</strong>garten von den an<strong>der</strong>en DAX-Unternehmen<br />

subventioniert werden?<br />

Die Performance-Unterschiede zwischen einzelnen<br />

Ministerpräsidenten <strong>und</strong> den Parteien sind enorm. Mag<br />

auch manchmal Glück mit im Spiel sein – die fö<strong>der</strong>ale<br />

31


Der Gier eine Gasse – Ein Bonus für die Politik<br />

Sehr verehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

Politiker gelten als geldgieriger Menschenschlag. Von <strong>der</strong> Amigo-Affäre über die Flick-Spenden zu den jüngsten<br />

Skandalen <strong>der</strong> CDU – kaum ein Jahr scheint zu vergehen, ohne dass die grenzenlosen Geldbedürfnisse <strong>der</strong><br />

Parteien <strong>und</strong> Politiker für Schlagzeilen sorgen. Diätenerhöhungen <strong>und</strong> Staatsgel<strong>der</strong> für die Parteien verstärken<br />

den Eindruck noch. Zugegeben – glaubt man gewissen Bestsellern <strong>der</strong> Managementliteratur, so sieht es in <strong>der</strong><br />

Wirtschaft nicht viel an<strong>der</strong>s aus.<br />

Deshalb heute ein bescheidener Vorschlag: <strong>der</strong> Gier eine Gasse. Dass in Marktwirtschaften Geld ein wichtiger<br />

Motivationsfaktor ist, sollte niemanden stören. Moralischer Eifer taugt nur begrenzt als Anreiz für wünschenswertes<br />

Handeln. Nicht nur viele Manager, auch je<strong>der</strong> Arbeiter bei VW <strong>und</strong> je<strong>der</strong> 22-jährige Börsenhändler<br />

erhalten heute einen Teil ihrer Bezüge leistungsabhängig, in Form von Bonuszahlungen am Jahresende.<br />

Warum nicht auch Politiker?<br />

Derzeit gibt es nur einen Preis, den ein erfolgreicher Politiker nach vollendeter Amtszeit gewinnen kann –<br />

die Wie<strong>der</strong>wahl. Ansonsten droht die Rückkehr auf die harten Oppositionsbänke, mit Abgeordnetensalär <strong>und</strong><br />

so weiter. Nicht existenzbedrohend, aber eben doch ein deutlicher Schritt zurück.<br />

Was ist das für ein Leistungsanreiz? Auch wer gut wirtschaftet o<strong>der</strong> kluge Politik macht – er steht <strong>und</strong> fällt mit<br />

<strong>der</strong> Performance <strong>der</strong> eigenen Partei bei den nächsten Wahlen o<strong>der</strong> mit dem möglichen Wankelmut <strong>des</strong> Koalitionspartners.<br />

Der Zusammenhang von Entlohnung <strong>und</strong> Leistung ist wohl nirgendwo so indirekt <strong>und</strong> flüchtig wie bei<br />

den Gehältern <strong>der</strong> Politiker.<br />

Natürlich kann man nicht einfach Bonuszahlungen am Jahresende nach dem Vorbild von Banken <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Wirtschaftsunternehmen ausschütten. Kurzfristiger Aktionismus ist gewiss nicht das richtige Rezept, <strong>und</strong><br />

Deutschland leidet kaum Mangel an dieser Art von politischem Einsatz. Was aber, wenn zum Ende <strong>der</strong> Amtszeit<br />

eine unabhängige Expertenr<strong>und</strong>e entscheiden würde – aufgr<strong>und</strong> vorab festgelegter Kennziffern –, welche Boni<br />

an Minister <strong>und</strong> Kanzler auszuzahlen sind?<br />

Die Details einer solchen Lösung kann ich hier nicht ausbreiten. Aber wie wäre es beispielsweise mit einer<br />

Kopplung <strong>der</strong> Zahlungen an die Position im Barro-Misery-Index (Summe aus Verän<strong>der</strong>ungen bei Inflation, Arbeitslosigkeit,<br />

Zinsen <strong>und</strong> Wachstumslücke). Auch da mag, über den kurzen Zeitraum von nur vier Jahren, Glück eine<br />

Rolle spielen, aber die Gefahr ist doch deutlich kleiner als bei einer jährlichen Beurteilung. Würde so verfahren,<br />

so wäre Manipulation schwierig. Eine Senkung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, beispielsweise, durch kräfiges Deficit Spending,<br />

steigende Haushaltsdefizite also, wäre nicht attraktiv, weil sie im Misery-Index durch in die Höhe getriebene<br />

Zinsen konterkariert würde. Wie weit die Inflationsrate einzubeziehen wäre, kann man diskutieren, da hier dank<br />

<strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>der</strong> Europäischen Zentralbank die Verantwortung <strong>der</strong> Politik stark eingeschränkt ist.<br />

Auch über weitere Verfeinerungen ließe sich nachdenken. So könnte man die für <strong>Wirtschaftspolitik</strong> maßgeblichen<br />

Politiker – Bun<strong>des</strong>kanzler, Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftsminister – mittels <strong>der</strong> Barro-Indikatoren entschädigen; für den<br />

Ges<strong>und</strong>heitsminister hingegen wäre eine Mischung aus Lebenserwartung, Kin<strong>der</strong>sterblichkeit <strong>und</strong> dem Anteil<br />

<strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitsausgaben am BSP als Messlatte zu erwägen <strong>und</strong> für den Bildungsminister das Abschneiden<br />

deutscher Schul- <strong>und</strong> Universitätsabgänger bei standardisierten, internationalen Tests.<br />

Der Bonus soll natürlich nicht zur Bereicherung auf Kosten <strong>des</strong> Steuerzahlers führen. So ließe sich die Gesamtentlohnung<br />

in eine feste <strong>und</strong> eine erfolgsabhängige Komponente aufspalten. Die Höhe <strong>der</strong> Zahlungen könnte so<br />

gewählt werden, dass im Durchschnitt keine zusätzlichen Kosten entstehen – gute Politiker verdienen mehr als<br />

heute, schlechtere eben deutlich weniger.<br />

Zwei Folgen wären zu erwarten. Erstens wäre Leistung in einer Form messbar, die über die letzten Popularitätsumfragen<br />

<strong>und</strong> die Überschriften <strong>der</strong> Boulevardpresse hinausgeht. Im Mittelpunkt <strong>des</strong> Interesses stünden die<br />

Höhe <strong>des</strong> zu erwartenden Bonus <strong>und</strong> damit zwangsläufig auch die erbrachten Leistungen.<br />

Zweitens würde eine öffentliche Debatte über die zu verwendenden Erfolgskennziffern dazu führen, dass mehr<br />

gesellschaftlicher Konsens über die Hauptziele <strong>der</strong> Politik entsteht. Soll <strong>der</strong> Bonus <strong>des</strong> Sozialministers allein<br />

danach ermittelt werden, welcher Prozentsatz <strong>der</strong> Bevölkerung unter <strong>der</strong> Armutsgrenze lebt? O<strong>der</strong> sollte man die<br />

durchschnittliche Rentenhöhe, aber auch die implizite Staatsverschuldung durch ungedeckte Rentenzusagen<br />

ebenfalls integrieren? Schwierige Fragen, <strong>und</strong> gerade <strong>des</strong>halb würde die öffentliche Auseinan<strong>der</strong>setzung über<br />

Bonuszahlungen einen Schritt nach vorn auch für die politische Kultur bedeuten. Wird über Prioritäten dieser Art<br />

erst einmal gestritten, werden vielleicht auch wie<strong>der</strong> mehr Menschen anfangen zu glauben, dass Politik kein<br />

Selbstbedienungsladen für „die da oben“ ist – <strong>und</strong> zwar gerade dank Bonuszahlungen.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

32


Schaubild 3: Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lan<strong>des</strong>einnahmen durch eine Steigerung <strong>der</strong><br />

Lan<strong>des</strong>steuern um 1.000 Euro (Beispiel Nie<strong>der</strong>sachsen in Euro)<br />

Einnahmesteigerung<br />

Umsatzsteuer-Verteilung<br />

Län<strong>der</strong>finanzausgleich<br />

Fehlbetrags-Bun<strong>des</strong>ergänzungszuweisung<br />

Fonds „Deutsche Einheit“<br />

Rest<br />

Quelle: Thöne, Finanzwissenschaftliches Institut, Universität Köln.<br />

Struktur Deutschlands bietet eine einmalige Chance, auf<br />

dezentrale Art <strong>und</strong> Weise gutes Wirtschaftsmanagement<br />

an die Schaltzentren <strong>der</strong> Macht zu bringen. Doch dafür<br />

müssen die Anreize stimmen – Wähler müssen wissen,<br />

dass ihre eigene Versorgung mit staatlichen Dienstleistungen<br />

leidet, wenn sie die falsche Entscheidung an <strong>der</strong> Urne<br />

treffen. Statt<strong>des</strong>sen wird Politikversagen von erfolgreichen<br />

Staaten subventioniert, indem sie von jedem Euro, den sie<br />

über dem Bun<strong>des</strong>durchschnitt einnehmen, den größten<br />

Teil wie<strong>der</strong> abgeben müssen. In den finanzschwachen<br />

Staaten bleibt von Mehreinnahmen noch weniger, weil<br />

die Zuweisungen fast exakt 1:1 zurückgehen.<br />

Eine Studie <strong>der</strong> Universität Köln belegt die Absurdität <strong>des</strong><br />

Verfahrens. Baden-Württemberg, wenn es 1.000 Euro<br />

zusätzlich an Lan<strong>des</strong>steuern einnehmen würde, behielte<br />

gerade einmal 316 Euro, Hamburg lediglich 22 Euro, <strong>und</strong><br />

Bremen elf Euro. Damit aber wird je<strong>der</strong> Anreiz für sinnvolles<br />

Wirtschaften systematisch zerstört. Noch schlimmer<br />

bei Einnahmesteigerungen dank höherer Lohnsteuer –<br />

hier kann ein Bruttozuwachs sogar zu einer Verringerung<br />

<strong>der</strong> verfügbaren Mittel führen. Führen im Saarland lebende<br />

Arbeitnehmer 1.000 Euro zusätzlich an Lohnsteuer ab,<br />

fallen netto Einnahmen in Höhe von 60 Euro weg. Durch<br />

komplizierte Regeln auf Gerechtigkeitsausgleich mit <strong>der</strong><br />

Goldwaage getrimmt, sorgt <strong>der</strong> Finanzausgleich dafür,<br />

dass Nettozuweisungsempfänger bei höheren Einnahmen<br />

so insgesamt verlieren. Damit aber stecken manche<br />

Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> in einem Teufelskreis falscher Anreize –<br />

schlechte Performance wird regelrecht belohnt. Würde<br />

sich für die Ministerpräsidenten Leistung auch insofern<br />

7<br />

142<br />

501<br />

Reduktion <strong>der</strong><br />

Mehreinnahmen um<br />

85,8 Prozent<br />

1.000<br />

16<br />

334<br />

rechnen, dass sie ihren<br />

Bürgern deutlich bessere<br />

Dienste <strong>und</strong> Infrastruktur<br />

bieten können, so müssten<br />

schlechte Performer eher<br />

damit rechnen, vom Wähler<br />

die rote Karte zu bekommen.<br />

Die durchschnittliche<br />

Qualität <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />

stiege an; über<br />

kurz o<strong>der</strong> lang würde die<br />

Republik insgesamt besser<br />

verwaltet <strong>und</strong> geführt <strong>und</strong><br />

damit letzten En<strong>des</strong> reicher.<br />

Ein Beispiel – wäre<br />

die Arbeitslosigkeit im<br />

Westen insgesamt auch<br />

auf dem Durchschnittsniveau<br />

<strong>der</strong> fünf besten<br />

Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>, so betrüge<br />

die Arbeitslosenquote 6,4<br />

Prozent – ähnlich wie in den USA heute, <strong>und</strong> recht nah<br />

an <strong>der</strong> Vollbeschäftigung. Und wenn die an<strong>der</strong>en Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong><br />

nicht mehr den Lebensunterhalt in strukturschwachen<br />

Regionen subventionieren, dürfte die Mobilität ansteigen<br />

– eine wichtige Voraussetzung zur Reduktion <strong>der</strong><br />

Arbeitslosigkeit.<br />

Damit aber muss auch hinterfragt werden, ob die häufig<br />

beklagten Strukturschwächen wie die Arbeitsmarktgesetzgebung,<br />

das Konkursrecht o<strong>der</strong> das Tarifrecht tatsächlich<br />

das insgesamt schlechte wirtschaftliche Abschneiden<br />

Deutschlands erklären können. Sie gelten bun<strong>des</strong>weit <strong>und</strong><br />

scheinen den erheblichen Erfolgen auf Lan<strong>des</strong>ebene nicht<br />

beson<strong>der</strong>s im Weg zu stehen. Der Vergleich zwischen den<br />

Verbesserungen unter den Ministerpräsidenten zeigt –<br />

wirtschaftliches Wachstum <strong>und</strong> Abbau <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

sind auch im heutigen Deutschland möglich. Doch dafür<br />

muss sich kluge Politik – <strong>und</strong> die richtige Entscheidung in<br />

<strong>der</strong> Wahlkabine – lohnen. Dazu gehören auch eigene Besteuerungsrechte<br />

sowie möglichst wenig Umverteilung<br />

zwischen den Län<strong>der</strong>n. Vielleicht könnte dann ja auch ein<br />

Teil <strong>der</strong> Wohlstandslücke gegenüber <strong>der</strong> fö<strong>der</strong>alistischen<br />

Schweiz – die <strong>der</strong>zeit beim Pro-Kopf-Einkommen um ca.<br />

22 Prozent vor Deutschland liegt – geschlossen werden?<br />

Mehr Wettbewerb zwischen den Län<strong>der</strong>n, eine Bun<strong>des</strong>liga<br />

für die Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>, könnte deutliche Impulse für Wachstum<br />

<strong>und</strong> Beschäftigung geben, ohne dass die Herkulesarbeit<br />

umfassen<strong>der</strong> Strukturreform erst vollbracht werden<br />

muss. Wie bei den Fußballklubs sollten Trainer, die sich<br />

als Pfeifen erweisen, möglichst bald ausgewechselt werden<br />

– zum Vorteil <strong>der</strong> Spieler, <strong>der</strong> Fans, <strong>und</strong> <strong>des</strong> Sports.<br />

33


5. Die etwas an<strong>der</strong>e Teilung –<br />

Zweierlei Wirtschaft in Deutschland<br />

Ein tiefer Riss geht durch die deutsche Wirtschaft. Doch er trennt<br />

nicht Ost- von Westdeutschland, son<strong>der</strong>n den börsennotierten vom restlichen<br />

