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4. Auswirkungen der kommunistischen Regierung in Kasachstan

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Die Wurzeln und die Entstehung des<br />

Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s<br />

Maturitätsarbeit an <strong>der</strong> Kantonsschule Wiedikon<br />

Sarah Duc<br />

Betreuer: Herr Joseph Ste<strong>in</strong>feld<br />

Abgabe: Zürich, den 1. Juni 2007


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

VORWORT 3<br />

EINLEITUNG 4<br />

HAUPTTEIL 5<br />

1. Geschichte <strong>der</strong> Kasachen bis an Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts 5<br />

1.1 Ursprung 5<br />

1.2 Eroberung des kasachischen Territoriums durch die Russen 6<br />

1.3 Kolonisierung 7<br />

2. Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Kasachen vor dem 1. Weltkrieg 9<br />

2.1 Nomadenleben 9<br />

2.2 Kultur und Traditionen 10<br />

2.3 Sozialbeziehungen 11<br />

2.4 Lebensgrundlagen und Wirtschaft 12<br />

3. Die von kurzer Dauer Alasch-Orda-<strong>Regierung</strong> 14<br />

<strong>4.</strong> <strong>Auswirkungen</strong> <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> 16<br />

<strong>4.</strong>1 Kollektivierung und Vernichtung des Nomadenlebens 16<br />

<strong>4.</strong>2 Zwangsdeportationen und freiwillige Migrationen nach <strong>Kasachstan</strong> 17<br />

<strong>4.</strong>3 Nationalitätsbewusstse<strong>in</strong> 18<br />

<strong>4.</strong>4 Entwicklung des Bildungssystems 19<br />

<strong>4.</strong>5 Landwirtschaft und Industrialisierung 20<br />

<strong>4.</strong>6 Die Politik Gorbatschows und ihre <strong>Auswirkungen</strong> <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> 22<br />

5. Unabhängigkeitserklärung und Kapitalisierung 23<br />

5.1 Unabhängigkeitserklärung <strong>der</strong> kasachischen Republik 23<br />

5.2 Demokratie o<strong>der</strong> autoritäre Herrschaft? 24<br />

5.3 Soziale Verän<strong>der</strong>ungen 26<br />

5.4 Stärkung <strong>der</strong> kasachischen Identität 28<br />

5.5 Anwendung <strong>der</strong> Privatisierung und die damit verbundenen wirtschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen 30<br />

5.6 E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> USA 31<br />

FAZIT 33<br />

BIBLIOGRAPHIE 36<br />

Auf <strong>der</strong> Titelseite steht die Fahne <strong>der</strong> heutigen kasachischen Republik, Quelle:<br />

http://thephilter.com/sediment/KazakhstanF.gif<br />

- 2 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Vorwort<br />

Zuerst möchte ich me<strong>in</strong>em Betreuer, Herrn Ste<strong>in</strong>feld, danken. Se<strong>in</strong>e Ratschläge,<br />

Anmerkungen und Korrekturen waren e<strong>in</strong>e wertvolle Hilfe.<br />

Ferner möchte ich Frau Lio Hischenhuber, Claudia Glaus, Aissata Sow und den Mitschülern<br />

für die Zeit danken, die sie sich genommen haben, um me<strong>in</strong>e zahlreichen Sprachfehler zu<br />

korrigieren.<br />

Schliesslich danke ich noch me<strong>in</strong>en Eltern und allen, die mich <strong>in</strong> dieser Zeit unterstützt und<br />

ermutigt haben.<br />

- 3 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Vor e<strong>in</strong>em Jahr habe ich von e<strong>in</strong>em jetzt <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> lebenden Priester e<strong>in</strong>en Vortrag über<br />

dieses Land gehört. Ich wusste vorher nichts über <strong>Kasachstan</strong> und habe se<strong>in</strong>e Geschichte sehr<br />

spannend gefunden. Als ich dann e<strong>in</strong> Geschichtsthema für me<strong>in</strong>e Maturitätsarbeit suchte, ist<br />

mir das Thema <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong>gefallen und ich war davon begeistert.<br />

In me<strong>in</strong>er Arbeit befasse ich mich mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Entstehung des Staats <strong>Kasachstan</strong>s<br />

von dem Auftauchen <strong>der</strong> Kasachen bis heute. Ich untersuche auch die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wohner, die Entwicklung ihrer Kultur und die Beziehungen<br />

zwischen den Volksgruppen.<br />

Ich habe folgende Leitfragen behandelt:<br />

1. Wer waren die E<strong>in</strong>wohner von <strong>Kasachstan</strong> am Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts und wie<br />

lebten sie? (Traditionen, Sozialbeziehungen, Lebensgrundlagen...)<br />

2. Was ist aus ihnen unter <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> <strong>Regierung</strong> geworden?<br />

3. Welche Völker wurden nach <strong>Kasachstan</strong> deportiert? Und Warum?<br />

<strong>4.</strong> Welche Leute s<strong>in</strong>d freiwillig nach <strong>Kasachstan</strong> gewan<strong>der</strong>t? Aus welchen Gründen?<br />

Wie haben sich die ‚Auslän<strong>der</strong>‘ zur ursprünglichen Bevölkerung verhalten und was<br />

hat ihre Ankunft verän<strong>der</strong>t?<br />

5. Welche <strong>Auswirkungen</strong> hatten folgenden Ereignisse auf die Wirtschaft, die politischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen und die Gewohnheiten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wohner von <strong>Kasachstan</strong>:<br />

• 1917: die Bolschewiken ergreifen den Macht<br />

• 1986: Öffnung und Liberalisierung des <strong>kommunistischen</strong> Staates<br />

• 1991: Erklärung <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>Kasachstan</strong>s<br />

6. Welche Merkmale <strong>der</strong> verschieden Kulturen gibt es noch heute? (Sprache, Religion,<br />

Traditionen, Arbeit, Bildung)<br />

7. Wie steht es um die Wahrnehmung <strong>der</strong> ethnischen Heterogenität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong>, <strong>in</strong><br />

den Sozialbeziehungen und im Alltag <strong>der</strong> Bürger?<br />

Um zu den nötigen Informationen zu gelangen habe ich Bücher aus <strong>der</strong> Sekundärliteratur,<br />

Zeitungs- und Zeitschriftartikeln und Internetseiten auf Deutsch, Englisch und Französisch<br />

gelesen. Dazu habe ich noch Bil<strong>der</strong> als Orig<strong>in</strong>alquellen genutzt. Während <strong>der</strong> Herstellung<br />

me<strong>in</strong>er Arbeit habe ich auch gemerkt, dass <strong>Kasachstan</strong> wegen dem Film Borat und <strong>der</strong><br />

zunehmenden Wichtigkeit se<strong>in</strong>es Erdöls- und Gasexports nach Europa e<strong>in</strong> aktuelles Thema<br />

war.<br />

- 4 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Hauptteil<br />

1. Geschichte <strong>der</strong> Kasachen bis an Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

1.1 Ursprung 1<br />

Anfang des 2. Jahrtausends nach Christus befanden sich auf dem Territorium des heutigen<br />

<strong>Kasachstan</strong> Nomadenstämme im Norden und Oasenstädte im Süden. Die Steppen wurden<br />

später von verschiedenen Völkern durchquert. Mehrere Reiche entstanden und verschwanden,<br />

denn diese weiten Gebiete waren schwer zu beherrschen.<br />

Ab 1219 fielen die Mongolen <strong>in</strong> Zentralasien mit Genghis Khan (auch Dsch<strong>in</strong>gis Khan<br />

genannt) an ihrer Spitze e<strong>in</strong> (Khan heisst Führer). Sie zerstörten die Städte, doch die<br />

E<strong>in</strong>wohner blieben und passten sich den Eroberern an. Nach dem Tod von Genghis Khan im<br />

Jahre 1227 spaltete sich das Reich. Am Ende des 1<strong>4.</strong> Jh, gründete e<strong>in</strong>er von Genghis Khans<br />

Nachfolgern, Amir Timur (im Westen Tamerlan genannt), e<strong>in</strong> Reich, das be<strong>in</strong>ahe alle Steppen<br />

und Oasenstädte Zentralasiens umfasste. Als das Timurreich zusammenbrach, blieb e<strong>in</strong><br />

Machtvakuum und folglich Instabilität <strong>der</strong> Volksgruppen.<br />

Im 15. Jh entstand am Tschu-Fluss das kasachische Khanat, e<strong>in</strong>e Konfö<strong>der</strong>ation von türkischmongolischen<br />

Nomadenstämmen; es war also ke<strong>in</strong>e ethnisch homogene Gruppe. Sie hatte<br />

sich von den Stämmen <strong>der</strong> Usbeken getrennt, die südlich des Syr-Darja-Flusses geblieben<br />

waren. Kasim Khan, <strong>der</strong> das Khanat bildete, wird meist als Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> kasachischen<br />

Abbildung 1 :<br />

1 Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Central Asia: A Global Studies Handbook S. 170-171, Die<br />

Völker <strong>der</strong> Sowjetunion, e<strong>in</strong> Lexikon S.91, und Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 32-33<br />

- 5 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Identität bezeichnet. Er gründete e<strong>in</strong> mächtiges Reich <strong>der</strong> Kasachen, (Abbildung 1 2 ) das vom<br />

Ural-Fluss bis zum Balchasch-See reichte.<br />

Mitte des 16. J h zerbrach die E<strong>in</strong>heit des Khanates und wurde <strong>in</strong> drei Horden bzw. Dschuze<br />

aufgespaltet: die Älteste o<strong>der</strong> Grösste; die Mittlere; und die Jüngste o<strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>ste. „[Die<br />

Horden] blieben nur noch durch kulturelle Beziehungen und Geme<strong>in</strong>samkeiten verbunden“ 3 .<br />

Später, 1801, bildete sich noch e<strong>in</strong>e neue Horde, die Innere- o<strong>der</strong> Bukej-Horde. 4<br />

1.2 Eroberung des kasachischen Territoriums durch die Russen 5<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts kam die Invasion <strong>der</strong> mongolischen Dsungaren (auch Oiraten<br />

genannt) aus <strong>der</strong> damaligen Dsungarei im Norden des heutigen Ch<strong>in</strong>a. Sie eroberten e<strong>in</strong><br />

grosses Territorium, das teilweise den Kasachen gehörte. Sie töteten Tausende von Nomaden<br />

und nahmen ihre Fel<strong>der</strong> <strong>in</strong> Besitz. Dies führte zum Untergang <strong>der</strong> Kasachen. Um sich zu<br />

behaupten, schlossen 1731 und 1742 die Khans <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>sten und mittleren Horden e<strong>in</strong> erstes<br />

Abkommen mit Russland. „Ironically, it also opened the door to eventual imperial [russian]<br />

colonization“ 6 1754-1759 wurde das Dsungarenreich durch die Ch<strong>in</strong>esen zerstört.<br />

In <strong>der</strong> Tat hatten die Russen von Anfang an die Absicht, zu kolonisieren, aber es dauerte 150<br />

Jahre, bis sie endlich über die Steppen herrschten. Sie sahen <strong>in</strong> den Nomaden ungebildete<br />

Barbaren, die sie zivilisieren wollten. Zuerst erweiterten sie die russischen Grenzen nach<br />

Süden und liessen Forts aufbauen, um sich zu schützen. Die Russen bauten auch Städte, die<br />

die russische Kultur nach <strong>Kasachstan</strong> brachten. 7<br />

E<strong>in</strong> Teil <strong>Kasachstan</strong>s wurde friedlich von Russland annektiert (Mitte des 18. Jh, Beg<strong>in</strong>n des<br />

19. Jh), und e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er wurde <strong>in</strong> den 1850er und <strong>in</strong> den 1860er Jahren mit militärischer<br />

Gewalt unterworfen.<br />

Russland hatte <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> wegen <strong>der</strong> natürlichen und landwirtschaftlichen Ressourcen vor<br />

allem wirtschaftliche Interessen. Um <strong>Kasachstan</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wirkliche Kolonie zu verwandeln –<br />

d. h. dass Siedler auf das Land kommen konnten – und um se<strong>in</strong>e Entwicklung zu<br />

systematisieren, gründete <strong>der</strong> Zar 1865 e<strong>in</strong>e Kommission. Sie sollte das politische System und<br />

die Verwaltung reformieren. Man wandte die bekannte Kolonisierungspolitik „teile und<br />

herrsche“ an. <strong>Kasachstan</strong>s Territorium wurde <strong>in</strong> drei ‚Gouvernements généraux‘ aufgeteilt:<br />

Turkistan, Orenburg und West-Sibirien (später ‚Gouvernement général <strong>der</strong> Steppen‘ genannt).<br />

Der russische ‚Gouverneur général‘ besass Vollmacht, und das Land kam unter se<strong>in</strong>e<br />

2<br />

Für die Karte habe ich mich durch http://www.zum.de/whkmla/histatlas/centrasia/haxkazakhstan.html<br />

20.02.2005 <strong>in</strong>spirieren lassen.<br />

3<br />

Die Völker <strong>der</strong> Sowjetunion S. 91<br />

4<br />

The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S.58<br />

5<br />

Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Central Asia: A Global Studies Handbook: S. 172-173,<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Kasachen-Khanat, History of Civilizations of Central Asia, S. 247-249, The Kazakhs<br />

S.75<br />

6<br />

Soul of Kazakhstan S. 58<br />

7 Cf den Kapitel 2.2 Kultur und Traditionen<br />

- 6 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Militärkontrolle. Die kasachischen Adligen konnten nur kle<strong>in</strong>e Posten behalten. Die Macht<br />

<strong>der</strong> Khans wurde stark zurückgedrängt.<br />

In e<strong>in</strong>er Sozialreform wurden alle Kasachen als e<strong>in</strong>fache Bauern betrachtet und e<strong>in</strong> Kasache<br />

konnte nur e<strong>in</strong>en Adeltitel erwerben, wenn er Beamter o<strong>der</strong> Offizier im russischen<br />

Staatssystem wurde.<br />

Wirtschaftlich gesehen wurden alle kasachischen Gebiete Eigentum des russischen Staates,<br />

und <strong>der</strong> Boden wurde besteuert. Diese Reform hat schlimmste Folgen gehabt. Plötzlich war<br />

die jahrhun<strong>der</strong>tealte Aufteilung des Landes zerstört. Die Konfiszierung vieler Weiden führte<br />

dazu, dass e<strong>in</strong>ige Nomaden sesshaft werden mussten.<br />

Als Folge <strong>der</strong> Justizreform kümmerten sich Gerichte des russischen Imperiums um die<br />

schweren Gerichtsfälle. Die traditionellen islamischen Gerichte, die auf dem Adat (mündlichtraditionelles<br />

Gesetz <strong>in</strong> den Steppen) basierten, urteilten nur noch lokal ab.<br />

1.3 Kolonisierung 8<br />

In <strong>der</strong> Mitte des 19. J h, waren die meisten Auslän<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> Kosaken, 9 die sich dort<br />

als Soldaten befanden.<br />

Mit <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> Leibeigenschaft <strong>in</strong> Russland (1861) und <strong>der</strong> folgenden Bodenbedarf<br />

wurde die Kolonisierungspolitik beschleunigt. Der Zar erklärte <strong>in</strong> zwei Texten 1881 und<br />

1889, dass Bauern den Norden und den Osten <strong>Kasachstan</strong>s frei kolonisieren durften. Doch<br />

Zentral-<strong>Kasachstan</strong> blieb ohne spezielle Erlaubnis von <strong>der</strong> Kolonisierung ausgenommen.<br />

