Bildungsoffensive (PDF-Datei, 226 kB) - Ilse Wehrmann
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<strong>Bildungsoffensive</strong> Deutschland<br />
Dr. <strong>Ilse</strong> <strong>Wehrmann</strong><br />
Diplom-Sozialpädagogin<br />
D-28211 Bremen Touler Straße 1 Fon 0421 / 44 26 08 Fax 0421 / 4 91 56 08 Mobil 0172 / 422 06 75
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Einleitung............................................................................................. 5<br />
1. Strukturelle Reformmaßnahmen ................................................. 5<br />
Ausgangslage .........................................................................................................5<br />
Quantitativer Ausbau der Kindertagesbetreuung ..........................................................6<br />
Qualitativer Ausbau der Kindertagesbetreuung ............................................................7<br />
2. Professionalisierung der Fachkräfte ......................................... 11<br />
1. Schritt: Start der nationalen Weiterbildungsinitiative ................................................12<br />
2. Schritt: Entwicklung und Einführung eines Bundes -Kerncurriculums..........................14<br />
3. Schritt: Qualifizierung von Ausbilderinnen und Ausbildern........................................14<br />
4. Schritt: Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte..............................................15<br />
Flankierende Maßnahmen ......................................................................................15<br />
Ziele der Ausbildung ..............................................................................................18<br />
3. Implementierung der Bildungspläne ......................................... 19<br />
Ausgangslage .......................................................................................................19<br />
1. Schritt: Bundes-Rahmenbildungsplan....................................................................19<br />
2. Schritt: Angleichung der Bildungspläne der Länder an die Erfordernisse des<br />
Bundes-Rahmenbildungsplans.............................................................................20<br />
3. Schritt: Schaffung eines wissenschaftlichen Instituts zur Entwicklung von<br />
Qualitätskriterien für die Bildungspläne und für deren Sicherung (Evaluierung) ...........20<br />
4. Schritt: Schaffung von Funktionsstellen als Bildungsmultiplikatoren und<br />
Garanten für die Umsetzung der Bildungspläne:.....................................................20<br />
1<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Instrumente zur Qualitätssicherung ..........................................................................21<br />
4. Kinder- und Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser........ 22<br />
5. Zehn-Jahres-Plan: „Marshall-Plan“ für die<br />
Reformmaßnahmen .................................................................... 23<br />
a) Reform der politischen Zuständigkeiten.................................................................23<br />
b) Verpflichtung der Träger zur Beteiligung an der <strong>Bildungsoffensive</strong> ............................24<br />
c) Einberufung von Kinderbeauftragten auf allen politischen Entscheidungsebenen........24<br />
6. „Runder Tisch“ ............................................................................. 25<br />
Funktionen............................................................................................................25<br />
Zusammensetzung ................................................................................................25<br />
Interaktionen zwischen den Ebenen.........................................................................26<br />
7. Gesellschaftliches Umdenken: Überfälliger<br />
Paradigmenwechsel.................................................................... 27<br />
Überfälliger Paradigmenwechsel..............................................................................27<br />
Ausweitung der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht ......................................................29<br />
8. Aufgabe der Eltern: Neues Erziehungs- und<br />
Bildungsverständnis .................................................................... 29<br />
Neues Erziehungs- und Bildungsverständnis .............................................................30<br />
Elternpass ............................................................................................................30<br />
9. Finanzierung................................................................................. 32<br />
2<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Ausgangslage .......................................................................................................32<br />
Investitionsvolumen für die Reformmaßnahmen.........................................................32<br />
Bundesfinanzierung ...............................................................................................33<br />
Gutscheinsystem ...................................................................................................33<br />
„Kinderkasse“........................................................................................................34<br />
Funktionsweise des Gutscheinsystems.....................................................................34<br />
Zweckgebundene Finanzierung ...............................................................................36<br />
Koppelung des Gutscheinsystems an eine Kindergartenpflicht.....................................36<br />
10. Umsetzung: „Chefsache“.......................................................... 37<br />
3<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
„Eine Gesellschaft offenbart sich nirgendwo<br />
deutlicher als in der Art und Weise, wie sie<br />
mit ihren Kindern umgeht.<br />
Unser Erfolg muss am Glück und Wohlergehen<br />
unserer Kinder gemessen werden, die in einer<br />
jeden Gesellschaft zugleich die wunderbarsten<br />
Bürger und deren größter Reichtum sind.“<br />
Nelson Mandela<br />
Anrede,<br />
der Zustand der frühkindlichen Erziehung, Bildung unf Betreuung in Deutschland ist mit desaströs<br />
noch höflich umschrieben. Wenn man ehrlich ist, kommt man nicht umhin, nüchtern festzustellen: „Es<br />
ist bereits fünf nach Zwölf!“<br />
Der einzige Rohstoff, meine Damen und Herren, den dieses Land vorzuweisen hat, ist Wissen. Mit<br />
seinem Knowhow war es über Jahrzehnte im internationalen Wettbewerb führend, doch jetzt sind wir<br />
dabei, unser geistiges Tafelsilber zu verscherbeln. Wir sind dabei, unsere geistige Substanz<br />
aufzuzehren. Doch allmählich wird sichtbar, dass Deutschland im Bereich Bildung von anderen<br />
Nationen überholt wird. Internationale Vergleichsstudien die PISA- oder OECD-Berichte bestätigen<br />
diese Entwicklung. Deutschland ist nicht mehr Primus, Deutschland hat sich längst hinten eingereiht.<br />
Das wirklich Fatale aber ist: Die gegenwärtigen Strukturen in diesem Land sind derart verkrustet,<br />
dass sie jeglichen Reformschritten entgegenstehen. Um wirklich Reformen in der frühkindlichen<br />
Erziehung, Bildung und Betreuung hierzulande einleiten zu können, muss das Problem an den<br />
Wurzeln gepackt werden.<br />
In meinem Vortrag skizziere ich einleitend den dringendsten Reformbedarf im frühkindlichen<br />
Bildungs- und Erziehungssystems in Deutschland vor und stelle Ihnen anschließend mein Konzept<br />
zur Reform des Elementarbereichs hierzulande vor.<br />
4<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
EINLEITUNG<br />
Zur besseren Übersicht stelle ich Ihnen, meine Damen und Herren, vorab die Themenbereiche<br />
meines Vortrags vor:<br />
1. Strukturelle Reformmaßnahmen<br />
2. Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte<br />
3. Implementierung der Bildungspläne<br />
4. Kinder- und Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser<br />
5. Zehn-Jahres-Plan<br />
6. „Runder Tisch“<br />
7. Gesellschaftliches Umdenken<br />
8. Aufgabe der Eltern<br />
9. Finanzierung<br />
10. Umsetzung<br />
1. STRUKTURELLE REFORMMAßNAHMEN<br />
Ausgangslage<br />
Beginnen möchte ich mit der den strukturellen Schwachstellen im frühkindlichen Bereich, speziell<br />
der unbefriedigenden Versorgungslage an Betreuungseinrichtungen. Bei der Verteilung der<br />
Kindertageseinrichtungen verzeichnet Deutschland erhebliche Defizite, vor allem in Bezug auf das –<br />
historisch bedingte – Ost-West-Gefälle bei der Verteilung der frühkindlichen Bildungs- und<br />
Betreuungseinrichtungen. So betrug in Westdeutschland Ende 2002 die Platz-Kind-Relation, d. h. die<br />
Zahl der vorhandenen Plätze bezogen auf die Zahl der Kinder im entsprechenden Alter, für<br />
Kindergartenkinder ca. 88 Prozent, in Ostdeutschland 105 Prozent.<br />
Beim zeitlichen Betreuungsumfang boten im Westen lediglich 24 Prozent der Kindergartenplätze<br />
eine Ganztagsbetreuung an, in Ostdeutschland hingegen entsprach diese Betreuungsform mit 98<br />
Prozent nahezu der Regel.<br />
Die Krippen-Kind-Relation lag im Osten bei ca. 37 Prozent, im Westen wies sie nur 2,7 Prozent auf.<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
5
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Auch im Hortbereich lag Ende 2002 die Platz-Kind-Relation im Osten mit rund 41 Prozent deutlich<br />
über dem Westniveau, das lediglich ca. fünf Prozent aufwies.<br />
Vor allem die Versorgungfslage im Westen Deutschlands und hier insbesondere im Krippen- und<br />
Hortbereich liegt weit unter internationalem Niveau.<br />
Quantitativer Ausbau der Kindertagesbetreuung<br />
Das derzeitige Kinderbetreuungsangebot ist unzureichend und nicht bedarfsgerecht. Die Pläne des<br />
Bundesfamilienministeriums, bis zum Jahre 2010 rund 750 000 neue Krippenplätze bereitzustellen,<br />
geht in die richtige Richtung, greift aber noch nicht weit genug. Auch bei der Betreuung der<br />
Altersgruppe zwischen drei und sechs Jahren sind – obwohl hier die quantitative Versorgungsquote<br />
auf den ersten Blick weitaus günstiger erscheint – bei genauerer Betrachtung der Qualität des<br />
Leistungsangebots Verbesserungen nötig. Hier wurde in den vergangenen Jahren im Zuge der<br />
gesetzlich festgeschriebenen Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz das Hauptaugenmerk<br />
auf den quantitativen Ausbau an Kita-Plätzen gelegt, die qualitativen Aspekte aber nicht in gleichem<br />
