natur und mensch - Rheinaubund
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Gewässer<br />
Wieso der Tagliamento<br />
international so wichtig ist<br />
Der Tagliamento ist der letzte grosse ungezähmte<br />
Alpenfluss, weshalb er international<br />
als Modellökosystem für den Alpenraum<br />
gilt. Nirgends sonst in Mitteleuropa laufen<br />
grossräumige Prozesse wie die Entstehung<br />
von Schotterbänken, Gerinneverlagerungen<br />
<strong>und</strong> Inselbildung noch so ungehindert<br />
ab 3, 7) . Am Tagliamento lässt sich beobachten,<br />
wie Lebensraumvielfalt entsteht. Diese<br />
Lebensraumvielfalt ist Ausgangspunkt für<br />
die Entwicklung einer artenreichen Flora<br />
<strong>und</strong> Fauna.<br />
Viele Fragen lassen sich an unseren weitgehend<br />
regulierten Fliessgewässern nicht<br />
mehr untersuchen. Zum Beispiel, welche<br />
Ökosystemprozesse regulieren was? Wie<br />
sieht eine natürliche Flussaue aus? Anrainer<br />
des Tagliamento würden auf ihren Fluss zeigen.<br />
Die meisten Berner vermutlich auf die<br />
grüne <strong>und</strong> kanalisierte Aare bei Bern. Klar,<br />
wer recht hat. Schwieriger zu beantworten<br />
ist die Frage, wie viel Platz ein Fluss braucht.<br />
„Vielmehr als heute zugestanden wird“ - so<br />
die Kurzversion. Zum Vergleich: Der Alpenrhein<br />
bei Diepoldsau führt im Mittel 2.6 mal<br />
mehr Jahresabfluss als der Tagliamento. Der<br />
Alpenrhein zwängt sich aber durch ein 73 m<br />
breites Flussbett, was 13–27 mal enger als<br />
das des Tagliamento ist (Abb. A)!<br />
Wie wichtig ist ein natürliches Abflussregime<br />
für die Lebensraum- <strong>und</strong> Artenvielfalt<br />
der Aue? – woher wollen wir das wissen,<br />
sind doch über 90% unserer Fliessgewässer<br />
hydrologisch beeinträchtigt. Zum Vergleich:<br />
Der regelmässige Zickzack in der Abflusskurve<br />
des Alpenrheins verrät Beeinträchtigungen<br />
(Sunk/Schwall) durch Wasserkraftnutzung.<br />
Am Tagliamento ist diese weit<br />
verbreitete Beeinträchtigung nicht erkennbar<br />
(Abb. B).<br />
Die Wiederherstellung natürlicher Ökosystemprozesse<br />
bedingt Einsichten von unbeeinträchtigten<br />
Systemen – das macht den<br />
Tagliamento so wichtig 25) . Entwicklungsziele<br />
für Revitalisierungen müssen sich am ursprünglichen<br />
Gewässerzustand orientieren.<br />
Hier spielt der Tagliamento als Vision <strong>und</strong><br />
Leitbild eine Schlüsselrolle. Auch gibt es von<br />
den meisten Organismen kaum Angaben<br />
über natürliches Verhalten, natürliche Dichten<br />
<strong>und</strong> Ansprüche an natürliche Umweltbedingungen.<br />
Kenntnisse dieser Faktoren<br />
sind entscheidend um den Erfolg künftiger<br />
Flussrevitalisierungen zu messen.<br />
Lebensraumdynamik<br />
erspart Pflegeeingriffe<br />
Schotter, Inseln, das Wassernetzwerk, Stillgewässer<br />
<strong>und</strong> Schwemmholz sind die zentralen<br />
Lebensraumtypen natürlicher Flussauen<br />
1) – deren Verfügbarkeit ist eng an die<br />
Abflussdynamik gekoppelt: Innert drei Jahren<br />
verschwanden am Tagliamento 15% der<br />
reifen Inseln (Alter: 6–20 J.) <strong>und</strong> 80% der Pionierinseln<br />
(Alter: 2–5 J.) 26) . Bis zu 95% der<br />
Schwemmholzmenge wird durch grössere<br />
Hochwasser abgetragen, gleichzeitig wieder<br />
durch Ablagerungen ersetzt 27) . Bis zu<br />
60% der Stillgewässer entstehen bei einem<br />
Hochwasser neu 28) . Trotz beachtlicher Veränderungsraten<br />
bleiben die relativen Anteile<br />
der Lebensraumtypen im Flussbett über<br />
die Zeit konstant 28) . Einzig, deren Alter wird<br />
teilweise zurückgesetzt. Hochwasserdynamik<br />
<strong>und</strong> Trockenfallen erhalten ein komplexes<br />
Lebensraummosaik <strong>und</strong> damit eine hohe<br />
Biodiversität. Flussregulierungen sind<br />
fatal, weil in der Folge die jungen <strong>und</strong> besonders<br />
wertvollen Lebensraumtypen am<br />
schnellsten verloren gehen. Im Gebiet des<br />
Nationalparks Donauauen sind von 1880 bis<br />
1993 offene Schotterflächen von 28% auf<br />
2% <strong>und</strong> Gewässerflächen von 36% auf 19%<br />
A) Verhältnis zwischen Abfluss<br />
<strong>und</strong> Gerinnebreite einiger<br />
Schweizer Flüsse im Vergleich mit<br />
dem Tagliamento (Sternsymbol).<br />
Quellen: „GoogleEarth <strong>und</strong><br />
Schweizerische Landeshydrologie“;<br />
B) Vergleich des natürlichen<br />
Abflussregimes des Tagliamento<br />
mit dem künstlichen Abflussregime<br />
des Alpenrheins.<br />
Seite 4 <strong>natur</strong> <strong>und</strong> <strong>mensch</strong> 2 / 2010