Loccumer Pelikan 3_2004 - Religionspädagogisches Institut Loccum
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grundsätzlich<br />
Geborgen in der elterlichen Liebe und anfangs noch vollkommen<br />
abhängig von ihr erwächst in mir ein Vertrauen, ein Grundvertrauen,<br />
das mir überhaupt erst die Entfaltung meiner Persönlichkeit<br />
erlaubt. Und der Glaube, die Religion behauptet<br />
nichts anderes, als dass dies nicht nur für die erste Kindheitsphase<br />
gilt, sondern für ein ganzes Menschenleben. Jörg Zink<br />
hat es so ausgedrückt:<br />
„Überall, wo es im Leben wichtig wird, hören die Beweise auf.<br />
Wenn euch jemand liebt, müsst ihr es ihm glauben. Es gibt keine<br />
Liebesbeweise ... Aber glauben heißt nicht, seinen Verstand<br />
an der Garderobe abzugeben. Es heißt vertrauen, auch wo man<br />
nichts sieht (...).<br />
Wer sich offen hält dafür, dass es eine Macht gibt, die um ihn<br />
her und in ihm selbst ist und die wir, wenn wir wollen, Gott<br />
nennen können, der weiß besser, wo er zu Hause ist. Er braucht<br />
nicht zu sein, was er nicht ist. Er braucht nichts darzustellen,<br />
was er nicht mit seinem ganzen Wesen abdeckt. Er braucht nichts<br />
zu leisten, was er nicht kann ... und er darf wissen, dass nichts<br />
wichtiger ist, als dass er liebt und dass keine Tat und kein Zeichen<br />
der Liebe jemals verloren sind.“ 2<br />
Festhalten möchte ich:<br />
– Die Religion schützt uns davor, etwas oder jemanden absolut<br />
zu sehen und<br />
– Die Religion ermöglicht es uns, als freie und liebevolle Menschen<br />
zu leben.<br />
Deshalb gibt es ein Recht auf Religion. Deshalb haben Kinder<br />
ein Recht auf Religion.<br />
Religiöse Erziehung und Bildung auf dem Weg<br />
in die Wissensgesellschaft<br />
Bevor ich auf die Frage der Erziehung, speziell der religiösen<br />
Erziehung eingehe, möchte ich einen Blick auf die gesellschaftliche<br />
Entwicklung werfen. Wir befinden uns schon seit einigen<br />
Jahren in einer Umbruchssituation. Die alten Industriestandorte<br />
mit riesigen Fabrikanlagen verschwinden und weichen gläsernen<br />
Produktionsstätten mit weitgehend computergesteuerten<br />
Fertigungsprogrammen. Standen in den 70er Jahren in der Rohbauabteilung<br />
des VW-Werkes noch Hunderte von Arbeitern mit<br />
unförmigen Punktschweißzangen an den Laufbändern, wird diese<br />
Arbeit heute von Maschinen erledigt, die von wenigen Mitarbeitern<br />
am Computer gesteuert werden. Nicht mehr körperliche<br />
Fertigkeiten sind gefragt, sondern technologisches Wissen, das<br />
in der informellen Technologie immer kürzere Halbwertzeiten<br />
hat. Heute geht man etwa von einer Halbwertzeit von einem<br />
Jahr in der IT-Branche aus. Produktionsstandorte werden nach<br />
Marktlage verlagert, oft ins Ausland. Flexibilität und Mobilität<br />
der Arbeitnehmer sind gefragt und vor allem die Bereitschaft,<br />
ständig lebenslang neu hinzu zu lernen auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.<br />
Und es stellt sich die Frage, wie wir Kinder<br />
am besten auf diese Gesellschaft vorbereiten können.<br />
Die Lage der Kinder<br />
Da wir schon mitten auf dem Weg in die Wissensgesellschaft<br />
sind, lassen sich auch seit mehreren Jahren Konsequenzen beobachten,<br />
denen Kinder heute im Unterschied zu anderen Kindergenerationen<br />
ausgesetzt sind. In der jüngsten EKD-Denkschrift<br />