Maße berücksichtigt. Mangels verbindlicher und vergleichbarer flächendeckender Qualitätssicherung<br />
in den Einrichtungen hat die Öffentlichkeit dieses Manko bislang kaum wahrgenommen.<br />
Aus dargelegten Gründen sind für einen bedarfsgerechten qualitativen Ausbau der<br />
Kindertagesbetreuung vor allem folgende Reformmaßnahmen erforderlich:<br />
< Konsequente Umsetzung des vom Bundesfamilienministerium angekündigten Ausbaus der<br />
Bildung und Betreuung von unter Dreijährigen auf ca. 750 000 Krippenplätze<br />
< Ausweitung des gesetzlichen Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz mindestens ab<br />
zwei Jahren, bei Bedarf auch ab dem ersten Lebensjahr<br />
< Beitragsfreiheit am Eingang der Bildungsbiografie<br />
< Erweiterung der gesetzlich festgelegten Betreuungsdauer für Drei- bis Sechsjährige von jetzt<br />
vier übergangsweise auf mindestens sechs Stunden täglich mit dem Ziel, sie auf analog den<br />
Ganztagsschulen auf ganztags auszuweiten<br />
Mit der Ausweitung des Betreuungsangebotes allein ist es nicht getan. Mittelfristige Zielsetzung sollte<br />
die Schaffung von kostenlosen Kinderbetreuungsplätzen für alle Kinder im Vorschulalter sein. Diese<br />
macht aber nur dann Sinn, wenn sie mit einer Verbesserung der Infrastruktur gekoppelt ist. Die<br />
wichtigsten Kriterien sind im Folgenden aufgeführt.<br />
6<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Qualitativer Ausbau der Kindertagesbetreuung<br />
a) Strukturelle Dimension der pädagogischen Qualität<br />
Die Umsetzung der Bildungspläne setzt eine qualitativ hochwertige Ausgestaltung der Kitas als<br />
Betreuung- und Bildungseinrichtungen sowohl in pädagogischer als auch in struktureller Hinsicht<br />
voraus. Hier hat Deutschland im int ernationalen Vergleich besonderen Nachholbedarf. Die<br />
Ausgestaltung der Einrichtungen auf westeuropäisches Niveau setzt insbesondere folgende<br />
Reformmaßnahmen voraus:<br />
< Kleinere Gruppen: Angleichung des Betreuungsschlüssels von derzeit ca. 24 Kindern pro<br />
Fachkraft auf die von der EU empfohlene Gruppengröße von 6 bis 8 Kindern je<br />
Erzieherin/Erzieher.<br />
Anzahl der Kinder pro Erzieherin im Jahr 2002<br />
< Eigener Betreuungsschlüssel für Kinder mit Migrationshintergrund und behinderte Kinder:<br />
diese Kinder mit schlechteren Bildungschancen und -voraussetzungen erhalten in kleineren<br />
Gruppen eine interdisziplinäre Förderung durch interdisziplinär zusammengesetzte Teams<br />
(zusätzlich qualifizierte Fachkräfte wie Behindertenpädagoginnen und -pädagogen,<br />
Logopädinnen und Logopäden u. a.).<br />
7<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Alter der Kinder<br />
Gruppengröße<br />
Amerikanische Standards<br />
0 bis 24 Monate<br />
25 bis 36 Monate<br />
37 bis 60 Monate<br />
1 Fachkraft: 3 Kinder<br />
1 Fachkraft: 6 Kinder<br />
1 Fachkraft: 8 Kinder<br />
Standards des Kinderbetreuungswerks<br />
der EU<br />
(1966)<br />
0 bis 24 Monate<br />
24 bis 36 Monate<br />
38 bis 48 Monate<br />
48 bis 60 Monate<br />
1 Fachkraft: 3 Kinder<br />
1 Fachkraft: 3–5 Kinder<br />
1 Fachkraft: 5–8 Kinder<br />
1 Fachkraft: 6–8 Kinder<br />
Pädagogische Standards für Personalschlüssel<br />
< Mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Kinder: würde bei kleineren Gruppen<br />
zwangsläufig zur Verfügung stehen.<br />
< Bessere Ausstattung: mit pädagogisch wertvollen Spielsachen und Arbeitsmaterialien für die<br />
Kinder, inklusive für die Altersgruppe geeigneter neuer Medien; die Ausstattung bezieht sich<br />
auch auf die Raumgestaltung in der Einrichtung.<br />
< Bessere Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte.<br />
< Bessere Betreuungsbedingungen: diese beziehen sich vor allem die Stabilität der<br />
Betreuung, die Strukturierung des Betreuungsbedarfs und Aspekte wie Sicherheit und<br />
Gesundheit der Kinder. Es müssen die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Betreuung<br />
der Kinder in stabilen Situationen durch „ihre“ Erzieherinnen und Erziehern geschaffen<br />
werden, ebenso für einen routinierten, fest vorgegebenen Tagesablauf, der aber flexible<br />
Aktivitäten wie freies Spiel zulässt. Des Weiteren müssen alle Einrichtungen höchste<br />
Sicherheits- und Hygienestandards erfüllen.<br />
< die Professionalisierung der Tagesmütter muss durch entsprechende Ausbildungs - und<br />
Supervisionsangebote gewährleistet werden<br />
< für die Altersgruppe bis drei Jahre ist die Entwicklung eines pädagogischen Konzeptes für<br />
die außerfamiliale Erziehung, Bildung und Betreuung dringend erforderlich<br />
8<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
b) Prozessuale Dimension der pädagogischen Qualität<br />
Die prozessualen Dimensionen pädagogischer Qualität beziehen sich auf die täglichen Erfahrungen<br />
des Kindes mit dem Betreuungspersonal, insbesondere auf die in den unterschiedlichen<br />
Betreuungssituationen stattfindenden Interaktionen zwischen ihnen. Sie bezieht sich aber auch auf<br />
die Qualität der Interaktion der Kinder bzw. des Betreuungspersonals untereinander, die Interaktion<br />
zwischen Betreuungspersonal und Träger sowie den Eltern. Hierzu gehören vor allem:<br />
Interaktion Betreuungspersonal – Kinder<br />
Die Beziehung zwischen Erzieherinnen bzw. Erziehern und Kind ist von zentraler Bedeutung für eine<br />
qualitativ hochwertige Betreuung und für die Entwicklung des Kindes mitbestimmend. So scheinen<br />
gefühlsbetonte und informative sprachliche Interaktionen zwischen der Betreuungsperson und dem<br />
Kind die Entwicklung verbaler und kognitiver Fertigkeiten zu beschleunigen.<br />
Umfang der Interaktion<br />
Kinder, deren Kontakt zur Erzieherin eingeschränkt ist, erkunden ihre Umwelt hingegen weniger aktiv<br />
und verbringen mehr Zeit mit ziellosem Umherwandern. Sie befinden sich im Spiel sowie in der<br />
sprachlichen Entwicklung auf einer niedrigeren Entwicklungsebene.<br />
Einfühlsamkeit und Einfühlungsvermögen der Erzieherin<br />
Kindergartenkinder unter der Aufsicht von einfühlsamen Erzieherinnen, die auf ihre Interaktionen<br />
eingehen, sind stärker an der aktiven Erkundung ihrer Umwelt beteiligt, was wiederum ihre<br />
Lernmöglichkeiten sowie eine fortgeschrittenere Sprach- und/oder kognitive Entwicklung erhöht.<br />
Wechselseitige statt einschränkende Interaktionen<br />
Wechselseitige Interaktionen führen zu deutlich mehr verbalem Austausch, dies ist wiederum<br />
assoziiert mit einer höheren Sozialkompetenz des Kindes und einer besseren Sprachentwicklung.<br />
Interessierte und unterstützende Erzieherin<br />
Kinder, deren Erzieherinnen aktives Interesse an ihren Betätigungen äuß ern und ihnen viel<br />
Unterstützung zukommen lassen, zeigen ein besonders ausgeprägtes Explorationsverhalten,<br />
vermehrt imitatives Spielverhalten und positive Interaktionen mit den Peers, mehr Sozialkompetenz,<br />
sowie eine fortgeschrittenere sprachliche und kognitive Entwicklung.<br />
9<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
c) Kontextuelle Dimension der pädagogischen Qualität<br />
Zu den wichtigsten kontextuellen Dimensionen pädagogischer Qualität gehören:<br />
Führungsstil<br />
< Der Führungsstil der Leitung ist maßgebend für die Motivation und das Engagement die<br />
Erzieherinnen und Erzieher. Zu den wichtigsten Führungskriterien gehören u. a.<br />
< Einbeziehung der Mitarbeiter in die Curriculumplanung<br />
< Professionalismus der Leitung<br />
< persönlicher Umgangsstil der Leitung (kollegial/kontrollierend<br />
< Einbeziehung der Mitarbeiter in ges amtregulatorische Maßnahmen innerhalb der Einrichtung<br />
< Das Fehlen von Feedback und Unterstützung durch Leitung korreliert dagegen mit<br />
Betriebsklima<br />
Unzufriedenheit am Arbeitsplatz.<br />
Das Betriebsklima wird maßgeblich beeinflusst von den existierenden Bedingungen am Arbeitsplatz,<br />
welche auf der kollektiven Wahrnehmung der Angestellten basieren. Erzieherinnen aus einer<br />
Einrichtung mit hohem Qualitätsstandard nehmen ihre Arbeit deutlich positiver wahr, die<br />
Personalfluktuation ist geringer.<br />
Vergütung des Personals<br />
Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Höhe des Gehalts und Qualitätsaspekten wie häufigem<br />
Personalwechsel oder Ausbildung der Erzieherinnen.<br />
Arbeitsbedingungen<br />
Erzieherinnen und Erzieher, die mit ihrer Stelle unzufrieden sind, gehen mit höherer<br />
Wahrscheinlichkeit rüde und restriktiv mit den Kindern um und initiieren weniger Aktivitäten, um die<br />
Entwicklung der Kinder zu unterstützen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass greifbare Erfolge in der frühkindlichen Bildung unter<br />
gegebenen Bedingungen nicht zu erzielen sind, weil die pädagogische Qualität in den<br />
Tageseinrichtungen für Kinder nicht gesichert ist und weil eine Evaluation von Bildungsplänen eine<br />
zentrale und noch zu leistende Aufgabe darstellt.<br />
10<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
2. PROFESSIONALISIERUNG DER FACHKRÄFTE<br />
Gestatten Sie mir die nüchterne Feststellung: Die Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland<br />
gehören zu den am schlechtesten ausgebildeten in Europa! Eine weitere Feststellung lautet: Der<br />
Kita-Bereich ist eine „akademikerfreie Zone“!<br />
Nur ca. 3,1 Prozent des hier tätigen gesamten pädagogischen Fachpersonals haben einen<br />
Fachhochschul- oder Universitätsabschluss. Dies ist gegenüber anderen Feldern der Kinder- und<br />
Jugendhilfe eine Besonderheit. Die Akademikerquote in Jahr 2002 lag zum Beispiel in der Jugendarbeit<br />
bei 42,5 Prozent, in Jugendämtern und -behörden bei 51,6 Prozent, in Beratungsstellen<br />
knapp sogar bei 86 Prozent. Selbst bei den freigestellten Leitungskräften der Kitas liegt der Akademikeranteil<br />
durchschnittlich bei nur knapp 16 Prozent. Diese Quote variiert je nach Bundesland<br />
jedoch deutlich.<br />
BRD<br />
insgesamt<br />
Freigestelltes<br />
Leitungspersona<br />
l<br />
Insges<br />
amt<br />
Akad-<br />
Ant.<br />
Pädagogisch<br />
tätiges Personal<br />
in der Gruppe<br />
Insgesa<br />
mt<br />
19.658 15,8 326.84<br />
0<br />
West BL* 12.223 18,5 242.56<br />
3<br />
Akad-<br />
Ant.<br />
Summe Leitungspersonal<br />
und Personal<br />
in der Gruppe<br />
Insgesamt Akad-<br />
Ant.<br />
2,6 326.498 3,3<br />
2,9 254.786 3,8<br />
Östl. BL* 3.131 4,9 59.014 1,2 62.145 1,4<br />
Pädagogisches Personal in Kindertageseinrichtungen nach Qualifikation<br />
Das gegenwärtige Qualifizierungssystem für Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland wird<br />