Aber 1906 und 1907 wurde erlaubt, überall frei zu kolonisieren, denn <strong>der</strong> Bedarf an Fel<strong>der</strong>n<br />

wurde immer grösser.<br />

Im 19. J h siedelten viele Slawen <strong>in</strong> den Steppen Nordkasachstans, um von <strong>der</strong> dortigen<br />

fruchtbaren Erde zu profitieren. Die Bewegung <strong>der</strong> Russen und Ukra<strong>in</strong>er zu den fruchtbaren<br />

Ebenen und zu den Städten verschlimmerte die Spannungen zwischen den ethnischen<br />

Gruppen und Religionen. Die Siedler nahmen die fruchtbarsten Gebiete, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

sommerlichen Dürrezeit für das Überleben <strong>der</strong> Herden notwendig waren. 10 1916 machten die<br />

Slawen und Russen 41,6% <strong>in</strong> den vier Oblasti (Bezirke) des Nordens (Uralsk, Turgai,<br />

Akmol<strong>in</strong>sk und Semipalat<strong>in</strong>sk) aus 11 . Den Nomaden wurden Steuern auferlegt und ihre<br />

Bewegungsfreiheit wurde e<strong>in</strong>geschränkt. Dadurch wurden sie immer ärmer und mussten<br />

sesshaft werden. Diese Taktik gab den Russen Gelegenheit, sich noch mehr Land anzueignen.<br />

Die russische Politik drängte die traditionelle Art des kasachischen Lebens zurück. Da e<strong>in</strong><br />

Teil <strong>der</strong> Kasachen immer Nomaden waren, entzogen sich viele <strong>in</strong> den weiten Steppen <strong>der</strong><br />

8<br />

Folgende Informationen stammen aus Central Asia: A Global Studies Handbook: S.173, History of<br />

Civilizations of Central Asia, S. 94-95<br />

9<br />

Die Kosaken wohnten ursprünglich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e. Sie wurden als freie Reiterverbände <strong>in</strong> die russische Armee<br />

e<strong>in</strong>geglie<strong>der</strong>t und konnten als Ersatz für ihren Dienst als Bauern <strong>in</strong> den Grenzgebieten des russischen Reiches<br />

frei leben. (http://de.wikipedia.org/wiki/Kosaken)<br />

10<br />

Russland als Vielvölkerstaat, S. 159<br />

11 The Kazakhs, S. 90<br />

- 7 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Kontrolle durch die russischen Verwaltungsbehörden und das Stammesleben wurde im Alltag<br />

beibehalten.<br />

Seit dem 18. J h befanden sich <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> Tataren. Sie waren sogar die grösste M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit<br />

nach den Russen. Sie verd<strong>in</strong>gten sich als lokale Händler, Erzieher und verbreiteten unter den<br />

Nomaden den Islam. Weil sie e<strong>in</strong>e ähnliche Sprache wie die Kasachen hatten, zudem aber<br />

auch Russisch sprachen, waren sie die Verb<strong>in</strong>dung zwischen den E<strong>in</strong>heimischen und den<br />

Russen.<br />

- 8 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

2. Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Kasachen vor dem 1. Weltkrieg<br />

2.1 Nomadenleben<br />

Die Kasachen waren ursprünglich e<strong>in</strong> Nomadenvolk, da ihr Territorium vor allem aus<br />

Steppen besteht, die ungeeignet für Kulturpflanzen bzw. sesshaftes Leben s<strong>in</strong>d. Das Grass <strong>der</strong><br />

Steppen ist aber ideales Futter für die Tiere. Die Nomaden besitzen Schafherden, Ziegen,<br />

Kühe, Pferde, Kamele, und im Norden sogar Jaks. Die Tiere dienen ihnen sowohl als<br />

Nahrungsquelle, als auch als Transportmittel und Reserve an Wolle für ihre Klei<strong>der</strong>. Sobald<br />

<strong>der</strong> Schnee zu schmelzen beg<strong>in</strong>nt, verlassen die Kasachen ihr w<strong>in</strong>terliches Lager und<br />

beg<strong>in</strong>nen ihre saisonbed<strong>in</strong>gte Migration. Auf <strong>der</strong> Suche nach günstigen Futterplätzen können<br />

sie manchmal bis 1'000 Kilometer weit wan<strong>der</strong>n. Darum wohnen sie <strong>in</strong> Jurten, zerlegbaren<br />

und wie<strong>der</strong> aufstellbaren Häusern. Je<strong>der</strong> Klan folgt dem gleichen Weg, Jahr für Jahr, hält an<br />

den gleichen Brunnen und kehrt an die gleichen Plätze für das w<strong>in</strong>terliche Futter zurück. 12<br />

Die Reichen besitzen raschere und kräftigere Tiere (z. B Pferde o<strong>der</strong> Kamele) als die Armen,<br />

und so können sie als Erste vom Gras profitieren. 13<br />

Auf <strong>der</strong> Photo (Abbildung 2) sieht man Kasachen mit ihrer Jurten und Schafen auf den<br />

Steppen.<br />

Abbildung 2<br />

Kasachen am Melken ihrer Schafe. Quelle: http://www.hp.uab.edu/image_archive/uce/kazakhstan.jpg<br />

Die Nomaden leben <strong>in</strong> sehr enger Beziehung zur Natur, die ihren Lebensrythmus bestimmt.<br />

Sie hängen ab vom Wetter, denn, wenn zum Beispiel e<strong>in</strong> Zhüt kommt, erleiden sie e<strong>in</strong>en<br />

grossen materiellen Verlust. (Der Zhüt ist e<strong>in</strong> plötzlicher Frost <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schmelzphase, dann<br />

gefriert das Land und ganze Herden können <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Woche verhungern. Die<br />

Nomaden müssen sich naher als Handarbeiter verd<strong>in</strong>gen, um zu überleben.)<br />

12 Soul of Kazakhstan, S. 16-18<br />

13 History of Civilizations of Central Asia S. 87<br />

- 9 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Die Horden s<strong>in</strong>d „lose Konfö<strong>der</strong>ationen nomadischer Stämme“. Die Nomaden s<strong>in</strong>d nicht<br />

durch territoriale Herrscher und Emire verbunden, son<strong>der</strong>n durch<br />

Verwandtschaftsverhältnisse und sie organisieren sich <strong>in</strong> Horden. 14 Der Begriff ,Qasaq‘<br />

kommt aus dem Türkisch und me<strong>in</strong>t wahrsche<strong>in</strong>lich „frei “ o<strong>der</strong> „flüchtig“. Demnach gilt er<br />

für die Kasachen, die als Nomaden unabhängig von e<strong>in</strong>em organisierten Staat lebten und sich<br />

<strong>in</strong> den Steppen frei bewegten.<br />

2.2 Kultur und Traditionen<br />

Die Kasachen besitzen sehr reiche und vielfältige Traditionen, die sie von ihren Vorfahren<br />

geerbt haben. Die Jurte ist schon e<strong>in</strong> Kunstwerk und e<strong>in</strong> Museum <strong>in</strong> sich selbst, wie man es<br />

auf <strong>der</strong> Photo (Abbildung 3) beobachten kann. Sie ist das Zentrum des Nomadenlebens, <strong>der</strong><br />

Schutz gegen w<strong>in</strong>terliche Kälte und sommerliche Hitze, <strong>der</strong> Ort, wo sich die Familie<br />

versammelt, wo sie feiert, wo sie Geschichten erzählt, wo die Tradition weiter gegeben wird.<br />

Abbildung 3<br />

Das Innere e<strong>in</strong>er Jurte. Quelle: http://www.britannica.com/ebi/art/pr<strong>in</strong>t?id=51422&articleTypeId=0<br />

14 Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong>, S 32-33<br />

- 10 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Die Kasachen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> sehr gastfreundliches Volk. Wenn e<strong>in</strong> Gast <strong>in</strong> ihre Jurte kommt,<br />

müssen sie ihn im Fall e<strong>in</strong>er Gefahr verteidigen. 15<br />

Die älteste Religion <strong>der</strong> Nomaden ist <strong>der</strong> Tengrismus. Sie besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verehrung dreier<br />

Gottheiten: <strong>der</strong> Gott des Himmels namens Tengri, <strong>der</strong> männliche Schöpfer; die Gött<strong>in</strong> des<br />

irdischen Wassers namens Zher-Suw, die weibliche Schöpfer<strong>in</strong>; und die Beschützer<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Fruchtbarkeit und <strong>der</strong> Mütter namens Umay. Der Tengrismus ist bei den Nomaden oft mit<br />

dem Islam komb<strong>in</strong>iert. Man f<strong>in</strong>det auch unter den Kasachen E<strong>in</strong>flüsse des Schamanismus, <strong>der</strong><br />

mit dem Bild von Baqsï, e<strong>in</strong>em Musiker, Heilpraktiker und Hellseher, dargestellt wird.<br />

Die sesshafte Bevölkerung im Süden von <strong>Kasachstan</strong> wurde schon im 10. Jh islamisiert, und<br />

<strong>der</strong> Islam wurde seit dem 12. J h weiter im Norden verbreitet. Die Kasachen s<strong>in</strong>d jedoch<br />

weniger ,muslimisch‘ als die Leute <strong>in</strong> den Nachbarstaaten. Sie bekehrten sich langsam zum<br />

Islam und behielten alte Traditionen 16 wie den Feuerkult o<strong>der</strong> den Ahnenkult. Die Vorfahren<br />

s<strong>in</strong>d für die Nomaden sehr wichtig 17 , von ihnen haben sie gelernt, <strong>in</strong> den Steppen zu<br />

überleben. Die Kasachen kennen immer sieben Stufen ihres Stammbaums.<br />

Die Geschichten und die Legenden werden mündlich weitergegeben. Die Kasachen s<strong>in</strong>gen<br />

sehr gern o<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d begeisterte Zuhörer. Gesänge haben zum Beispiel e<strong>in</strong>e wichtige Stelle <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Heiratsfeier.<br />

Durch die russischen Schulen bildete sich um die Jahrhun<strong>der</strong>twende 19./20. J h, e<strong>in</strong>e<br />

kasachische Oberschicht. Russische Intellektuelle, die aus verschiedenen Gründen am Ende<br />

des 19. J h nach <strong>Kasachstan</strong> gekommen waren, richteten Bibliotheken, Museen, Lehranstalten<br />

usw. e<strong>in</strong>. Dank dieser E<strong>in</strong>richtungen machten die Kasachen wissenschaftliche Fortschritte.<br />

Die Kultur und die Geschichte <strong>Kasachstan</strong>s wurden <strong>in</strong> dieser Zeit studiert. 18<br />

Die Städte im Norden <strong>Kasachstan</strong>s (z.B. Pavlodar o<strong>der</strong> Semipalat<strong>in</strong>sk/Semey) wurden von<br />

Russen gegründet und haben folglich russisches Aussehen.<br />

2.3 Sozialbeziehungen<br />

Der Struktur <strong>der</strong> Stämme war auf e<strong>in</strong>er Militär- und Erbfolgebasis aufgebaut. Beispielweise:<br />

„Die Wahl des Khans e<strong>in</strong>er klanstrukturierten Grossfamilie und Horde war von se<strong>in</strong>en<br />

militärischen Fähigkeiten abhängig und wurde zusätzlich durch die verwandtschaftliche<br />

Abstammung bee<strong>in</strong>flusst“ 19 .<br />

Angesichts <strong>der</strong> harten und gefährlichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen waren Familiengruppen<br />

unerlässlich. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste war man fast sicher zum Tod verurteilt. Die Reichen sollten<br />

die Schwachen und die Armen unterstützen. Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>gruppe waren zur<br />

Verteidigung des Gebietes im Streitfall verpflichtet. Die Beziehungen zwischen den<br />

verschiedenen Nomadengruppen waren tatsächlich nicht immer friedlich. Sogar während <strong>der</strong><br />

15 Soul of Kazakhstan, S. 86-87<br />

16 Central Asia: A Global Studies Handbook, S.163<br />

17 Soul of Kazakhstan, S. 60<br />

18 History of Civilizations of Central Asia, S. 252<br />

19 Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong>, S. 35<br />

- 11 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Zarenzeit war es nicht selten, dass Stämme das Vieh an<strong>der</strong>er Stämme raubten. Es gab auch<br />

endlose Streitigkeiten zwischen Gruppen, die glaubten, die gleichen Territorien zu besitzen.<br />

Es gab e<strong>in</strong>e erbliche kasachische Adelsschicht, die Tores. Sie me<strong>in</strong>ten, sie seien Genghis<br />

Khans 20 Nachfolger. E<strong>in</strong> ‚Khan‘, e<strong>in</strong> Führer e<strong>in</strong>es Stammes, wurde unter den Tores gewählt.<br />

Die Richter (Bijs) bildeten e<strong>in</strong>e dritte Oberschicht-Klasse. 21 Sie hatten die Pflicht, die<br />

E<strong>in</strong>haltung des Adats (muslimisches Gewohnheitsrecht) zu kontrollieren. 22<br />

Die Frau hatte e<strong>in</strong>e hohe soziale Stellung bei den Nomaden. Sie war die Wärter<strong>in</strong> und die<br />

Herr<strong>in</strong> <strong>der</strong> Feuerstelle im Zentrum <strong>der</strong> Jurte, e<strong>in</strong> sakraler Ort, den man nicht überqueren<br />

durfte, auch wenn das Feuer nicht entzündet war. 23 Die Wahl e<strong>in</strong>er Frau für die Heirat war<br />

sehr vorsichtig geführt, denn die Kasachen glaubten, dass ke<strong>in</strong>e gute Frau aus e<strong>in</strong>er<br />

schlechten Familie kommen konnte. Die Heirat war Mittel, Bündnisse zwischen zwei<br />

Stämmen zu bilden und zu festigen.<br />

2.4 Lebensgrundlagen und Wirtschaft<br />

Die kasachische Bevölkerung lebte vor allem von <strong>der</strong> Viehzucht. 1916 gab es <strong>in</strong> den Grenzen<br />

des heutigen <strong>Kasachstan</strong>s 18 Mio. Schafe und Ziegen, 5 Mio. R<strong>in</strong><strong>der</strong> und <strong>4.</strong>5 Mio. Pferde 24 .<br />

Aber <strong>der</strong> grösste Teil <strong>der</strong> Tiere befand sich <strong>in</strong> den Händen e<strong>in</strong>iger Mächtigen, so dass viele<br />

Kasachen zu wenig Vieh besassen, um davon leben zu können. Deshalb mussten sie <strong>in</strong> den<br />

Dienst e<strong>in</strong>es reicheren Kasachen e<strong>in</strong>treten. 25<br />

Die Slawen wohnten meist <strong>in</strong> den Städten im Norden o<strong>der</strong> auf Bauernhöfen. Sie waren<br />

selbstverständlich sesshaft. Sie vermischten sich nicht mit den Nomaden, denn ihre Art zu<br />

leben war sehr verschieden von dem <strong>der</strong> Kasachen.<br />

Aus wirtschaftlichen Gründen verbanden die Russen den Norden <strong>Kasachstan</strong>s am Ende des<br />

19. J h mit dem Bahn-Netz. Die transsibirische Eisenbahn löste viele Probleme zur Transport<br />

<strong>der</strong> Waren durch die Steppen, nämlich die Gefahr des Angriffs auf die Karawanen und die<br />

harten Witterungsverhältnisse. Sie ermöglichte also e<strong>in</strong>e Intensivierung des Handels zwischen<br />

Russland und <strong>der</strong> kasachischen Region. Die e<strong>in</strong>facheren Reisenverhältnisse hatten auch zur<br />

Folge e<strong>in</strong>e grössere E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung von Russen. 26<br />

Die Russen gründeten auch Firmen für die Metall<strong>in</strong>dustrie und die Salz<strong>in</strong>dustrie, sowie<br />