„Maße des Menschlichen“. Evangelische Perspektiven<br />
zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft heißt es: „Es<br />
zählt zu den Merkmalen gegenwärtigen Kinderlebens, dass Kinder<br />
vorwiegend in kleinen Haushalten aufwachsen, häufig auch<br />
ohne Geschwister. Ein Teil lebt in Ein-Eltern-Familien. Vielfältige<br />
Lebensformen wie nicht eheliche Gemeinschaften, Zweitfamilien,<br />
Wechsel von einer zur anderen Familienform gehören<br />
heute zur sozialen Wirklichkeit, die Kinder erleben und in der<br />
sie sich arrangieren müssen. Kinder haben zunehmend mit variablen<br />
und instabilen Familienbeziehungen zurecht zu kommen.“<br />
3 Und das bedeutet für Kinder, dass sie schon früh erleben,<br />
wie Bindungen in die Brüche gehen, sie mit Abbrüchen<br />
von Lebensbeziehungen – bedingt durch Trennung der Eltern<br />
oder Wegzug an neue Arbeitsorte –, mit neuen Lebensumwelten<br />
zurecht kommen müssen und eine entsprechende Widerstandsfähigkeit<br />
(Resilienz) entwickeln.<br />
Weiteres lässt sich hinzufügen: In den Städten ist Deutschland<br />
de facto zu einem Einwanderungsland geworden. D. h.:<br />
Kinder erleben schon früh unterschiedliche Werte, Religionen<br />
und Lebensformen bei gleichzeitig zunehmender Verunsicherung<br />
der Erwachsenen in ihrer Umgebung über den eigenen<br />
religiösen Hintergrund. Und Unsicherheit führt zu Angst,<br />
Angst zu Aggression ...<br />
Bedingt durch die geringe Kinderzahl, aber auch durch die<br />
oftmals auf den Autoverkehr abgestellte Wohnumfeldgestaltung<br />
kommt es mehr und mehr zu einer „Verinselung“ der Kindheit.<br />
Kinder haben es immer schwerer, in der Nachbarschaft eigene<br />
Kindernetzwerke aufzubauen. Es sind neue und vielfältige Angebote<br />
in der Kinderkultur entstanden, an denen aber zusehends<br />
nur Kinder teilhaben können, deren Eltern die Zeit, das Auto<br />
und das Geld haben, um ihren Kindern den Zugang zu ermöglichen.<br />
Aus Familienkindern werden hier <strong>Institut</strong>ionen- und Laufbahnkinder.<br />
Aus dem in der Vergangenheit zu stark betonten<br />
Schonraum der Kindheit wird jetzt ein Förderraum, der<br />
zusehends von Leistung, Anpassung und Prüfung geprägt ist<br />
(beispielsweise pränatales Englisch-Sprachförderprogramm).<br />
Folgende Fragen stellen sich:<br />
– Wieviel Eigenraum brauchen Kinder, wieviel Förderung<br />
und Anregung brauchen sie? Wie erhalten wir die Lust am<br />
Lernen?<br />
– Wie finden Kinder Orientierung in interreligiösen Kontexten?<br />
– Wie werden Kinder resilient gegenüber den Brüchen, Abund<br />
Umbrüchen in ihren Bindungen?<br />
Der Pisa-Schock und die Wiederentdeckung<br />
der frühkindlichen Entwicklung in der Forschung<br />
Seit der Veröffentlichung der Pisa-Studie steht die frühkindliche<br />
Entwicklung im Mittelpunkt des Interesses. Neue Ergebnisse<br />
aus der neurobiologischen Forschung und der Bildungsforschung<br />
belegen auf bisher noch nicht dagewesener<br />
empirischer Grundlage, dass die wesentlichen Voraussetzungen<br />
für die Ausbildung von kognitiven, emotionalen und sozialen<br />
Kompetenzen in der frühkindlichen Entwicklung gelegt<br />
werden.<br />
Kinder sind Turbo-Lerner: Ausgestattet mit ca. 120 Milliarden<br />
Neuronen sucht das Neugeborene die Wirklichkeit zu konstruieren.<br />
Es versucht, Denk- und Erklärungsmuster zu er-<br />
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