Teil. Deutschlands Aktiengesellschaften haben weit überdurchschnittlich<br />

zum Beschäftigungswachstum <strong>und</strong> zur Steigerung <strong>des</strong><br />

Bruttosozialprodukts beigetragen; Insolvenzwelle, Wachstumskrise <strong>und</strong><br />

Stagnation <strong>der</strong> Beschäftigung betreffen vor allem die nicht dem Druck<br />

<strong>der</strong> Kapitalmärkte ausgesetzten Firmen <strong>und</strong> den öffentlichen Dienst.<br />

Wir machen Vorschläge, wie das erwiesene Erfolgsrezept breitere<br />

Anwendung erfahren kann.<br />

Die Arbeitslosenzahl ist wie<strong>der</strong> über vier Millionen gestiegen,<br />

so informierte die Bun<strong>des</strong>anstalt für Arbeit im<br />

Juli. Gleichzeitig las man im Spiegel über den Beschäftigungsabbau<br />

bei den DAX-Unternehmen, während das<br />

manager magazin die Gier <strong>der</strong> Bosse <strong>und</strong> ihre überzogenen<br />

Gehälter geißelt. Die Risse im F<strong>und</strong>ament <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong><br />

scheinen sich Woche um Woche mit jedem<br />

neuen Skandal <strong>und</strong> jedem neuen Bankrott zu vergrößern.<br />

Die Ankündigung von Arbeitsplatzverlusten wie beispielsweise<br />

jüngst bei Telekom, Siemens <strong>und</strong> Bayer trägt wie<br />

kein an<strong>der</strong>er Faktor zum diffusen Unbehagen bei. Wie<br />

kann ein System überleben, das steigende Massenarbeitslosigkeit<br />

mit satten Gewinnen für Spitzenmanager kombiniert,<br />

so fragen sich viele. Die im DAX börsennotierten<br />

Firmen sind wegen ihrer Größe, ihrer internationalen<br />

Bekanntheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> ständig verfügbaren Informationen<br />

über ihren Aktienkurs zu den Symbolen <strong>des</strong> „Raubtierkapitalismus“<br />

geworden.<br />

Die Wirklichkeit ist wie immer etwas komplexer. Die prominentesten<br />

börsennotierten Unternehmen sind nicht<br />

die Spitze eines Eisbergs, nicht einfach nur die extreme<br />

Form all <strong>der</strong> Praktiken <strong>und</strong> Probleme, die den deutschen<br />

Unternehmenssektor insgesamt betreffen. Der englische<br />

Premierminister Benjamin Disraeli prägte im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

den Begriff <strong>der</strong> zwei Nationen, um die dramatischen<br />

sozialen Gegensätze seiner Zeit zu beschreiben. Die<br />

Unterschiede in Deutschland haben ein ähnlich drastisches<br />

Bild verdient – ein tiefer Riss geht durch die deutsche<br />

Wirtschaft. Auf <strong>der</strong> einen Seite steht <strong>der</strong> börsennotierte<br />

Teil, <strong>der</strong> trotz aller Probleme insgesamt profitabel<br />

arbeitet, hochgradig stabil ist <strong>und</strong> Beschäftigung schafft.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite steht <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft,<br />

in <strong>der</strong> Form von Kommanditgesellschaften <strong>und</strong><br />

GmbHs, kontrolliert von Familien <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Stiftungen,<br />

vom Grün<strong>der</strong> o<strong>der</strong> den Gesellschaftern. Ihnen fehlt <strong>der</strong><br />

Stachel <strong>der</strong> Kapitalmärkte, die angeblich so schädliche<br />

Hektik <strong>der</strong> täglichen Börsenbewertung <strong>und</strong> Quartalsberichte.<br />

Sie sind das Herz <strong>des</strong> „Mittelstan<strong>des</strong>“, den alle<br />

Politiker unisono als mythische Quelle <strong>der</strong> Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> alles wirtschaftlich Guten preisen. Und gerade hier<br />

häufen sich die Pleiten, die Gewinneinbrüche <strong>und</strong> Absatzprobleme,<br />

<strong>und</strong> die Schaffung neuer Stellen lahmt.<br />

Demgegenüber hätte die ganze deutsche Wirtschaft<br />

heute 900.000 Arbeitslose weniger, wenn sie insgesamt<br />

Arbeitsplätze so erfolgreich geschaffen hätte wie die<br />

börsennotierten Unternehmen – trotz <strong>des</strong> Beschäftigungsabbaus<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Hand.<br />

Drei Aspekte verdeutlichen den tiefen Riss zwischen<br />

„Börsendeutschland“ <strong>und</strong> dem nicht börsennotierten Rest:<br />

> Börsennotierte Unternehmen wachsen schneller <strong>und</strong><br />

exportieren mehr als die deutsche Volkswirtschaft<br />

insgesamt,<br />

> sie schaffen deutlich mehr neue Arbeitsplätze,<br />

> sie sind stabiler <strong>und</strong> weniger von Konkurs <strong>und</strong><br />

Zahlungsschwierigkeiten bedroht.<br />

Stichwort Wachstum: In den Jahren 1997 bis 2001<br />

nahm die deutsche Wirtschaftsleistung (auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>der</strong> Bruttowertschöpfung) um 9,2 Prozent zu. Der Staatssektor<br />

leistete einen negativen Beitrag – die reale Wertschöpfung<br />

ging um 1,7 Prozent zurück. In <strong>der</strong> restlichen<br />

Volkswirtschaft stieg sie um insgesamt zehn Prozent an.<br />

Dabei blieb in den Jahren 1998, 1999 <strong>und</strong> 2001 die<br />

Zunahme eher gering. Der kurze Aufschwung <strong>des</strong> Jahres<br />

2000, als die Wirtschaftsleistung um 3,6 Prozent zulegte,<br />

trug fast die Hälfte zur gesamten Steigerung bei. Ganz<br />

an<strong>der</strong>s bei den börsennotierten Unternehmen. Die Entwicklung<br />

<strong>des</strong> Nettogewinns (nach Abschreibungen <strong>und</strong><br />

Steuern) zeigte zunächst steil nach oben; die Gewinne<br />

34


Entwicklung <strong>der</strong> Bruttowertschöpfung, <strong>der</strong> Gewinne börsennotierter Unternehmen <strong>und</strong> <strong>des</strong> Unternehmenseinkommens<br />

(1997=100)<br />

296<br />

198<br />

145<br />

126<br />

100 100 100 102,3 103,1 104,3 101,0 108,1 101,7 109,2 100,4<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Bruttowertschöpfung<br />

Durchschnittsgewinn<br />

Einkommen aus<br />

Unternehmertätigkeit<br />

verdreifachten sich zwischen 1997 <strong>und</strong> 2000 fast. Dann<br />

aber brachen sie im Jahr 2001 deutlich ein. Doch trotz<br />

<strong>des</strong> dramatischen Rückgangs <strong>des</strong> durchschnittlichen Gewinns<br />

(auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>des</strong> Net Income) von an <strong>der</strong><br />

Börse gelisteten Unternehmen war <strong>der</strong> Zuwachs in den<br />

Jahren 1997 bis 2001 immer noch deutlich größer als in<br />

<strong>der</strong> Volkswirtschaft insgesamt – ein Plus von 26 Prozent<br />

ist eine stolze Zahl <strong>und</strong> entspricht einem durchschnittlichen<br />

jährlichen Wachstum von 5,9 Prozent. Hinzu<br />

kommt, dass wegen <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Besteuerungssituation<br />

von Kapitalgesellschaften die Gewinne wahrscheinlich<br />

höher waren als ausgewiesen.<br />

Sprunghafter, dafür aber insgesamt auf einem viel höheren<br />

Niveau – so ungefähr lässt sich <strong>der</strong> Unterschied zwischen<br />

<strong>der</strong> Gewinnentwicklung einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen<br />

Entwicklung an<strong>der</strong>erseits beschreiben.<br />

Dabei hat das bessere Abschneiden <strong>der</strong> börsennotierten<br />

Unternehmen nichts damit zu tun, dass die Entlohnung<br />

<strong>des</strong> Produktionsfaktors „Kapital“ insgesamt schneller zunimmt<br />

als die volkswirtschaftliche Leistung insgesamt.<br />

Schaubild 1 zeigt zusätzlich die Entwicklung <strong>des</strong> Unternehmereinkommens.<br />

Hier ist die Steigerung noch geringer<br />

als in <strong>der</strong> Republik insgesamt – ein Plus von 0,4 Prozent<br />

zwischen 1997 <strong>und</strong> 2001, <strong>und</strong> dies trotz relativ kräftiger<br />

Schwankungen. An<strong>der</strong>s betrachtet: die börsennotierten<br />

Unternehmen unterliegen zwar erheblicher Volatilität, aber<br />

es lohnt sich für ihre Eigentümer. Die Risikorendite für die<br />

restlichen Firmen <strong>und</strong> Unternehmer <strong>der</strong> Republik hingegen<br />

ist so gut wie nicht existent – kein guter Boden für<br />

Neugründungen, die sich nicht auf die Börse als Finanzierungsquelle<br />

verlassen wollen, <strong>und</strong> den dahinter stehenden<br />

Unternehmergeist.<br />

Die Entwicklung verlief je nach Börsensegment durchaus<br />

unterschiedlich. Relativ schlecht sah es am Neuen Markt<br />

aus. Während in den Jahren 1997 bis 2000 das typische<br />

Neuer-Markt-Unternehmen profitabel war, musste im Jahr<br />

2001 ein Verlust hingenommen werden. Etwas besser,<br />

aber immer noch „unter Durchschnitt“, war die Lage bei<br />

den Gewinnen im SMAX, dem Qualitätssegment für<br />

kleine <strong>und</strong> mittlere Unternehmen in eher traditionellen<br />

Branchen. Dort schnellten die Profite zunächst im Jahr<br />

1998 um 15 Prozent nach oben, sanken dann aber Jahr<br />

für Jahr. Im Jahr 2001 lagen sie um gut acht Prozent<br />

unter dem Wert für 1997. Nach oben gezogen wurde <strong>der</strong><br />

Durchschnitt vor allem von den MDAX-Titeln sowie <strong>der</strong><br />

vergleichsweise guten Performance <strong>der</strong> DAX-Unternehmen.<br />

Letztere steigerten ihre Gewinne um 15 Prozent<br />

1998, elf Prozent im Jahr 1999, 37 Prozent im Jahr<br />

35


Wer hat Angst vorm bösen Dax?<br />

Sehr geehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

nicht an <strong>der</strong> Börse, son<strong>der</strong>n links schlägt angeblich das Herz. Was genau Ihr Parteifre<strong>und</strong> <strong>und</strong> ehemaliger<br />

Kabinettskollege damit meinte, kann ich nur ahnen. Aber vielleicht stand ihm dieses Szenario vor Augen:<br />

Während die Schlange <strong>der</strong> Arbeitslosen länger <strong>und</strong> länger wird, steigen die Aktienkurse. Mal schneller <strong>und</strong> mal<br />

langsamer, aber immer dann beson<strong>der</strong>s schwungvoll, wenn gerade wie<strong>der</strong> ein Konzern kräftigen Beschäftigungsabbau<br />

angekündigt hat. Was den Gewinnen hilft <strong>und</strong> Aktionäre beglückt, belastet zugleich die Sozialkassen <strong>und</strong><br />

bringt Tausende um Lohn <strong>und</strong> Brot. Die Presse wird nicht müde, auf den zynischen Gegensatz hinzuweisen,<br />

kombiniert mit Informationen über die steil steigenden Gehälter <strong>der</strong> Bosse.<br />

Klingt vertraut? Natürlich. Das Jahr ist 1995, <strong>und</strong> das Land – Amerika. Seitdem hat sich dort allerdings einiges<br />

geän<strong>der</strong>t, wie wir wissen. Heute herrscht Vollbeschäftigung wie in Deutschland seit 1970 nicht mehr. Getragen<br />

wurde <strong>der</strong> Aufschwung auch von <strong>der</strong> Börse. Was ist geschehen?<br />

Noch zu Beginn <strong>der</strong> Neunzigerjahre galten die USA als hoffnungslos den Deutschen <strong>und</strong> Japanern unterlegen.<br />

Doch dann wurde Präsident Clintons Amtszeit zum Glanzstück wirtschaftlichen Wachstums – dank entschiedener<br />

Defizitbekämpfung <strong>und</strong> flexibler Geldpolitik, aber auch durch eine beispiellose Restrukturierungswelle in <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Wirtschaft. Mit ihr gewannen Unternehmen Produktivität <strong>und</strong> Profitabilität zurück <strong>und</strong> stellten sich<br />

auf den internationalen Wettbewerb ein.<br />

Im Zuge dieses kompromisslosen „Downsizing“ wurden natürlich auch Mitarbeiter entlassen; die Alternative<br />

wäre jedoch oft <strong>der</strong> Konkurs gewesen, mit noch dramatischerer Arbeitslosigkeit. Wozu die Rosskur nötig <strong>und</strong> gut<br />

war, zeigt sich heute in <strong>der</strong> viel bestaunten „Robustheit“ <strong>der</strong> amerikanischen Wirtschaft. Honoriert wird sie unter<br />

an<strong>der</strong>em mit gestiegenen Aktienkursen, <strong>und</strong> die haben – so führende Ökonomen – die strukturelle Arbeitslosenquote<br />

in den USA seit 1996 um gut zwei Prozentpunkte verringert.<br />

Nicht zuletzt <strong>des</strong>halb meine Zuversicht: Mittelfristig werden auch in Deutschland von den neu ausgerichteten<br />

Firmen belebende Impulse ausgehen, wenn auch, ebenso wie in den USA, mit einer gewissen Zeitverzögerung.<br />

Und in einer blühenden Wirtschaft finden dann auch Arbeitslose sehr viel schneller wie<strong>der</strong> einen neuen Job.<br />

Das Gebot <strong>der</strong> St<strong>und</strong>e bei uns ist <strong>des</strong>halb nicht die Erhaltung von Arbeitsplätzen um jeden Preis, sei es an den<br />

Hochöfen, bewacht von IG-Metallern, o<strong>der</strong> in hoffnungslos unwirtschaftlichen landwirtschaftlichen Betrieben.<br />

Statt<strong>des</strong>sen kommt es darauf an, den Umschwung zu beschleunigen.<br />