Fabriken zur Verfe<strong>in</strong>erung <strong>der</strong> Produkte <strong>der</strong> Landwirtschaft. Die Fischerei am Aral-See wurde<br />

auch e<strong>in</strong> wichtiger Wirtschaftszweig <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>. E<strong>in</strong>e kasachische arbeitende Klasse<br />

20<br />

Vgl. Kapitel 1.1<br />

21<br />

History of Civilizations of Central Asia, S. 85-86<br />

22<br />

Vgl. Kapitel 1.2<br />

23<br />

Soul of Kazakhstan, S.87<br />

24<br />

History of Civilizations of Central Asia S.60<br />

25<br />

History of Civilizations of Central Asia, p. 68<br />

26 The Kazakhs S. 70<br />

- 12 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

bildete sich. Die kasachischen Arbeiter wurden zunächst <strong>in</strong> den anstrengenden und weniger<br />

gut bezahlten Berufen beschäftigt. 27<br />

27 History of Civilizations of Central Asia, S. 250-251<br />

- 13 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

3. Die von kurzer Dauer Alasch-Orda-<strong>Regierung</strong> 28<br />

Die Kasachen gehörten im russischen E<strong>in</strong>teilungssystem <strong>der</strong> verschiedenen Völker zur<br />

Gruppe <strong>der</strong> <strong>in</strong>orodcy 29 . Aufgrund dieses Son<strong>der</strong>status waren sie vom Militärdienst befreit.<br />

Dennoch rief 1916 die russische <strong>Regierung</strong> die Kasachen <strong>in</strong> den Krieg. In <strong>der</strong> Tat wurden sie<br />

dann nicht als kämpfende Truppen e<strong>in</strong>gesetzt, son<strong>der</strong>n als Arbeiter h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Front.<br />

Aber <strong>in</strong> dieser Zeit gab es e<strong>in</strong>e grosse Hungersnot <strong>in</strong> Zentralasien. Die Steuern wurden erhöht<br />

und Weizen unter E<strong>in</strong>satz von Gewalt konfisziert. Der Ruf <strong>der</strong> Männer an die Waffen traf also<br />

die E<strong>in</strong>wohner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schlechten Zeit, gerade als die Männer gebraucht wurden. Wütend<br />

rebellierten sie und im Sommer 1916 kam es zur Erhebung <strong>der</strong> Bevölkerung gegen die<br />

Russen. Im Siebenstromland 30 , wo die Kolonisation beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>tensiv war, gab es<br />

bewaffnete Zusammenstösse zwischen Kasachen und Russen. Die russischen Höfe wurden<br />

geplün<strong>der</strong>t und nie<strong>der</strong>gebrannt. Die Truppen des Zaren schlugen hart zurück und brachten<br />

Zehntausende von Nomaden um. Auf beiden Seiten gab es viele Verluste. Durch die<br />

Dezimierung wurde <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand erstickt. Als Folge mussten viele Kasachen <strong>in</strong> die Berge<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong>s ch<strong>in</strong>esische Ost-Türkistan fliehen und sie verloren noch mehr Fel<strong>der</strong>.<br />

1905 hatte die Alasch-Orda e<strong>in</strong>e erste Sitzung <strong>in</strong> Orenburg und Vernjj (Alma-Ata) mit Ali<br />

Khan Bukej Khanov, Khan <strong>der</strong> Bukej-Horde, und Almed Bayatursun als Führer. 1917, nach<br />

<strong>der</strong> Februarrevolution, wurde Alasch-Orda als politische Partei durch junge Intellektuellen<br />

gegründet. (Alasch ist e<strong>in</strong> mythischer Vorfahre <strong>der</strong> kasachischen Stämme. Er sollte e<strong>in</strong>e für<br />

alle Kasachen gleiche Herkunft darstellen.) Ziel war es, die Interessen <strong>der</strong> Kasachen <strong>in</strong><br />

Petrograd (St-Petersburg) zu verteidigen. Sie hofften, <strong>der</strong> Sturz des Zaren und die<br />

provisorische <strong>Regierung</strong> würden für die kasachische Nation e<strong>in</strong>e Verbesserung bedeuten.<br />

Aber als die provisorische <strong>Regierung</strong> durch die Bolschewiki nie<strong>der</strong>geschlagen wurde,<br />

verloren die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Alasch-Orda ihre Hoffnung und entschlossen sich, ihren eigenen<br />

Staat zu gründen. Im Juli 1917 wurde die Alasch-Partei offiziell proklamiert und im<br />

Dezember die unabhängige <strong>Kasachstan</strong>republik.<br />

Diese Partei war auf nationalistische, laizistische und demokratische Grundsätze gebaut.<br />

Konkret verlangte sie e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Wahlrecht, die Befreiung von Kolonialismus und sogar<br />

die Ausweisung <strong>der</strong> jüngst angekommenen Siedler (nach Februar 1917). Der Boden, von dem<br />

sie Besitz ergriffen hatten, sollte den Kasachen zurückgegeben werden. Trotzdem sollten auch<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong> vertreten se<strong>in</strong>. Presse- und Sprachfreiheit, sowie die Trennung<br />

von Staat und religiösen E<strong>in</strong>richtungen waren weitere For<strong>der</strong>ungen. Folglich war diese Partei<br />

gegen die pan-islamische Bewegung und ihre Grundsätze, d. h. die Vere<strong>in</strong>igung aller<br />

zentralasiatischen islamischen Volksgruppen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat.<br />

Zu dieser Bewegung gehörten zwei Parteien <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>:<br />

28 Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Russland als Vielvölkerreich, S. 287 ff, Der Vielvölkerstaat<br />

<strong>Kasachstan</strong>, S.37 bis 39, Central Asia: a global study handbook S. 174-175, The Soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia,<br />

S. 66 ff, History of the civilizations <strong>in</strong> Central Asia, S. 253 ff, Von Marx zu Mohammed, S. 25, The Kazakhs, S.<br />

129 und 147<br />

29 Inorodcy: Rechtliche Standeskategorie, die zahlreiche nichtrussische Ethnien (vor allem Nomaden o<strong>der</strong><br />

Halbnomaden) aus dem Kreis <strong>der</strong> vollwertigen Bürger ausschloss und ihnen e<strong>in</strong>en Son<strong>der</strong>status und lokale<br />

Selbstverwaltung gab. Russland als Vielvölkerreich, S. 174 und 386<br />

30 Der Siebenstromland ist e<strong>in</strong>e historische Landschaft im Südosten <strong>Kasachstan</strong>s, benannt nach den sieben<br />

Hauptflüssen Ili, Karatal, Bijen, Akou, Lepsa, Baskan, und Sarkanol. (Von Marx zu Mohammed, S. 204)<br />

- 14 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

- Üsh Zhug (die drei Horden) wurde 1914 <strong>in</strong> Taschkent gebildet. Diese Partei<br />

war pan-islamisch und sozialistisch. Aufgrund ihrer schlechten Organisation stellte sie<br />

nur e<strong>in</strong>e schwache Opposition dar.<br />

- Birlik Tuuy (Fahne <strong>der</strong> Union) war islamisch und bildete sich um die<br />

gleichnamige Zeitung.<br />

Diese zwei Parteien stammten aus dem Süden (Syr-Darja Oblast), während Alasch-Orda aus<br />

dem Norden kam. Hier sieht man den Unterschied zwischen Norden und Süden, zwischen<br />

islamischen und durch Russen gesiedelten Gebieten. Diese nationalen Bewegungen bekamen<br />

also nur lokale Unterstützung.<br />

Die gewaltsamen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um die nördlichen Steppengebiete hatten im Sommer<br />

1917 e<strong>in</strong>en neuen Höhepunkt erreicht, als zahlreiche Kasachen, die 1916 nach Ch<strong>in</strong>a geflohen<br />

waren, zurückkehrten und Anspruch auf ihre alten Weiden erhoben.<br />

Ende Frühl<strong>in</strong>g 1918 brach e<strong>in</strong> blutiger Bürgerkrieg aus, <strong>der</strong> auf die bolschewistische<br />

Oktoberrevolution folgte. Die Bündnisse mit Weissen und Roten wurden auf <strong>der</strong> Basis des<br />

Clans geschlossen. Die Alasch-Ordisten schlossen e<strong>in</strong>en Bund mit den Weissen, denn sie<br />

waren nicht mit den bolschewistischen Kräften e<strong>in</strong>verstanden. Die Kasachen kämpften nicht<br />

vere<strong>in</strong>t, so dass die Trennung noch stärker polarisiert wurde. Sie litten unter e<strong>in</strong>em Krieg, <strong>der</strong><br />

nicht <strong>der</strong> ihre war. 31<br />

Dies führte unweigerlich zum Untergang <strong>der</strong> Alasch-Orda <strong>Regierung</strong> und zur Eroberung<br />

<strong>Kasachstan</strong>s durch die Bolschewiki, denn <strong>Kasachstan</strong> war noch nicht für die Unabhängigkeit<br />

bereit.<br />

Die Kommunisten errichteten e<strong>in</strong>e konkurrierende <strong>Regierung</strong> im Norden, wo die Alasch-<br />

Ordisten raschere Nie<strong>der</strong>lagen erlitten hatten. Während e<strong>in</strong>iger Monate behielten die Alasch-<br />

Ordisten noch mehrere Städte <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Gebieten ihres Landes, doch schliesslich, wurde<br />

die Alasch-Orda-<strong>Regierung</strong> im Dezember 1919 beendet. Die Alasch-Ordisten wurden zum<br />

Teil getötet o<strong>der</strong> sie wurden <strong>in</strong>s Gefängnis geworfen. Manchmal wurden sie auch <strong>in</strong> die<br />

sowjetischen Parteistrukturen e<strong>in</strong>gebunden.<br />

31 History of Civilizations of Central Asia, S.256<br />

- 15 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

<strong>4.</strong> <strong>Auswirkungen</strong> <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong><br />

<strong>4.</strong>1 Kollektivierung und Vernichtung des Nomadenlebens 32<br />

Am 26. August 1920, am Ende des Bürgerkrieges, wurde die Kirgisische (damals Synonym<br />

gebraucht für kasachisch) ASSR 33 <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR 34 proklamiert. 1925 wurde diese um e<strong>in</strong>ige<br />

Gebiete erweitert und <strong>in</strong> die Kasachische ASSR umbenannt. 35 Schliesslich erhielt sie 1936<br />

den Status e<strong>in</strong>er Sowjetrepublik. 36<br />

1922 kontrollierten die Bolschewiki bereits die Steppen. Aber bis 1925 wurden die Nomaden<br />

nur ger<strong>in</strong>g von <strong>der</strong> neuen <strong>Regierung</strong> bee<strong>in</strong>flusst.<br />

Ende <strong>der</strong> 20er Jahre, proklamierte Josef Stal<strong>in</strong>, <strong>der</strong> 1922 als Generalsekretär des<br />

Zentralkomitees <strong>der</strong> UdSSR gewählt worden war, im Rahmen des ersten Fünfjahresplans<br />

(1929-1933), die Kollektivierung <strong>der</strong> Landwirtschaft. Diese Massnahme war wegen <strong>der</strong><br />

Mobilität <strong>der</strong> Nomaden <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> kompliziert umzusetzen und führte zu schlagartigen<br />

Än<strong>der</strong>ungen. Um die eigenen Güter besser kontrollieren zu können, beschloss die sowjetische<br />

<strong>Regierung</strong>, das traditionelle Nomadenleben zu zerstören, und durch Gewalt die Kasachen <strong>in</strong><br />

Kolchosen (kollektive Bauernhöfe) zusammen zu fassen. Alles Vieh sollte Staatseigentum<br />

werden und wurde konfisziert. Doch die Kasachen wollten nicht tatenlos zusehen, wie ihr<br />

Vieh <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge endete. Als Wi<strong>der</strong>stand schlachteten sie selber ihre<br />

Herden, und die Tiere, die sie nicht <strong>in</strong> kürzester Zeit essen konnten liessen sie <strong>in</strong> den Steppen<br />

zurück. So starben 80% <strong>der</strong> Tiere <strong>der</strong> Kasachen. 37 Dies wurde zu e<strong>in</strong>er grossen Katastrophe,<br />

und e<strong>in</strong>e Hungernot folgte, da die Tiere e<strong>in</strong> sehr wichtiger Teil <strong>der</strong> Lebensgrundlage <strong>der</strong><br />

Nomaden waren. Viele Kasachen flohen nach Ch<strong>in</strong>a, Usbekistan und Turkmenistan.<br />

Mitte <strong>der</strong> 1930er Jahren wurde die Kollektivierung zu Ende geführt. Alle Firmen, Fel<strong>der</strong>,<br />

Kolchosen und Plantagen wurden Staatseigentum. Infolge <strong>der</strong> Emigration und des Hungers<br />

war mehr als e<strong>in</strong> Drittel <strong>der</strong> kasachischen Bevölkerung verschwunden. Während <strong>der</strong> Restzeit<br />

<strong>der</strong> Sowjetära blieben die Kasachen e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>in</strong> ihrem eigenen Land.<br />

Bei den Nomaden war die Kollektivierung auch damit verbunden, dass man sie sesshaft<br />

machte und ihre traditionellen Clanstrukturen zerstörte. Die Bolschewiki vollendeten<br />

schlussendlich das <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> begonnene Werk des Zaren, <strong>der</strong>en Politik <strong>der</strong><br />

Unterdrückung des Volkes sie heftig kritisierten.<br />

Unter den Kasachen vere<strong>in</strong>igten sich Feldbesitzer, Intellektuelle und Muslime, um<br />

bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand zu leisten. Das Volk erhob sich. An<strong>der</strong>erseits leisteten junge<br />

Intellektuelle durch ihre Forschungen <strong>in</strong> Wissenschaft o<strong>der</strong> Literatur und durch das Schaffen<br />

von Kunstwerken Wi<strong>der</strong>stand gegen den Totalitarismus.<br />

32<br />

Folgende Informationen stammen aus Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 55-56 und 71, History of<br />

Civilizations of Central Asia S. 256 ff, Central Asia: A Global Studies Handbook S. 175-176 und Russland als<br />

Vielvölkerreich S. 306 und 307<br />

33<br />

Autonome Sozialistische Sowjetrepublik<br />

34<br />

Russische Sozialistische Fö<strong>der</strong>ative Sowjetrepublik<br />

35<br />

Die Völker <strong>der</strong> Sowjetunion, e<strong>in</strong> Lexikon S. 92<br />

36<br />

Die Völker <strong>der</strong> Sowjetunion, e<strong>in</strong> Lexikon S. 92 und History of Civilizations of Central Asia S. 258<br />

37 Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 55<br />

- 16 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Man versuchte die Bijs, die traditionelle Oberschicht <strong>der</strong> Kasachen, weiter umzuorganisieren,<br />

damit e<strong>in</strong>e neue Elite gebildet würde, welche <strong>der</strong> traditionellen Herrschaftsschicht nicht<br />

entsprach.<br />

Wichtig ist auch anzumerken, dass 1,2 Mio. Kasachen direkt <strong>in</strong> militärischen Aktionen gegen<br />

Nazi-Deutschland teilnahmen, so dass 350'000 Kasachen im II. Weltkrieg an <strong>der</strong><br />

europäischen Front starben. 38<br />

Der Islam wurde unterdrückt. Die Kommunisten verboten die obligatorische islamische<br />

Steuer, die Pilgerfahrt nach Mekka und den Ramadan. Viele Moscheen wurden zerstört und<br />

<strong>der</strong> Klerus wurde verfolgt. Der Islam verschwand nicht, war aber ganz <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund<br />

zurückgedrängt. 39 E<strong>in</strong>ige muslimischen Angewohnheiten, - die Respektierung des<br />

islamischen Gewohnheitsrechtes (Adat), <strong>der</strong> Ältestenrespekt, die Heiratsriten (z. B. die<br />