modernen Ansprüchen bei Weitem nicht entspricht. Neben inhaltlichen und strukturellen Defiziten<br />
weisen auch die theoretischen Grundlagen Schwächen auf:<br />
< die europäische Dimension ist in der Ausbildung zu wenig berücksichtigt,<br />
< das Fort- und Weiterbildungssystem ist nicht mehr zeitgemäß und<br />
< die beruflichen Perspektiven und Entwicklungschancen für Erzieherinnen und Erzieher<br />
lassen zu wünschen übrig.<br />
Was also ist zu tun? Meines Erachtens verspricht folgendes schrittweises Vorgehen Aussicht auf<br />
Erfolg:<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
11
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
1. Schritt: Start der nationalen Weiterbildungsinitiative<br />
2. Schritt: Entwicklung und Einführung eines Bundes -Kerncurriculums<br />
3. Schritt: Qualifizierung von Ausbilderinnen und Ausbildern<br />
4. Schritt: Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte<br />
Zusätzlich: flankierende Maßnahmen<br />
Lassen Sie mich mit der Beschreibung des ersten Schrittes beginnen:<br />
1. Schritt: Start der nationalen Weiterbildungsinitiative<br />
Zunächst bedarf es einer Nationalen Weiterbildungsinitiative mit dem Ziel einer flächendeckenden,<br />
berufsbegleitende Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte auf Hochschulniveau.<br />
Qualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher<br />
Dem Beispiel Südtirols folgend sollten Erzieherinnen und Erzieher mit Schulpädagoginnen und -<br />
pädagogen ein gemeinsames dreijähriges Grundstudium absolvieren und sich in den letzten beiden<br />
Studienjahren auf den Elementarbereich spezialisieren – mit Abschluss Bachelor. Verpflichtender<br />
Bestandteil dieses Studiums sollte ein Praktikum im Ausland sein. Mittelfristig sollte ihr Studium wie<br />
das der Schulpädagoginnen und -pädagogen mit Master abschließen.<br />
Ein entsprechendes Weiterbildungscurriculum haben die Uni Bremen und der Bremische<br />
Landesverband Evangelischer Tageseinrichtungen entwickelt und bieten es bereits an.<br />
Qualifizierung der Leitungs- und Führungskräfte sowie Fachberatungen<br />
Für Kita-Leitungen sollte berufsbegleitend eine Weiterbildung auf Hochschulniveau mit Master-<br />
Abschluss angeboten werden. Der erste Teil des Studiums beinhaltet allgemeine Fächer zur<br />
Frühpädagogik und Schule, der zweiten Teil bezieht sich auf spezielle Leitungsaufgaben in<br />
Kindertageseinrichtungen. Mittelfristig sollte diese Hochschulausbildung obligatorisch und<br />
Voraussetzung für die Übernahme von Leitungsfunktionen im Elementarbereich sein. Beispielhaft für<br />
diesen Studiengang sei das Curriculum der Fachhochschule Remagen genannt, für die verbindliche<br />
Weiterbildung von Gruppenleitungen sowie von zuständigen Entscheidern bei den Trägern das<br />
Curriculum der Universität Bremen<br />
12<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern für Kinder unter drei Jahren<br />
Die Qualifizierung von nicht institutioneller Kinderbetreuung (vor allem Tagesmütter) ist dahingehend<br />
zu verbessern, dass neben der Betreuung auch der Bildungsauftrag qualifiziert erfüllt werden kann.<br />
Diese Auffassung teilt auch die Mehrzahl der befragten Expertinnen und Experten. Ihrer Meinung<br />
nach kann „kontinuierliche Weiterbildung“ dazu beitragen, den Bildungsauftrag qualifiziert zu erfüllen.<br />
Die Teilnahme an „Aus - und Weiterbildungsmaßnahmen sollte wie in Frankreich auch mit<br />
Zertifikaten“ bestätigt werden. Darüber hinaus schlagen wie vor, „öffentliche Zuschüsse für<br />
Tagespflege an die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen und fachlicher Begleitung zu binden“.<br />
Neben der berufsbegleitenden Weiterqualifizierung sollten neue Studienmethoden wie<br />
< E-Learning oder eine<br />
< Verbindung von E-Learning und Präsenzzeiten, aber auch<br />
< Fernstudiengänge<br />
verstärkt angeboten und genutzt werden.<br />
Kriterien an die Ausbildung<br />
Die Ausbildung sollte dem internationalen Niveau entsprechen, sodass der Abschluss auch im<br />
Ausland anerkannt wird und eine Berufsausübung außerhalb Deutschlands ermöglicht.<br />
Curriculare Elemente<br />
Das Ausbildungskonzept sollte innovative wissenschaftliche, didaktische und methodische<br />
Grundlagen vermitteln, ebenso<br />
< neue Technologien für die Ausübung des Berufs,<br />
< die Organisation von Bildungsprozessen bei den Kindern und<br />
< neue Dimensionen von Theorie und Praxis.<br />
Kernkompetenzen<br />
Zu den Kernkompetenzen, die Erzieherinnen und Erzieher in ihrer Ausbildung erwerben sollen,<br />
gehören:<br />
< Arbeit mit Kindern und Gruppen<br />
< Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen<br />
13<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
< Arbeit mit Institutionen und Teams<br />
< Arbeit mit dem Umfeld<br />
Qualifikationsbereiche<br />
Die Ausbildung sollte Erzieherinnen und Erzieher auch für folgende Aufgabenbereiche qualifizieren:<br />
< Wissen und Verstehen<br />
< Inhalte verstehen und planen<br />
< Analyse und Recherche<br />
< Planung, Konzeption und Entwicklung<br />
< Organisation und Durchführung von Lernprozessen<br />
< Evaluation<br />
Inhaltlich-fachliche Weiterbildungsmaßnahmen wie beispielsweise an der Universität Bremen<br />
angeboten sind einem späteren Studium anzurechnen.<br />
2. Schritt: Entwicklung und Einführung eines Bundes-Kerncurriculums<br />
Analog den Bildungsplänen für die frühkindliche Bildung der Länder sind auch die<br />
Ausbildungsbedingungen und -curricula für Erzieherinnen und Erzieher je nach Bundesland<br />
verschieden. Sie sind uneinheitlich, unverbindlich, unkoordiniert und nicht aufeinander abgestimmt.<br />
Deshalb benötigt auch die Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte einen einheitlichen,<br />
bundesweit geltenden verbindlichen Orientierungsrahmen, ein institutionenübergreifendes Bundes-<br />
Kerncurriculum für die Altersgruppe von 0 bis 12 Jahren, innerhalb dessen die Länder ihre<br />
Ausbildungscurricula ausgestalten können. Neben der Entwicklung dieses Kerncurriculums muss<br />
aber auch gewährleistet sein, dass die darin festgeschriebenen Inhalte, Kompetenzen und Methoden<br />
auch adäquat vermittelt werden. Die dafür erforderlichen Maßnahmen sind im Folgenden<br />
beschrieben.<br />
3. Schritt: Qualifizierung von Ausbilderinnen und Ausbildern<br />
Voraussetzung für eine flächendeckende Weiterqualifikation der pädagogischen Fachkräfte,<br />
(Gruppen-)Leitungen, Fachberatungen sowie Fortbilderinnen und Fortbilder ist, dass die Ausbilder<br />
und Ausbilderinnen, d. h. die Lehrkräfte an den Fachschulen ein Studium mit Master-Abschluss an<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
14
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
einer Fachhochschule bzw. Universität absolvieren, das auch im Ausland anerkannt wird. Dieses<br />
Studium sollte zunächst berufsbegleitend angelegt, mittel- und langfristig aber obligatorische<br />
Zugangsvoraussetzung für den Lehrberuf auf Hochschulniveau sein.<br />
Dabei ist auf eine bessere Verbindung von Forschung und Praxis in der Hochschulausbildung durch<br />
eine stärkeren Verzahnung des Personals zu achten: Es müssen auch Praktiker unterrichten,<br />
umgekehrt aber auch Wissenschaftler in die Praxis gehen, zum Beispiel zu Forschungszwecken<br />
Es müssen aber auch Erzieherinnen und Erzieher im Verlaufe des Studiums Forschungsaufträge<br />
erhalten bzw. an diesen mitwirken, um Forschungstechniken kennen zu lernen, Forschungsbefunde<br />
aufzubereiten und wissenschaftliche Texte zu erstellen. Diese Fähigkeiten können sie später in ihren<br />
Beruf mit einbringen.<br />
4. Schritt: Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte<br />
Nach Einführung der obligatorischen Hochschulausbildung absolvieren Erzieherinnen und Erzieher<br />
mit Schulpädagoginnen und -pädagogen das gemeinsame dreijähriges Grundstudium und<br />
spezialisieren sich in den letzten beiden Studienjahren auf den Elementarbereich – mit Abschluss<br />
Master. Auch bei diesem Studium ist ein Auslandspraktikum verpflichtender Bestandteil sein.<br />
Schweden zeigt, dass es auch noch konsequenter geht: es praktiziert eine radikalere und<br />
konsequentere Ausbildung in Form eines gemeinsamen Studiums für die Bildung von Kindern von<br />
null bis 18 Jahren.<br />
Flankierende Maßnahmen<br />
Erweiterung der beruflichen Voraussetzungen für Frühpädagogen<br />
Mittel- und langfristig sollten die der Eingangsvoraussetzungen für den Erzieherinnen- und<br />
Erzieherberuf um folgende Kriterien erweitert werden:<br />
< Abitur<br />
< erforderliche Persönlichkeitsmerkmale und Haltungen, die vor Aufnahme der Ausbildung in<br />
einem Aufnahmegespräch in der Hochschule geprüft werden und<br />
< die Beherrschung mindestens eines Musikinstruments zur Förderung der musisch-kreativen<br />
Entwicklung der Kinder<br />
15<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Schaffung einer Funktionsstelle für Bildungsmanagement<br />
Bereits kurzfristig sollte in jeder Einrichtung eine Funktionsstelle für Bildungsmanagemen zur<br />
Steuerung und Überwachung der Implementierung und Umsetzung der Bildungspläne geschaffen<br />
werden. Diese Funktion könnte anfangs eine Fachberatung ausüben, mittelfristig sollte diese<br />
Aufgabe ein Hochschulstudium mit Master-Abschluss voraussetzen.<br />
Die Funktionsstellenihaberinnen und -inhaber sollten forschungsgestützte Interventionsmethoden für<br />
die Implementierung von Bildungsplänen beherrschen.<br />
Anleitung durch Mentorinnen und Mentoren<br />
Nach Abschluss der Hochschulausbildung werden die berufsunerfahrenen Erzieherinnen und<br />
Erzieher in der Anfangsphase nach südtiroler Vorbild von Praxismentorinnen und -mentoren<br />
angeleitet, begleitet und betreut. Eine entsprechende Anleiterqualifikation bietet beispielsweise die<br />
Universität Bremen an.<br />
Anzustreben ist, dass in jeder Einrichtung eine Person mit diesem Qualifikationsnachweis<br />
Studentinnen und Studenten, Berufsanfängerinnen und -anfängern, Praktikantinnen und<br />
Praktikanten oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Weiterbildungsmaßnahmen fachlich betreut<br />
und in die Umsetzung des erworbenen Wissens begleitet. Auf diese Weise wird die Praxis in der<br />
Ausbildung stärker betont.<br />
Verpflichtung zur beruflichen Weiterbildung<br />
Nach Abschluss ihrer Aus bildung sollten alle Berufsgruppen (Erzieherinnen und Erzieher, Leitungen,<br />