Dazu empfehle ich einen etwas genaueren Blick auf den Aktienmarkt. Steigende Kurse gibt es keineswegs nur<br />

bei Unternehmen, die Stellen abbauen. Auch Firmen, die mit einer neuen <strong>und</strong> interessanten Idee eine Marktnische<br />

erobern, können sich über die Wertschätzung <strong>der</strong> Aktionäre freuen. Der Neue Markt, <strong>der</strong> kleinen <strong>und</strong> häufig<br />

rasant wachsenden Firmen dringend benötigtes Wachstumskapital zuführt, hat in den letzten Jahren zeitweise ein<br />

geradezu atemberauben<strong>des</strong> Kursfeuerwerk dargeboten. Und <strong>der</strong> Scheingegensatz zwischen Aktienkursen <strong>und</strong><br />

Beschäftigung wurde dabei eindrucksvoll wi<strong>der</strong>legt.<br />

Denn die hier gelisteten Firmen – meist in „neuen“ Branchen mit hohem Wettbewerbsdruck durch Deregulierung<br />

o<strong>der</strong> schnelle Innovationszyklen – schaffen Jobs. Talentierte Mitarbeiter sind entscheidend für ihren Erfolg im<br />

Wettbewerb.<br />

Der Gang an die Börse macht also keineswegs nur Firmengrün<strong>der</strong> <strong>und</strong> Aktionäre reich: Von je<strong>der</strong> Mark Kapital,<br />

die den Firmen am Neuen Markt zufließt, wan<strong>der</strong>n 65 Pfennig in die Einstellung neuer Mitarbeiter. Wo jahrelang<br />

Bankkredit in Kleinstportionen verabreicht wurde, kann jetzt aus dem Vollen geschöpft werden – mit deutlichem<br />

Beschäftigungseffekt. Von manchen als „Zockerbude“ geschmäht, hat <strong>der</strong> Neue Markt von 1996 bis 1999 über<br />

40.000 neue Arbeitsplätze entstehen lassen. In vielen Fällen gab es wahre Wachstumssprünge, wie etwa von<br />

sechs Mitarbeitern auf 81 o<strong>der</strong> von 379 auf 890.<br />

Hier finden die wahren Bündnisse für Arbeit statt. Zumal sich zum reinen Stellenzuwachs häufig eine neue<br />

Qualität <strong>der</strong> Arbeitsbeziehungen gesellt: Viele <strong>der</strong> Firmen, die an den Neuen Markt gegangen sind, haben die<br />

Gelegenheit genutzt, ihre Mitarbeiter mit Aktienpaketen am Geschäftserfolg zu beteiligen.<br />

Alles Tropfen auf den heißen Stein, könnte man sagen – aber auch die höhlen ihn irgendwann aus, wenn es nur<br />

genügend viele sind. Und ich bin sicher, nur in diese Richtung kann die Wirtschaftsreise Deutschlands gehen.<br />

Dass <strong>der</strong> Gegensatz von Beschäftigung <strong>und</strong> Sharehol<strong>der</strong>-Value eine Schimäre ist, hatte schon Ludwig Erhard<br />

verstanden. Er sagte, das Schicksal <strong>und</strong> die soziale Sicherheit <strong>der</strong> Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsempfänger <strong>und</strong> <strong>des</strong> kleinen<br />

Sparers würden sich an <strong>der</strong> Börse ablesen lassen, weil sie <strong>der</strong> Gradmesser für Produktivität <strong>und</strong> Leistungskraft<br />

seien. Seine Konsequenzen: Ende von Preisbindung, Planwirtschaft <strong>und</strong> Devisenkontrollen.<br />

Derart rabiate Schritte verlangt Ihnen, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, niemand ab. Aber auch unser aufkeimen<strong>des</strong><br />

neues Jobw<strong>und</strong>er braucht mutigen politischen Feuerschutz. Mehr Erhard, Gerhard!<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Ihr Werner G. Seifert<br />

36


2000, um dann im Jahr 2001 einen Einbruch um ein<br />

gutes Viertel hinnehmen zu müssen. Im MDAX gab es<br />

Steigerungen zwischen 17 <strong>und</strong> 38 Prozent, bevor im Jahr<br />

2001 die Wachstumsrate auf lediglich 0,8 Prozent absank<br />

(Tabelle 1). Die kleineren Unternehmen im SMAX<br />

lieferten 1998 furiose Steigerungen <strong>der</strong> Gewinne, um<br />

dann zuerst in die Stagnation, dann in eine Abschwungphase<br />

<strong>der</strong> Gewinne zu kommen. Die durchschnittlichen<br />

Gewinne <strong>der</strong> börsennotierten Unternehmen lagen in den<br />

Jahren 1998 bis 2001 allerdings mit einer Zunahme<br />

zwischen 12 <strong>und</strong> 51 Prozent deutlich über dem Niveau<br />

von 1997, während die Bruttowertschöpfung insgesamt<br />

nur um fünf Prozent zulegte.<br />

Damit zeigt sich, dass sich innerhalb „Börsendeutschlands“<br />

kein einzelnes Segment systematisch besser geschlagen<br />

hat als alle an<strong>der</strong>en. Im Durchschnitt <strong>der</strong> Jahre<br />

1998 bis 2001 stehen die Giganten <strong>des</strong> DAX beson<strong>der</strong>s<br />

gut da, während <strong>der</strong> SMAX vor allem in den letzten<br />

Jahren unter Problemen litt. Die Entwicklung im MDAX<br />

verlief deutlich stetiger als bei den ganz kleinen <strong>und</strong><br />

den ganz großen Unternehmen.<br />

Stichwort Export: An heimischen Märkten schlagen sich<br />

Unternehmen manchmal leichter – „Heimvorteile“ gibt es<br />

nicht nur beim Fußball. Die immer wie<strong>der</strong> viel beklagten<br />

Nachteile <strong>des</strong> Wirtschaftsstandorts Deutschland haben die<br />

börsennotierten Firmen aber nicht davon abgehalten, auf<br />

den Exportmärkten im Ausland hochgradig erfolgreich<br />

mitzuspielen. Die im DAX vertretenen Firmen, die getrennte<br />

Zahlen ausweisen, steigerten ihre ausländischen Umsätze<br />

zwischen 1997 <strong>und</strong> 2001 um 66 Prozent (allerdings<br />

ohne den Verkauf von DaimlerChrysler in den USA,<br />

<strong>der</strong> eine Son<strong>der</strong>situation darstellt). Der heimische Umsatz<br />

hingegen legte um lediglich zehn Prozent zu. Insgesamt<br />

gelang <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik zwischen 1997 <strong>und</strong> 2001 ein<br />

Exportplus von 40 Prozent. Im Jahr 2001 erlösten so die<br />

DAX-Unternehmen von drei eingenommenen Euro zwei<br />

im Ausland.<br />

Stichwort Beschäftigung: Immer wie<strong>der</strong> wird <strong>der</strong> Verdacht<br />

geäußert, dass sich hohe Profitabilität nur mit Hilfe<br />

kräftiger Produktivitätssteigerung mittels Beschäftigungsabbaus<br />

erreichen ließe. Wirtschaft als großes Spiel, in<br />

dem stets min<strong>des</strong>tens einer verlieren muss; Aktionäre<br />

gegen Arbeitnehmer, mit einem (vermuteten) Platzvorteil<br />

für die Ersteren. Wie sieht die Realität aus?<br />

Zwischen 1997 <strong>und</strong> 2001 nahm die Gesamtzahl <strong>der</strong><br />

Beschäftigten in Deutschland von 33,96 Millionen auf<br />

34,8 Millionen zu – ein Plus von 2,5 Prozent. Dabei reduzierte<br />

<strong>der</strong> Staat die Anzahl <strong>der</strong> öffentlichen Angestellten<br />

um knapp zehn Prozent – eine Folge <strong>der</strong> chronisch leeren<br />

Kassen. Die nicht an den Börsen notierten Unternehmen<br />

hingegen steigerten die Beschäftigung um insgesamt<br />

6,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die inländische<br />

Beschäftigung in allen börsennotierten Unternehmen von<br />

3,1 auf 3,4 Millionen – ein Plus von mehr als zehn Prozent.<br />

Dies bedeutet: Die Volkwirtschaft <strong>des</strong> einen Lan<strong>des</strong><br />

„Börsendeutschland“ schuf insgesamt fast doppelt so<br />

schnell Beschäftigung wie die restliche Privatwirtschaft.<br />

Hätte sich <strong>der</strong> gesamte Privatsektor so entwickelt wie die<br />

börsennotierten Unternehmen, dann hätte Deutschland<br />

im Jahr 2001 35,6 statt 34,8 Millionen Arbeitsplätze<br />

gehabt – genug, um die Arbeitslosenzahl auf 3,2 Millionen<br />

zu senken.<br />

Dabei wurden bereits die Gesamtbeschäftigtenzahlen<br />

<strong>der</strong> börsennotierten Unternehmen um die ausländischen<br />

Angestellten (wie beispielsweise bei BMW in den USA)<br />

bereinigt. Auch in den Unternehmen außerhalb <strong>des</strong> DAX,<br />

die an Deutschlands Börsen notiert sind, ist die Beschäftigungsleistung<br />

durchaus eindrucksvoll. Das durchschnittliche<br />

SMAX-Unternehmen hatte 1997 noch 2.372 Mitarbeiter;<br />

im Jahr 2001 waren es bereits 3.681, eine Zunahme<br />

um 55 Prozent. Ausländische Beschäftigung ist<br />

hier eher selten <strong>und</strong> scheidet als Erklärungsfaktor aus. Im<br />

MDAX betrug <strong>der</strong> Zuwachs stolze 23 Prozent. Doch kein<br />

an<strong>der</strong>er Teil von „Börsendeutschland“ schlägt den viel<br />

Tabelle 1: Durchschnittliche Wachstumsrate <strong>des</strong> Reingewinns nach Steuern <strong>und</strong> <strong>des</strong> Bruttoinlandsprodukts,<br />

1998 bis 2001 (auf Gr<strong>und</strong>lage <strong>des</strong> Median)<br />

1998 1999 2000 2001<br />

DAX 15,4% 11,2% 36,7% – 25,6%<br />

MDAX 19,1% 17,1% 38,1% 0,9%<br />

SMAX 14,9% – 0,1% – 4,7% – 16,0%<br />

BIP Bruttowertschöpfung* 2,0% 1,8% 3,0% 0,6%<br />

* ohne öffentliche Verwaltung, Bun<strong>des</strong>wehr, <strong>und</strong> Sozialeinrichtungen<br />

37


Beschäftigungsentwicklung in Deutschland 1997 bis 2001<br />

(1997=100)<br />

440<br />

NM<br />

420<br />

SMAX<br />

140<br />

MDAX<br />

120<br />

100<br />

DAX<br />

Nicht börsennotierte Unternehmen<br />

Staat<br />

80<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Quellen: Jahresberichte, Statistisches Bun<strong>des</strong>amt.<br />

geschmähten Neuen Markt. Hier beschäftigt das durchschnittliche<br />

Unternehmen heute viermal so viele Mitarbeiter<br />

wie noch 1997. In jedem einzelnen Unternehmen<br />

ist die Zahl <strong>der</strong> Beschäftigten, nach wie vor klein, nahm<br />

aber im Durchschnitt von 164 auf 714 zu. Kombiniert<br />

mit <strong>der</strong> großen Zahl von Börsengängen konnte so die Zahl<br />

<strong>der</strong> insgesamt in Neuer-Markt-Unternehmen arbeitenden<br />

Menschen von 39.000 im Jahr 1997 auf 230.000 im<br />

Jahr 2001 gesteigert werden.<br />

Rechnet man die ausländischen Angestellten mit, so<br />

gewinnt man schnell einen Eindruck davon, wie „gut“ die<br />

Beschäftigungsleistung „Börsendeutschlands“ insgesamt<br />

ist – auch wenn, wegen <strong>der</strong> bekannten Standortnachteile<br />

Deutschlands, häufig <strong>der</strong> Stellenaufbau woan<strong>der</strong>s stattfindet<br />

bzw. durch den Zukauf von Firmenteilen entsteht.<br />

Inklusive ausländischer Angestellter <strong>und</strong> durch Akquisitionen<br />

stieg die Beschäftigung allein bei den DAX-Unternehmen<br />

insgesamt um 18 Prozent.<br />

Damit aber stellen diese Zahlen den Mythos von den<br />

Arbeitsplatz fressenden Börsenunternehmen, die nur auf<br />

den Gewinn schielen, in Frage. Auch wenn Großkonzerne<br />

in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> Beschäftigung abbauen: Trotz ihrer dramatisch<br />

klingenden Ankündigungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Proteste darf nicht aus dem Blick geraten, dass sie unter<br />

dem Strich für einen Zuwachs an Arbeitsplätzen gesorgt<br />

haben. Um einen Sinn für die Größenordnung zu bekommen,<br />

muss man sich nur vergegenwärtigen, dass –<br />

wenn alles an<strong>der</strong>e gleich geblieben wäre – zwei „Neue<br />

Märkte“ das Versprechen von Kanzler Schrö<strong>der</strong> hätten<br />

einlösen können, die Arbeitslosenzahlen um 500.000<br />

zu senken. Dabei sind die indirekten Beschäftigungseffekte<br />

noch nicht einmal mitgerechnet. Das Bun<strong>des</strong>ministerium<br />

für Wirtschaft zum Beispiel schätzt, dass<br />

2001 insgesamt 700.000 Stellen durch den Neuen<br />

Markt geschaffen wurden. Damit aber ist exakt das<br />

Gegenteil <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> zu hörenden Kritik richtig –<br />

börsennotierte Unternehmen wie die <strong>des</strong> Neuen Marktes<br />

schaffen massiv Beschäftigung, auch wenn dabei die<br />

Profitabilität noch nicht den Prognosen entspricht. Dies<br />

gehört zum Konzept, junge Unternehmen zu för<strong>der</strong>n,<br />

dazu – wenn die Geschäftsidee aufgehen soll, muss<br />

zunächst investiert <strong>und</strong> die Infrastruktur für den Erfolg<br />

geschaffen werden. Das Scheitern einzelner Firmen ist<br />

dabei keine peinliche Wi<strong>der</strong>legung von Lobreden auf<br />

die neuen Märkte, son<strong>der</strong>n integraler <strong>und</strong> notwendiger<br />

Teil <strong>des</strong> Prozesses.<br />

38


Allerdings könnten Skeptiker darauf verweisen, dass es im<br />

Jahr 2002 zur Trendwende auch in den börsennotierten<br />

Unternehmen gekommen ist <strong>und</strong> dass die Beschäftigungsgewinne<br />

am Neuen Markt nicht von Dauer sein<br />

können – zu viele Unternehmen verdienen zu wenig o<strong>der</strong><br />

gar kein Geld. Doch auch hier ist eine überschlägige Berechnung<br />

hilfreich, um die Grenzen <strong>des</strong> Arguments zu<br />

erkennen. Insgesamt verloren Neuer-Markt-Unternehmen<br />

im Jahr 2001 gut vier Mrd. Euro <strong>und</strong> beschäftigten<br />

230.000 Mitarbeiter direkt (700.000 insgesamt, wenn<br />

man den Zahlen <strong>des</strong> BMWi vertraut). Damit war <strong>der</strong><br />

gesamte Verlust ungefähr so hoch wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> Deutschen<br />