Zahlung des Brautpreises) und die Beerdigungstraditionen - wurden gewahrt. Die meisten<br />

dieser Traditionen wurden auch durch Gesetze verboten, aber selbst die Beamten, die<br />

Kasachen waren, befolgten sie. 40 Im Norden, wo es mehr Russen gab, war jedoch die<br />

Alltagspraxis dieser Traditionen e<strong>in</strong>geschränkt. Das Stammesleben bewährte sich bis zu<br />

e<strong>in</strong>em gewissen Grad <strong>in</strong> den Kolchosen (kollektive Bauernhöfe). 41<br />

<strong>4.</strong>2 Zwangsdeportationen und freiwillige Migrationen nach <strong>Kasachstan</strong> 42<br />

Stal<strong>in</strong> befahl während des 2. Weltkriegs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verschwörungsphobie Deportationen. Mit<br />

dem Begriff Deportation me<strong>in</strong>e ich die Zwangsmigration von Bevölkerungsgruppen aus<br />

politischen Gründen. Ganze Völker mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, Greisen, Partei- und Armeeangehörigen<br />

wurden auf diese Weise bestraft. 43 <strong>Kasachstan</strong>, e<strong>in</strong> ¸leeres‘ Land, das den ¸Vorteil‘ hatte, sich<br />

weit von Europa und den Weltmeeren entfernt zu bef<strong>in</strong>den, wurde durch die Sowjetführung<br />

als Bestimmungsort für die <strong>in</strong> Ungnade gefallenen Menschen gewählt.<br />

1936-37 sollten die Deutschen und Polen, die weniger als 800 m von <strong>der</strong> polnischen Grenze<br />

entfernt wohnten, umgesiedelt werden. E<strong>in</strong> grosser Teil von ihnen wurde nach <strong>Kasachstan</strong><br />

deportiert. 1936 wurden auch polnische Familien aus <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e nach <strong>Kasachstan</strong> deportiert.<br />

1937 trafen 95’000 Koreaner <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong>. Sie mussten aus den östlichen Gebieten <strong>der</strong><br />

UdSSR wegziehen, weil sie eventuell für die Japaner spionieren können hätten. 44<br />

1939 als die Russen <strong>in</strong> Ost-Polen e<strong>in</strong>fielen, fanden weitere Deportationen statt. In dieser Zeit<br />

lebten viele Deutsche <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> RSFSR, meistens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen ASSR<br />

des Wolgagebiets o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e. Sie wurden als potenzielle Kollaborateure <strong>der</strong><br />

Deutschen betrachtet, und sollten deshalb während des 2. Weltkriegs möglichst weit von den<br />

Grenzen des deutschen Reiches entfernt werden. Viele von ihnen wurden nach <strong>Kasachstan</strong><br />

geschickt.<br />

38<br />

Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. xi<br />

39<br />

The Soviet Legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 88 bis 100<br />

40<br />

The Kazakhs, S.171<br />

41<br />

The Soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 96<br />

42<br />

Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Aga<strong>in</strong>st their will, S. 1-2, 48, 95 bis 102, 328 bis 333<br />

43<br />

Russland als Vielvölkerreich S. 309<br />

44<br />

Central Asia: A Global Studies Handbook S. 162<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Die Deportierten wurden oft unter schlechten Bed<strong>in</strong>gungen transportiert. Wie e<strong>in</strong><br />

Stellvertreter des Chefsabteilungsleiters für die Gulags es dem Kommissärgeneral <strong>der</strong><br />

Staatssicherheit berichtete, gab es Fälle von Scharlach, Masern und Typhus unter den<br />

Deportierten. Und so kam es, dass während des Transports <strong>in</strong> Viehwagons und <strong>in</strong> den ersten<br />

Jahren <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong> Drittel ums Leben kamen. 45<br />

Insgesamt wurden während des 2. Weltkriegs 102'000 Polen aus dem westlichen Gebiet <strong>der</strong><br />

UdSSR, mehr als 360'000 Deutsche aus <strong>der</strong> Wolga, Hun<strong>der</strong>ttausende von Koreaner,<br />

Tschetschenen und Inguschen aus <strong>der</strong> Kaukasen, Krimtataren und meschkhatiane Türken<br />

nach <strong>Kasachstan</strong> deportiert. Sie wurden überall <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> angesiedelt.<br />

In <strong>Kasachstan</strong> wurden auch viele Straflager (Gulags) errichtet, wo man die Gefangenen unter<br />

extrem schwierigen klimatischen und psychologischen Lebensverhältnissen mit Zwangsarbeit<br />

¸beschäftigte‘. Dorth<strong>in</strong> brachte man allerlei wirkliche o<strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bare politische Opponenten<br />

und die Kriegsgefangenen. Zu den Zeiten des grössten Gefangenenandrangs konnten <strong>in</strong> den<br />

kasachischen Gulags möglicherweise 200'000 Menschen gewesen se<strong>in</strong>. 46<br />

Die Deportierten wurden auch <strong>der</strong> Zwangsarbeit zugewiesen. Sie wurden zum Beispiel <strong>in</strong><br />

Entwicklungsprojekten <strong>in</strong> Zonen für den Aufbau von Zuckerbeeten e<strong>in</strong>gesetzt. Die<br />

sowjetische Führung zog aus diesen zwei Arten von Zwangsarbeit viel Profit heraus. In <strong>der</strong><br />

Tat war es sehr günstig die Gefangenen arbeiten zu lassen, da sie natürlich we<strong>der</strong> Lohn noch<br />

gute Ausrüstung bekamen, und dazu unglaublich viele Stunden arbeiten müssten.<br />

Dennoch war es für die Deportierten weniger hart als für die Menschen <strong>in</strong> den Straflagern. Sie<br />

durften sich im Bezirksraum bewegen und hatten, obwohl sie durch die kasachische<br />

Verwaltung ihrem Schicksal überlassen wurden, bessere Lebensbed<strong>in</strong>gungen als die<br />

Gefangenen.<br />

Neben den Deportationen, kamen auch viele Freiwillige nach <strong>Kasachstan</strong>. Zwischen 1926 und<br />

1939 immigrierten 1,7 Millionen Menschen nach <strong>Kasachstan</strong>. Der Grossteil von ihnen<br />

stammte aus slawischen Volksgruppen. An<strong>der</strong>s als die slawischen Bauern des 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

haben sie sich fast ausschliesslich <strong>in</strong> urbanen Gebieten nie<strong>der</strong>gelassen.<br />

<strong>4.</strong>3 Nationalitätsbewusstse<strong>in</strong> 47<br />

In <strong>Kasachstan</strong> wo vorher die Identität <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heimischen auf Familien-, Clans-, bzw.<br />

Hordezugehörigkeit gegründet war, hatten die Russen den Begriff ‚Nation‘ seit <strong>der</strong> Zarenzeit<br />

e<strong>in</strong>geführt. Die Kasachen waren von Anfang an ke<strong>in</strong> homogenes Volk, und das<br />

Nationalbewusstse<strong>in</strong> ist bei ihnen mit <strong>der</strong> Übermittlung e<strong>in</strong>er gleichen Geschichte verbunden<br />

worden. Dieser „nation-build<strong>in</strong>g“ Prozess wurde dann unter <strong>der</strong> sowjetischen <strong>Regierung</strong><br />

verstärkt.<br />

45 Russland als Vielvölkerreich S. 308 und 309<br />

46 Central Asia: A Global Studies Handbook S.177<br />

47 The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 76 bis 84<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

E<strong>in</strong>erseits för<strong>der</strong>ten die Bolschewiki das Nationalitätsgefühl, <strong>in</strong>dem sie je<strong>der</strong> ‚Nation‘ <strong>in</strong><br />

Zentralasien e<strong>in</strong>e Fahne, Wappen und e<strong>in</strong>e Nationalhymne gaben, und an<strong>der</strong>seits<br />

unterdrückten sie den Patriotismus, <strong>in</strong>dem sie die Geschichte nach ihren eigenen Interessen<br />

umschrieben, die traditionelle Art von Leben zerstörten, und kasachische Epen wie Er Sa<strong>in</strong>,<br />

Schora Batir, o<strong>der</strong> Kablandi Batir als religiös, feudalistisch und reaktionär verboten.<br />

Die Entwicklung e<strong>in</strong>er nationalen Sprache war auch <strong>der</strong> russischen Me<strong>in</strong>ung nach sehr<br />

wichtig für die ¸Nation‘, deshalb wurde erst e<strong>in</strong>e kasachische literarische Sprache gefor<strong>der</strong>t,<br />

welche schon seit <strong>der</strong> Mitte des 19 Jh vorhanden war. 48 <strong>Kasachstan</strong> bekam auch unter <strong>der</strong><br />

<strong>kommunistischen</strong> <strong>Regierung</strong> e<strong>in</strong> neues organisiertes Verwaltungssystem.<br />

Die Kasachen durchlebten e<strong>in</strong>e starke ¸Russifizierung‘. Seit den 1930er-Jahren wurde<br />

Russisch als öffentliche Sprache vorgeschrieben. Um mehr Karrieremöglichkeiten zu haben,<br />

sollte man Russisch sprechen können. Die ¸Russifizierung‘ wurde <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> stärker<br />

betrieben als <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n Zentralasiens aufgrund <strong>der</strong> vielen Slawen, die da lebten.<br />

Insgesamt wurden sowohl die Kasachen, wie auch die an<strong>der</strong>en nach <strong>Kasachstan</strong> deportierten<br />

Völker aufgrund dieses Phänomens mit e<strong>in</strong>em Kulturverlust konfrontiert. Zum Beispiel haben<br />

die Koreaner <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> alle russischen Gewohnheiten für Kleidung, Sprache und<br />

Lebensstil angenommen, und haben aus ihrer alten Kultur nur die Art zu kochen<br />

beibehalten. 49<br />

Ausserdem s<strong>in</strong>d die heutigen kasachischen Grenzen das lautere Produkt e<strong>in</strong>er<br />

Verwaltungsentscheidung ohne Rücksichtnahme auf die Volksgruppen. Die Bolschewiki<br />

wollten, dass <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong> Beispiel für das mult<strong>in</strong>ationale Zusammenleben würde. 50 So<br />

schliessen diese Grenzen ke<strong>in</strong>e ethnische E<strong>in</strong>heit.<br />

<strong>4.</strong>4 Die Entwicklung des Bildungssystems<br />

Die Bolschewiki erklärten das Recht aller Menschen auf Bildung. Folglich entwickelte sich<br />

das Bildungssystem <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> sehr stark. Die Kommunisten bauten Schulen, <strong>in</strong> denen es<br />

<strong>in</strong> den verschiedenen Sprachen unterrichtet wurde, weil je<strong>der</strong> die Bildung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Sprache bekommen durfte. So gab es nicht nur Schulen auf Kasachisch, son<strong>der</strong>n auch auf<br />

Russisch, Usbekisch, Ighurisch, Dsungarisch usw, entsprechend <strong>der</strong> verschiedenen<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten. Doch sehr schnell, seit 1938, wurde Russisch als obligatorische<br />

Unterrichtssprache <strong>in</strong> allen Schulen erklärt. Später, 1959, konnten die Eltern die<br />

Unterrichtssprache wie<strong>der</strong> wählen, jedoch wurde Russisch weitgehend die wichtigste Sprache<br />

unter den verschiedenen <strong>in</strong> <strong>der</strong> kasachischen Sowjetrepublik lebenden Völkern, und wurde<br />

sogar unter Angehörigen türkischer Völkern gesprochen 51 .<br />

48 Vgl. Kap. <strong>4.</strong>4,<br />

49 Central Asia: A Global Studies Handbook S. 162<br />

50 Kazakhstan, S. 54-55<br />

51 Vgl. Kap. 6.2<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Die sowjetische Führung än<strong>der</strong>te auch zweimal (Ende <strong>der</strong> 1920er Jahren und zwischen 1939<br />

und 1941) das gültige Alphabet für die kasachische Sprache. Das erste Mal ersetzten sie das<br />

arabische Alphabet durch das late<strong>in</strong>ische, und dann das late<strong>in</strong>ische durch das kyrillische. Das<br />

hatte zur Folge, dass die junge Generation die alten Texte nicht mehr lesen konnte und von<br />

ihrer Volksgeschichte getrennt wurde.<br />

Die gesamte kasachische „Intelligentçija“ wurde verfolgt und starb unter Stal<strong>in</strong>. 52 Wegen<br />

diesem Massenmord gab es e<strong>in</strong>en Kulturverlust für die folgenden Kasachengenerationen. Die<br />

Alphabetisierungsquote stieg von 1926 7,1% 53 zu 1970 99%. 54 So tauchte e<strong>in</strong>e neue nationale<br />

Elite auf. Sie wurde aber sehr stark ‚russifiziert‘, das heisst mit <strong>der</strong> russischen Kultur gebildet,<br />

welche durch Hochschulen e<strong>in</strong>geführt wurde.<br />

<strong>4.</strong>5 Landwirtschaft und Industrialisierung<br />

Mit dem ersten Fünfjahresplan und mit <strong>der</strong> Kollektivierung <strong>der</strong> Landwirtschaft wurde <strong>der</strong><br />

Baumwollanbau zur Monokultur, gegen den Willen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wohner. 55 Zwischen 1950 und<br />

1990 wurden die Plantagen zum Reisenanbau umgewandelt. Der Aufbau von Baumwolle<br />

brauchte viel Wasser und <strong>der</strong> Reisenanbau verursachte e<strong>in</strong>en noch grösseren<br />

Wasserverbrauch. Die Zuflüsse des Aralsees wurden für die Bewässerung umgeleitet, so dass<br />

kaum noch Wasser <strong>in</strong> den See floss. Diese Umwelt belastende Landwirtschaft löste die<br />

ökologische Katastrophe des Aralsees aus, <strong>der</strong> immer mehr austrocknete, so dass er heute auf<br />

e<strong>in</strong> Drittel se<strong>in</strong>er Urfläche reduziert ist. Die Fauna dieses vorher fischreichen Sees starb. Der<br />

Aralsk-Fischerhafen liegt jetzt trocken, 40 km entfernt des Ufers, und alle Fischer s<strong>in</strong>d weg.<br />

Sie haben ihre E<strong>in</strong>kommensquelle verloren und e<strong>in</strong> blühen<strong>der</strong> Zweig <strong>der</strong> kasachischen<br />

Wirtschaft ist verschwunden. Die Fel<strong>der</strong> wurden durch die überflüssige Bewässerung und die<br />

salzigen W<strong>in</strong>de 56 salzig und unfruchtbar. Das Wasser des Aralsees wurde auch durch<br />

Pestizide, Düngermittel und Fabrikabwässer mit Gift belastet. 57 Heute ist sogar <strong>der</strong> sandige<br />

Boden verschmutzt. Diese ökologische Katastrophe schadete auch <strong>der</strong> Gesundheit <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>wohner.<br />

Nach dem 2. Weltkrieg hatte die Landwirtschaft <strong>der</strong> UdSSR Mühe sich wie<strong>der</strong><br />

hochzubr<strong>in</strong>gen. Die Hungernot war 1947 e<strong>in</strong> grosses Problem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion. Nach dem<br />

Tod Stal<strong>in</strong>s, 1953, wurde die Besserung <strong>der</strong> landwirtschaftlichen Produktivität zu e<strong>in</strong>em<br />

Hauptziel von Nikita Chruschtschows, <strong>der</strong> neue Generalsekretär <strong>der</strong> Sowjetunion. Er entwarf<br />

den Plan „Neuland <strong>in</strong> <strong>der</strong> Steppe“, <strong>der</strong> die Südostregion von <strong>Kasachstan</strong> und Westsibirien <strong>in</strong><br />