Fachberatungen) im Elementarbereich zur beruflichen Weiterbildung verpflichtet werden. mit<br />
folgenden Voraussetzungen:<br />
< generelle Fortbildungsverpflichtung für mindestens fünf Tage im Jahre<br />
< mit Nachweis der Teilnahme an infrage kommenden Weiterqualifizierungsmaßnahmen<br />
(beispielsweise anhand eines Punktekontos)<br />
< Entwicklung entsprechender berufsgruppenspezifischer Weiterbildungsangebote mit der<br />
jeweiligen Gewichtung der Teilnahme für den Weiterbildungsnachweis<br />
< Verpflichtung der Träger zur Freistellung der pädagogischen Fachkräfte für die<br />
Fortbildungsmaßnahmen und zur Übernahme der Weiterbildungskosten<br />
16<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Reform der frühkindlichen Forschung<br />
Meine Damen und Herren, ein wesentliches Defizit der frühkindlichen Forschung in Deutschland ist,<br />
dass ihre Erkenntnisse nicht in die Praxis des Kita-Alltags dringen. Die Resultate wissenschaftlicher<br />
Arbeit werden zwar in Fachkreisen diskutiert und in Modellprojekten erprobt, verstauben aber in den<br />
meisten Fällen anschließend in Erfahrungsberichten und Dokumentationen, von der Basis kaum<br />
beachtet, geschweige denn angenommen. Die Gründe wurden an anderer Stelle bereits<br />
beschrieben. Um die Frühpädagogik auf internationales Niveau heranzuführen, sind vor allem<br />
folgende Reformmaßnahmen in der frühkindlichen Forschung unerlässlich:<br />
< Eine bessere Verbindung von Forschung und Praxis in der Hochschulausbildung durch eine<br />
stärkeren Verzahnung des Personals: Es müssen auch Praktiker unterrichten, umgekehrt<br />
aber auch Wissenschaftler in die Praxis gehen, zum Beispiel zu Forschungszwecken.<br />
< Umgekehrt müssen auch Erzieherinnen und Erzieher im Verlaufe des Studiums<br />
Forschungsaufträge erhalten bzw. an diesen mitwirken, um Forschungstechniken kennen zu<br />
lernen, Forschungsbefunde aufzubereiten und wissenschaftliche Texte zu erstellen. Diese<br />
Fähigkeiten können sie später in ihren Beruf mit einbringen. Diese Ausbildung erleichtert<br />
mittelfristig nicht nur die Forschung an der Basis, sondern auch die Umsetzung<br />
wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Einrichtungen, indem sie pädagogische Fachkräfte<br />
mit den erforderlichen Kompetenzen ausstattet, Forschungsergebnisse zu adaptieren und<br />
umzusetzen.<br />
< Eine stärkere Orientierung der Forschung hin zur Praxis: Gegenstand der Forschung muss<br />
auch die Praxis sein.<br />
< Eine höhere Gewichtung des Aspekts der Lehr- und Lernforschung durch Einbeziehung von<br />
Einrichtungen in Forschungsprojekte (mittelfristig begünstigt durch die obligatorische<br />
Hochschulausbildung für Frühpädagogen, die forschungsmethodisches Arbeiten beinhaltet).<br />
< eine internationale Vernetzung der Forschung.<br />
Aufgrund des großen Forschungsdefizits – insbesondere im Bereich der Kinder unter drei Jahren –<br />
sollten die Universitäten strategische Partnerschaften beispielsweise mit<br />
< dem Bundesforschungsministerium,<br />
< den Forschungsministerien der Länder<br />
< der Deutschen Forschungsgesellschaft u. a.<br />
eingehen und gemeinsam Forschungsprojekte initiieren und umsetzen.<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
17
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Um Forschung und Praxis besser miteinander zu verbinden, sollte die Hochschul-Ausbildung der<br />
Ausbilderinnen und Ausbilder, Führungskräfte (Leitungen und Fachberatungen) sowie des<br />
pädagogischen Fachpersonals flankierend folgende Aspekte mitberücksichtigen und entsprechende<br />
Kompetenzen vermitteln:<br />
< die Entwicklung eines „Forschungsblicks“ bei Ausbilderinnen und Ausbildern sowie<br />
Frühpädagoginnen und -pädagogen<br />
< Ausweitung von Elite-Universitäten, die sich bislang auf technische Fächer beziehen, auch<br />
auf den pädagogischen Bereich<br />
< Ergänzung der Trias „Erziehung, Bildung und Betreuung“ um den Aspekt der „Förderung“<br />
Meine Damen und Heren, es geht darum, reflektierende Frühpädagoginnen und -pädagogen<br />
heranzubilden, die Ausbildung und Praxis miteinander verbinden können. Denn Kinder lernen nur<br />
dann mehr, wenn Frühpädagoginnen und -pädagogen sowie Leitungen mehr Wissen haben.<br />
Ziele der Ausbildung<br />
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend die Zielsetzung der Reform der<br />
Professionalisierung der Fachkräfte im Elementarbereich beschreiben:<br />
< die Ausbildung soll die Methodenkompetenz der Erzieherinnen und Erzieher in Hinblick auf<br />
die Implementierung von Bildungsplänen stärken<br />
< der frühkindliche Bereich benötigt die am besten qualifizierten und bezahlten Pädagoginnen<br />
und Pädagogen, denn sie legen die Saat für die Bildungsbiografien der künftigen<br />
Generationen<br />
< die Ausbildung bietet Erzieherinnen und Erziehern eine bessere Durchlässigkeit zum<br />
Wechsel an eine Grundschule sowie bessere Möglichkeiten, ihren Beruf auch im Ausland<br />
auszuüben<br />
< der Bachelor- bzw. Masterabschluss bietet Frühpädagoginnen und -pädagogen bessere<br />
Aufstiegsmöglichkeiten und<br />
< die bessere Qualifizierung führt zu einer höheren Bezahlung, steigert das Image dieser<br />
Berufgruppe und wird auch für männliche Fachkräfte attraktiver.<br />
Ich hoffe, dass mein Vortrag verdeutlichen konnte, welchen Umfang die Reform allein in der<br />
Propfessionalisierung der päagogischen Fachkräfte erfordert, als Voraussetzung für die Umsetzung<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
18
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
der eingangs angesprochenen Reformmaßnahmen. Es gibt viel zu tun, aber es ist zu schaffen – als<br />
gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung. Und dafür wünsche ich allen Akteuren viel<br />
Erfolg.<br />
3. IMPLEMENTIERUNG DER BILDUNGSPLÄNE<br />
Ausgangslage<br />
Die Bildungspläne der Länder weisen gleich mehrere Defizite auf. Erstens sind sie nicht zielorientiert<br />
und bis auf Hessen auf das Vorschulalter beschränkt. Zweitens ist ihre Implementierung in den<br />
Einrichtungen, wenn sie denn überhaupts stattfindet, beliebig, unkoordiniert und ohne jegliche<br />
Kontrolle der Qualität ihtrer Umsetzung. Und schließlich fehlen geeignete Instrumente für deren<br />
Implementierung sowie ein verbindlicher Orientierungrahmen für die inhaltliche und methodische<br />
Ausgestaltung. Für eine Reform der Implementierung von Bildungsplänen in den Einrichtungen<br />
empfiehlt sich ebenfalls eine schrittweises Vorgehen:<br />
1. Schritt: Bundes-Rahmenbildungsplan<br />
Zur Koordinierung der Bereiche „Entwicklung von Kriterien und Messung von pädagogischer<br />
Qualität“ und „Entwicklung von Bildungsplänen“ empfehle ich, dem Beispiel Norwegens, Schwedens<br />
oder Australiens zu folgen und auf Bundesebene einen länder- und institutionenübergreifenden<br />
Bundes-Rahmenbildungsplan zu entwickeln und zu implementieren. Hierfür sollte man den<br />
beginnenden Konsens zwischen den Ländern sowie der Jugendministerkonferenz (JMK und<br />
Kultusministerkonferenz (KMK stärker nutzen, Ein länder- und institutionenübergreifender,<br />
verbindlicher Bundes -Rahmenbildungsplan würde insbesondere<br />
< den Bildungsplänen der Länder den bislang fehlenden Orientierungsrahmen für die Kriterien<br />
bieten, die alle erfüllen müssen<br />
< die Qualitätsstandards für die frühkindliche Bildung in den Einrichtungen bundesweit auf ein<br />
einheitliches Niveau festschreiben<br />
< die Einschränkung auf die Altersgruppe der Kinder bis zum Schuleintritt aufheben und einen<br />
kontinuierlichen Übergang vom Kindergarten in die Grundschule fördern<br />
19<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
2. Schritt: Angleichung der Bildungspläne der Länder an die Erfordernisse des Bundes-<br />
Rahmenbildungsplans<br />
Diese Angleichung würde dazu führen, dass die Ausgestaltung aller Bildungspläne der Länder sich<br />
innerhalb eines einheitlichen Rahmens bewegt und ein Mindestmaß an gemeinsamen Kriterien<br />
erfüllt.<br />
3. Schritt: Schaffung eines wissenschaftlichen Instituts zur Entwicklung von<br />
Qualitätskriterien für die Bildungspläne und für deren Sicherung (Evaluierung)<br />
Analog zum länder- und institutionenübergreifenden Rahmen-Bildungsplan sollten Qualitätskriterien<br />
entwickelt werden, die bundesweit für alle Kindertageseinrichtung verbindlich sind und deren<br />
Nichteinhaltung zum Verlust der Lizenz führen könnte. Für die Entwicklung und Überprüfung der<br />
Einhaltung dieser Kriterien ist eine unabhängige Instanz zuständig. Zur Steigerung des Wettbewerbs<br />
und somit auch der Qualität der Einrichtungen sollten Qualitätssiegel bei Einhaltung der<br />
Qualitätskriterien vergeben werden.<br />
4. Schritt: Schaffung von Funktionsstellen als Bildungsmultiplikatoren und Garanten für<br />
die Umsetzung der Bildungspläne:<br />
Garanten für die Steuerung und Umsetzung der institutionenübergreifenden Bildungspläne in den<br />
Einrichtungen sind Fachberatungen, Fortbilderinnen und Fortbilder, die insbesondere<br />
< als Multiplikatoren für die neuen, institutionsübergreifenden Bildungsinhalte für Kinder von<br />
null bis zehn Jahren fungieren und<br />
< forschungsbegleitende Interventionsmethoden vermitteln,<br />
< die Leitungen bei ihrer Steuerungsfunktion in den Einrichtungen fachlich unterstützen,<br />
< die Erzieherinnen und Erzieher auf ihre Aufgaben bei der Umsetzung der Bildungspläne<br />
vorbereiten und<br />
< die Erfolge der Umsetzung verbindlich kontrollieren, u. a. in Mitarbeitergesprächen, die sie<br />
beispielsweise zweimal im Jahr führen.<br />
Eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung dieser Schritte ist, dass die Leitungen,<br />
Fortbilderinnen und Fortbilder vorab für diese Aufgaben entsprechend durch ein berufsbegleitendes<br />
Studium qualifiziert werden.<br />
20<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Instrumente zur Qualitätssicherung<br />
Aufgaben der Evaluation<br />
Neue Impulse für Fortschritte in der Entwicklung von Qualitätskriterien und geeigneten<br />
Evaluationsverfahren im frühkindlichen Bereich versprach die Nationale Qualitätsinitiative im System<br />
der Tageseinrichtungen für Kinder (NQI) der Bundesregierung (NQI). Tatsächlich wurden im Rahmen<br />
der fünf Projekte dieser Initiative zahlreiche Kriterien und Instrumente entwickelt, allerdings sind<br />
diese im System steckengeblieben. An der Basis sind sie jedenfalls abgesehen von einzelnen<br />