Telekom mit ihren 250.000 Mitarbeitern allein im ersten<br />

Halbjahr 2002. Jede am Neuen Markt direkt geschaffene<br />

Stelle kostete so im Jahr 2001 insgesamt 17.420 Euro.<br />

Allerdings muss eine faire Beurteilung <strong>des</strong> Neuen Marktes<br />

auch die besseren Jahre vor 2001 berücksichtigen.<br />

Im Durchschnitt <strong>der</strong> Jahre seit 1997 kostete die Durchschnittsstelle<br />

lediglich 8.000 Euro. Zum Vergleich: Eine<br />

ABM-Stelle beim Gelän<strong>der</strong>ecycling in Ostdeutschland<br />

kostete mit 36.000 Euro pro Stelle gut das 4,5fache; die<br />

Durchschnittsausgaben pro Beschäftigten für ABM-Maßnahmen<br />

beliefen sich im Jahr 2001 auf stolze 17.844<br />

Euro. Damit war die Schaffung eines Arbeitsplatzes über<br />

den Neuen Markt auch in einem schlechten Geschäftsjahr<br />

billiger als die Arbeitsbeschaffungsprogramme aus Nürnberg.<br />

Doch damit nicht genug – <strong>der</strong> durchschnittliche<br />

ABM’ler hat nur eine Chance zwischen 24 <strong>und</strong> 44 Prozent<br />

(nach den optimistischen Zahlen <strong>der</strong> BfA selbst), anschließend<br />

eine normale Stelle zu bekommen. Mitarbeiter<br />

in Neuer-Markt-Unternehmen hingegen erwerben wertvolle<br />

Fertigkeiten in normalen Wirtschaftsunternehmen,<br />

zahlen Steuern <strong>und</strong> Sozialabgaben auf oft gute Gehälter<br />

<strong>und</strong> werden zu einem hohen Prozentsatz auch in Zukunft<br />

Beschäftigung haben o<strong>der</strong> finden.<br />

Doch wie steht es mit den Unternehmen, die nicht von<br />

<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>situation <strong>der</strong> Start-ups betroffen sind? Hier<br />

sind Verluste nicht integraler Bestandteil <strong>der</strong> anfänglichen<br />

Durststrecke, son<strong>der</strong>n können schnell zum Signal für eine<br />

dauerhaft in die Irre führende Strategie werden. Mangelnde<br />

Profitabilität ist natürlich auch im DAX, im MDAX<br />

<strong>und</strong> im SMAX nicht unbekannt. 1997 hatten zwölf von<br />

144 erfassten Unternehmen ein negatives Nettoergebnis.<br />

2001 war diese Zahl auf 19 angewachsen; <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

nicht profitablen Firmen nahm unter den börsengelisteten<br />

Titeln also von acht auf 14 Prozent zu. Wie aber schlägt<br />

sich die Volkswirtschaft insgesamt? Genaue, verlässliche<br />

Zahlen über den Anteil <strong>der</strong> Firmen in <strong>der</strong> Verlustzone gibt<br />

es nicht; hinzu kommen Verzerrungen durch Steuersparmodelle<br />

usw. Doch Experten schätzen, dass zwischen<br />

einem Viertel <strong>und</strong> einem Drittel aller deutschen Unternehmen<br />

nicht profitabel arbeitet, vor allem dann, wenn man<br />

die Kapitalkosten für Gebäude usw. voll berücksichtigt<br />

(was bei kleinen <strong>und</strong> mittleren Betrieben nur selten <strong>der</strong><br />

Fall ist). Auch die Zahl <strong>der</strong> Konkurse spricht eher gegen<br />

die Vermutung, dass die Börsennotierung zu hektischem<br />

Aktionismus kurzfristiger Natur einlädt, die langfristig in<br />

die <strong>Krise</strong> führt. Während in Deutschland insgesamt die<br />

Zahl <strong>der</strong> Insolvenzen von Rekord zu Rekord eilt (allein<br />

zwischen dem Jahr 2000 <strong>und</strong> 2001 ist mit einem Anstieg<br />

um 14 Prozent zu rechnen), sind Börsenunternehmen<br />

selbst erstaunlich langlebig. Von den 1997 im DAX<br />

<strong>und</strong> im MDAX gelisteten Unternehmen gingen bis 2001<br />

lediglich vier in Konkurs. Damit liegt die Konkurswahrscheinlichkeit<br />

um ein Fünftel unter den Werten für die<br />

Republik insgesamt. Während überall die Zahl <strong>der</strong> Unternehmen<br />

in Not nach oben schnellte, ging we<strong>der</strong> im Jahr<br />

2000 noch im Jahr 2001 ein CDAX-Unternehmen pleite.<br />

Auch wenn das Jahr 2002 etwas schlechter ausfällt –<br />

von einem systematisch höheren Risiko kann bei börsennotierten<br />

Unternehmen nicht gesprochen werden.<br />

Auch beim Stichwort Insolvenzen steht „Börsendeutschland“<br />

relativ gut da.<br />

Blick nach vorne o<strong>der</strong>: kein Abschied vom<br />

Volkskapitalismus – mehr Markt trotz Vertrauenslücke<br />

Beschäftigungswachstum <strong>und</strong> geringe Insolvenzraten,<br />

hohes Exportvolumen <strong>und</strong> stramme Steigerungen <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsleistung – es klingt, als ob ein Wirtschaftsminister<br />

nach <strong>der</strong> Amtsübernahme mal einen Wunschzettel<br />

für den Weihnachtsmann geschrieben hätte. Doch<br />

die Beschreibung passt auf eine Volkswirtschaft, die <strong>der</strong>zeit<br />

noch geschmäht wird <strong>und</strong> verborgen in einer an<strong>der</strong>en<br />

steckt. Die Gesamtheit <strong>der</strong> börsennotierten Unternehmen<br />

– von uns scherzhaft als „Börsendeutschland“ bezeichnet<br />

– schneidet deutlich besser ab als <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> deutschen<br />

Unternehmen. Bei dem Indikator, <strong>der</strong> die <strong>Wirtschaftspolitik</strong><br />

beson<strong>der</strong>s bewegt, bei <strong>der</strong> Beschäftigung,<br />

schlagen sich alle Gruppen gut – ob groß, ob klein,<br />

ob als Technologieunternehmen im Neuen Markt o<strong>der</strong><br />

als Gigant im DAX.<br />

Was aber kann getan werden, um den nicht börsennotierten<br />

Teil <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft diesem überlegenen Modell<br />

anzunähern? Der Stachel <strong>der</strong> Kapitalmärkte, oft als<br />

Anreiz für kurzfristigen Aktionismus ohne dauerhaften Erfolg<br />

geschmäht, bewirkt ganz offensichtlich kleinere W<strong>und</strong>er.<br />

Selbst an den Weltmärkten schlagen sich die börsennotierten<br />

Firmen gut, trotz <strong>der</strong> hohen Lohnkosten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Regulierungsdichte, <strong>des</strong> beschränkten Fachkräftezuzugs<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> hohen Steuern. Eine <strong>Wirtschaftspolitik</strong>, die auf<br />

39


Runter mit <strong>der</strong> Produktivität! Mike Jordan <strong>und</strong> die fleißigen Deutschen<br />

Sehr verehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

wie groß ist <strong>der</strong> durchschnittliche Amerikaner? Die Antwort: genau 198,7 cm. Sie glauben mir nicht?<br />

Viel zu groß? Dabei habe ich diese Tatsache aus verlässlicher Quelle: einer Statistik über die Größe von H<strong>und</strong>erten<br />

von Amerikanern, aus allen Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung, mit allen nur denkbaren Bildungsabschlüssen <strong>und</strong> aus<br />

allen Regionen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Ihre Maße wurden mit größter Genauigkeit festgehalten, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Durchschnitt,<br />

er ist eben so – knapp zwei Meter. Welche Statistik? Die biographischen Daten aus dem Spielerverzeichnis <strong>der</strong><br />

amerikanischen National Basketball Association.<br />

Purer Unsinn? Natürlich – denn wir wissen beide, dass sportliche Höchstleistung im Basketball nur für „lange<br />

Kerls“ erreichbar ist. Es ist halt kein Zufall, dass Mike Jordan stattliche 198 cm mitbringt. We<strong>der</strong> Sie noch ich<br />

hätten bei seinen Chicago Bulls je eine Chance gehabt. Ebenso wenig <strong>der</strong> durchschnittliche Amerikaner –<br />

über seine Körpergröße sagen die NBA-Zahlen uns nichts.<br />

Offensichtlich – nur fallen wir alle fast jeden Tag auf ganz ähnliche Denkfehler herein. Zum Beispiel dann, wenn<br />

wir von <strong>der</strong> hohen Produktivät deutscher Arbeitnehmer schwärmen: Pro Arbeitsst<strong>und</strong>e, so bestätigt uns die OECD,<br />

leisten unsere Landsleute locker 36 Prozent mehr als Spanier, 15 Prozent mehr als Englän<strong>der</strong> <strong>und</strong> immer noch<br />

9 Prozent mehr als Schweizer. Wer will da noch mäkeln, dass die Löhne hoch sind <strong>und</strong> die Zahl <strong>der</strong> Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />

zu den niedrigsten <strong>der</strong> Welt gehört? Die Deutschen sehen sich als ein außergewöhnlich fleißiges Völkchen,<br />

weil in <strong>der</strong> kurzen Arbeitszeit so richtig in die Hände gespuckt wird. Hohe Löhne, gute Arbeit – na dann,<br />

schönen Urlaub.<br />

Der Haken an <strong>der</strong> Sache: Wer sind diese Produktiven? Gerade einmal 69 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung im arbeitsfähigen<br />

Alter – denn nur sie stehen bei uns in Lohn <strong>und</strong> Brot. In England sind es 74 Prozent, in Japan <strong>und</strong> den<br />

USA 78 <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Schweiz volle 82 Prozent. Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en entwickelten Län<strong>der</strong>n bleibt also bei uns<br />

ungefähr je<strong>der</strong> zehnte potenzielle Arbeitnehmer in <strong>der</strong> Produktivitätsmessung außen vor.<br />

Da wirkt nicht zuletzt das Mike-Jordan-Problem. Denn hohe Löhne sind nicht allein <strong>der</strong> Preis hoher Produktivität.<br />

Oft gilt auch die umgekehrte Rechnung: Weil die Löhne so hoch sind, lohnt nur noch die allerproduktivste Arbeit.<br />

Der Rest wird ins Ausland verlagert. Überall da, wo man Min<strong>des</strong>tlöhne eingeführt hat, ist anschließend auch die<br />

Produktivität gestiegen – denn diejenigen, die auf Gr<strong>und</strong> von Nachteilen in <strong>der</strong> Ausbildung, <strong>der</strong> technischen Fertigkeit<br />

o<strong>der</strong> schöpferischen Gabe nicht produktiv genug sind, müssen jetzt zu Hause bleiben. Niemand kann sie<br />

noch Gewinn bringend einsetzen. Und da die schwächsten Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />

werden, feiert die gehobene Gesellschaft <strong>der</strong> Arbeitsplatzbesitzer die deutlich höhere Produktivität.<br />

Wie wichtig ist dieser Effekt wirklich? Zweifellos wären deutsche Arbeitnehmer immer noch unter den produktivsten<br />

<strong>der</strong> Welt, auch wenn es keine Verzerrungen durch den Mike-Jordan-Effekt gäbe. Und für unser niedriges<br />

Beschäftigungsniveau spielen natürlich auch an<strong>der</strong>e Faktoren eine Rolle – die viel zu langen Ausbildungszeiten,<br />

<strong>der</strong> Militärdienst, die Frührenten <strong>und</strong> die fehlenden Kin<strong>der</strong>krippenplätze, die viele Frauen von <strong>der</strong> Berufsarbeit<br />

fernhalten. Trotzdem – das Lohnkartell treibt den Preis für Arbeit hoch, <strong>und</strong> <strong>der</strong> „Produktivitätsfortschritt“ ist zu<br />

einem guten Teil ein unfrommer Selbstbetrug.<br />

„Runter mit den Löhnen“ wäre natürlich dennoch die falsche Losung. Arbeit wird in Deutschland nicht generell zu<br />

gut bezahlt. Aber es ist zu schwierig, auch die Mitbürger in den Produktionsprozess einzubinden, die es nicht mit<br />

den Titanen <strong>des</strong> Basketballs (o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeitswelt) aufnehmen können. Und hier muss dringend Flexibilität her.<br />

Die Erfahrung zeigt: Wer wie<strong>der</strong> im Arbeitsprozess drin ist, schafft häufig auch den Aufstieg. Soziale Kompetenz,<br />

Selbstvertrauen <strong>und</strong> Arbeitsfähigkeit nehmen zu, sobald Menschen einer geregelten Tätigkeit nachgehen.<br />

Der Einstieg in den Aufstieg für alle muss machbar sein.<br />

Ein einfacher Weg wäre beispielsweise die so genannte negative Einkommensteuer. Heute steht <strong>der</strong> Arbeitslose<br />

vor <strong>der</strong> Wahl, entwe<strong>der</strong> alle Sozialleistungen zu verlieren, wenn er einen einfachen Job annimmt, o<strong>der</strong> zu Hause<br />

zu bleiben. Statt<strong>des</strong>sen sollte <strong>der</strong> Staat seine Leistungen nur schrittweise zurückfahren. Wer auch als Arbeitnehmer<br />

noch arm ist, bezahlt dann nicht nur keine Steuer, son<strong>der</strong>n bekommt noch etwas hinzu. Dann könnten sich<br />

auch Jobs lohnen, die nicht für die Superstars gemacht sind; <strong>der</strong> Staat spart immer noch Geld, weil er zumin<strong>des</strong>t<br />

einen Teil <strong>der</strong> Sozialleistungen vermeidet; <strong>und</strong> aus den Arbeitslosen werden wie<strong>der</strong> produktive Mitbürger.<br />

Sollten eines Tages – wie heute in <strong>der</strong> Schweiz – über 80 Prozent unserer Bürger im arbeitsfähigen Alter im<br />

Berufsleben stehen, dann machen auch einige Prozentpunkte weniger Wirtschaftsleistung pro Beschäftigten<br />

nicht viel aus. Und wenn eine solche Reform die durchschnittliche Produktivität <strong>der</strong> Deutschen drückt, können<br />