W<strong>in</strong>terweizenreservate umwandeln sollte. Dafür kamen Hun<strong>der</strong>ttausende von jungen<br />

Freiwilligen aus Russland und aus <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e, um auf den neuen „Sowchosen“ 58 zu arbeiten.<br />

52<br />

Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. 8<br />

53<br />

Wir müssen darauf aufpassen, dass manche russische Zähler, die Lesefähigkeit <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Sprachen als<br />

Russisch sprachen, nicht registrierten. (Russland als Vielvölkerreich S. 255)<br />

54<br />

The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 79 bis 84<br />

55<br />

Russland als Vielvölkerreich S. 306<br />

56<br />

Der Salz, <strong>der</strong> auf dem Boden da bleibt, wo sich vorher <strong>der</strong> See befand, wird kilometerweit geblasen.<br />

57<br />

Zentralasien: Von Marx zu Mohammed S. 187<br />

58<br />

Die „Sowchosen“ s<strong>in</strong>d grosse durch den Staat dirigierten Bauernhöfe. Sie ersetzten die Kolchosen und damit<br />

wurde die traditionelle Landwirtschaft umgewandelt.<br />

- 20 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Dieser Plan brachte nur e<strong>in</strong>en begrenzten Erfolg, aber viele Freiwillige blieben <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>.<br />

Zudem wurde <strong>der</strong> Boden durch die Übernutzung erodiert. 59<br />

In den 1960er und 1970er Jahren wurde <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong> wichtiger Getreideproduzent <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

UdSSR. Der Norden stellte auch <strong>in</strong>dustrielle Produkte her und <strong>der</strong> Süden grosse Mengen von<br />

Zucker, Baumwolle und Weizen. 60<br />

Während des zweiten Fünfjahresplans wurde auch die türkisch-sibirische Bahn gebaut. Sie<br />

löste e<strong>in</strong> „boom <strong>in</strong> the economy and culture not only of Kazakhstan but of all eastern region<br />

of the USSR“ aus. 61<br />

Das Semipalat<strong>in</strong>skgebiet war e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> grössten Nukleartestslager <strong>der</strong> Welt. Dort wurden über<br />

500-mal Nuklearwaffen getestet. Diese Tests hatten furchtbare <strong>Auswirkungen</strong> auf die<br />

Gesundheit vieler Menschen <strong>in</strong> Semipalat<strong>in</strong>sk: Leukämie, Lungenkrebs, und e<strong>in</strong>e steigende<br />

Rate totgeborener K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Die Experimente haben 1989 aufgehört, grossenteils dank <strong>der</strong> Anti-<br />

Nuklearbewegung-Nevada-Semipalat<strong>in</strong>sk. 62<br />

Die Anti-Nuklearbewegung-Nevada-Semipalat<strong>in</strong>sk wurde die erste<br />

Nichtregierungsorganisation auf dem Territorium <strong>der</strong> ehemaligen UdSSR. Sie wollte die<br />

Menschheit vor den Nuklearrisiken verteidigen. Ziel war es, alle kasachischen Polygone für<br />

die Atomtests zu zerschlagen. Sie wollte auch e<strong>in</strong>e Staatskontrolle <strong>der</strong> Industrieabfälle<br />

errichten. Diese Organisation kämpft noch heute für das totale Verbot <strong>der</strong> Atomtests, die<br />

Ökologie und den Schutz <strong>der</strong> Menschenrechte. 63<br />

Viele Städte blühten während <strong>der</strong> Sowjetzeit, doch bildeten die Kasachen nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen<br />

Anteil <strong>der</strong> Städtebevölkerung. „Die Entwicklung <strong>der</strong> Städte ist <strong>in</strong> stärkerem Masse von e<strong>in</strong>er<br />

Migration von aussen nach <strong>Kasachstan</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>flusst [worden].“ 64 Man kann trotzdem<br />

e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kasachen <strong>in</strong> die Städte beobachten: 1926 wohnten nur 2.1% <strong>der</strong><br />

Kasachen <strong>in</strong> den Städten, und 1979 waren sie schon 32%. 65<br />

Von den 1960er Jahren bis <strong>in</strong> die 1980er Jahre verän<strong>der</strong>te sich die Wirtschaft vollständig.<br />

Man baute Gebäudekomplexe zur Erarbeitung von Rohstoffen und für die Energie <strong>in</strong><br />

Pavlodar’s Priitysch. Neue Industriezonen wurden gegründet und ausgebaut.<br />

Aber nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Anteil von Kasachen arbeitete <strong>in</strong> den neuen Firmen. Und dieser Anteil<br />

vergrösserte sich langsam. 66 Die Ostwan<strong>der</strong>ung von Millionen von Fachleuten aus Moskau,<br />

Len<strong>in</strong>grad (St. Petersburg), Kiew, Kharow und ähnlichen Städten nach <strong>Kasachstan</strong> reduzierte<br />

die Partizipationsmöglichkeiten <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heimischen Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie.<br />

59<br />

The Kazakhs S. 224 bis 246, Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. 8<br />

60<br />

Central Asia: A Global Studies Handbook S. 180<br />

61<br />

History of Civilizations of Central Asia S. 257<br />

62<br />

Central Asia: A Global Studies Handbook S. 158<br />

63<br />

http://portal.unesco.org/ci/fr/ev.php-URL_ID=16406&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html<br />

07.07.2005<br />

64<br />

Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 60<br />

65<br />

The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 152<br />

66<br />

History of Civilizations of Central Asia S. 258<br />

- 21 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

<strong>4.</strong>6 Die Politik Gorbatschows und ihre <strong>Auswirkungen</strong> <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> 67<br />

Als Michael Gorbatschow zum Generalsekretär <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> Partei gewählt wurde,<br />

unternahm er zwei Reformen:<br />

- die Perestrojka: Umbau, Reform des wirtschaftlichen Systems<br />

- Glasnost: Transparenz, Reform des politischen Systems<br />

Im Laufe dieser Projekte ordnete er Säuberungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> Partei an,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> korrupten Machtelite Mittelasiens. Im Dezember 1986 wurde <strong>der</strong><br />

Parteichef <strong>Kasachstan</strong>s, Kunajew, entlassen. Kunajew war e<strong>in</strong> Kasache und wurde durch<br />

Kolb<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Russen, <strong>der</strong> gerade <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> angekommen war, ersetzt. Innerhalb e<strong>in</strong>es<br />

Zeitraums von vierundzwanzig Stunden erhoben sich die kasachischen Jugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Hauptstadt Alma-Ata 68 und während mehrerer Tage gab es Unruhen. Diese heftigen<br />

Demonstrationen waren die ersten offen national motivierten Unruhen <strong>in</strong> <strong>der</strong> UdSSR. Diese<br />

Ereignisse wurden durch die Medien <strong>in</strong> die ganze Welt übertragen. Die sowjetischen<br />

Sicherheitskräfte stiessen mit den Kasachen zusammen. Menschen wurden getötet, an<strong>der</strong>e<br />

verhaftet und e<strong>in</strong>ige wurden zum Tode verurteilt. Meistens waren es junge<br />

Universitätsstudenten.<br />

Obwohl man nur e<strong>in</strong>e „marg<strong>in</strong>ale Modifikation“ 69 <strong>der</strong> alten Herrschaftsstrukturen feststellen<br />

konnte, wirkten diese Ereignisse als das erste Zeichnen des Vorganges, den man<br />

Zusammenbruch des Sowjetreiches nennt und <strong>der</strong> zur Unabhängigkeit <strong>Kasachstan</strong>s führen<br />

sollte. Kolb<strong>in</strong> kooperierte mit dem Ältesten Dschuz (Horde), um se<strong>in</strong>e politische Isolation <strong>in</strong><br />

<strong>Kasachstan</strong> zu brechen. Der jetzige Präsident, Nursultan Nasarbajew, gehört zu dieser Horde.<br />

Er konnte im Rahmen dieser Kooperation se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>flusssphäre ausbauen, und se<strong>in</strong>e Stellung<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong> konsolidieren. 70<br />

Die Reformen Gorbatschows brachten auch die ersten wirklichen Erleichterungen im<br />

religiösen Leben <strong>der</strong> sowjetischen Muslime. Da die russische Orthodoxie durch die<br />

sowjetische Führung wie<strong>der</strong> unterstützt wurde, konnte sich die kommunistische <strong>Regierung</strong><br />

nicht mehr so streng angesichts <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Religionen betragen. 71<br />

67<br />

Central Asia: A Global Studies Handbook S. 179-180 und Russland als Vielvölkerreich S. 314 ff<br />

68<br />

Später Almaty umbenannt.<br />

69<br />

Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 78<br />

70<br />

Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 79 bis 80<br />

71<br />

The Kazakhs S. 261<br />

- 22 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

5. Unabhängigkeitserklärung und Kapitalisierung<br />

5.1. Unabhängigkeitserklärung <strong>der</strong> kasachischen Republik 72<br />

Unter Kolb<strong>in</strong> war <strong>der</strong> jetzige Präsident <strong>Kasachstan</strong>s, Nursultan Nasarbajew, Leiter des<br />

kasachischen M<strong>in</strong>isterrats. Der Kasache Nasarbajew kooperierte mit <strong>der</strong> sowjetischen<br />

<strong>Regierung</strong> und wurde bei <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> Machtelite immer bekannter. Es gelang ihm,<br />

die kasachisch-russischen Verhältnisse <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> kasachischen Sowjetrepublik zu<br />

stabilisieren. Am 22. Juni 1989 ersetzte er Kolb<strong>in</strong> im Amt des ersten Sekretärs <strong>der</strong><br />

kasachischen Sowjetrepublik. Er wurde e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> begeisterten Verteidiger Gorbatschows und<br />

gleichzeitig versuchte er, mehr Gerechtigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> kasachischen Wirtschaft durchzusetzen.<br />

In dieser Zeit bereicherten sich die Russen an <strong>der</strong> kasachischen Wirtschaft, <strong>in</strong>dem sie<br />

Rohstoffe (zum Beispiel Kupfer) zu unglaublich niedrigen Preisen e<strong>in</strong>kauften und dann viel<br />

teurer verkauften. Nasarbajew verstand e<strong>in</strong>fach sehr gut, wie er die e<strong>in</strong>flussreichen Leute für<br />

sich gew<strong>in</strong>nen konnte, um alles unter se<strong>in</strong>e Kontrolle zu br<strong>in</strong>gen. Die Verteidigung <strong>der</strong><br />

kasachischen Wirtschaft diente se<strong>in</strong>en Interessen, weil er da Profit herausschlagen konnte.<br />

Im März 1990 gab Gorbatschow dem Befehl zur Wahl <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Obersten Sowjets<br />

<strong>der</strong> Republik. Nasarbajew bekam 92% <strong>der</strong> Stimmen. Es war die erste Wahl seit 1925, an <strong>der</strong><br />

verschiedene Kandidaten teilnahmen. Der Anteil an Kasachen <strong>in</strong> <strong>der</strong> gewählten <strong>Regierung</strong><br />

war dem Anteil an kasachischer Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> nicht angeglichen, son<strong>der</strong>n<br />

grösser.<br />

1990 bekannten sich die meisten <strong>der</strong> gewählten Parlamentsabgeordneten zu Nursultan<br />

Nasarbajew o<strong>der</strong> zur <strong>kommunistischen</strong> Partei. In dieser Wahl hatte sich <strong>der</strong> Politiker so<br />

positioniert, dass er ¸se<strong>in</strong>e‘ Leute auf unterschiedliche Machtpositionen br<strong>in</strong>gen konnte. Im<br />

Februar 1990 erklärte er sich selbst zum Oberhaupt des Obersten Sowjets.<br />

Im September 1990 gründete Nasarbajew e<strong>in</strong>e Partei, die die Struktur <strong>der</strong> alten<br />

<strong>kommunistischen</strong> Partei beibehalten sollte, auch wenn ihre Ideologie nicht kommunistisch<br />

geprägt war. Aber diese neue Partei zog vor allem Russen o<strong>der</strong> ¸russifizierte‘ Kasachen an.<br />

Nasarbajew versuchte daher während dem Kasachischen Volkskongress e<strong>in</strong>e mult<strong>in</strong>ationale<br />

Partei mit e<strong>in</strong>er kasachischen Mehrheit zu bilden.<br />

Er wollte an die UdSSR gebunden bleiben, doch als er die politische Instabilität dieser<br />

letzteren sah, beschloss er, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie se<strong>in</strong>e politische Macht zu sichern. Im Dezember<br />

1991 ordnete er Wahlen an und wurde <strong>der</strong> erste und bis jetzt e<strong>in</strong>zige durch das Volk gewählte<br />

Präsident <strong>Kasachstan</strong>s. Er hatte ke<strong>in</strong>en Mitbewerber. Der Führer <strong>der</strong> Zeltoksan-Partei (e<strong>in</strong>er<br />

nationalen Partei, die die endgültige Trennung von <strong>der</strong> GUS 73 för<strong>der</strong>te), Hasan<br />

Kozhakmedow, konnte nicht kandidieren. Er wurde überfallen und se<strong>in</strong>e Liste für e<strong>in</strong>e<br />

Kandidatur mit den nötigen 100'000 Unterschriften wurde ihm gestohlen, während die Frist<br />

zwei Tagen später ablief.<br />

In dieser ¸demokratischen‘ Wahl bekam Nasarbajew 99% <strong>der</strong> Stimmen. An <strong>der</strong><br />

Unabhängigkeitserklärung <strong>Kasachstan</strong>s, am 16. Dezember 1991, d. h. e<strong>in</strong>e Woche später,<br />

wurde er das Staatsoberhaupt e<strong>in</strong>es unabhängigen Staates. Die Unabhängigkeit traf<br />

Nasarbajew unverhofft. Er hatte sich den Zusammenbruch <strong>der</strong> alten Ordnung nicht<br />

72 Folgende Informationen stammen aus The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia, S. 108-109, The Kazakhs, S. 249-270,<br />

History of Civilizations of Central Asia, S. 256<br />

73 Geme<strong>in</strong>schaft unabhängiger Staaten<br />

- 23 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

gewünscht, da er im sowjetischen System bereits e<strong>in</strong>e hohe Stelle hatte. Er begriff jedoch<br />

sofort, dass damit Macht und persönlicher Reichtum verbunden waren. 74<br />

5.2 Demokratie o<strong>der</strong> autoritäre Herrschaft? 75<br />

Theoretisch sollte <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong> demokratischer, laizistischer und auf dem Gesetz<br />

basieren<strong>der</strong> Staat werden. Politische Parteien und öffentliche Vere<strong>in</strong>e sollten erlaubt werden,<br />

und die Medien von <strong>der</strong> ideologischen Kontrolle befreit se<strong>in</strong>. 76 Doch wurden die<br />

Gerechtigkeits- und Freiheitsversprechen nicht e<strong>in</strong>gehalten: Presszensur und Partei-<br />

Publikationsverbote waren nicht selten.<br />

Die Unabhängigkeitserklärung <strong>Kasachstan</strong>s löste e<strong>in</strong>e Welle neuer Parteibildungen und<br />

Umgruppierungen aus. Sie wurden nicht alle erlaubt. Unter ihnen befanden sich viele<br />

ethnisch-ausgerichtete Bewegungen.<br />

Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite s<strong>in</strong>d die slawischen Parteien zu f<strong>in</strong>den. Die Bewegung <strong>der</strong> Slawen, Lad<br />