Modellprojekten nicht angekommen. Von Nachhaltigkeit jedenfalls kann keine Rede sein. Deshalb<br />
noch einige Anmerkungen zur Evaluation:<br />
< Sie sollte in erster Linie der Qualitätsentwicklung und erst nachrangig der Sicherung dienen.<br />
Sie dient vielmehr dem Ziel, das pädagogische Angebot kindgerechter zu gestalten,<br />
weiterzuentwickeln und dessen Auswirkungen auf das Kind zu überprüfen.<br />
< Wie beschrieben fehlen Instrumente zur Messung und Bewertung der prozessualen und<br />
kontextuellen Dimension der pädagogischen Qualität. Diese müssen vordringlich entwickelt<br />
werden.<br />
< Ebenso fehlen die in den neuen Bildungs - und Erziehungsplänen verlangten Verfahren zur<br />
Dokumentation kindlicher Lernprozesse. Hier ist ebenfalls mit Nachdruck Entwicklungsarbeit<br />
zu leisten.<br />
Zukunftsfähige Instrumente zur Qualitätssicherung<br />
Als Instrumente zur Qualitätssicherung kristallisieren sich als zukunftsfähig und praktikabel heraus:<br />
< Portfolios<br />
< regelmäßige Stärken-/Schwächenanalysen, beispielsweise durch Elternbefragungen und<br />
anhand von Qualitätsmanagementhandbüchern<br />
< Entwicklung und verbindliche Einführung von Beobachtungsverfahren zur Bestimmung der<br />
pädagogischen Qualität zu berücksichtigen<br />
Diese Instrumente sollten weiterentwickelt und sukzessive zur Qualitätssicherung in den<br />
Einrichtungen eingeführt werden.<br />
21<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
4. KINDER- UND FAMILIENZENTREN, MEHRGENERATIONENHÄUSER<br />
Eine umfassende Reform des frühkindlichen Bildungs- und Betreuungssystems verlangt neben einer<br />
besseren Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte und dem quantitativen und qualitativen Ausbau<br />
der Kindertagesbetreuung noch mehr: die Weiterentwicklung der Einrichtungen als solche:<br />
Durch den sukzessiven Ausbau von Kindergärten in Kinder- und Familienzentren bzw. in<br />
Mehrgenerationenhäuser könnten Kindertageseinrichtungen ihre Aufgaben im Rahmen der<br />
Erziehungs - und Bildungspartnerschaft mit den Eltern besser wahrnehmen, beispielsweise mit<br />
< Beratungsangeboten für Eltern,<br />
< Angeboten zur Stärkung der Elternkompetenz,<br />
< Bildungsangeboten für Kinder,<br />
vor allem in den Ferien. Mittelfristig könnten sich diese Einrichtungen in Richtung Kinder-Akademien<br />
entwickeln, die Kinder bei der Entdeckung und Erforschung ihrer Umwelt fördern. Hier würden sich<br />
beispielsweise Kooperationen zwischen Kindertageseinrichtungen mit den Hochschulen anbieten.<br />
Vernetzung von Kindertagesstätten und Tagespflege<br />
Aber auch im Elementarbereich ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den bislang überwiegend<br />
getrennt agierenden Betreuungseinrichtungen für verschiedene Altersgruppen anzustreben.<br />
Insbesondere zur Realisierung einer kontinuierlichen Bildung und Betreuung der Kinder von null bis<br />
zwölf Jahren sollten die Kindertagesstätten und Tagespflege miteinander vernetzt werden. Diese<br />
könnte zu folgenden Synergieeffekten führen:<br />
< Kindertagesstätten vermitteln Pflegepersonen an Eltern<br />
< die Beratung von Tagespflegepersonen wird an Kindertagesstätten angedock t<br />
< Tagespflegepersonen können zur Qualifikation im Sinne des<br />
Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) das Qualifikationsangebot für Tageseinrichtungen<br />
nutzen; entsprechende Curricula existieren bereits (vgl. Fortbildungscurriculum des<br />
Deutschen Jugendinstituts DJI in Kapitel 5.9)<br />
22<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
5. ZEHN-JAHRES-PLAN: „MARSHALL-PLAN“ FÜR DIE REFORMMAßNAHMEN<br />
Der Zehn-Jahres-Plan dient als verbindlicher „Masterplan“ für die Umsetzung der <strong>Bildungsoffensive</strong><br />
Deutschland. Er beschreibt die einzelnen Reformschritte und gibt den Zeitplan vor. Seine Einhaltung<br />
wird überwacht von den „Runden Tischen“ auf Bundes -, Landes und Kommunalebene. Seine<br />
konsequente Umsetzung setzt mittelfristig voraus eine Reform der politischen Zuständigkeiten, eine<br />
Verpflichtung der Träger Beteiligung an der <strong>Bildungsoffensive</strong> und die Einberufung von<br />
Kinderbeauftragten auf allen politischen Entscheidungsebenen. Seine Konsequente Umsetzung<br />
setzt voraus:<br />
a) eine Reform der politischen Zuständigkeiten<br />
b) eine Verpflichtung der Träger zur Beteiligung an der <strong>Bildungsoffensive</strong><br />
c) Einberufung von Kinderbeauftragten auf allen politischen Entscheidungsebenen<br />
a) Reform der politischen Zuständigkeiten<br />
1. Schritt: einheitliche ministerielle Zuordnung des frühkindlichen<br />
Bereichs auf Bundes - und Ländereben zu Bildungsministerien<br />
Es ist zu klären, wo die Zuständigkeiten für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in den<br />
Regierungen gebündelt sein sollen. Eine länderübergreifende Verständigung ist erforderlich. Auf<br />
lokaler Trägerebene ist ein Abbau von zu starren Regelungen möglich, der auch das Verhältnis zu<br />
den Eltern durch Abschluss von Bildungs - und Erziehungsverträgen rechtlich neu konzipiert.<br />
Grundsätzlich sollte frühkindliche Erziehung und Bildung Bundes- und (nur) Bildungsangelegenheit<br />
sein. Dies vor dem Hintergrund eines Rechts auf Erziehung und Bildung aller Kinder ohne Ansehen<br />
ihrer sozialen Herkunft oder des ökonomischen Status der Familien.<br />
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für nachhaltige Veränderungsmaßnahmen – insbesondere<br />
auch in Richtung institutionsübergreifende Bildung und Betreuung von Kindern von null bis zwölf<br />
Jahren – ist die gemeinsame Fach- und Dienstaufsicht für Kindertageseinrichtungen und Schulen in<br />
einer Behörde. Die ministerielle Zuordnung sollte auf Bundes- und Länderebene für beide Bereiche<br />
einheitlich bei den Bildungsministerien liegen.<br />
Die Schaffung „erfolgskritischer Rahmenbedingungen“ ist eine unabdingbare Voraussetzung, die<br />
nicht mit nationalstaatlicher oder länderspezifischer Zuordnung des Anliegens zu tun hat, sondern im<br />
einen wie im anderen Fall heute grundlegend geschaffen werden müsste. Abgesehen hat sich die<br />
Länderhoheit in Sachen Bildung (in Bezug auf welchen Sektor auch immer) weder bewährt hat noch<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
23
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
als zukunftsträchtig erwiesen, weil Bildung als weitgehend einziges kultushoheitliches Moment stets<br />
zum politischen Zankapfel und parteipolitischen Schlagabtausch missbraucht wird.<br />
b) Verpflichtung der Träger zur Beteiligung an der <strong>Bildungsoffensive</strong><br />
Eine entscheidende Schwachstelle der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung ist deren<br />
Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, vor allem begründet im bereits angesprochenen, speziell in<br />
Deutschland ausgeprägten „Trägerlabyrinth“. Diese Struktur, die Trägern weitgehend freie Wahl bei<br />
der Ausgestaltung und Ausstattung der Betreuungseinrichtungen, der Auswahl und dem Einsatz des<br />
Personals bis hin zur Entwicklung von Qualitätskriterien und deren Sicherung lässt, ist infrage zu<br />
stellen. Eine nachhaltige Änderung kann nur ein Ausschreibungsverfahren bewirken, in dem sich die<br />
Träger in regelmäßigen Zeitabständen, zum Beispiel alle fünf Jahre, neu bewerben und den<br />
Nachweis für ihre Befähigung zur frühkindlichen Betreuung und Bildung erbringen müssen.<br />
Die Umsetzung eines solchen Ausschreibungsmodells würde vor allem zwei wesentliche<br />
Verbesserungen für den Elementarbereich mit sich bringen:<br />
< mehr Verbindlichkeit in Bezug auf die Umsetzung des frühkindlichen Bildungsauftrags<br />
< eine höhere Qualität des Betreuungs- und Bildungsangebots, weil alle Träger verbindliche,<br />
bundesweit geltende Qualitätskriterien erfüllen und deren Einhaltung in regelmäßigen<br />
externen Überprüfungen, nachweisen müssten.<br />
Die bisherige Trägerpraxis hat sich nicht bewährt. Evaluierung und Qualitätssicherung der<br />
Einrichtungen durch die Träger selbst muss staatlich gesteuert werden. Andernfalls, so die<br />
Erfahrung, besteht die Gefahr, dass sie die Bildungspläne in den Einrichtungen nicht verbindlich<br />
umsetzen oder an der falschen Stelle Sparmaßnahmen einleiten. Deshalb sollte Deutschland dem<br />
Beispiel von Neuseeland oder Australien folgen und – ähnlich wie bei der Vergabe von<br />
Qualitätssiegeln – die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Träger nach Ablauf<br />
einer festzulegenden Periode – zum Beispiel alle fünf Jahre – regelmäßig neu akkreditieren müssen.<br />
c) Einberufung von Kinderbeauftragten auf allen politischen Entscheidungsebenen<br />
Für die Vertretung der Interessen der Kinder, insbesondere aber für die Koordination und Sicherung<br />
der Umsetzung der Reformmaßnahmen des Zehn-Jahres-Plans sollte – analog den Bundeswehroder<br />
Ausländerbeauftragten der Bundesregierung – Kinder- und Familienbeauftragte eingesetzt<br />
werden, auf Bundes-, Landes und kommunaler Ebene. Sie sollten ein politisches Mandat haben<br />
sowie mit einem Veto-Recht bei Gesetzesvorlagen ausgestattet sein.<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
24
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
6. „RUNDER TISCH“<br />
Funktionen<br />
Der „Runde Tisch“ ist ein Gremium der wichtigsten Entscheidungsträger für die frühkindliche Bildung.<br />
Seine Aufgabe ist die Steuerung und Sicherung der Umsetzung der im Zehn-Jahres-Plan<br />
festgeschriebenen Reformmaßnahmen und der Einhaltung des vorgegebenen Terminplans. Im<br />
Einzelnen lassen sich die wichtigsten Funktionen des „Runden Tisches“ wie folgt beschreiben:<br />
< seine Mitglieder treffen regelmäßig zusammen, das Spitzentreffen findet einmal im Jahr<br />
statt, idealerweise im Rahmen eines jährlichen stattfindenden Kindergipfels zum<br />
Weltkindertag<br />
< Gewährleistung der Verbindlichkeit der umzusetzenden Reformschritte<br />
< „Rapport“-Funktion: Standortbestimmung der umzusetzenden Reformen, Rechenschaft an<br />
die Öffentlichkeit, Vereinbarung von neuen/ergänzenden Zielsetzungen für die nächste<br />
Periode (ein Jahr)<br />
< Weiterleitung von Empfehlungen, Informationen etc. an die nächst untergeordneten Ebenen<br />
bis in die Einrichtungen<br />
Streng genommen handelt es sich um viele „Runde Tische“, denn sie treffen – in jeweils<br />
unterschiedlicher Zusammensetzung und verschiedenen Aufgabenschwerpunkten – auf<br />