Sie, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler, mit Recht behaupten: „Wir haben verstanden.“<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

40


die Stärken <strong>der</strong> „besseren deutschen Wirtschaft“ setzt,<br />

könnte drei Maßnahmen ergreifen:<br />

> Mehr Unternehmen an die Börse<br />

Die Steuersituation bei den Rechtsformen von Unternehmen<br />

könnte so verän<strong>der</strong>t werden, dass ein größerer<br />

Teil <strong>des</strong> Mittelstan<strong>des</strong> den Börsengang nicht länger<br />

scheut. Auch wenn viele an<strong>der</strong>e Faktoren wie die<br />

Mitbestimmungsregelungen, die Aufsichtsratspflichten<br />

usw. den Börsengang unattraktiv erscheinen lassen –<br />

mit <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> steuerlichen Situation (bis hin<br />

zur Berechnungsgr<strong>und</strong>lage bei <strong>der</strong> Erbschaftsteuer)<br />

wäre ein wesentlicher Stolperstein aus dem Weg<br />

geräumt.<br />

> Mehr <strong>und</strong> weitsichtiger privatisieren<br />

Die Beteiligungsportfolios <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> sind immer<br />

noch alles an<strong>der</strong>e als leer – hier könnte noch einmal<br />

kräftig privatisiert werden. Dabei müssten allerdings<br />

die gröbsten Fehler bei den größten Privatisierungen<br />

<strong>des</strong> letzten Jahrzehnts vermieden werden <strong>und</strong> Firmen<br />

auf den Markt kommen, die sich <strong>der</strong> vollen Schärfe<br />

<strong>des</strong> Wettbewerbs aussetzen können.<br />

sehen war. Was bei Schiffsbeteiligungen <strong>und</strong> Ostimmobilien<br />

möglich war <strong>und</strong> zu massiver Fehlallokation<br />

von Kapital führte, kann ohne ähnliche Verwerfungen<br />

<strong>der</strong> Beschäftigung in Deutschland zugutekommen.<br />

Verluste bleiben Verluste, <strong>und</strong> kein Firmengrün<strong>der</strong><br />

wird sie künstlich bei seinem Start-up erzeugen<br />

wollen. Statt<strong>des</strong>sen will er wie schon bisher seine<br />

Produkt- <strong>und</strong> Serviceideen am Markt durchsetzen,<br />

<strong>und</strong> das trägt zur dringend nötigen Restrukturierung<br />

<strong>der</strong> deutschen Wirtschaft bei. Anleger bleiben Risiken<br />

ausgesetzt, teilen sie aber mit <strong>der</strong> Gesellschaft. Und<br />

junge Firmen können leichter Kapital in <strong>der</strong> kritischen<br />

Phase aufnehmen, um ihr weiteres Wachstum zu<br />

finanzieren.<br />

Inmitten einer <strong>der</strong> schlimmsten Kapitalmarktkrisen seit<br />

Jahrzehnten drohen die realwirtschaftlichen Erfolge <strong>der</strong><br />

börsennotierten Unternehmen in Vergessenheit zu geraten.<br />

Doch sie schlagen sich besser als alle an<strong>der</strong>en Teile<br />

<strong>der</strong> Volkswirtschaft, <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e deutlich besser als<br />

<strong>der</strong> nicht dem Druck <strong>der</strong> Kapitalmärkte ausgesetzte Teil.<br />

Deshalb unsere Schlussfolgerung: Trotz Vertrauenskrise<br />

dürfen wir nicht zaghaft vom Volkskapitalismus abrücken<br />

– mehr Markt braucht das Land!<br />

> Mehr <strong>und</strong> marktwirtschaftlicher för<strong>der</strong>n<br />

Wichtiger noch: Wenn <strong>der</strong>zeit mit Job-Floater <strong>und</strong><br />

Ich-AG neue Formen staatlicher Intervention zur<br />

Stärkung <strong>des</strong> Arbeitsmarktes angedacht werden, dann<br />

könnte eine marktbasierte, hochgradig erfolgreiche<br />

<strong>und</strong> flexible Jobmaschine durch Abschreibungen für<br />

Anleger <strong>und</strong> ähnliche Anreize geför<strong>der</strong>t werden – <strong>der</strong><br />

Neue Markt. Je<strong>der</strong> Arbeitsplatz, <strong>der</strong> dort geschaffen<br />

wurde, ist deutlich billiger als eine ABM-Stelle. Zu<br />

denken wäre beispielsweise an Son<strong>der</strong>abschreibungen<br />

auf Kursverluste, die aus dem IPO eines Neuer-Markt-<br />

NM-Unternehmens stammen. Diese müssten auch<br />

von den Anlegern abgeschrieben werden können, die<br />

mit an<strong>der</strong>en Teilen ihres Portfolios Gewinne realisiert<br />

haben. Dadurch würde noch keine neue Form <strong>des</strong><br />

Staatsinterventionismus kreiert – Preise würden nicht<br />

künstlich verän<strong>der</strong>t, <strong>und</strong> keinem Unternehmen würde<br />

vorgeschrieben, was es produzieren soll. Statt<strong>des</strong>sen<br />

würden diejenigen, die mit dem Eingehen von Risiken<br />

Beschäftigung schaffen, einen „Fallschirm“ im Falle<br />

erfolgloser Engagements erhalten. Auch die Gefahr<br />

einer einfachen Preiserhöhung <strong>der</strong> frischen Aktien<br />

(in Höhe <strong>des</strong> Steuervorteils) ist gering – das Angebot<br />

neuer Unternehmen reagiert sehr dynamisch auf<br />

höhere Bewertungen, wie in den letzten Jahren zu<br />

41


6. Gerechtigkeit <strong>und</strong> Risiko – Überlegungen zur<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> „neuen“ Aktienkultur in Deutschland<br />

Neue Wirtschaftsethik – das klingt gut, <strong>und</strong> entspricht <strong>der</strong> Stimmungslage<br />

in <strong>der</strong> Zeit nach Enron <strong>und</strong> WorldCom, nach letsbuyit.com <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Wertvernichtung in Milliardenhöhe an den Aktienmärkten <strong>der</strong> Welt.<br />

Doch nicht nur die Ethik <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entscheidungsträger selbst<br />

gehört auf den Prüfstand; auch die Frage <strong>der</strong> gerechten Verteilung,<br />

das Problem <strong>der</strong> Ungleichheit <strong>und</strong> die Grenzen individualistischen Wirtschaftsgeistes<br />

müssen erneut durchdacht werden. Wir argumentieren,<br />

dass Deutschland hier einen Paradigmenwechsel braucht – weg von <strong>der</strong><br />

statischen Betrachtung von Einkommen <strong>und</strong> Vermögen hin zur Verteilung<br />

von Risiken. Dabei können die Folgen durchaus paradox sein; was vielen<br />

als „Gerechtigkeitslücke“ erscheint, ist eigentlich die logische <strong>und</strong> angemessene<br />

Konsequenz sinnvoller Risikoverteilung. Dabei muss sich<br />

Deutschland nichts f<strong>und</strong>amental Neues einfallen lassen – wie<strong>der</strong> einmal<br />

haben wir kein Erkenntnisproblem. Der Blick in die USA <strong>und</strong> nach<br />

Großbritannien – so unpopulär er geworden sein mag – zeigt, dass diese<br />

Län<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Verteilung von Risiken <strong>und</strong> <strong>der</strong> daraus erwachsenden<br />

„an<strong>der</strong>en Gerechtigkeit“ weiter sind als wir.<br />

„Reich mit Aktien“ o<strong>der</strong> lieber „Millionär in zehn Jahren“?<br />

Der Neue-Markt-Tipp <strong>der</strong> Woche <strong>und</strong> Day-Trading für<br />

Studenten <strong>und</strong> Taxifahrer, damit alle an <strong>der</strong> kommenden<br />

W<strong>und</strong>erwelt <strong>der</strong> New Economy teilhaben können: In den<br />

Fieberträumen mancher Anleger in den späten Neunzigerjahren<br />

schien alles möglich. Der durchschnittliche amerikanische<br />

Anleger erwartete Renditen von zehn bis 15<br />

Prozent, wobei im langfristigen Mittel in den USA allenfalls<br />

acht Prozent drin waren; im Rest <strong>der</strong> Welt waren es<br />

sogar nur vier bis sechs Prozent. Endlich Renditen erzielen<br />

wie Bestsellerautor <strong>und</strong> Ratgeber Bodo Schäfer,<br />

dank Aktien. Risiko hieß in den späten Neunzigerjahren:<br />

Die Kurssteigerungen sind mal größer <strong>und</strong> mal kleiner.<br />

Ein echtes Minus kam selten vor. Neben verantwortungsbewussten<br />

Aktiensparern gab es auch viele unbedarfte<br />

Anleger, die übertriebenen Versprechungen auf den Leim<br />

gingen. Seit die Märkte nicht mehr stetig von Rekord zu<br />

Rekord eilen, herrscht Katerstimmung. Zu Recht. Wer sein<br />

Erspartes ausgerechnet zum Höchststand <strong>der</strong> Indizes im<br />

März 2000 in den Neuen Markt o<strong>der</strong> den DAX investiert<br />

hat, hat zwischen 55 <strong>und</strong> 95 Prozent verloren. Beson<strong>der</strong>s<br />

schlimm hat es diejenigen erwischt, die nur in eine Hand<br />

voll Aktien, einen Sektor wie Telekommunikation o<strong>der</strong> gar<br />

nur in einen Einzeltitel investiert hatten; dort ist auch <strong>der</strong><br />

Totalverlust mittlerweile keine Seltenheit mehr.<br />

Der Schrecken sitzt in Deutschland tiefer als an<strong>der</strong>swo.<br />

Aus verständlichen Gründen: Weil nur wenige Anleger vor<br />

1995 Aktien besaßen, konnten sich nur wenige an Zeiten<br />

kräftiger Kursverluste ohne unmittelbar darauf folgende<br />

Erholung erinnern. Dies ist in Län<strong>der</strong>n mit einer tiefer<br />

verwurzelten Aktienkultur wie Großbritannien <strong>und</strong> den<br />

USA an<strong>der</strong>s. Dort erinnerte man sich häufiger an die erheblichen<br />

Risiken, an die dramatischen Kursstürze angesichts<br />

von Ölkrise, Inflation <strong>und</strong> weltpolitischer Ohnmacht<br />

<strong>der</strong> USA zwischen 1973 <strong>und</strong> 1981. Die Kurse vieler<br />

Aktien erreichten ihr Niveau <strong>der</strong> späten Sechzigerjahre<br />

erst in den Achtzigerjahren wie<strong>der</strong>; fast ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert<br />

war die Realrendite <strong>der</strong> eingesetzten Mittel negativ.<br />

Demgegenüber haben deutsche Anleger eigentlich erst<br />

mit dem netten Herrn Krug <strong>und</strong> seinen Telekom-Aktien<br />

das Aktiensparen gelernt. Und fast scheint es, als sei<br />

die Blüte <strong>der</strong> „Aktienkultur“ auch schon wie<strong>der</strong> verwelkt.<br />

Allein im letzten Jahr gaben über eine Million <strong>der</strong>jenigen<br />

Deutschen, die Aktien besaßen, die Anlageform zu<br />

Gunsten von Sparbuch <strong>und</strong> Sparstrumpf wie<strong>der</strong> auf, <strong>und</strong><br />

auch die Fondsbesitzer kehren <strong>der</strong> Aktie den Rücken.<br />

Die Wut auf Analysten <strong>und</strong> Börsenjournalisten, auf die<br />

Banken <strong>und</strong> den Privatisierungsgewinnler Staat ist groß.<br />

Inmitten <strong>der</strong> Entrüstung darüber, dass statt <strong>der</strong> erwarteten<br />

Kurszuwächse drastische Einbußen zu beklagen sind,<br />

for<strong>der</strong>n immer mehr Investoren <strong>und</strong> Interessenverbände<br />

neue Regeln zum Schutz <strong>der</strong> Anleger. Von <strong>der</strong> Haftbarmachung<br />

<strong>der</strong> Emissionsbanken bei negativem Kursverlauf<br />

<strong>des</strong> IPO bis zur Entschädigung <strong>der</strong> Telekom-Aktionäre<br />

42


durch den Staat gehen manche Ideen; „Aktieninvestitionen<br />

mit Airbag“ werden verlangt. Wir halten solche Vorschläge<br />

für verfehlt. Bei Betrug <strong>und</strong> Bilanzfälschung muss<br />

zwar radikal durchgegriffen werden, doch eine magische<br />

Verwandlung <strong>der</strong> Aktienanlage in einen risikolosen Zaubertrick<br />

dank staatlicher Intervention kann es nicht geben.<br />

Den Implikationen für die Ethik <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />

in den Unternehmen sind wir an<strong>der</strong>swo nachgegangen<br />

(„Kursverluste, Konkurse, ‘Kapital’verbrechen“). Wir meinen,<br />

dass die gegenwärtige <strong>Krise</strong> aber darüber hinaus<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Fragen über den Umgang mit Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Risiko in westlichen Gesellschaften aufwirft. Nirgendwo<br />

trifft dies mehr zu als in Deutschland, wo die Vollkaskomentalität<br />

wie<strong>der</strong> auf dem Vormarsch ist.<br />

Die Frage einer gerechten Verteilung ist eine Gr<strong>und</strong>dimension<br />

ethischen Denkens. Der von uns befürwortete Übergang<br />

zu einer Analyse <strong>der</strong> Allokation von Risiken fängt<br />

an mit einer Betrachtung <strong>des</strong>sen, was eigentlich für ein<br />

lebenswertes Leben notwendig ist. Franklin D. Roosevelt,<br />

<strong>des</strong>sen New Deal das Überleben <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> in<br />

Amerika rettete, hat das einmal so definiert: „People have<br />

a right to three types of securities: decent homes to live in,<br />

productive work and security against the hazards of life“.<br />

Auf diese Gr<strong>und</strong>bedürfnisse hatten die <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Telekom,<br />

<strong>der</strong> Absturz <strong>der</strong> Neuen Märkte <strong>und</strong> die Bilanzierungsskandale<br />

kaum einen Einfluss. Kapitalanlagen können unmittelbar<br />

nur zur letzten <strong>der</strong> „Sicherheiten“ im Sinne<br />

Roosevelts beitragen – den Absicherungen gegen die<br />

Unwägbarkeiten <strong>des</strong> Lebens. Der Haus- <strong>und</strong> Wohnungsbestand<br />

ist so gut wie eh <strong>und</strong> je, <strong>und</strong> die Situation <strong>der</strong><br />

Absicherungssysteme gegen die großen Unwägbarkeiten<br />

im Leben – Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter – ist unverän<strong>der</strong>t<br />

