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Gewässer Wildflussaue Tagliamento: Vision und Mahnmal für den Gewässerschutz Der Tagliamento-Fluss in Norditalien ist der letzte grosse ungezähmte Wildfluss in Mitteleuropa. Über 170 km fliesst er in einem bis zu 2 km breiten Bett. Er gilt aufgrund seiner Naturbelassenheit international als Modellökosystem. Vom Tagliamento lernen wir: 1. Flussauen sind Zentren der Biodiversität; 2. Flussauen brauchen zur Erfüllung ihrer natürlichen Funktionen viel mehr Raum als heute zugestanden und sogar gefordert wird; 3. Natürliche Abfluss-, Geschiebe- und Schwemmholzdynamik sind Herzschlag und Blut der Aue. Ohne Dynamik verschwinden Pionierlebensräume, die für den Erhalt aquatischer Biodiversität entscheidend sind: Offene Schotterflächen, Pioniervegetation und Tümpel. Flussrevitalisierungen können diesem Trend entgegenwirken, wobei der Tagliamento für die Definition von Leit- und Entwicklungszielen von unschätzbarem Wert ist. Von Lukas Indermaur Der Tagliamento ist das hydrologisch und morphologisch weitgehend intakte, kulturelle und landschaftliche Rückgrat der Region Friaul-Julisch Venetien. Er ist über 170 km lang, entspringt den friulanischen Alpen und mündet oberhalb von Venedig in die Adria. Der Tagliamento verbindet die Alpen mit dem Mittelmeerraum und ist damit einer der wichtigsten Ausbreitungskorridore für Pflanzen und Wildtiere im Alpenraum. Seine ungebändigte Kraft entfaltet der Tagliamento in einem bis zu 2 km breiten Schotterbett. Dabei gestaltet er ein komplexes und vielfältiges Lebensraum-Mosaik 1–3) . Der Oberlauf ist gestreckt, geprägt von grobkörnigem Schotter. Im Mittellauf fliesst der Tagliamento verzweigt zwischen Inseln, Sand- und Schotterbänken. Im Unterlauf mäan driert der Tagliamento, die Sedimente sind zunehmend tonig 2) . Abschnitt mit Inseln, charakteristisch für den 90 km langen Mittellauf – einzigartig im Alpenraum. Foto: Lukas Indermaur Seite 2 natur und mensch 2 / 2010
50 Jahre Rheinaubund Visitenkarte der Tagliamento- Wildflussaue Der Tagliamento führt im Jahresmittel 90 m 3 /s Wasser. Ein- bis zweijährliche Hochwasser erreichen 1100 m 3 /s, meist im Herbst und Frühjahr, ein hundertjährliches Hochwasser 4300 m 3 /s 4, 5) . Der 90 km lange verzweigte Mittellauf mit Inseln ist einzigartig im Alpenraum. Der Flusskorridor (Auenwald und Flussbett) misst 150 km 2 was etwa der Fläche des Schweizerischen Nationalparks entspricht. die Fläche des Flussbetts misst 61.7 km 2 . Davon sind 63% Schotter, 19% Wasser, 16% Inseln und 2% Schwemmholz 3, 6) . Über 650 gehölztragende Inseln prägen das Flussbett 3, 7) . Stillgewässer sind noch in hoher Anzahl zu finden, 181 in einem 2 km 2 grossen Abschnitt des Mittellaufes 8, 9) . Die durchschnittliche Ufererosionsrate am Tagliamento beträgt 6–8 m pro Jahr. Entsprechend zeigt der Tagliamento eine beeindruckende Uferlänge: Je Flusskilometer fallen am Tagliamento 25 km Uferlänge an. Zum Vergleich, an der Donau sind es 8 km und an der Rhône 2 km 10) . Für Pionierarten, welche auf offene Flächen angewiesen sind, ist der Tagliamento ein Paradies 11) . Im Mittellauf kommen auf 125 Hektaren Schotter und Inseln 16% der 2780 Arten höherer Pflanzen vor 12) . Vom Flussregenpfeiffer brüten 22 Paare pro Flusskilometer 13) . Im Flusskorridor leben 89 Laufkäferarten, wovon ein Drittel auf der Roten Liste rangiert 14) . Im Mittellauf zählte ich innerhalb eines 2 km 2 grossen Abschnitts 13 Amphibienarten, teils in beachtlichen Dichten während einer Saison: 3712 Eigelege vom Italienischen Springfrosch und 119 Eigelege der Wechselkröte 15) . Im Tagliamento leben 33 Fischarten, wovon ein Drittel als besonders schützenswert gilt (FFH-Arten) 16) . Der Lebensraum „Alpine Flüsse und ihre Ufergehölze mit der Deutschen Tamariske“ hat alpenweit den stärksten Rückgang zu verzeichnen, ist aber am Tagliamento noch grossflächig und durchgehend vorhanden 17) . Flussauen sind unsere Regenwälder und bester Hochwasserschutz Natürliche Wildflussauen gehören zu den produktivsten und artenreichsten Ökosystemen 18–20) . Wildflussauen laden zur Naher holung ein und sind aufgrund ihres Reten tionsraumes der beste natürliche Hochwasserschutz. Der ökonomische Wert Charakterarten der offenen und dynamischen Lebensräume: A) Flussregenpfeiffer, B) Wechselkröte, C) Kreuzschrecke, D) Deutsche Tamariske. (Foto A von Stefan Wassmer; Foto D von Peter Bolliger) Landschaftsäthetik hat einen Ursprung Acht Uhr abends, Dämmerlicht. Ich hocke auf dem Kies, mitten im fast 1 km breiten Flussbett des Tagliamento. Die Urtümlichkeit und Kraft dieses Lebensraumes ist spürbar. Bald wird es schwarze Nacht und ich kann mit meiner Arbeit beginnen. Die Geräusche des Tages vermischen sich für kurze Zeit mit jenen der Nacht. Der Gesang der Flussregenpfeifer und Pirole verstummt, doch Ziegenmelker und Nachtigall übernehmen zuverlässig. Paarungsrufe der Laubfrösche und Wechselkröten gesellen sich hinzu. Untermalt wird das Paarungsgeschehen vom Gurgeln und Plätschern unzähliger Rinnsale, welche ihren Weg zwischen den Kiesbänken bis ins Meer suchen. Ich geniesse diesen Moment, bin mir des Privilegs bewusst in einem intakten Lebensraum arbeiten zu dürfen. Noch immer kann ich mich nicht satt sehen und hören am Formenreichtum, an der pulsierenden Lebensvielfalt. Eigentlich erstaunlich, denn seit fast zwei Jahren erforsche ich Raumbedarf und Überleben von Amphibien in der Flussaue, bei Tag und Nacht, Kälte und Regen, mindestens sechs Tage die Woche. Was mich am Tagliamento so anzieht, ist seine Ästhetik und Grösse. Ästhetik und Grösse haben ihren Ursprung in noch funktionierenden Ökosystemprozessen wie Abfluss-, Geschiebe,- und Schwemmholzdynamik. intakter Flussauen wird mit bis zu 25 000 US$/ha und Jahr kapitalisiert. Davon macht die natürliche Hochwasserfunktion bis zu 85% des Wertes aus 21) . In Flussauen kommen rund 80% der einheimischen Tierarten und mehr als ein Drittel der Pflanzenarten vor 22, 23) . Der Anteil der Flussauen an der Landesfläche betrug in der Schweiz einst 10%, ist heute aber auf 0.26% geschrumpft 24) . Flussauen sind deshalb absolut zentral für den Erhalt unserer Biodiversität. natur und mensch 2 / 2010 Seite 3
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