verschiedenen Ebenen zusammen (die Zusammenstellung der „Runden Tische“ erhebt keinen<br />
Anspruch auf Vollständigkeit).<br />
Zusammensetzung<br />
Der „Runde Tisch“ bzw. die „Runden Tische“ setzen sich wie folgt zusammen (ohne Anspruch auf<br />
Vollständigkeit):<br />
< Träger<br />
< Familien-, Bildungs- und Finanzministerien<br />
< Gewerkschaft<br />
< Berufsverbände<br />
< Kinder- und Familienbeauftragte<br />
25<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
< Eltern –und Frauenbeauftragte<br />
< Arbeitgeber<br />
< Wissenschaft und Forschung<br />
< Stiftungen und Förderer<br />
Zu den wichtigsten Aufgaben des „Runden Tisches“ bzw. der „Runden Tische“ gehören:<br />
< jährliche Standortbestimmung (Rapport)<br />
< öffentliche Darlegung der Ergebnisse<br />
< Weiterleitung der Ergebnisse an die nächsthöhere Ebene<br />
< Erstellung eines Soll-Ist-Vergleichs über die Umsetzung der Reformmaßnahmen<br />
< Beschreibung der eingeleiteten Maßnahmen<br />
< Beschreibung der erzielten Ergebnisse<br />
< Darlegung der diagnostizierten Schwachstellen<br />
< Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die nächsthöhere und nachgeordnete Ebene<br />
< Formulierung von Verbesserungsvorschlägen und Handlungs-empfehlungen anhand von<br />
Best-Practice-Beispielen für die Basis<br />
< Überwachung des Finanzierungsrahmens<br />
< Vereinbarung neuer Ziele und Weiterleitung an die vorgelagerten und nachgeordneten<br />
Ebenen<br />
Interaktionen zwischen den Ebenen<br />
Die „Runden Tische“ auf den verschiedenen Ebenen haben wie beschrieben unterschiedliche<br />
Aufgabenschwerpunkte, gleichwohl stehen sie miteinander in enger Verbindung durch intensiven<br />
wechselseitigen Informationsaustausch:<br />
< Der „Runde Tisch“ auf Bundesebene analysiert die von den nachgeordneten Ebenen<br />
erhaltenen Informationen, wertet diese Informationen aus und entwickelt aus den Befunden<br />
Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung sowie Empfehlungen und Tipps für die<br />
Landes- und Kreis- bzw. Kommunalebene.<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
26
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
< Die „Runden Tische“ auf Landesebene werten die von den „Runden Tischen“ der Kreis- und<br />
Kommunalebene erhaltenen Informationen aus. Die Befunde leiten sie weiter an die<br />
Bundesebene, entwickeln aus diesen aber auch Empfehlungen und Tipps für die Kreis- und<br />
Kommunalebene.<br />
< Die „Runden Tische“ auf Kreis- und Kommunalebene informieren die Landesebene über den<br />
Stand der Umsetzung der Reformmaßnahmen und der Implementierung der Bildungspläne<br />
in den Einrichtungen, ebenso über die Entwicklung von Modell- und Forschungsprojekten<br />
sowie Best-Practice-Beispielen vor Ort. Des Weiteren gibt sie Rückmeldung über die<br />
Praxistauglichkeit der erhaltenen Empfehlungen<br />
Die wechselseitige Information der Ebenen untereinander unterstützt eine dynamische Entwicklung<br />
der Reformmaßnahmen. Die Berichte bieten der Bundes- und Landesebene einen Überblick über<br />
den Stand der Umsetzung sowie über eventuelle Stolpersteine und Hindernisse. Mit den nach<br />
Maßgabe dieser Informationen entwickelten Handlungsempfehlungen können sie steuernd in den<br />
Reformprozess eingreifen. Zur Betonung des Servicegedankens ist denkbar, die entsprechenden<br />
Empfehlungen für die Einrichtungen ins Internet zu stellen und praxisrelevante Informationen und<br />
Unterlagen zum Downloaden anzubieten.<br />
7. GESELLSCHAFTLICHES UMDENKEN: ÜBERFÄLLIGER PARADIGMENWECHSEL<br />
Kinder haben in Deutschland nicht viel zum Lachen. Nach wie vor werden spielende Kinder eher als<br />
Ruhestörung wahrgenommen denn als selbstverständlicher Bestandteil, als Bereicherung der<br />
Gesellschaft. Wer schon einmal mit Kindern auf Wohnungssuche war, weiß ein Lied davon zu<br />
singen. Und wer dann doch eine Wohnung gefunden hat, wird schnell mit den Bestimmungen der<br />
Hausordnung, ruhebedürftigen Hausbewohnern und durchsetzungsfähigen Hausmeisterinnen und<br />
Hausmeistern konfrontiert. „Spielen verboten!“ ist angesagt. Dieses Land ist nicht nur von<br />
Kinderfreundlichkeit weit entfernt, es ist mittlerweile auch kinderentwöhnt.<br />
Überfälliger Paradigmenwechsel<br />
Dies zeigt auch die aktuelle öffentliche Diskussion zur frühkindlichen Bildung: sie wird nicht wegen<br />
der Anliegen der Kinder geführt, sondern aufgrund der ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studien<br />
und nachfolgenden Untersuchungen von OECD oder UNICEF, die Deutschland in Bezug auf<br />
Chancengleichheit und Lebensbedingungen von Kindern im internationalen Vergleich sein<br />
Armutszeugnis ausstellen.<br />
27<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Deutschland muss kinderfreundlich werden, die Anliegen von Kindern wichtig nehmen und sich für<br />
diese einsetzen. Es braucht einen Paradigmenwechsel. Ein wichtiges Zeichen in diese Richtung<br />
setzen würde die überfällige Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz – nach Maßgabe der<br />
UNO-Kinderrechtskonvention. Aber mit der Aufnahme allein ist es nicht getan. Die im Grundgesetz<br />
verankerten Kinderrechte müssen auch umgesetzt und erfüllt werden, überwacht von der bzw. dem<br />
Kinder- und Familienbeauftragten der Bundesregierung.<br />
Die gesellschaftliche Aufgabe, allen Kindern gleiche Entwicklungs- und Bildungschancen zu bieten,<br />
wird auch durch Defizite des föderalen Systems behindert. Dies wird beispielsweise deutlich<br />
dadurch, dass bei gegenwärtigem Finanzierungssystem der Kindertageseinrichtungen die Bildungsund<br />
Entwicklungschancen im Vorschulalter nach wie vor von der Finanzkraft der Kommunen<br />
abhängen.<br />
In diesem Zusammenhang ist richtig zu stellen, dass Deutschland ein Vereinbarkeitsproblem und ein<br />
Bildungsproblem hat. Es war zu lange von der Wahlmöglichkeit der Frauen zwischen Familie und<br />
Beruf die Rede, die es de facto gar nicht gab, zum Beispiel allein aufgrund der Bildungs - und<br />
Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren, wo (West-)Deutschland im Vergleich zu anderen<br />
Ländern abgeschlagen ist. Die Entscheidung für Kinder bedeutete und bedeutet nach wie vor für die<br />
meisten Frauen einen zumindest vorübergehenden Verzicht auf Erwerbstätigkeit. Hoffnung wecken<br />
die neuen Impulse des Bundesfamilienministeriums zur Ausweitung des Krippenangebots.<br />
Hier allerdings muss davor gewarnt werden, bei einem Ausbau des Krippenangebots die Fehler zu<br />
wiederholen, die beim Ausbau des Angebots der Kindertageseinrichtungen für Kinder von drei bis<br />
sechs Jahren gemacht wurde, als die Quantität zulasten von qualitativen Aspekte im Vordergrund<br />
stand. Der Ausbau des Krippenangebots muss sich auch an der Frage orientieren, was Kinder<br />
wirklich brauchen.<br />
Gleichwohl wäre es falsch zu behaupten, es würden hierzulande keine Anstrengungen<br />
unternommen, sich über Verbesserungen der frühkindlichen Bildung und Betreuung nachzudenken.<br />
Das Gegenteil ist der Fall: allerorten werden Konzeptionen entwickelt, Modellprojekte ins Leben<br />
gerufen, Studien durchgeführt, Kongresse und Fachtagungen veranstaltet – allesamt zum Wohle der<br />
Kinder. Nur – und dies kann nicht oft genug wiederholt werden – finden alle diese Maßnahmen<br />
unkoordiniert statt, isoliert, ohne steuernde und ordnende Hand, unverbindlich, beliebig. Ein weiteres<br />
entscheidendes Manko: es mangelt an der Umsetzung an der Basis. Die Einrichtungen spüren von<br />
alledem nichts, müssen sich womöglich in ihrer finanziellen und personellen Ausstattung<br />
beschneiden lassen und schlechtere Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen.<br />
28<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Ausweitung der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht<br />
Das Kindeswohl hierzulande lässt sich nicht allein durch den Ausbau des Betreuungsangebots im<br />
frühkindlichen Bereich und die Umsetzung von Bildungsplänen in den Kindertageseinrichtungen<br />
definieren, es bedarf noch weiterer Maßnahmen zur Förderung der kindlichen Entwicklung und<br />
Unterstützung ihrer Eltern.<br />
So sollte beispielsweise bei der kindlichen Gesundheitsuntersuchung der Blick mehr auf die<br />
Prävention statt wie bisher auf die Rehabilitation gerichtet sein. Festzustellen ist, dass nicht alle<br />
Eltern mit ihren Kindern zu den obligatorischen Gesundheits-Checks für ihre Kinder gehen. Häufig<br />
auch aus Unkenntnis, zumal der Markt ja wimmelt von überall erhältlichen Vitamin-, Aufbau- und<br />
Stärkungspräparaten als vermeintliche Allheilmittel gegen alles.<br />
Diese Lücke könnten Kindertageseinrichtungen schließen, indem sie im Sinne der Erziehungs- und<br />
Bildungspartnerschaft mit den Eltern<br />
< zum einen in Informationsveranstaltungen Aufklärungsarbeit über Kinderkrankheiten und<br />
entsprechende Vorsorge leisten,<br />
< umfassende Informationsunterlagen zusammenzustellen und den Eltern zur Verfügung zu<br />
stellen und<br />
< in Zusammenarbeit mit Arztpraxen entsprechende Vorsorgemaßnahmen inhouse anbieten,<br />
zum Beispiel Impfaktionen oder Zahncheck in der Tageseinrichtung<br />
Mit solchen Maßnahmen und Angeboten könnten Kindertageseinrichtungen einen zusätzlichen<br />
Beitrag zum Wohle der Kinder sowie zur Aufklärung und Unterstützung der Eltern leisten.<br />
8. AUFGABE DER ELTERN: NEUES ERZIEHUNGS- UND BILDUNGSVERSTÄNDNIS<br />
Die Reformmaßnahmen schließen auch die Eltern nicht aus, insbesondere die Wahrnehmung ihrer<br />
Erziehungs - und Bildungsfunktion. Sie müssen an ein neues Bildungs - und Erziehungsverständnis<br />
herangeführt werden. Dies kann aber nur gelingen, wenn unsere Gesellschaft die dafür<br />
Erforderlichen Voraussetzungen und Unterstützungsmaßnahmen bereitstellt.<br />
29<br />
DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Neues Erziehungs- und Bildungsverständnis<br />
Kinder müssen mehr in den Mittelpunkt rücken, nicht nur aus Sicht der Gesellschaft, sondern auch in<br />
den Familien selbst. Dies beginnt bereits bei der Wahrnehmung von Kindern: Sie sind Lebensglück,<br />
keine Belastung!<br />
Die Realität sieht häufig anders aus: Viele Eltern fühlen sich durch ihre Kinder gestresst, bisweilen<br />
auch überfordert, weil ihnen zu wenig Zeit für Ihre Interessen bleibt. Tatsache aber ist, dass viele<br />
Eltern zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen. Eltern sollten ermutigt werden, zumindest für eine<br />