(sie sind auch ohne je<strong>des</strong> Zutun <strong>des</strong> Aktienmarktes<br />

eigentlich pleite). All die unerfreulichen Vorkommnisse<br />

<strong>des</strong> letzten Jahres haben – trotz dramatisch klingen<strong>der</strong><br />

Meldungen in <strong>der</strong> Presse über betriebsbedingte Kündigungen<br />

in einzelnen Unternehmen – we<strong>der</strong> zu einer großen<br />

Steigerung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit geführt, noch die Armen<br />

noch ärmer gemacht o<strong>der</strong> die Einkommensverteilung weiter<br />

gespreizt. Sie haben die Klasse <strong>der</strong> Investoren getroffen,<br />

die die meisten negativen Auswirkungen zu ertragen<br />

hatten <strong>und</strong> haben. Vor allem die Reicheren sind ärmer<br />

geworden; ein Stück „Gerechtigkeitslücke“ wird mit jedem<br />

Tag an Kursverlusten geschlossen. Doch wenn auf Dauer<br />

die wichtigsten Sicherheiten für alle zugänglich bleiben<br />

sollen, müssen wir anfangen, an<strong>der</strong>s über Gerechtigkeit<br />

nachzudenken.<br />

Betrachtungen bisher waren vor allem statischer Natur –<br />

wer hat wieviel, heute? Nimmt man das Thema Risiko<br />

ernst, muss man eher über eine Wahrscheinlichkeitsverteilung<br />

von Einkommen <strong>und</strong> Vermögen nachdenken.<br />

Je breiter sie ausfällt, <strong>des</strong>to höher das Risiko insgesamt.<br />

Für die Gerechtigkeitsthematik ergeben sich, so meinen<br />

wir, zwei Implikationen:<br />

> Wo die Verteilung von Risiken in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> tritt,<br />

muss statt paternalistischer Fürsorge durch die „Solidargemeinschaft“<br />

<strong>und</strong> Versorgungsdenken gerade <strong>der</strong><br />

abhängig Beschäftigten <strong>der</strong> richtige Rahmen für eigenverantwortliche<br />

Entscheidungen geschaffen werden.<br />

> Die gerechte Verteilung von Risiken kann häufig<br />

wichtiger als die Gerechtigkeit <strong>der</strong> Einkommensverteilung<br />

sein. Das alte Standardargument gegen den<br />

Egalitarismus betonte vor allem die Bedeutung von<br />

Leistungsanreizen – wer nicht (mehr) gewinnt, mag<br />

auch nicht (mehr) arbeiten. Nimmt man die Dimension<br />

Risiko ernst, dann kann Umverteilung auch<br />

<strong>des</strong>halb falsch sein, weil sich so unzumutbare Risiken<br />

für Einzelne <strong>und</strong> ein zu hohes Risikoniveau für die<br />

Gesellschaft als ganze ergeben.<br />

Eigenverantwortung <strong>und</strong> Risiko<br />

Der Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen argumentiert<br />

in seinen Schriften zur Wirtschaftsethik, dass<br />

sich Armut we<strong>der</strong> absolut noch rein subjektiv definieren<br />

lasse – nur weil ein Mensch wenig verdient, ist er noch<br />

nicht automatisch arm. Auch die Frage <strong>der</strong> individuellen<br />

Zufriedenheit greift zu kurz: Arme Menschen, <strong>der</strong>en Einkommen<br />

unter einen bestimmten Betrag fällt, können<br />

manchmal glücklich sein. Was Armut jedoch moralisch<br />

problematisch macht, ist <strong>der</strong> Mangel an „Möglichkeiten“<br />

(„capability“, <strong>des</strong>halb auch bekannt als Capability Approach),<br />

die dem Einzelnen ein erfülltes Leben erlauben,<br />

jedoch nicht automatisch ein Einkommen in Höhe von<br />

x Euro pro Tag garantieren. Capability setzt sich aus einzelnen,<br />

breit definierten Gr<strong>und</strong>fertigkeiten zusammen<br />

(„Functionings“), die jedoch nicht absolut bestimmt sind.<br />

Statt<strong>des</strong>sen gibt es in je<strong>der</strong> Kultur spezifische Funktionen,<br />

ohne die ein befriedigen<strong>der</strong> Lebenswandel nicht vorstellbar<br />

ist. Hierzu gehören beispielsweise Bildung, Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> soziale Interaktion.<br />

In entwickelten Län<strong>der</strong>n geht es natürlich nur selten<br />

um Gr<strong>und</strong>fragen dieser Art; Sen hat vor allem die Armut<br />

auf dem indischen Subkontinent inspiriert. Doch zu den<br />

notwendigen „Capabilities“ <strong>des</strong> Wirtschaftsbürgers im<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert in entwickelten Län<strong>der</strong>n gehört es auch,<br />

mit seinen eigenen Anlageentscheidungen sein finanzielles<br />

Schicksal zu bestimmen <strong>und</strong> am Wirtschaftsprozeß<br />

43


aktiv teilnehmen zu können. Die Betrügereien bei Enron<br />

<strong>und</strong> WorldCom <strong>und</strong> auch am Neuen Markt sind vor allem<br />

<strong>des</strong>halb verwerflich, weil Anlegern diese Möglichkeit<br />

genommen wurde. Wo selbst <strong>der</strong> Accounting-Professor<br />

aus Stanford im Aufsichtsrat von Enron nicht mehr durchblickte,<br />

da hatten normale Anleger längst jede Chance<br />

verloren.<br />

Die neue ethische Problematik liegt darin, dass Investoren<br />

<strong>und</strong> Arbeitnehmer dazu verführt wurden, Risiken zu<br />

akzeptieren, die sie nicht verstanden <strong>und</strong> teilweise nicht<br />

wissentlich akzeptiert haben. Gierige Manager <strong>und</strong> Geldgeber<br />

haben Risiko auf an<strong>der</strong>e Leute abgewälzt, ohne<br />

<strong>der</strong>en informierte Zustimmung einzuholen, <strong>und</strong> sie haben<br />

damit <strong>der</strong>en risikoarm scheinende Anlagestrategie unterminiert.<br />

Venture Capitalists haben „high risk startups“ an<br />

die Märkte gebracht, ohne die Investoren über die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Risiken zu informieren. Dadurch ist ein<br />

moralisches Vakuum entstanden, das keine klare Linie<br />

zieht zwischen akzeptablem <strong>und</strong> inakzeptablem Risiko.<br />

Wer von Gerechtigkeit spricht, ist normalerweise schnell<br />

bei politischen Fragen <strong>der</strong> Umverteilung – wem wird was<br />

genommen <strong>und</strong> wem was gegeben? Risiko als ethische<br />

Dimension verlangt eher den unparteilichen Staat, <strong>der</strong><br />

den Interessen einzelner Gruppen übergeordnet ist. Die<br />

Gr<strong>und</strong>regel staatlicher Intervention muss in diesem Kontext<br />

sein, die Voraussetzungen für sinnvolle Entscheidungen<br />

von Privatanlegern, Investmentfonds <strong>und</strong> allen an<strong>der</strong>en<br />

Teilnehmern an den Kapitalmärkten zu schaffen. Gerade<br />

<strong>des</strong>halb ist Transparenz <strong>und</strong> die Durchsetzung von<br />

sinnvollen Bilanzierungsregeln, die auf die Ehrlichkeit <strong>und</strong><br />

Genauigkeit <strong>der</strong> veröffentlichten Information achtet, so<br />

wichtig. Dabei kann es aber keinen Weg zurück in die<br />

Welt staatlich verordneter Risikovermeidung in den Bilanzen<br />

geben. Wo alle Posten mit übergroßer Vorsicht bewertet<br />

werden müssen, damit sich ja kein Unternehmen zu<br />

reich rechnet (es hingegen aber immer ärmer erscheinen<br />

darf, als es eigentlich ist), wird den Anlegern die Möglichkeit<br />

sinnvoller Entscheidungen genommen. Konkrete<br />

Vorschläge für Gr<strong>und</strong>regeln einer verantwortungsethisch<br />

inspirierten Praxis haben wir an an<strong>der</strong>er Stelle diskutiert<br />

(„Kursverluste, Konkurse, ‘Kapital’verbrechen“).<br />

Wenn denn die unabhängige Entscheidung <strong>des</strong> Bürgers<br />

als Wirtschaftssubjekt ernsthaft geschützt werden soll <strong>und</strong><br />

als ethisch bedeutsame Chance im Sinne Sens angesehen<br />

wird, dann muss die Urteilskraft <strong>der</strong> Anleger geschärft<br />

werden. Dies soll kein lockeres „selber schuld“ an die<br />

Adresse <strong>der</strong>jenigen darstellen, die viel Geld verloren<br />

haben. Statt<strong>des</strong>sen ist es höchste Zeit, dass in Deutschland<br />

– ähnlich wie in Großbritannien – Wirtschaftsk<strong>und</strong>e<br />

als Schulfach eingeführt wird <strong>und</strong> bereits Kin<strong>der</strong> die<br />

Gr<strong>und</strong>regeln erlernen, die ihr Leben wesentlich mitbestimmen<br />

werden. Insgesamt ist das Niveau <strong>der</strong> wirtschaftspolitischen<br />

Diskussion, sowohl in den Zeitungen als auch im<br />

Parlament, eher bescheiden, vor allem im internationalen<br />

Vergleich. Wenn „Wirtschaft unser aller Schicksal ist“, wie<br />

Walter Rathenau sagte, dann müssen alle Bürger wissen,<br />

nach welchen Regeln dieses Schicksal über sie richtet.<br />

Dazu gehört dann aber auch, dass die Anleger selbstverantwortlich<br />

wählen, mit welchem Grad an Komplexität<br />

<strong>und</strong> Detail sie sich wirklich vertraut machen wollen. Eine<br />

<strong>der</strong> wenigen plausiblen Erklärungen, warum die Kurse in<br />

den späten Neunzigern so steil nach oben zogen, war die<br />

Annahme geringerer Risikoprämien – Anleger erwarteten<br />

angeblich von Aktien keine höheren Renditen (mehr) als<br />

von Rentenpapieren. Nicht nur, dass beispielsweise <strong>der</strong><br />

US-Stockbroker PaineWebber in seinen Umfragen feststellte,<br />

dass Anleger Kurssteigerungen von 15 Prozent im<br />

Jahr erwarteten – die befragten Anleger erwarteten auch<br />

nach überdurchschnittlichen Kurssteigerungen die gleichen<br />

Renditen. Dies ist natürlich höchst unwahrscheinlich<br />

(auch wenn es alternative Erklärungsmöglichkeiten für<br />

den enormen Bullenmarkt <strong>der</strong> Neunzigerjahre gibt).<br />

Solche Erwartungen, die mit Logik nur schwer zu vereinbaren<br />

sind, müssen dann verschwinden. Das Lesen von<br />

Unternehmensbilanzen ist nur wenigen geläufig, <strong>und</strong> einem<br />

guten Teil <strong>der</strong> Anleger, die sich voller Enthusiasmus<br />

im Neuen Markt engagiert haben, war beispielsweise <strong>der</strong><br />

Unterschied zwischen EBIT <strong>und</strong> EBITDA nicht son<strong>der</strong>lich<br />

vertraut. Investoren sollen weiter Risiken eingehen <strong>und</strong><br />

Aktien von neuen „hot stocks“ zeichnen, aber sie müssen<br />

dies auf <strong>der</strong> Basis von f<strong>und</strong>ierten Entscheidungen über<br />

die gegebenen Risiken tun können. Voraussetzung sind<br />

korrekte Information <strong>und</strong> ein klares Verständnis <strong>der</strong><br />

eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Grenzen bei <strong>der</strong> Beurteilung von<br />

Aktienchancen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Aussichten. Dazu<br />

gehört auch, dass Risiken <strong>der</strong> Kursentwicklung gerade<br />

bei Einzeltiteln keine Überraschung darstellen.<br />

Der informierte Anleger muss, nachdem alle Anstrengungen<br />

zu seiner Weiterbildung gemacht wurden, wissen,<br />

dass man ca. 40 bis 50 Aktien braucht, um ein gut diversifiziertes<br />

Portfolio zu haben. Früher lag diese Zahl noch<br />

bei ca. 20 Titeln, doch das Risiko <strong>der</strong> einzelnen Aktientitel<br />

ist in den letzen Jahren – unter an<strong>der</strong>em wegen <strong>der</strong> Verschuldungspraxis<br />

<strong>der</strong> Unternehmen (die wir näher in<br />

unserem Aufsatz „Marktwirtschaft im politikfreien Raum?“<br />

nachgehen) – deutlich angestiegen. Schaubild eins verdeutlicht<br />

den Zusammenhang. In den Sechzigerjahren<br />

brauchte ein Anleger lediglich fünf Titel, um die Schwankungen<br />

in seinem Portfolio auf jährlich zehn Prozent zu<br />

44


Portfoliovolatilität <strong>und</strong> Anzahl <strong>der</strong> Aktien<br />

(Beispiel USA; Volatilitätsstandardabweichungen <strong>der</strong> Renditen)<br />

0,7<br />

Volatilität<br />

(Standardabweichung <strong>der</strong> Renditen)<br />

0,6<br />

0,5<br />

0,4<br />

0,3<br />

0,2<br />

0,1<br />

0<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50<br />

1986 bis 1997<br />

1963 bis 1973<br />

Anzahl Aktien<br />

Quelle: Campbell et al. 2001.<br />

begrenzen. Heute erreicht er diesen Wert selbst mit<br />

15 Titeln noch nicht.<br />

Wer nur eine Hand voll Einzeltitel besitzt, setzt sich<br />

normen Risiken aus – so schön es auch manchmal sein<br />

kann, wenn die Kurse gerade in die richtige Richtung<br />

laufen. Das aber bedeutet für die meisten Anleger, dass<br />

Fonds, Indexprodukte o<strong>der</strong> Absicherungsstrategien auf<br />

Derivatebasis weitaus besser zu ihnen passen – wenn sie<br />

denn eine realistische Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten<br />

entwickelt haben. Zur Verantwortung <strong>der</strong> Medien,<br />

<strong>der</strong> Investmentindustrie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft sollte<br />

es dann auch gehören, breitere Schichten mit Forschungsergebnissen<br />

wie den sinkenden Diversifikationsmöglichkeiten<br />

schnell vertraut zu machen, damit Anleger aufgeklärt<br />

mit Risiko umgehen können. Wo jahrelang noch<br />

die unbekanntesten technischen Aspekte <strong>des</strong> Internets<br />

diskutiert wurden, um Investoren zum Kauf zu bewegen,<br />

muss auch die Vermittlung einer Hand voll wirtschaftlicher<br />

Gr<strong>und</strong>einsichten möglich sein.<br />

Die Frage einer besseren Wirtschaftsethik kann nicht bei<br />

dem Verhalten individueller Anleger, Konzernlenker, Analysten<br />

<strong>und</strong> Journalisten stehen bleiben. Gerechte Verteilung<br />

ist eine gesellschaftliche Frage. Doch in Zeiten <strong>der</strong><br />

Kurseinbrüche <strong>und</strong> Unternehmenspleiten muss diese neu<br />

formuliert werden – <strong>und</strong> zwar möglichst so, dass sie auch<br />

in Zeiten haussieren<strong>der</strong> Kurse Gültigkeit hat.<br />

Verteilung von Einkommen o<strong>der</strong> von Risiken?<br />

Vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg fand ein langwieriger<br />