(Harmonie), strebte „nach nationaler Selbstbestimmung <strong>in</strong> Form von kultureller, politischer<br />

und regionaler Autonomie.“ Sie wurde zur e<strong>in</strong>flussvolleren russischen Organisation <strong>in</strong><br />

<strong>Kasachstan</strong>. 77 An<strong>der</strong>e Russen- und Kosakenvere<strong>in</strong>e hatten sezessionistischere For<strong>der</strong>ungen.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gibt es die islamisch-orientierten Bewegungen. Die Zeltoksan<br />

(Dezember)-Partei, wurde nach den Alma-Ata-Unruhen gegründet. Sie for<strong>der</strong>te die völlige<br />

Auflösung <strong>der</strong> GUS-Staaten. Sie wurde durch Präsident Nasarbajew als nationalistisch<br />

e<strong>in</strong>gestuft und verboten. Die Alasch-Partei wollte die Abschiebung <strong>der</strong> Russen, die<br />

Schöpfung e<strong>in</strong>er solidarischen Geme<strong>in</strong>schaft von Muslimen und e<strong>in</strong>e pan-türkische (alle<br />

türkischen Völker zusammenschliessende) zentralasiatische Konfö<strong>der</strong>ation. Ihre Ziele<br />

unterschieden sich zwar von denen <strong>der</strong> ersten Alasch-Partei. Diese Partei wurde auch als<br />

nationalistisch bezeichnet und verboten.<br />

Der Staatspräsident veranlasste am 11. März 1995 die Auflösung des Parlamentes, denn die<br />

Parlamenteswahlen waren durch das Verfassungsgericht als ungültig erklärt worden. 78 Er liess<br />

sich bis zur Neuwahl <strong>der</strong> Volksvertretung im Dezember 1995 durch e<strong>in</strong> Referendum im Amt<br />

bestätigen. Se<strong>in</strong>e Macht wuchs und er bekam das Recht, alle M<strong>in</strong>ister zu versetzen o<strong>der</strong> zu<br />

entlassen; Parlamentswahlen anzuordnen; Gesetze zu annullieren; und sogar die <strong>Regierung</strong><br />

aufzulösen. Der Stellenwert <strong>der</strong> Parteien wurde auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum e<strong>in</strong>geschränkt. Alexandra<br />

George vermerkt <strong>in</strong> ihrem Reisebericht, dass es <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> ke<strong>in</strong>e Disussionen des Volkes<br />

über wichtige Sachen wie die Pensionen o<strong>der</strong> die Ökologie gibt. 79 Daraus kann man<br />

schliessen, dass die Möglichkeit zur politischen Teilnahme durch den Präsidenten geregelt<br />

wurde und immer noch wird.<br />

74 Von Marx zu Mohammed, S. 113<br />

75 Folgende Informationen stammen aus Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong>, S. 86-97 und 113<br />

76 History of Civilizations of Central Asia, S. 262<br />

77 Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. 133<br />

78 Soviet Legacy <strong>in</strong> Central Asia, S. 145<br />

79 Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. 9<br />

- 24 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Aber wie ist es Nursultan Nasarbajew gelungen, an <strong>der</strong> Spitze <strong>Kasachstan</strong>s zu bleiben? E<strong>in</strong><br />

Grund, und sicher nicht <strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gste, ist die Angst <strong>der</strong> Bevölkerung vor <strong>der</strong> politischen<br />

Instabilität, welche man <strong>in</strong> den Nachbarstaaten beobachten kann. Nasarbajew „ist als<br />

Grün<strong>der</strong>vater [des Staates] Integrationsfigur und Stabilitätsgarant für die multiethnische<br />

Gesellschaft”, 80 sagt e<strong>in</strong> Journalist. Und <strong>der</strong> Präsident selber för<strong>der</strong>t diese Darstellung. Man<br />

sieht ihn auf <strong>der</strong> Photo (Abbildung 4) mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n verschiedener Volksangehörigkeite.<br />

Abbildung 4<br />

Der Präsident Nursultan Nasarbajew mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> den Trachten <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Volksgruppen. Quelle: http://www.kazakhstan.pl/www_ros/kaz.html<br />

Im September 2006 hat er e<strong>in</strong>e Konferenz <strong>der</strong> verschiedenen Religionen <strong>in</strong> Astana angeführt.<br />

Er hatte schon e<strong>in</strong>e ähnliche Begegnung im Jahre 2003 organisiert. Für ihn ist <strong>der</strong> Dialog<br />

zwischen den Religionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land mit mehr als 40 verschiedenen Konfessionen 81 e<strong>in</strong>e<br />

Notwendigkeit. 82<br />

Aber gleichzeitig werden die drohenden Opponenten schlagartig zum Schweigen gebracht. So<br />

wurden z. B. zwei prom<strong>in</strong>ente Oppositionsvertreter im W<strong>in</strong>ter 2005/2006 ermordet. Der<br />

ehemalige Bürgermeister von Almaty wurde im November <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Privaträumen erschossen<br />

aufgefunden. „Die Umstände se<strong>in</strong>es mysteriösen Todes s<strong>in</strong>d bis heute ungeklärt. Nurkadilow<br />

war e<strong>in</strong> ehemaliger Vertrauter Nasarbajews, und nach se<strong>in</strong>em Zerwürfnis mit dem<br />

80 <strong>Kasachstan</strong>s Präsident strotzt vor Selbstbewusstse<strong>in</strong>. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.11.2006<br />

81 http://www.kazakhstanembassy.org.uk/cgi-b<strong>in</strong>/<strong>in</strong>dex/57<br />

82 Les steppes de l’harmonie. Famille Chrétienne. 23.09.2006.<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Präsidenten hatte er wie<strong>der</strong>holt erklärt, über Informationen zu verfügen, die hochrangige<br />

kasachische Staatsdiener kompromittieren könnten.“ 83<br />

Am 13. Februar wurde auch <strong>der</strong> Oppositionspolitiker Altynbek Sarsenbajew mit se<strong>in</strong>en<br />

Leibwächtern und se<strong>in</strong>em Chauffeur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Auto <strong>in</strong> Almaty erschossen aufgefunden. Am<br />

26. Februar gab es deswegen e<strong>in</strong>e grosse Kundgebung trotz Demonstrationsverbot. Sie löste<br />

sich friedlich auf. Die kasachischen Medien vermuteten, dass <strong>der</strong> Aussenm<strong>in</strong>ister, Rachat<br />

Aliew, <strong>der</strong> Mann von Nasarbajews Tochter, für den Mord verantwortlich se<strong>in</strong> könnte. Als<br />

Auftraggeber des Mordes wurde <strong>der</strong> damalige Leiter <strong>der</strong> Verwaltung des kasachischen Senats<br />

angeklagt. Das Motiv <strong>der</strong> offiziellen Version (Rache wegen e<strong>in</strong>es Zeitungsartikels) sche<strong>in</strong>t<br />

aber zu unbedeutend für e<strong>in</strong>e solche Tat zu se<strong>in</strong>. 84 Sich gegen den Präsidenten, <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

friedliches Zusammenleben <strong>der</strong> verschiedenen Ethnien beteuert, zu stellen ist<br />

lebensgefährlich!<br />

Im Moment zeichnen sich ke<strong>in</strong>e grossen Verän<strong>der</strong>ungen ab. Laut <strong>der</strong> OSZE (Organisation für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit <strong>in</strong> Europa) hatten die Präsidentenwahlen 2005 dem<br />

<strong>in</strong>ternationalen Standard für demokratischen Wahlen nicht erfüllt. 85<br />

5.3 Soziale Verän<strong>der</strong>ungen<br />

Die kasachische Gesellschaft ist gespalten. Die Sozialunterschiede haben sich nach <strong>der</strong><br />

Unabhängigkeit noch mehr herausgestellt. E<strong>in</strong> Graben zwischen Arm und Reich tat sich auf<br />

und vergrösserte sich zusehends. Dazu kommen noch die geographischen Volks- und<br />

Clansspaltungen: <strong>der</strong> Westen und das Zentrum gehören <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>en Horde 86 , <strong>der</strong> Norden<br />

gehört <strong>der</strong> mittleren Horde und den Russen, und <strong>der</strong> Süden <strong>der</strong> grossen Horde; an <strong>der</strong><br />

Südgrenze gibt es auch Gebiete, wo e<strong>in</strong>e usbekische Mehrheit lebt. Als die Religionen wie<strong>der</strong><br />

erlaubt wurden, zeigten sich auch die religiösen Unterschiede zwischen dem ¸russifizierten‘<br />

Norden und dem islamischen Süden deutlicher. Zudem sank <strong>der</strong> ländliche Lebensstandard im<br />

Vergleich zum städtischen ab. 87<br />

Es gibt weiterh<strong>in</strong> wenige Eheschliessungen zwischen Kasachen und europäischen<br />

Nationalitäten. Beson<strong>der</strong>s die kasachischen Frauen heiraten fast nie europäische Männer.<br />

Diese Gewohnheit ist vermutlich auf den Islam und die Wichtigkeit <strong>der</strong> Familie <strong>in</strong> den<br />

kasachischen Beziehungen zurückzuführen. 88 H<strong>in</strong>gegen heiraten Angehörige verschiedener<br />

türkischer Völker häufiger untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Die Berufswahl wi<strong>der</strong>spiegelt auch die ethnischen Unterschiede. Bei <strong>der</strong> Unabhängigkeit<br />

konnte man <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> e<strong>in</strong>e starke Konzentration von gewissen Berufssparten <strong>in</strong><br />

ethnischen Gruppen beobachten. So lag die Industrie hauptsächlich <strong>in</strong> russischen Händen,<br />

83<br />

<strong>Kasachstan</strong>s Präsident strotzt vor Selbstbewusstse<strong>in</strong>. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.11.2006 und Neue Luzerner<br />

Zeitung; 03.12.2005<br />

84<br />

Neue Zürcher Zeitung; Angeheiztes politisches Klima <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>. Gedenkveranstaltung für ermordeten<br />

Oppositionspolitiker <strong>in</strong> Almaty 27.02.2006; Nummer 48.<br />

85<br />

Der Fischer Weltalmanach 2006, S. 264<br />

86<br />

Vgl. Kap. 1.1<br />

87<br />

Soviet Legacy <strong>in</strong> Central Asia, S. 90-93 und Kazakhstan, S. 173<br />

88<br />

Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 63<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

während <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landwirtschaft und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilverwaltung vor allem Kasachen arbeiteten.<br />

Diese Tendenz ist noch heute auszumachen. Jetzt s<strong>in</strong>d die Slawen vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erziehung<br />

und im Bereich <strong>der</strong> Technik beschäftigt und die meisten Koreaner entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erziehung<br />

o<strong>der</strong> im Handel zugegen 89 . Die Kasachen arbeiten zwar <strong>in</strong> allen Zweigen <strong>der</strong> Wirtschaft, aber<br />

es gibt weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sehr hohen Anteil an Kasachen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong>. Die M<strong>in</strong>isterstellen<br />

werden fast ausschliesslich durch Kasachen bekleidet. 90<br />

Über die Arbeitslosigkeit <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> gibt es ke<strong>in</strong>e gesicherten Daten. Aber man kann<br />

beobachten, dass sie nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion zugenommen hat. Hier<br />

sollen als Beispiel die Angaben e<strong>in</strong>er Bank stehen, die <strong>in</strong> ehemaligen sowjetischen Län<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong>vestiert. (Je nach an<strong>der</strong>er Quelle variieren zum Beispiel für das Jahr 1998 die Zahlen<br />

zwischen 3,7% (offizielle Daten) und 20%. 91 )<br />

Arbeitslosigkeit pro Jahr <strong>in</strong><br />

% <strong>der</strong> Arbeitskraft<br />

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999<br />

0.4 0.6 7.5 11.0 13.0 13.0 13.0 1<strong>4.</strong>0 1<strong>4.</strong>1<br />

Quelle: European Bank for Reconstruction and Development, Transition Report 2000, London 2000, S. 176-177.<br />

Hier zitiert aus: Kazakhstan, S. 263<br />

E<strong>in</strong>e Schätzung für 2006 gibt 7.4 % als Arbeitslose an. 92 Die Löhne werden oft monatelang<br />

nicht bezahlt, o<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d extrem tief, so dass e<strong>in</strong> Arbeitsplatz ke<strong>in</strong>e Wohlstandsgarantie<br />

darstellt. 93<br />

E<strong>in</strong> grosser Teil <strong>der</strong> Bevölkerung lebt unter <strong>der</strong> Armutsgrenze (19% im Jahre 2004 94 ) Man<br />

kann daraus schliessen, dass zuerst „Kazakhstan’s social problems have grown faster than the<br />

government ability to solve them.“ 95<br />

Doch letztlich schien die soziale Lage sich zu verbessern. „Seit dem Jahr 2000 ist die<br />

kasachische Wirtschaft jährlich um knapp zehn Prozent gewachsen, das Pro- Kopf-<br />

E<strong>in</strong>kommen hat sich <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Zeit verdreifacht, und die Arbeitslosigkeit ist um fünf<br />

Prozent gesunken.“ 96<br />

<strong>Kasachstan</strong> hatte das für alle unentgeltliche Bildungs- und Gesundheitswesen <strong>der</strong><br />

Kommunisten geerbt. Aber es wurde <strong>der</strong> regionalen Verwaltung anvertraut. Diese war<br />

überfor<strong>der</strong>t, so dass die E<strong>in</strong>richtungen stark verkamen. AIDS, Cholera, Hepatitis A und<br />

Tuberkulose verbreiteten sich, und die K<strong>in</strong><strong>der</strong>sterblichkeit stieg. Die Kosten für die<br />

Sozialhilfe (Altersrenten, Krankenhilfe, Rehabilitierungsmassnahmen und<br />

Arbeitsloszahlungen) wurden bis heute nicht durch den Staat abgedeckt. 97<br />

89 Central Asia: A global study handbook S. 162<br />

90 A Journey <strong>in</strong>to Kazakhstan S. 133<br />

91 Kazakhstan, S.198<br />

92 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/kz.html#Geo<br />

93 Zentralasien: Von Marx zu Mohammed, S. 183 und Kazakhstan, S. 197-201<br />

94 Géopolitique de la nouvelle Asie centrale, S. 55/ https://www.cia.gov/library/publications/the-world-<br />

factbook/geos/kz.html#Geo<br />

95 Kazakhstan, S. 172<br />

96 <strong>Kasachstan</strong>s Präsident strotzt vor Selbstbewusstse<strong>in</strong>. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.11.2006<br />

97 Zentralasien: Von Marx zu Mohammed, S. 171 und 186<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

E<strong>in</strong> weiteres grosses Problem <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> ist die Korruption: „Die Korruption ist sehr stark<br />

verbreitet, so dass <strong>Kasachstan</strong> sich am unteren Ende des neuen Korruptions<strong>in</strong>dexes <strong>der</strong><br />

Organisation Transparency International bef<strong>in</strong>det. Ob Universitätsdiplome,<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>gartenplätze o<strong>der</strong> Baubewilligungen: Staatliche Leistungen erhält man ungleich<br />

schneller und unkomplizierter, wenn man dafür e<strong>in</strong>e Gegenleistung erbr<strong>in</strong>gt.“ Vermutlich<br />

spielen die Beziehungen und die Ethnieangehörigkeit auch e<strong>in</strong>e merkbare Rolle <strong>in</strong> diesen<br />

Situationen. Sogar die hohen <strong>Regierung</strong>smitglie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bestehungsaffären verwickelt,<br />

obwohl sie beteuern, dass sie die Korruption aktiv bekämpfen. 98 „Vor amerikanischen<br />

Gerichten ist zurzeit <strong>der</strong> Fall „Kazakhgate“ gegen den amerikanischen Geschäftsmann und<br />