bestimmte Zeit ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen und mehr (Frei-)Zeit mit ihren Kindern zu<br />
verbringen.<br />
Die Gesellschaft sollte sie dabei unterstützen. An Möglichkeiten fehlt es nicht, denkbar sind zum<br />
Beispiel:<br />
< kostenloser Eintritt für Familien mit Kindern in Museen an Wochenenden,<br />
< ermäßigte Familienangebote für Theater- oder Zirkusveranstaltungen,<br />
< Familientage in Zoos oder<br />
< Familienangebote in öffentlichen Schwimmbädern und Freizeiteinrichtungen u.v.m.<br />
Damit ist keinesfalls gemeint, Eltern etwas aufzwingen zu wollen. Im Gegenteil, sie sollten in kindund<br />
erziehungsrelevante Entscheidungen mit einbezogen werden, indem sie beispielsweise in<br />
Entscheidungs - und Kontrollgremien für die Belange von Kindern wie zum Beispiel den „Runden<br />
Tischen“ eingebunden werden und in diesen mit vertreten sind.<br />
Elternpass<br />
Die Praxis bestätigt einen steigenden Beratungsbedarf der Eltern, nicht nur in Erziehungsfragen,<br />
sondern auch Beratung im familiären Kontext. Mit steigender Zahl von Ein-Generationen, Ein-Kindund<br />
Patchworkfamilien ist eine zunehmende Unsicherheit der Eltern in Erziehungs- und in familiären<br />
Fragen festzustellen. Hinzu kommt die schrumpfende Zahl von Haushalten, in denen mehrere<br />
Generationen zusammenwohnen, mit der Folge, die Älteren im alltäglichen Leben ihre<br />
Erziehungserfahrungen immer weniger an die jüngere Generation weitergeben und diese bei<br />
auftauchenden Problemen zunehmend auf sich allein gestellt ist.<br />
Auch hier können Kindertageseinrichtungen, vor allem in ihrer Realisierung als Kinder- und<br />
Familienzentren, junge Eltern mit adäquaten Beratungsangeboten unterstützen. Ins Gespräch<br />
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DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
gebracht wird immer wieder die Einführung eines „Elternführerscheins“, der bislang kinderlose<br />
Männer und Frauen, bevor sie Mütter und Väter werden, auf ihre Elternrolle vorbereiten. Fürsprecher<br />
für die Einführung dieses Führerscheins sind insbesondere der Sozialwissenschaftler Klaus<br />
Hurrelmann und der Kriminologe Christian Pfeiffer. Die Idee ist nicht neu, wurde sie doch auch schon<br />
von Reformpädagoginnen und -pädagogen um 1900 vertreten. Die gängigen Modelle sehen eine<br />
verbindliche Teilnahme vor, die – falls rechtlich durchsetzbar – an das Kindergeld gekoppelt werden<br />
sollte, d.h. der Bezug von Kindergeld setzt die Teilnahme an diesen Kursen voraussetzt.<br />
Diesem Modell vorzuziehen wäre ein Angebot zur freiwilligen Teilnahme an Beratungs - und<br />
Vorbereitungskursen, die sich für die Eltern im wahrsten Sinne des Wortes auszahlt. Für die<br />
Teilnahme an solchen Kursen, die in Kindertageseinrichtungen angeboten werden, erhalten sie<br />
einen „Elternpass“, der einem Gutschein entspricht für die spätere Inanspruchnahme von<br />
Elternberatungsgesprächen in einer Kindertageseinrichtung ihrer Wahl. Denkbar ist auch die<br />
Aushändigung eines Welcome-Pakets an die Eltern nach Geburt des Kindes u. Ä. Vorteile dieses<br />
freiwilligen Angebots wären unter anderem:<br />
< die Kindertageseinrichtung bekommt bereits vor Geburt des Kindes Kontakt zu Eltern in<br />
ihrem Betreuungsbereich, sie empfiehlt sich bereits vor Geburt des Kindes kompetenter<br />
Partner für Kindes - und Erziehungsfragen und kann ein Vertrauensverhältnis für die<br />
nächsten Jahre zu den Eltern schaffen,<br />
< bei freiwilliger Teilnahme mit „Belohnung“ sind keine Widerstände oder Blockaden seitens<br />
der Eltern zu erwarten,<br />
< die mit der „Belohnung“ einhergehende Gegenwert (Gutschein) ist zweckgebunden<br />
Das inhaltliche Angebot für die einzulösenden Gutscheine ist als Kombination aus Erziehungs - und<br />
Gesundheitsberatung, zum Beispiel zu Ernährungsfragen zu konzipieren. Diese Kurse sollten in<br />
Kindertageseinrichtungen, aber auch in Volkshochschulen, Mütterzentren, Familien- oder<br />
Mehrgenerationenhäusern u. a. angeboten werden.<br />
Die freiwillige Teilnahme würde dem Eindruck entgegentreten, man traue jungen Eltern nicht zu, ihre<br />
Kinder ohne Weisung „von oben“ liebevoll und kindgerecht zu erziehen. Viele Eltern sind nach wie<br />
vor in der Lage, auch ohne Elternpass das Beste für ihre Kinder zu wollen und zu tun. Zu bedenken<br />
wäre auch, dass die Einrichtungen bislang die nötige erwachsenenpädagogische und -didaktische<br />
Kompetenz für die Durchführung solcher Kurse vielfach erst noch erlangen müssen.<br />
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DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
9. FINANZIERUNG<br />
Ausgangslage<br />
Deutschland investiert in die frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung im internationalen<br />
Vergleich deutlich weniger als andere Länder. Die öffentlichen Ausgaben für die<br />
Kindertagesbetreuung belaufen sich auf rund 10,5 Milliarden Euro im Jahr. Dies entspricht 0,42<br />
Prozent seines Bruttoinlandprodukts, nicht einmal die Hälfte dessen, was die OECD für den<br />
vorschulischen Bereich empfiehlt. Frankreich beispielsweise gibt 0,7 Prozent seines<br />
Bruttoinlandprodukts für den Elementarbereich aus. Auf Deutschland übertragen kämen bei dieser<br />
Quote jährlich rund 3,44 Milliarden Euro hinzu. Die Soll-Vorgabe der OECD legt dafür 1,0 Prozent<br />
vom Bruttoinlandprodukt zugrunde. Diese Quote wird nur von Dänemark mit 0,9 Prozent in etwa<br />
erreicht. Würde Deutschland dieser Empfehlung folgen, stünden für den Elementarbereich jährlich<br />
zusätzlich weitere 10,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Wollte Deutschland die Qualität des<br />
vorschulischen und schulischen Systems der skandinavischen Länder erreichen, müsste es sogar<br />
mehr als vier Mal soviel wie bislang in den Elementar- und Primarbereich investieren. Die hier<br />
vorgeschlagenen Reformmaßnahmen lassen sich dagegen weitaus kostengünstiger realisieren.<br />
Bei der Frage nach neuen Finanzierungsmodellen für die frühkindliche Bildung und Betreuung treten<br />
zudem die Tücken des föderalen Systems offen zutage: In Deutschland gibt es 16 unterschiedliche<br />
Finanzierungssysteme für den Elementarbereich, in jedem Bundesland verschieden. Allein in Berlin<br />
kommen 19 unterschiedliche Pauschalen für die Kita-Betreuung hinzu. Eine Reform des deutschen<br />
Kita- Finanzierungssystems erfordert auch, diesen Gordischen Knoten zu durchbrechen.<br />
Investitionsvolumen für die Reformmaßnahmen<br />
Einer Untersuchung von McKinsey zufolge würden jährlich ca. 6,5 Milliarden Euro zusätzlich für die<br />
Realisierung folgender Investitionen benötigt:<br />
< Ausbau der Krippenplätze: ca. 2,1 Milliarden Euro (ca. 42 Transrapid-Kilometer)<br />
< Übernahme des Essensgeldes: ca. 500 Millionen Euro (ca. 10 Transrapid-Kilometer)<br />
< Verbesserung der Bildungs- und Betreuungsangebote in sozialen Brennpunkten: 1,1<br />
Milliarden Euro (ca. 22 Transrapid-Kilometer)<br />
< Qualitätskonzept: 100 Millionen Euro (ca. 2 Transrapid-Kilometer)<br />
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DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
< Höherqualifizierung der pädagogischen Fachkräfte: ca. 300 Millionen Euro (ca. 6 Transrapid-<br />
Kilometer)<br />
< bessere Bezahlung der höher qualifizierten pädagogischen Fachkräfte: ca. 2,3 Milliarden<br />
Euro (ein Teil fließt in Form von Abgaben und Steuern wieder an den Staat zurück)<br />
Nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums würde der Ausbau des Betreuungsangebots im<br />
Krippenbereich auf ca. 700 000 Betreuungsplätze ca. 3 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich kosten.<br />
Ein Gutachten der Fachhochschule Koblenz beziffert den anteiligen Finanzierungsbedar des Bundes<br />
für eine Bedarfsdeckung von 40 Prozent bei Krippenplätzen mit 3,43 bis 4,97 Milliarden Euro. Bei<br />
Hinzuziehung des qualitativen Ausbaus werden die Kosten auf ca. 6,5 Milliarden Euro geschätzt.<br />
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung beziffert die zusätzlichen Kosten für<br />
einen annähernd bedarfsgerechten Ausbau der Kindertagesbetreuung in den alten Bundesländern<br />
bis zum Jahr 2010 auf etwa 1 bis ca. 2,7 Milliarden Euro jährlich. Dieser Schätzung liegen folgende<br />
Prämissen zugrunde:<br />
Bundesfinanzierung<br />
Ein entscheidender Nachteil des deutschen Systems der Kindertagesbetreuung ist, dass die<br />
Ausstattung der Einrichtungen und die Qualität der angebotenen frühkindlichen Bildung und<br />
Betreuung von der Finanzkraft der Kommunen abhängt. Abhilfe schaffen kann nur eine finanzielle<br />
Beteiligung des Bundes beim Aus - und Neubau von Kindertageseinrichtungen. Diese müsste analog<br />
dem Auftrag des Bundes zum Aus - und Neubau von Hochschulen zusätzlich im Grundgesetz<br />
aufgenommen werden. Diese Verfassungsänderung ist geboten, weil<br />
< der bedarfsgerechte Ausbau von Kindertageseinrichtungen von herausragender<br />
gesellschaftlicher Bedeutung ist und<br />
< die völlig unzureichende Versorgungsquote in den alten Bundesländern zur Verbesserung<br />
der Lebensverhältnisse der Kinder und Familien eine Mitwirkung des Bundes erforderlich<br />
macht.<br />
Gutscheinsystem<br />
Festzustellen aber ist, dass eine Bundesfinanzierung nur Sinn macht, wenn der Rechtsanspruch auf<br />
einen Betreuungsplatz auf Kinder ab dem ersten Lebensjahr ausgeweitet wird und die Bundesmittel<br />
zweckgebunden eingesetzt werden. Die Zweckgebundenheit der Mittel gewährleistet ein<br />
Gutscheinsystem.<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
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BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
„Kinderkasse“<br />
Die Finanzierung der Kinderbetreuung über ein Gutscheinsystem sollte über eine Kinderkasse<br />
erfolgen, die gespeist wird durch<br />
< einen Teil der Mehrwertsteuererhöhung (wie z. B. in Schweden oder Neuseeland),<br />
< einen Teil der Studiengebühren<br />
< demografisch bedingte Einsparungen des Kindergeldes<br />
< demografisch bedingte Einsparungen bei Ausgaben für Kindertageseinrichtungen und<br />
Schulen (bereits 2007 sinken die Ausgaben für Schulbildung aufgrund niedrigerer<br />
Kinderzahlen um ca. 1,2 Milliarden Euro, 2020 beträgt der Rückgang gegenüber den<br />
Ausgaben von 2005 real ca. 11,5 Milliarden; insgesamt werden sich die demographisch<br />
bedingten Minderausgaben bis 2020 auf schätzungsweise rund 80 Milliarden Euro addieren)<br />