<strong>und</strong> komplexer Diskurs über den Abgleich zwischen<br />

sozialer Gerechtigkeit im Sinne einer ausgeglicheneren<br />

Einkommensverteilung einerseits <strong>und</strong> dem immer währenden<br />

Streben nach größerer ökonomischer Effizienz an<strong>der</strong>erseits<br />

statt. Liberale <strong>und</strong> sozialdemokratische Diskussionsbeiträge<br />

drehten sich um die soziale Verpflichtung<br />

gegenüber den weniger Erfolgreichen, den Armen, den<br />

Arbeitslosen, den weniger Talentierten, den Älteren,<br />

kurz um die, denen das Glück weniger hold war <strong>und</strong> ist.<br />

Konservative Denker betonten statt<strong>des</strong>sen immer wie<strong>der</strong>,<br />

dass das fortlaufende Bemühen um höhere Produktivität,<br />

höhere Effizienz <strong>und</strong> eine andauernde Steigerung <strong>der</strong><br />

Produktion gleichzeitig auch die Wohlfahrt <strong>der</strong> sozial<br />

Schwächeren steigere; größere Ungleichheit sei ein<br />

notwendiger Preis für die allgemeine Steigerung <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsleistung.<br />

45


Die Einkommen als Gegenstand <strong>der</strong> Verteilungslogik waren<br />

bei selbst ernannten „Sozialplanern“ wie Eppelmann<br />

<strong>und</strong> Lafontaine beson<strong>der</strong>s beliebt. Gleichzeitig war selbst<br />

linken Agitatoren im Prinzip klar, dass bei Än<strong>der</strong>ungen in<br />

<strong>der</strong> Verteilung <strong>der</strong> Anlagegüter selbst mit massiven wirtschaftlichen<br />

Verwerfungen zu rechnen war. Steuern auf<br />

Bestandsgrößen wie die Vermögensteuer werden aus<br />

gutem Gr<strong>und</strong> als ökonomisch ineffizient angeprangert<br />

<strong>und</strong> immer stärker vermieden. Aber auch die Umverteilung<br />

<strong>der</strong> Einkommen führt zu höheren Risiken auf<br />

gesamtwirtschaftlicher Ebene; die Trennung zwischen beiden<br />

Kategorien ist unsinnig. Ein guter Teil <strong>der</strong> teilweise<br />

enorm hohen „Einkommen“ von Unternehmern stellt<br />

eigentlich keine Entlohnung dar, son<strong>der</strong>n ist Gewinn auf<br />

das in <strong>der</strong> Firma eingesetzte Kapital. Dabei sind die<br />

Risiken natürlich häufig ebenso hoch wie bei <strong>der</strong> Aktienanlage.<br />

Schaubild zwei verdeutlicht die Zusammenhänge<br />

für die Bun<strong>des</strong>republik. Die Arbeitnehmereinkommen<br />

wuchsen zwischen 1971 <strong>und</strong> 2001 pro Jahr real um<br />

2,34 Prozent, die Unternehmereinkommen <strong>und</strong> Einnahmen<br />

aus Vermögen aber nur um 1,99 Prozent. Damit<br />

aber zeigt sich, dass die berühmte Gerechtigkeitslücke,<br />

<strong>der</strong>en Schließung die SPD im Wahlkampf 1998 versprach,<br />

mit <strong>der</strong> Verteilung zwischen Einkommen <strong>und</strong><br />

Kapital nur wenig zu tun hat – in <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik ist<br />

in den letzten 30 Jahren kräftig von „Kapital“ zu „Arbeit“<br />

umverteilt worden. Doch nicht nur, dass die Arbeitnehmereinkommen<br />

schneller anstiegen als die aus Unternehmertätigkeit<br />

<strong>und</strong> Vermögensbesitz – auch das Risiko <strong>der</strong><br />

Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsempfänger war deutlich geringer. Die<br />

Einkünfte aus Unternehmertätigkeit schwankten um das<br />

2,3fache heftiger als die Einkommen <strong>der</strong> Arbeitnehmer.<br />

Nur in sieben <strong>der</strong> letzten 31 Jahre kam es für Angestellte<br />

<strong>und</strong> Arbeiter im Durchschnitt zu realen Einkommenseinbußen,<br />

<strong>und</strong> sie fielen immer relativ mild aus. Nur ein einziges<br />

Mal, im Jahr 1997, gingen die Realeinkommen um<br />

mehr als 1 Prozentpunkt zurück. Demgegenüber waren es<br />

bei den Unternehmereinkommen zwölf „magere Jahre“,<br />

<strong>und</strong> die Rückschläge waren oft erheblich. Im Durchschnitt<br />

sanken die Einkünfte <strong>der</strong> Entrepreneure in schlechten<br />

Jahren um 3,2 Prozent <strong>und</strong> damit mehr als sechsmal so<br />

kräftig wie bei den Arbeitnehmern. Damit sieht es so aus,<br />

als ob es für Einkommen aus Unternehmertätigkeit in <strong>der</strong><br />

Bun<strong>des</strong>republik seit 1970 eigentlich keine „Risikoprämie“<br />

gibt – das Risiko ist hoch, nur die Prämie fehlt.<br />

Bei den vergleichsweise dünnen Eigenkapitaldecken deutscher<br />

Firmen können schon relativ milde Einbrüche <strong>der</strong><br />

Einkommensentwicklung in Deutschland 1971 bis 2001<br />

(Verän<strong>der</strong>ung in % zum Vorjahr)<br />

Durchschnittswachstum<br />

15<br />

+ 2,34% p.a. Arbeitnehmer<br />

+ 1,99% p.a. Unternehmer<br />

10<br />

5<br />

Arbeitnehmer<br />

0<br />

-5<br />

Unternehmer<br />

-10<br />

1971 1981 1991 2001<br />

Quellen: Lange Reihe, Statistisches Bun<strong>des</strong>amt.<br />

46


Profitabilität dazu führen, dass Konkurs angemeldet werden<br />

muss. Unternehmer erleben dann den persönlichen<br />

Bankrott, mit dramatischen Folgen für das soziale Umfeld<br />

<strong>und</strong> den eigenen Lebensstandard. Dass dies keine bloß<br />

theoretische Möglichkeit ist, zeigt die Welle <strong>der</strong> Konkurse<br />

in <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik. Waren 1999 noch 26.000 Firmen<br />

pleite gegangen, so waren es 2001 bereits 32.000; hält<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> ersten Jahreshälfte 2002 weiter an,<br />

werden es dieses Jahr mehr als 40.000 Firmenbankrotte<br />

sein. Dadurch aber leiden auch die abhängig Beschäftigten.<br />

Gut 400.000 Arbeitsplätze waren im Jahr 2001 von<br />

Insolvenzen betroffen, 50.000 mehr als noch im Jahr<br />

2000. Wir wissen, dass Arbeitslosen nicht nur Einkommen<br />

fehlt – <strong>der</strong> Verlust <strong>des</strong> Arbeitsplatzes unterminiert<br />

Selbstwertgefühl <strong>und</strong> Motivation, vielen fehlt schlicht <strong>der</strong><br />

„Sinn <strong>des</strong> Lebens“. Im Sinne von Amartya Sen ist Arbeitslosen<br />

eine <strong>der</strong> zentralen Gr<strong>und</strong>fertigkeiten genommen. In<br />

einer Gesellschaft, die sich als Solidargemeinschaft versteht,<br />

muss die Umverteilung <strong>der</strong> Einkommen abgewogen<br />

werden gegen die Abwälzung <strong>und</strong> Konzentration <strong>der</strong><br />

entstehenden Risiken bei den ärmsten <strong>und</strong> schwächsten<br />

Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Sozialgemeinschaft.<br />

Wer die hochgradig mit Risiko behafteten Einkünfte <strong>der</strong><br />

Unternehmer umverteilen will, erhöht also die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass es irgendwann zu finanziellen Schieflagen<br />

kommt, <strong>und</strong> schädigt damit auch viele abhängig<br />

Beschäftigte. Das tiefere Paradox, von Wolfgang Stützel<br />

formuliert, lässt sich so beschreiben: Je mehr fixe Ansprüche<br />

in einer Gesellschaft verteilt werden, <strong>des</strong>to höher<br />

das Risiko <strong>der</strong>jenigen, die zwischen schwanken<strong>der</strong> Wirtschaftssituation<br />

einerseits <strong>und</strong> hohen Kosten an<strong>der</strong>erseits<br />

gefangen sind. Dabei zählen nicht nur die festen Einkommenszusagen<br />

an die Beschäftigten zum „Fixkostenteil“,<br />

son<strong>der</strong>n auch Renten- <strong>und</strong> Sozialversorgungsansprüche,<br />

die alle in ihrer Höhe allenfalls indirekt von <strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />

Entwicklung betroffen sind. So führt die Tendenz<br />

<strong>der</strong> Risikovermeidung einer Vielzahl gesellschaftlicher<br />

Gruppen zu einem deutlich höheren Maß an Unsicherheit<br />

für alle. Verschärft wird dieses Paradox, wenn die Verteilung<br />

von fixen Ansprüchen die Leistungsanreize untergräbt.<br />

Zusammenfassung<br />

Ernest Hemingway sagte einmal scherzhaft zu Scott Fitzgerald:<br />

„The rich are very different from us. They have<br />

more money.“ Damit bringt er ein Klischee auf den Punkt.<br />

Wir argumentieren, dass diese weit verbreitete Vereinfachung<br />

jedoch das Nachdenken über Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Ethik im Wirtschaftsleben in die Irre führen kann. Die<br />

„Reichen“ haben nicht nur mehr Geld, son<strong>der</strong>n sind auch<br />

häufig mehr <strong>und</strong> größeren Risiken ausgesetzt. Im Wirtschaftsprozess<br />

schafft diese asymmetrische Verteilung von<br />

Risiken Vorteile – Verluste können von „breiten Schultern“<br />

getragen werden, <strong>und</strong> Projekte mit großen Chancen, aber<br />

auch erheblichen Unsicherheiten werden durchgezogen.<br />

An<strong>der</strong>s formuliert – wo Risiken gerecht verteilt werden<br />

<strong>und</strong> eine Gesellschaft in umfassen<strong>der</strong>er Form über Verantwortung<br />

nachdenkt, kann die Ungleichheit <strong>der</strong> Einkommen<br />

<strong>und</strong> Vermögen durchaus auch ansteigen.<br />

Daraus folgt die Notwendigkeit, altbekannte Glaubensgr<strong>und</strong>sätze<br />

zum Thema Gerechtigkeit umzuformulieren.<br />

Statt beispielsweise in einem geringeren Unterschied<br />

<strong>des</strong> Einkommens <strong>der</strong> oberen zehn Prozent im Vergleich<br />

zu den unteren zehn Prozent einen Fortschritt zu sehen,<br />

sollte man unter dem Gesichtspunkt Risikoverteilung<br />

die Wahrscheinlichkeit betrachten, dass Individuen o<strong>der</strong><br />

Familien sich in einer Situation wie<strong>der</strong>finden, in <strong>der</strong> ihnen<br />

Gr<strong>und</strong>möglichkeiten genommen sind. Um den Gr<strong>und</strong>satz<br />

in extremis klar zu formulieren – eine Spreizung <strong>der</strong><br />

Einkommens- <strong>und</strong> Vermögensverteilung kann dann<br />

sinnvoll <strong>und</strong> gerecht sein, wenn sie insgesamt die Gefahr<br />

reduziert, dass sich Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft in einer<br />

Situation vorfinden, wo ihnen Gr<strong>und</strong>fertigkeiten <strong>und</strong><br />

-möglichkeiten fehlen.<br />

Damit wird keineswegs <strong>der</strong> „Gier eine Gasse“ geschlagen,<br />

im Gegenteil. Die notwendigen ethischen Prinzipien sind<br />

alles an<strong>der</strong>e als minimalistisch. Gr<strong>und</strong>sätze für einen<br />

neuen moralischen Rahmen könnten wie folgt lauten:<br />

Erstens: Die bewusste Übernahme von Risiken, um an<br />

Innovation <strong>und</strong> Wachstum zu partizipieren, ist erwünscht,<br />

notwendig <strong>und</strong> lobenswert. Dazu darf aber nicht nur<br />

ermuntert werden, son<strong>der</strong>n es gilt auch, die Risiken unter<br />

Kontrolle zu halten.<br />

Zweitens: Transparenz ist die wichtigste Tugend. Innovation<br />

ist kaum zu finanzieren, wenn die echten Risiken<br />

versteckt o<strong>der</strong> verharmlost werden. Deswegen ist Transparenz<br />

ein moralischer Imperativ für die New Economy;<br />

die verschärften Regeln an Aktienmärkten, vor allem<br />

an den Neuen Märkten, werden helfen, problematische<br />

Geschäftspraktiken zu beseitigen. Praktische Vorschläge<br />

hierzu haben wir in „Konkurse, Kursverluste, ‘Kapital’verbrechen“<br />

bereits gemacht.<br />

Drittens: Die Abwälzung von Risiken auf an<strong>der</strong>e ist<br />

moralisch verwerflich, wenn sie ohne <strong>der</strong>en aufgeklärte<br />

Zustimmung erfolgt. Dazu gehört beispielsweise <strong>der</strong><br />

Zwang auf Arbeitnehmer, Aktien <strong>des</strong> eigenen Unternehmens<br />

in die Fonds zur Sicherung <strong>der</strong> Altersversorgung<br />

47


Raumschiff Enterprise <strong>und</strong> die soziale Gerechtigkeit<br />

Sehr geehrter, lieber Herr Bun<strong>des</strong>kanzler,<br />

Quelle: Briefe an den Bun<strong>des</strong>kanzler; veröffentlicht in „Welt am Sonntag“ im Frühjahr 2000.<br />

stellen Sie sich vor, Sie bereiten sich gerade an Bord <strong>der</strong> USS Enterprise auf den Besuch eines fremden Planeten<br />

vor. Allerdings mit einer kleinen Än<strong>der</strong>ung im Drehbuch: Im Gegensatz zu Mr. Spock <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Weltraumbummlern,<br />

die je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> zurückgebeamt werden können, müssen Sie diesmal bleiben. Und Sie wissen<br />

auch nicht, in welcher Position Sie in <strong>der</strong> neuen Gesellschaft landen werden – ob als Bankdirektor o<strong>der</strong> Straßenkehrer,<br />