Nasarbajew-Berater James Giffen hängig. Giffen wird vorgeworfen, Dutzende von Millionen<br />

Dollars auf Konten <strong>der</strong> kasachischen Führung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz überwiesen zu haben, um <strong>der</strong><br />

amerikanischen Erdöl<strong>in</strong>dustrie För<strong>der</strong>rechte an den zentralasiatischen Rohstoffen zu<br />

vermitteln.“ 99<br />

5.4 Stärkung <strong>der</strong> kasachischen Identität 100<br />

Nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit und als Reaktion zur erlittenen ¸Russifizierung‘ versuchten die<br />

Kasachen ihre eigene Identität und Kultur auszudrücken. Der islamische Glaube wurde nun<br />

als wichtiges Attribut <strong>der</strong> nationalen Selbstidentifikation betrachtet, so wird im<br />

<strong>Regierung</strong>szentrum <strong>der</strong> neuen Hauptstadt Astana auch e<strong>in</strong>e Moschee gebaut (Abbildung 5). In<br />

<strong>der</strong> Tat s<strong>in</strong>d aber die meisten Kasachen sehr unwissend <strong>in</strong> Sachen Islam.<br />

Der Islam wurde nicht so extrem nationalisiert wie <strong>in</strong> den Nachbarstaaten (z. B.<br />

Turkmenistan), wo er unter vollständiger Kontrolle des Staates liegt, wo Muslim se<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

unerlässliches Attribut darstellt. In <strong>Kasachstan</strong> ist <strong>der</strong> Islam nur als Teil dieser grösseren<br />

ethnischen Idee verstanden worden. Er wird wohl von Anhängern praktiziert, hat jedoch ke<strong>in</strong>e<br />

bedeutsame politische Bedeutung entwickelt.<br />

Dieses ¸Revival‘ des Islams, das schon während <strong>der</strong> Sowjetzeit begonnen hatte, führte<br />

manchmal zu absurden geschichtlichen Erwägungen: so wird jetzt Ahmad Yasawi als<br />

¸kasachischer Nationalheiliger‘ betrachtet, obwohl die Kasachen erst im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t, d. h.<br />

vier Jahrhun<strong>der</strong>te nach Yasawi, auftauchen.<br />

Die Kasachen knüpften auch wie<strong>der</strong> an die traditionelle Bedeutung <strong>der</strong> Vorfahren an, <strong>in</strong>dem<br />

sie sich nach <strong>der</strong> Sowjetzeit bemühten, ihre genealogischen Stammbäume zu ergänzen.<br />

Die Kasachen werden heutzutage ohne Zweifel <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> bevorzugt. Sie s<strong>in</strong>d die<br />

e<strong>in</strong>zigen, die die Garantie e<strong>in</strong>er automatischen Staatsangehörigkeit haben. Sie besitzen e<strong>in</strong>e<br />

Überzahl an wichtigen Posten. Sie streben nach ¸Kasachisierung‘ von <strong>Kasachstan</strong>.<br />

Nasarbajew hat e<strong>in</strong>e politische Kampagne für die Rückkehr <strong>der</strong> unter <strong>der</strong> russischen<br />

Herrschaft ausgewan<strong>der</strong>ten Kasachen gestartet. Die Migrationgesetze s<strong>in</strong>d den Russen jetzt<br />

ungünstig während sie für die aus <strong>der</strong> Mongolei und Ch<strong>in</strong>a zurückkehrenden Kasachen<br />

98 http://kazakhstanembassy.org.uk/cgi-b<strong>in</strong>/<strong>in</strong>dex/246<br />

99 <strong>Kasachstan</strong>s Präsident strotzt vor Selbstbewusstse<strong>in</strong>. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.11.2006<br />

100 Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Zentralasien: Von Marx zu Mohammed, S. 166-167 und<br />

The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia, S. 92, 103, 111, 130, Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 96 ff<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Unterkunft und soziale Sicherheit gewähren.<br />

Das Problem ist, dass die Kasachen und die Russen e<strong>in</strong>e unterschiedliche Vorstellung von<br />

<strong>Kasachstan</strong> haben. Für die e<strong>in</strong>en ist es ihr Heimatland und für die an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong> Staat, <strong>in</strong>dem die<br />

Ethnieangehörigkeit ke<strong>in</strong>e Rolle spielen soll. 101 Als Folge davon haben die Russen Mühe die<br />

Politik <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> kasachischen Kultur zu akzeptieren. 1989 startete Nursultan<br />

Nasarbajew e<strong>in</strong>e Sprachpolitik, die Kasachisch als Staatssprache, und Russisch nur als<br />

Verkehrssprache zwischen den Ethnien erklärte, obwohl damals fast so viele Russen wie<br />

Kasachen <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> lebten. Diese Politik wurde zur grössten Streitfall zwischen Russen<br />

und Kasachen.<br />

1992 demonstrierten 15'000 Russen im Ostkasachstan-Oblast und verlangten Russisch als<br />

Staatsprache. Sie wollten auch die Doppelstaatsangehörigkeit und Selbstbestimmungsrecht <strong>in</strong><br />

Sprache, Kultur und Erschliessung <strong>der</strong> natürlichen Ressourcen. 102 Schliesslich wurde 1997<br />

e<strong>in</strong> Gesetz erlassen, das Russisch als offizielle Sprache erklärte. 103<br />

Nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit s<strong>in</strong>d wegen dieser Politik viele Russen und Angehörigen an<strong>der</strong>er<br />

europäischer Volksgruppen aus <strong>Kasachstan</strong> ausgewan<strong>der</strong>t. Bei <strong>der</strong> Unabhängigkeit wohnten<br />

fast so viele Russen wie Kasachen <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>. Respektiv stellten sie 37% und 40% <strong>der</strong><br />

Bevölkerung <strong>der</strong> Republik dar. Dieser Anteil hat sich auf rund 30% Russen und 53%<br />

Kasachen verän<strong>der</strong>t (1999) und ist seitdem stabil geblieben. 104 Die Russen befürchten an den<br />

Arbeitsplätzen diskrim<strong>in</strong>iert und wegen ihrer Sprache unterdrückt zu werden. Aber auch die<br />

101 The Kazakhs, S. 289<br />

102 The soviet legacy <strong>in</strong> Central Asia S. 111<br />

103 http://kazakhstanembassy.org.uk/cgi-b<strong>in</strong>/<strong>in</strong>dex/225 05.05.2007<br />

104 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/kz.html#Geo 10.05.2007, Kazakhstan S.<br />

249<br />

- 29 -<br />

Abbildung 5:<br />

Die Moschee<br />

im neuen<br />

<strong>Regierung</strong>szentrum<br />

<strong>in</strong><br />

Astana. Quelle:<br />

http://pims.ed.ornl<br />

.gov/caspian/Work<br />

shops/Astana_0<strong>4.</strong><br />

htm


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

schwierige wirtschaftliche Situation <strong>Kasachstan</strong>s und die damit verbundenen schlechten<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d wahrsche<strong>in</strong>lich für e<strong>in</strong>en solchen Schritt auch Ausschlag gebend.<br />

E<strong>in</strong> grosser Teil <strong>der</strong> Industriearbeiter ist slawischer und europäischer Herkunft. Das bedeutet,<br />

dass die Auswan<strong>der</strong>ungen von diesen drohen, die Wirtschaft <strong>Kasachstan</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er noch<br />

schlechteren Position zu verlassen. 105 Folglich ist es <strong>der</strong> kasachischen <strong>Regierung</strong> wichtig,<br />

gewisse Zugeständnisse zu machen, damit die Slawen bleiben. Um die <strong>in</strong>ter-ethnischen<br />

Spannungen zu beruhigen hat Präsident Nasarbajew die so genannte Harmonisierungspolitik<br />

(Garmonizcija) gestartet. Mit <strong>der</strong> wurde allen kompakt siedelnden ethnischen Gruppen das<br />

Recht zur För<strong>der</strong>ung ihrer Sprache und Kultur zugestanden. 106<br />

5.5 Anwendung <strong>der</strong> Privatisierung und die damit verbundenen<br />

wirtschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen 107<br />

Nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit leitete die <strong>Regierung</strong> die Privatisierung <strong>in</strong> die Wege. Die<br />

Wohnungen wurden zwischen 1991 und 1992 Privatbesitz, und die Industrie kam auch<br />

langsam <strong>in</strong> private Hände. Als die kasachische Wirtschaft Mitte <strong>der</strong> 90er Jahren zu kriseln<br />

begann und sogar zusammenzubrechen drohte 108 , kamen <strong>in</strong>ternationale Organisationen wie<br />

die IWF (Internationaler Währungsfonds) zu Hilfe. Sie orientierten <strong>Kasachstan</strong> bei <strong>der</strong><br />

Privatisierung und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Umwandlung <strong>der</strong> Wirtschaftgesetze, damit ausländische<br />

Investitionen möglich wurden. Als Resultat davon beschäftigte <strong>der</strong> private Sektor 1999 60%<br />

<strong>der</strong> Arbeitskraft und im Juli des gleichen Jahres waren bereits 75,6% <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

privatisiert. 109<br />

Es fand aber während dieser Privatisierung demographische Ungerechtigkeiten statt. Die<br />

schönen Wohnungen <strong>in</strong> den Städten gehörten gewöhnlich den Russen und die meisten Kioske<br />

und Geschäfte wurden Slawen, Usbeken o<strong>der</strong> Uiguren anvertraut, denn diese Völker hatten<br />

e<strong>in</strong>e stärkere Handeltradition als die Kasachen. Mit <strong>der</strong> Privatisierung bildete sich auch e<strong>in</strong>e<br />

kasachische Elite von reichen Investoren, die von <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong> begünstigt wurde.<br />

Im Zuge <strong>der</strong> Privatisierung hoffte <strong>Kasachstan</strong> ausländische Investitionen anzuziehen.<br />

<strong>Kasachstan</strong> zog e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> bekanntesten Firmen <strong>der</strong> Welt wie Philip Morris o<strong>der</strong> Samsung an.<br />

Folglich lag 1996 die kasachische Industrie fast ausschliesslich <strong>in</strong> ausländischen Händen.<br />

2001 wurden die reichen Energieressourcen noch wenig genutzt. 110 Die För<strong>der</strong>ung im<br />

kaspischen Meer ist wegen <strong>der</strong> vielen Vorlagen <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong> betreffs Umweltschutzes sehr<br />

kostspielig, Zudem s<strong>in</strong>d die Tankzüge, die mit den russischen und georgischen Staatsbahnen<br />

fahren müssen, den kasachischen Unternehmen sehr teuer was die Kosten noch erhöht. Das<br />

105 The Kazakhs S. 273 und Central Asia: A global study handbook S. 161<br />

106 Der Vielvölkerstaat <strong>Kasachstan</strong> S. 99 bis 101<br />

107 Die Informationen für dieses Kapitel stammen aus Kazakhstan, 136-137 und 144 ff.<br />

108 Im November 1993 wurde die Tenge zur neuen kasachischen Währung. Da <strong>Kasachstan</strong> sich nicht mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Rubel -Zone befand, wurde den Handel über die russische Grenze zum Teil zerstört und e<strong>in</strong>e Wirtschaftskrise<br />

brach auf. (Kazakhstan S.132)<br />

109 Kazakhstan 137<br />

110 Russland als Vielvölkerreich, S. 321<br />

- 30 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Interesse <strong>der</strong> westlichen Investoren für das Erdöl ist jedoch letztlich gestiegen, „da <strong>der</strong> Preis<br />

für e<strong>in</strong> Fass Rohöl über <strong>der</strong> Grenze von 40 Dollar tanzt.“ 111<br />

Die hypermo<strong>der</strong>nen Gebäude (vgl. Abbildung 6), die <strong>der</strong> Präsident <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Hauptstadt<br />

Astana hatte bauen lassen, möchten <strong>der</strong> Welt zeigen, dass <strong>Kasachstan</strong> dank des Erdöls e<strong>in</strong>e<br />

reiche Zukunft bestimmt ist.<br />

Abbildung 6: das M<strong>in</strong>isterium<br />

für Telekommunikation <strong>in</strong><br />

Astana<br />

Quelle:<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:333<br />

541.jpg<br />

5.6 E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> USA 112<br />

Vor <strong>der</strong> Unabhängigkeit war <strong>Kasachstan</strong> wirtschaftlich total von Russland abhängig.<br />

<strong>Kasachstan</strong> besass ke<strong>in</strong>e eigene Ölraff<strong>in</strong>erie, und <strong>der</strong> Ölexport g<strong>in</strong>g durch die russischen<br />

Pipel<strong>in</strong>es. Die Kasachen waren sogar gewohnt, sich auf die sowjetischen Subventionen aus<br />

Moskau zu verlassen. Sie befanden sich nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit mit dem Problem<br />

konfrontiert, dass das Herrsteller-Verbraucher-Netz <strong>der</strong> Sowjetunion unterbrochen war. In<br />

dieser Situation stellten die USA e<strong>in</strong>e gute Alternative dar. 113<br />

Die amerikanischen Erdölgesellschaften haben <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> den Hauptanteil <strong>der</strong><br />

Konzessionen für Erdöl und Erdgas an sich gezogen. Für <strong>Kasachstan</strong> wäre es sehr günstig<br />

Erdöl durch den Iran zu exportieren, aber die USA blockieren jedes Projekt, das <strong>in</strong> diese<br />

Richtung geht. Die türkischen Unternehmen stehen nach den USA an zweiter Stelle. Sie s<strong>in</strong>d<br />

stark <strong>in</strong> die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>Kasachstan</strong>s verwickelt. Sie haben das kasachische Telefonnetz<br />

ausgedehnt und ihre Fluggesellschaft sichert die meisten Anschlüsse zum kasachischen<br />

Territorium.<br />

111<br />

Im Öldorado. In: NZZ Folio. 09.2004<br />

112<br />

Folgende Informationen stammen aus Zentralasien: Von Marx zu Mohammed, S. 86, 100, 111, 118 bis 120,<br />

133, 135 und 171 und The Kazakhs S. 149 bis 151<br />

113<br />

The Kazakhs, S. 274 und Géopolitique de la nouvelle Asie centrale, S.54<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

<strong>Kasachstan</strong> ist jedoch wirtschaftlich noch von Russland abhängig, da es mit diesem Land den<br />

Grossteil se<strong>in</strong>es Handels betreibt, und bei Russland verschuldet ist. Vor allem ist diese<br />

Abhängigkeit durch den Öl- und Gasexport entstanden, da die Pipel<strong>in</strong>es den Russen gehören,<br />

und es <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> kaum Raff<strong>in</strong>erien gibt. Schliesslich hätte <strong>Kasachstan</strong> im Fall e<strong>in</strong>es<br />

russischen Militär- o<strong>der</strong> Politikrangriffs ke<strong>in</strong>e Chance, sich zu verteidigen. Dadurch wird<br />

<strong>Kasachstan</strong> gezwungen, auf Kompromisse mit Russland e<strong>in</strong>zugehen. 114 So kann <strong>der</strong> russische<br />

Monopolist Gazprom Gas zu unrealistisch tiefen Preisen kaufen und Profit machen, während<br />

die britischen, italienischen und amerikanischen Partner, die auch <strong>in</strong> das kasachische Gas-<br />

Konsortium <strong>in</strong>vestiert haben, Geld verlieren. Heute ist <strong>Kasachstan</strong>s langfristige Strategie, die<br />

Möglichkeiten zum Abtransport se<strong>in</strong>es Öls und Gas zu diversifizieren. Die Ch<strong>in</strong>esen planen<br />

e<strong>in</strong>e sehr lange Pipel<strong>in</strong>e von <strong>Kasachstan</strong> bis nach Ostch<strong>in</strong>a, um sich strategisch von e<strong>in</strong>er<br />

eventuellen amerikanisch-japanischen Seeblockade zu schützen.<br />

Diesen W<strong>in</strong>ter, als Russland die europäische Gasversorgung zu sperren drohte, kam auch die<br />