Die Diskussion über den Zufluss von Mitteln aus Änderungen des Ehegattensplittings oder des<br />
Kindergeldes in die Kinderkasse ist zu ideologisiert, deshalb ist von diesen Möglichkeiten abzuraten.<br />
Funktionsweise des Gutscheinsystems<br />
Das Gutscheinsystem ist eine Realisierung des „Kitageld-Modells“ für eine anteilige,<br />
zweckgebundene Finanzierung der Kinderbetreuungsangebote durch den Bund. Es erfüllt die<br />
Forderung, Mitnahmeeffekte bei den bisherigen Kostenträgern zu verhindern, indem<br />
< ein festgelegter prozentualer Anteil der durchschnittlichen Gesamtkosten für<br />
Betreuungsplätze durch Bundesmittel gegenfinanziert wird,<br />
< der Rechtsanspruch auf einen Bildungs- und Betreuungsplatz auch für Kinder unter drei<br />
Jahren dafür sorgt, dass es nicht zu einer reinen Umschichtung der Mittel im Sinne einer<br />
Substitution der kommunalen und Ländermittel durch Bundesmittel kommen kann.<br />
Die Funktionsweise des Gutscheinsystems folgt dem Modell des sozialpolitischen Dreiecks: Die<br />
Jugendämter erhalten von der Kinderkasse Geldmittel für die Verteilung von<br />
Kinderbetreuungsgutscheinen an Eltern, die einen Betreuungsplatz für ihr Kind benötigen. Sie<br />
melden ihr Kind gegen Vorlage des Gutscheins in einer Kindertageseinrichtung ihrer Wahl an. Diese<br />
löst den Gutschein beim Jugendamt ein und erhält von diesem den für die Betreuungsleistungen<br />
adäquaten Geldbetrag. Dieses System berücksichtigt allerdings nur Einrichtungen, die vorgegebene<br />
Qualitätsstandards erfüllen und ein Qualitätssiegel vorweisen können. Teilnehmen dürfen demnach<br />
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DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
nur solche Einrichtungen, die regelmäßig Evaluationen durchführen, idealerweise jährlich als<br />
Selbstevaluation und alle drei Jahre durch externe Prüfer. Die wichtigsten Kriterien für die<br />
Selbstevaluation werden im Folgenden beschrieben.<br />
Anmerkungen zum Gutscheinsystem<br />
Gutscheinsysteme wie oben beschrieben sind bereits praxiserprobt und werden in Berlin und<br />
Hamburg. Sie sollten auf das ganze Bundesgebiet übertragen werden, mittelfristig mit der<br />
Zielsetzung einer Ganztagsbetreuung über neun Stunden für alle Kinder im Alter von drei bis sechs<br />
Jahren. Die Finanzierung über Gutscheine birgt allerdings auch Gefahren, wie im Folgenden<br />
beschrieben.<br />
Das Finanzierungssystem für Kindertageseinrichtungen in Deutschland war traditionell starr und<br />
einrichtungs - bzw. gruppenbezogen nach Ist-Kosten berechnet. Der Trend geht seit einigen Jahren<br />
aufgrund der veränderten Rechtslage durch den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz<br />
verstärkt von der Objekt- zur Subjektfinanzierung, d. h. von der gruppenbezogenen Finanzierung<br />
weg hin zu Platzpauschalen nach Durchschnittswerten, ähnlich den Diagnosis Related Groups<br />
(DRGs) in den Krankenhäusern. Damit aber ging das Risiko bei sinkenden Kinderzahlen auf die<br />
Träger über, weil weniger belegte Plätze gleichbedeutend mit geringeren Einnahmen waren. Im Zuge<br />
dieser Entwicklung mussten die Leitungen zunehmend unternehmerische Verantwortung<br />
übernehmen.<br />
Die Finanzierung über Platzpauschalen wirk te sich insbesondere bei Trägern mit älteren<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder mit tarifgebundenen Beschäftigungsverhältnissen negativ aus.<br />
Aufgrund solcher Sachzwänge besteht die Gefahr, dass Einrichtungen nur noch solche Kinder<br />
aufnehmen, die am meisten Geld bringen, beispielsweise weil sie besondere Öffnungszeiten,<br />
bestimmte Leistungen oder einen zusätzlichen Betreuungsbedarf benötigen.<br />
Da die Finanzierung über Gutscheine abhängig ist von der Anzahl der Kinder und von der<br />
Betreuungszeit, besteht die Gefahr, dass bei einseitiger Betrachtung dieser Kriterien Kindergärten zu<br />
Stundenhotels verkommen. Nicht ohne Grund sind immer mehr Beschäftigungsverhältnisse im Kita-<br />
Bereich auf Grundlage von befristeten oder Teilzeitverträgen. Von einem existenzsichernden Beruf<br />
kann nach unter solchen Bedingungen nicht die Rede sein. Es spricht für die Erzieherinnen und<br />
Erzieher, dass sie unter angesichts solcher Arbeitsbedingungen immer noch motiviert und engagiert<br />
ihre Aufgaben erfüllen. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, muss eine Basisfinanzierung über<br />
den Bund gesichert werden.<br />
Der Bund kann nicht auf der einen Seite Frühwarnsysteme zum Wohl des Kindes installieren,<br />
gleichzeitig aber das Betreuungsrisiko bei alleiniger Gutscheinfinanzierung auf die Träger<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
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BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
abzuwälzen, die dadurch notgedrungen gezwungen sind, Personal abzubauen bzw. Arbeitszeiten zu<br />
reduzieren.<br />
Für Kindertageseinrichtungen müssen dieselben Maßstäbe gelten wie für Schulen: Sie dürfen nicht<br />
allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt werden. Weil sie ein gewisses Maß an<br />
Kalkulierbarkeit benötigen, müssen die Länder einen Beitrag zur Dämpfung der Schwankungen in<br />
Belegung und Nachfrage leisten.<br />
Zweckgebundene Finanzierung<br />
Eine zweckgebundene Finanzierung der Kinderbetreuung über Betreuungsgutscheine sollte des<br />
Weiteren folgende Kriterien erfüllen:<br />
< Jedes Kind hat als Subjekt einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz.<br />
< Jedes Kind hat das Recht auf die gleiche Betreuung.<br />
< Alle Kinder, auch benachteiligte, haben einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Die<br />
Erteilung von Ganztagsplatzgutscheinen erst nach eingehender Prüfung des Anspruchs<br />
muss abgeschafft werden: Die Eltern definieren den Anspruch, nicht der Staat.<br />
< Finanzierung über Pauschalen muss finanzielle Bewegungsfreiheit der Träger gewährleisten<br />
(adäquate Beschäftigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, angemessene Bezahlung,<br />
Planungssicherheit).<br />
Koppelung des Gutscheinsystems an eine Kindergartenpflicht<br />
Die Kindergärten hierzulande werden von lediglich ca. 88 Prozent der Kinder dieser Altergruppe<br />
besucht. Zu den 12 Prozent, die den Kindergärten fernbleiben, gehören großteils auch Kinder aus<br />
benachteiligten Familien wie Migranten-, so genannten Risiko- oder bildungsfernen Familien. Kinder<br />
also, die einer Förderung bereits im frühen Kindesalter bedürfen. Angesichts dieser Tatsache und<br />
der öffentlichen Diskussion zu dieser Problematik drängen sich folgende Überlegungen auf:<br />
< Koppelung des Gutscheinsystems an eine Kindergartenpflicht für alle Kinder, um eine<br />
möglichst frühe Förderung der Kinder – insbesondere aus benachteiligten Familien – zu<br />
gewährleisten,<br />
< unter der Voraussetzung einer kostenlosen Ganztagsbetreuung in allen Einrichtungen.<br />
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DR. ILSE WEHRMANN
BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Dies würde bedeuten, dass bereits der Eingang in die Kitas für alle Kinder kostenlos wird, nicht erst<br />
das letzte Kindergartenjahr vor dem Schuleintritt. Eine längst überfällige Maßnahmen beispielsweise<br />
angesichts der zunehmenden Anzahl von kleinen Kindern mit Defiziten im Spracherwerb. Es ist<br />
müßig zu glauben, dass ein Migrantenkind mit sehr geringen oder keinen Deutschkenntnissen in<br />
einem Jahr die für den Schulbesuch erforderlichen Sprachkenntnisse erwerben kann. Die Forderung<br />
nach einer Kindergartenpflicht Forderung wird auch durch die Feststellung des Aktionsrates Bildung<br />
in seinem Jahresgutachten 2007 gestützt, derzufolge Kinder, die länger als ein Jahr einen<br />
Kindergarten besuchen, gleichaltrigen Kindern mit einem Kindergartenbesuch von weniger als einem<br />
Jahr in ihrer Lesekompetenz am Ende der vierten Klasse um ein Schuljahr voraus sind.<br />
10. UMSET ZUNG: „CHEFSACHE“<br />
Für den Beginn der Umsetzung der beschriebenen Reformmaßnahmen gilt: je früher, desto besser!<br />
Es ist schon zu viel Zeit vergeudet worden, es muss endlich gehandelt werden. Die Reform der<br />
frühkindlichen Bildung und Erziehung muss zur Chefsache werden, symbolisch und deutlich sichtbar<br />
für alle. Dafür empfiehlt sich folgende Vorgehensweise:<br />
In einem Staatsvertrag regeln Bund und Länder zunächst:<br />
< die Einsetzung von Kinderbeauftragten auf Bundes - und Landesebene<br />
< im Zehn-Jahres-Plan die Finanzierung und die Rahmenbedingungen für die verbindliche<br />
Umsetzung der Reformmaßnahmen<br />
< die Aufgaben und die Zusammensetzung von „Runden Tischen“ auf Bundes- und<br />
Landesebene<br />
< die Entwicklung eines Bundes-Rahmenbildungsplans als Orientierungsrahmen für die<br />
Bildungspläne der Länder durch die Kultusminister- und Sozialministerkonferenz<br />
< die Beauftragung einer unabhängigen wissenschaftlichen Institution mit der einheitlichen,<br />
bundesweit geltenden Qualitätsentwicklung und -sicherung für frühkindliche<br />
Betreuungseinrichtungen<br />
< die Entwicklung eines Kerncurriculums für die Hochschulausbildung der pädagogischen<br />
Fachkräfte<br />
Diese im Staatsvertrag niedergeschriebenen Maßnahmen, Institutionen und Gremien sollte<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel „zur Chefsache“ machen. Zur Betonung der außerordentlichen<br />
Wichtigkeit dieses Projekts sollte sie im Beisein der Teilnehmer des „Runden Tisches“ auf<br />
DR. ILSE WEHRMANN<br />
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BILDUNGSOFFENSIVE DEUTSCHLAND<br />
Bundesebene im Rahmen eines Familien- und Kindergipfels der breiten Öffentlichkeit vorstellen und<br />
medienwirksam den Startschuss für den offiziellen Beginn der größten Bildungsreform abgeben, die<br />
es in Deutschland bislang gegeben hat.<br />
Wenn die Umsetzung dieser Reform vom ensthaften Willen aller gesellschaftlichen Akteure getragen<br />
wird, wird Deutschland in zehn die Abstiegsplätze verlassen haben und wieder oben mitspielen: als<br />
kinderfreundliches Land und führender Bildungs - und Wissensstandort – mit besten<br />
Zukunftsperpektiven in einer globalisierten Welt.<br />
Ich möchte meinen Vortrag beenden mit einem Zitat von Olof Palme:<br />
„Weil unsere Kinder unsere einz ige<br />
reale Verbindung in die Zukunft sind<br />
und weil sie die Schwächsten sind,<br />
gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
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DR. ILSE WEHRMANN