Henker o<strong>der</strong> Arzt. Wie sollte dann das Einkommen in einer solchen Welt verteilt sein?<br />

Vereinfacht sieht so das Gedankenexperiment <strong>des</strong> Harvard-Philosophen Rawls aus, <strong>der</strong> damit seine Theorie <strong>der</strong><br />

Gerechtigkeit begründet. Die Gr<strong>und</strong>idee, die Wahl <strong>der</strong> gerechten Gesellschaft ohne Wissen um die eigene Position<br />

vornehmen zu müssen, ist von Kin<strong>der</strong>geburtstagen her bekannt: einer darf die Torte teilen, <strong>der</strong> Nächste darf sich<br />

zuerst etwas nehmen. Rawls ist überzeugt, dass die meisten Menschen sich bei dieser Übung nicht etwa diejenige<br />

Verteilung an Einkommen wünschen würden, die den höchsten durchschnittlichen Lebensstandard bringt.<br />

Statt<strong>des</strong>sen behauptet er, dass die Situation <strong>der</strong> Ärmsten ausschlaggebend sein würde. Wer unter dem „Schleier<br />

<strong>der</strong> Unwissenheit“ über die eigene Position entscheide, werde vor allem das Risiko, in erbärmlichen Verhältnissen<br />

leben zu müssen, minimieren wollen.<br />

Das klingt zunächst so, als sei damit die völlige Gleichverteilung allen Einkommens sinnvoll <strong>und</strong> unvermeidlich.<br />

Aber: Auch Rawls denkt über Anreize nach. Bleibt das Einkommen gleich, egal wie wenig o<strong>der</strong> viel jemand arbeitet,<br />

so legt sich auch auf dem neuen Planeten keiner so recht ins Zeug, <strong>und</strong> die Volkswirtschaft insgesamt leidet.<br />

Ein gewisses Maß an Ungleichheit muss also sein, damit <strong>der</strong> Motor <strong>der</strong> Wertschöpfung – die Chance, die eigene<br />

Situation zu verbessern – nicht ins Stottern gerät. Wohlstand ist vermehrbar. Von denen, die ihre Chancen nutzen<br />

<strong>und</strong> davon profitieren, kann dann wie<strong>der</strong> an die Armen umverteilt werden.<br />

Bekommen die Leistungsträger den größten Teil <strong>des</strong> Kuchens, bleibt den Armen nur wenig; wird zu viel umverteilt,<br />

verlieren letztlich auch die Armen, weil <strong>der</strong> Kuchen insgesamt nur noch langsam wächst o<strong>der</strong> schlimmstenfalls<br />

sogar schrumpft. So mancher mag dabei an England vor Thatcher denken, als Spitzensteuersätze von über<br />

90 Prozent die Leistungsträger vertrieben. Irgendwo gibt es eine Aufteilung, die das Einkommen <strong>der</strong> „Armen“<br />

maximiert – <strong>und</strong> genau diese Art <strong>der</strong> Gestaltung von Gesellschaft ist gerecht, so Rawls.<br />

Nehmen wir an, unser Enterprise-Besatzungsmitglied hätte die Chance, im Deutschland <strong>des</strong> Jahres 2000 zu landen.<br />

In <strong>der</strong> Debatte um die „Gerechtigkeitslücke“ ist es ruhiger geworden, aber <strong>der</strong> egalitäre Anspruch bleibt tief<br />

verwurzelt – ein Prinzip ohne Maßstab. Wo ist Umverteilung noch sinnvoll, wo richtet sie nur noch Schaden an?<br />

Was nützt den Armen noch? Der Bun<strong>des</strong>republik mangelt es nicht an Maßnahmen, Einkommen umzuverteilen –<br />

die sozialen Transfers sind gewaltig, die Einkommensteuer wird auch nach <strong>der</strong> Steuerreform schnell mit dem<br />

Einkommen ansteigen, <strong>und</strong> alles <strong>und</strong> je<strong>des</strong> – vom Vereinsbeitrag bis zur Krankenversicherung <strong>und</strong> zur Lohnanpassung<br />

im öffentlichen Dienst – hat eine „soziale Komponente“.<br />

Schlechter steht es mit den Anreizen. Nicht nur, dass man Produktivitätssteigerung am liebsten in Form von Freizeit<br />

konsumiert (ohne Steuern, versteht sich), statt sich die Leistung auf Heller <strong>und</strong> Pfennig auszahlen zu lassen –<br />

um dann mit dem Staat halbe-halbe zu machen. O<strong>der</strong> dass <strong>der</strong> Mangel an steuerbegünstigten Sparformen für die<br />

Altersvorsorge – im internationalen Vergleich längst überfällig – die drohende Implosion <strong>der</strong> Rentenversicherung<br />

noch beschleunigt. All das kann vielleicht noch als relativ kleine Schönheitsfehler durchgehen – ebenso wie die<br />

Abwan<strong>der</strong>ung von Leistungsträgern nach England <strong>und</strong> in die USA.<br />

Wo die Umverteilung wirklich schadet, ist bei dem mangelnden Anreiz, unternehmerische Risiken einzugehen,<br />

um damit außergewöhnlich gut zu verdienen. Und weil dieser Anreiz fehlt, fehlen auch die Jobs in kleinen <strong>und</strong><br />

mittleren Neugründungen. Von dort müssten sie aber herkommen, weil die Großunternehmen sie heute nicht<br />

mehr zur Verfügung stellen können – überall in <strong>der</strong> Welt geht ihr Anteil an <strong>der</strong> Beschäftigung zurück.<br />

Insgesamt also kein beson<strong>der</strong>s attraktiver Landeplatz, ganz gleich, ob unser Raumfahrer nun als „Bessergestellter“<br />

o<strong>der</strong> als Armer sein Dasein dort fristen muss. Denn Armut <strong>und</strong> die landläufigen Vorstellungen von „sozialer<br />

Gerechtigkeit“ stehen in einem dialektischen Verhältnis. Soziale Verantwortung heißt auch, nicht zuzulassen,<br />

dass Neid <strong>und</strong> Neidsteuern wichtige Anreize abtöten. Das Ziel muss gerade in <strong>der</strong> Sozialpolitik sein, den Armen<br />

ein gutes Leben zu ermöglichen, wie<strong>der</strong>um ohne dabei den Anreiz zu eigener Arbeit <strong>und</strong> Leistung außer Kraft<br />

zu setzen.<br />

Ein ganz falsches Ziel wäre es, auf Gleichheit um jeden Preis durch Umverteilung an jedem Ort zu hoffen. Den<br />

Wandel <strong>der</strong> öffentlichen Debatte einzuleiten ist auch Ihre Aufgabe, Herr Bun<strong>des</strong>kanzler. Die Schlüsseleinsicht,<br />

die es zu verbreiten gilt, lautet: Wer unter Gerechtigkeit nur die Einebnung aller Unterschiede verstehen will <strong>und</strong><br />

so dem Neid ein Mäntelchen umhängt, schadet letztlich den Ärmsten.<br />

Würde die Debatte um soziale Gerechtigkeit in Deutschland erst einmal so geführt, könnte man getrost sagen:<br />

Scotty, beam me down.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Werner G. Seifert<br />

48


aufzunehmen. Die Überwälzung von nicht konsensfähigen<br />

Risiken ist nicht besser als Diebstahl. Dabei<br />

muss in Deutschland weniger über die Rentenzusagen <strong>der</strong><br />

Arbeitgeber im Rahmen von Betriebsrenten nachgedacht<br />

werden – dank Rentensicherungsfonds sind hier Verluste<br />

weniger wahrscheinlich als in den USA. Deutlich problematischer<br />

aber ist beispielsweise, dass jahrelang<br />

die Bürger Versicherungsverträge im Vertrauen auf<br />

die Solidität <strong>und</strong> Risikoarmut <strong>der</strong> Anlagestrategie abgeschlossen<br />

haben, ihr Geld aber in erheblichem Umfang<br />

dann in Aktien floss.<br />

Schließlich, viertens: Risiko muss sich lohnen. Eine<br />

negative „Risikoprämie“ wie in Deutschland in den letzten<br />

30 Jahren stellt genau den falschen Anreiz dar. Reichere<br />

Personen, Organisationen <strong>und</strong> Län<strong>der</strong> sollten ermuntert<br />

werden, einen größeren Anteil von Risiken zu übernehmen.<br />

Sie können eher mit den Folgen riskanter Projekte<br />

umgehen, während die weniger Bemittelten sich um<br />

Arbeitsplatz- <strong>und</strong> Einkommenssicherheit bemühen sollten.<br />

Dazu müssen wir in Kauf nehmen, dass sich in vielen<br />

Jahren die Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich vergrößert.<br />

Die Diskussion um die Gerechtigkeitslücke geht schon<br />

<strong>des</strong>halb in die falsche Richtung, weil sie rein statisch<br />

die Frage <strong>der</strong> richtigen Verteilung betrachtet.<br />

Fünftens: Steuern auf Einkommen <strong>und</strong> Vermögen müssen<br />

die Übernahme von Risiken durch „breite Schultern“ erleichtern,<br />

statt risikoarme Anlageformen zu subventionieren.<br />

Gesellschaftlich akzeptabler Reichtum muss <strong>des</strong>halb<br />

Risiken tragen, die den wirtschaftlichen Wandel beschleunigen.<br />

Auch dies ist in Deutschland heute noch zu selten<br />

<strong>der</strong> Fall; viele <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s wohlhabenden Familien beispielsweise<br />

haben sich weit gehend auf die Verwaltung<br />

ihres Immobilienvermögens verlegt. Diese in <strong>der</strong> Tat sozial<br />

bedenkliche Tendenz wird noch durch die steuerliche Behandlung,<br />

insbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Erbschaftsteuer, verstärkt.<br />

Hier sollte dringend gegengesteuert werden, egal welcher<br />

Couleur die nächste Bun<strong>des</strong>regierung ist. Die Höhe <strong>der</strong><br />

Besteuerung von Wertsteigerungen sowie von regelmäßigen<br />

Zahlungen wie Dividenden <strong>und</strong> Zinsen könnte <strong>der</strong><br />

Risikolastigkeit nach differenziert werden; einfacher noch<br />

wäre die Möglichkeit <strong>der</strong> Verrechnung von Verlusten in<br />

je<strong>der</strong> einzelnen Vermögenskategorie, sodass Kursverluste<br />

bei den Kursgewinnen, die innerhalb <strong>der</strong> Spekulationsfrist<br />

veranlagt werden, voll in Abzug kommen.<br />

für kluge Anlagestrategien (beispielsweise bei Rentensparplänen)<br />

bereitzustellen. Der gegenwärtige Trend zurück<br />

zu den altbekannten Anlageformen kann nur ins Aus<br />

führen. Schlimm für Deutschland – wie will es seine Probleme<br />

mit <strong>der</strong> Altersvorsorge, seinen unterkapitalisierten<br />

Unternehmen, langsamem Wachstum <strong>und</strong> beschränktem<br />

Strukturwandel eigentlich langfristig lösen, wenn je<strong>der</strong><br />

sein Geld wie<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Matratze hortet? Eine Lösung<br />

könnte darin bestehen, die Sparneigung insgesamt<br />

durch Pläne nach dem Vorbild englischer ISAs (Individual<br />

Savings Accounts) zu för<strong>der</strong>n. Dabei können Anleger je<strong>des</strong><br />

Jahr einen bestimmten Betrag einzahlen; die Anlage kann<br />

in Aktien, Renten, Termingel<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Investmentfonds<br />

erfolgen. Zinsen <strong>und</strong> Gewinne bleiben steuerfrei. Eine<br />

Lösung für Deutschland könnte es sein, nach Vorbild<br />

<strong>der</strong> Riester-Rente eine Reihe von Fonds mit vernünftigem<br />

Risikoprofil für die neuen Sparpläne zuzulassen, innerhalb<br />

<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Anleger selbst auswählt. Die Fonds ließen sich<br />

in verschiedene Risikogruppen unterteilen, sodass den<br />

Investoren bereits vor <strong>der</strong> Anlageentscheidung die wahren<br />

Risiken klar werden.<br />

Damit sind drei Gr<strong>und</strong>dimensionen staatlicher Intervention<br />

beschrieben. Risiken zu minimieren <strong>und</strong> transparent<br />

zu machen ist die Voraussetzung für eine gesellschaftspolitisch<br />

verantwortungsbewusste Intervention <strong>des</strong><br />

Staates. Darüber hinaus müssen Anreize für die Verteilung<br />

von Risiken in den Händen <strong>der</strong>er, die mit den Konsequenzen<br />

umgehen können, geschaffen bzw. gestärkt werden.<br />

Schließlich müssen, wenn auch „schwache Schultern“<br />

langfristig Risiken ausgesetzt sind (wie beispielsweise<br />

bei <strong>der</strong> Altersvorsorge), Regeln, Anlageinstrumente <strong>und</strong><br />

Strukturen für die leichtere Beherrschbarkeit <strong>der</strong> entstehenden<br />

Gefahren geschaffen werden.<br />

Abgemil<strong>der</strong>t werden kann eine Zunahme <strong>der</strong> Ungleichheit<br />

von Einnahmen <strong>und</strong> Vermögen, wenn die weniger Wohlhabenden<br />

Risikokonzentrationen – etwa durch die Investition<br />

in Einzelaktien – vermeiden lernen. Auch hierbei hat<br />

die Gesellschaft eine Verantwortung, die richtigen Anreize<br />

49


Meinungen, Kritik <strong>und</strong> ergänzende Anregungen<br />

zu den Diskussionsbeiträgen von Werner G. Seifert<br />

<strong>und</strong> Hans-Joachim Voth sind willkommen.<br />

Das F.A.Z.-Institut wird die Weiterleitung <strong>der</strong><br />

Zuschriften an die Autoren organisieren.<br />

Bitte richten Sie diese an:<br />

F.A.Z.-Institut für Management-, Markt<strong>und</strong><br />

Medieninformationen GmbH<br />

Kontakt: Karin Gangl<br />

Telefon: 0 69 / 75 91 - 22 17<br />

Telefax: 0 69 / 75 91 - 19 66<br />

E-Mail: k.gangl@faz-institut.de<br />

51

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!