Idee e<strong>in</strong>er Ferngasleitung, die <strong>Kasachstan</strong> mit Österreich verb<strong>in</strong>den sollte, damit Europa<br />

weniger von Russlands Launen abhängig sei. 115 Wahrsche<strong>in</strong>lich werden sich die Interessen<br />

Europas <strong>in</strong> den nächsten Jahren noch <strong>in</strong>tensiver <strong>Kasachstan</strong> zuwenden, um e<strong>in</strong>en<br />

„Eurasischen Transport-Korridor“ 116 für Erdöl und Gas zu bauen, <strong>der</strong> Russland umgeht.<br />

Die USA gaben Militärhilfe und Geldhilfe für Stabilität und Verteidigung <strong>der</strong> Grenzen. Sie<br />

halfen auch <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong> Privatbesitz mit Wirtschaftreformen zu verteidigen. 117 Die<br />

Amerikaner s<strong>in</strong>d wegen <strong>der</strong> grossen Menge Erdöl sehr darauf bedacht, die Stabilität<br />

<strong>Kasachstan</strong>s zu wahren.<br />

114 Kazakhstan S. 149 bis 151<br />

115 Dans la course au gaz, tous les chem<strong>in</strong>s mènent au Kazakhstan. Le Temps. 03.01.2007.<br />

116 Zentralasien: Von Marx zu Mohammed, S.100<br />

117 Kazakhstan, S.6<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Fazit<br />

Die Zarenpolitik und die durch Stal<strong>in</strong> befohlene Kollektivierung zerstörten das<br />

Nomadenleben und die traditionelle Sozialordnung <strong>der</strong> Kasachen völlig. Die ethnische<br />

Vielfalt <strong>Kasachstan</strong>s dehnte sich durch die kommunistische Politik, welche freiwillige und<br />

gezwungene Wan<strong>der</strong>ungsbewegungen verursachte, aus. Die russische Sprache und Kultur<br />

wurden allen E<strong>in</strong>wohner <strong>Kasachstan</strong>s aufgezwungen. Deswegen ist <strong>der</strong> Kasachen die<br />

Behauptung ihrer Identität nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit sehr wichtig geworden. Heute gibt es<br />

kaum Möglichkeiten zur politischen Teilnahme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Republik <strong>Kasachstan</strong>s. Das Erdöl und<br />

das Gas s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> kasachischen Wirtschaft sehr wichtig geworden.<br />

1. Wer waren die E<strong>in</strong>wohner von <strong>Kasachstan</strong> am Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts und wie<br />

lebten sie? (Traditionen, Sozialbeziehungen, Lebensgrundlagen...)<br />

Am Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>t waren <strong>der</strong> Grossteil <strong>der</strong> Bevölkerung des heutigen<br />

<strong>Kasachstan</strong>s die Kasachen, Nomaden, die ursprünglich unabhängig allerlei Staatssystem<br />

lebten. Ihre Identität war auf Familie-, Klan-, bzw. Hordeangehörigkeit basiert. Sie waren<br />

massvolle Muslimen, die Traditionen ihrer alten Religionen, wie die Verehrung <strong>der</strong> Ahnen,<br />

beibehielten. Aus den Tieren ihrer Herden erhielten sie ihre Lebensgrundlagen. Die<br />

verschiedenen Wan<strong>der</strong>gruppen hatten ausserdem oft Konfliktbeziehungen zwischen sich. Die<br />

traditionelle Sozialordnung <strong>der</strong> Kasachen war vor dem Fallen des Zaren schon teilweise durch<br />

die Russen zerstört worden, jedoch lebten noch viele als Nomaden. Daneben lebten auch<br />

russische Bauern.<br />

2. Was ist aus ihnen unter <strong>der</strong> <strong>kommunistischen</strong> <strong>Regierung</strong> geworden?<br />

Die durch Stal<strong>in</strong> befohlene Kollektivierung hat für die Kasachen den Verlust ihrer Tiere, d. h.<br />

ihrer Hauptlebensgrundlage, Dezimierung durch die folgende Hungernot und die Zerstörung<br />

ihrer traditionellen Lebensart, nämlich das Nomadenleben, bedeutet. Zudem s<strong>in</strong>d viele<br />

Kasachen aus <strong>Kasachstan</strong> geflohen. Die kasachische Kultur erlitt auch e<strong>in</strong>en grossen Verlust,<br />

<strong>in</strong>dem die Elite ermordet wurde und die sowjetische <strong>Regierung</strong> den Kasachen die russische<br />

Kultur e<strong>in</strong>prägte. Die positive Auswirkung des Kommunismus war, dass die Bevölkerung<br />

alphabetisiert wurde.<br />

3. Welche Völker wurden nach <strong>Kasachstan</strong> deportiert? Und Warum?<br />

Deutsche, Koreaner, Polen und an<strong>der</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten wurden unter Stal<strong>in</strong> nach <strong>Kasachstan</strong><br />

deportiert. Sie sollten aus <strong>der</strong> Grenzgebieten <strong>der</strong> UdSSR entfernt werden, da sie entwe<strong>der</strong>, wie<br />

die Polen, an <strong>der</strong> Front wohnten, wo sich <strong>der</strong> Krieg gegen Nazi-Deutschland spielte, o<strong>der</strong><br />

stellten sie, was <strong>der</strong> Fall für alle an<strong>der</strong>en war, <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung Stal<strong>in</strong>s nach e<strong>in</strong>e Gefahr für die<br />

UdSSR dar, <strong>in</strong>dem sie mit dem Fe<strong>in</strong>d (Japan, Deutschland o<strong>der</strong> die Türkei) kollaborieren<br />

hätten können.<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

<strong>4.</strong> Welche Leute s<strong>in</strong>d freiwillig nach <strong>Kasachstan</strong> gewan<strong>der</strong>t? Aus welchen Gründen?<br />

Wie haben sich die ‚Auslän<strong>der</strong>‘ zur ursprünglichen Bevölkerung verhalten und was hat<br />

ihre Ankunft verän<strong>der</strong>t?<br />

Nach <strong>Kasachstan</strong> s<strong>in</strong>d auch viele slawische Freiwillige gewan<strong>der</strong>t um auf den Kolchosen<br />

bzw. „Sowchosen“ o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> auftauchenden Industrie zu arbeiten. Ihre Ankunft hat e<strong>in</strong>e<br />

rasche E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> kasachischen Arbeitskräfte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Da die<br />

Slawen lange e<strong>in</strong>e Mehrheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> kasachischen Sowjetrepublik darstellten, bee<strong>in</strong>flussten sie<br />

die kasachische Kultur, welche stärker ‚russifiziert‘ wurde, als <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Gebieten<br />

Zentralasiens.<br />

5. Welche <strong>Auswirkungen</strong> hatten folgende Ereignisse auf die Wirtschaft, die politischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen und die Gewohnheiten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wohner von <strong>Kasachstan</strong>:<br />

• 1917: die Bolschewiki ergreifen den Macht<br />

• 1986: Öffnung und Liberalisierung des <strong>kommunistischen</strong> Staates<br />

• 1991: Erklärung <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>Kasachstan</strong>s<br />

Nach <strong>der</strong> Machtergreifung durch die Bolschewiki <strong>in</strong> Petersburg 1917 gründete die Alasch-<br />

Orda die erste unabhängige kasachische <strong>Regierung</strong>, welche zwei Jahre später durch die<br />

Bolschewiki gestürzt wurde. <strong>Kasachstan</strong> wurde dann e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Sowjetunion. Die<br />

kasachische Wirtschaft wurde enger an diejenige <strong>der</strong> Russischen SFSR verknüpft, so dass sie<br />

abhängig von dieser letzteren wurde. Die Sowjetregierung schränkte die Entwicklung <strong>der</strong><br />

kasachischen Kultur und för<strong>der</strong>te die russische Sprache und Kultur.<br />

Die Ersetzung des Kasachen Kunajews durch den Russe Kolb<strong>in</strong> im Rahmen <strong>der</strong> durch<br />

Gorbatschow befohlenen Säuberungen, brachte 1986 das Fass zum Überlaufen und die<br />

kasachische Studenten erhoben sich gegen die Sowjetregierung. In <strong>der</strong> Perestrojkazeit baute<br />

Nursultan Nasarbajew se<strong>in</strong>e politische aus. Die Muslimen konnten ihre religiösen Pflichten<br />

wie<strong>der</strong> erfüllen und <strong>der</strong> Islam wurde e<strong>in</strong> wichtiger Teil <strong>der</strong> kasachischen Identität.<br />

Bei <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>Kasachstan</strong>s wurde Nursultan Nasarbajew, <strong>der</strong> bereits erster Sekretär<br />

<strong>der</strong> kasachischen <strong>kommunistischen</strong> Partei war, zum Präsidenten gewählt. Die Unabhängigkeit<br />

hiess jedoch ke<strong>in</strong>e wirkliche politische Freiheit, da die <strong>Regierung</strong> die demokratischen<br />

Grundsätze nicht e<strong>in</strong>hielt. Der Präsident hat jetzt Vollmacht.<br />

Der durchschnittliche Lebensstandard ist seit <strong>der</strong> Unabhängigkeit gesunken. Die<br />

Privatisierung wurde angewendet, mit dem Hauptziel, dass ausländische Investitionen<br />

möglich wurden. Das Erdöl zog die USA an, die seit den 90er Jahren immer präsenter und<br />

e<strong>in</strong>flussvoller <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong> wurden. Insgesamt versucht jetzt <strong>Kasachstan</strong>, sich von <strong>der</strong><br />

wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland zu befreien.<br />

6. Welche Merkmale <strong>der</strong> verschieden Kulturen gibt es noch heute? (Sprache, Religion,<br />

Traditionen, Arbeit, Bildung)<br />

Als Reaktion zur ¸Russifizierung‘ <strong>der</strong> Sowjetzeit, haben die Kasachen die Merkmale ihrer<br />

Kultur nach <strong>der</strong> Unabhängigkeit geför<strong>der</strong>t, um ihre Identität zu behaupten. So wurde<br />

Kasachisch die Staatssprache. Jedoch hat Russisch se<strong>in</strong>e Wichtigkeit als<br />

Hauptkommunikationssprache zwischen den Völkern <strong>in</strong> allen Bereichen <strong>der</strong> Verwaltung, <strong>der</strong><br />

Bildung und des Alltags beibehalten. Wegen <strong>der</strong> kulturellen Vielfalt gibt es auch viele<br />

verschiedenen Religionen, da jede Volksgruppe ihre Traditionen beibehielt. Die zwei<br />

- 34 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

wichtigsten s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Islam und die russische Orthodoxie. In den Berufen f<strong>in</strong>det auch e<strong>in</strong>e<br />

ethnische Glie<strong>der</strong>ung statt.<br />

7. Wie steht es um die Wahrnehmung <strong>der</strong> ethnischen Heterogenität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Regierung</strong>, <strong>in</strong><br />

den Sozialbeziehungen und im Alltag <strong>der</strong> Bürger?<br />

Die Politik des Präsidenten ist zweideutig. Er versucht gleichzeitig die Stabilität zu<br />

garantieren und die kasachische Kultur zu för<strong>der</strong>n. Im Vergleich zu den an<strong>der</strong>en Staaten, wo<br />

es auch e<strong>in</strong>e ethnische Heterogenität gibt, ist <strong>Kasachstan</strong> überraschend stabil. Nursultan<br />

Nasarbajew, benutzt diese relative Stabilität um se<strong>in</strong>e politische Prestige zu stützen und er<br />

stellt sich vor als e<strong>in</strong> Politiker, <strong>der</strong> den Dialog zwischen Volksgruppen för<strong>der</strong>t. Die Stabilität<br />

beruhigt auch die Amerikaner, die damit rechnen, für die Sicherheit ihrer Investitionen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

kasachischen Erdölför<strong>der</strong>ung.<br />

Jedoch s<strong>in</strong>d sich die verschiedenen Volksgruppen von ihren kulturellen Unterschieden<br />

bewusst. Die Slawen und Deutschen fühlen sich zugunsten <strong>der</strong> Kasachen diskrim<strong>in</strong>iert. Viele<br />

s<strong>in</strong>d folglich <strong>in</strong> den 1990er Jahren ausgewan<strong>der</strong>t. Die <strong>Regierung</strong> hat Konzessionen<br />

angenommen um dies zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, weil die Slawen für die kasachische Industrie sehr<br />

wichtig s<strong>in</strong>d. Viele Kasachen haben aber das Gefühl, dass <strong>Kasachstan</strong> ihnen gehört, und dass<br />

die an<strong>der</strong>en Volksgruppen weiterh<strong>in</strong> Auslän<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d.<br />

Aus allen Kenntnissen, die ich <strong>in</strong> dieser Arbeit gewonnen habe, habe ich die folgende These<br />

erarbeitet:<br />

Aus Nomadenstämmen, die kaum gebunden s<strong>in</strong>d und <strong>der</strong>en Identität sich auf<br />

Familieangehörigkeit stützt, kann e<strong>in</strong> Staat entstehen, <strong>in</strong> dem die Nachfahren <strong>der</strong> Nomaden<br />

e<strong>in</strong> starkes Volks- und Landsangehörigkeitsgefühl haben.<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Bibliographie<br />

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SCHLAGETER, Jürg. Zentralasien: Von Marx zu Mohammed. Nordstedt, 2003.<br />

Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln:<br />

BAUMANN, Meret. <strong>Kasachstan</strong>s Präsident strotzt vor Selbstbewusstse<strong>in</strong>. In: Neue Zürcher<br />

Zeitung. 2.11.2006. Nummer 255.<br />

BENSMANN, M. Angeheiztes politisches Klima <strong>in</strong> <strong>Kasachstan</strong>, Gedenkveranstaltung für<br />

ermordeten Oppositionspolitiker <strong>in</strong> Almaty. Neue Zürcher Zeitung. 27.02.2006. Nummer 48.<br />

ENDERLIN, Serge. Im Öldorado. In: NZZ Folio 09.200<strong>4.</strong> Nummer 9.<br />

ETWAREEA, Ram. Dans la course au gaz, tous les chem<strong>in</strong>s mènent au Kazakhstan. Le Temps.<br />

03.01.2007. Nummer 2682.<br />

PRUVOT, Samuel. Les steppes de l’harmonie. Famille Chrétienne. 23.09.2006. Nummer 1497.<br />

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Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Internetseiten:<br />

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/kz.html#Geo (25.02.2007)<br />

http://www.kazakhstanembassy.org.uk/cgi-b<strong>in</strong>/<strong>in</strong>dex/57 (10.05.2007)<br />

http://kazakhstanembassy.org.uk/cgi-b<strong>in</strong>/<strong>in</strong>dex/246 (28.05.2007)<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Kasachen-Khanat (08.11.2006)<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Kosaken (29.01.2007)<br />

http://www.zum.de/whkmla/histatlas/centrasia/haxkazakhstan.html (20.02.2005)<br />

- 37 -


Die Wurzeln und die Entstehung des Vielvölkerstaats <strong>Kasachstan</strong>s Maturitätsarbeit 2007<br />

Authentizitätserklärung<br />

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Maturitätsarbeit eigenständig und ohne<br />

unerlaubte fremde Hilfe erstellt habe und dass alle Quellen, Hilfsmittel und Internetseiten<br />

wahrheitsgetreu verwendet wurden und belegt s<strong>in</strong>d.<br />

Datum: Unterschrift:<br />

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Sarah Duc

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