Abb. Sabina Baum<strong>an</strong>n Ohne Titel (aus <strong>der</strong> Steineserie), 2008 Bleistift auf Papier 152 × 120.5 cm
<strong>Gen<strong>der</strong></strong> und Queer Studies <strong>an</strong> <strong>der</strong> K<strong>an</strong>ti Ein Plädoyer ¬ Flori<strong>an</strong> Vock Über Geschlechterrollen gesprochen habe ich im Deutsch- und Englischunterricht d<strong>an</strong>k Ingeborg Bachm<strong>an</strong>n, Audre Lord o<strong>der</strong> Christa Wolf. Auch im Fr<strong>an</strong>zösischunterricht, nicht meine Stärke: Hier findet sich in meinen Archiven noch ein selbstverfasstes H<strong>an</strong>dout mit <strong>der</strong> Überschri ‹L’ém<strong>an</strong>cipation de la femme›, mit eher wirren Textbezügen zu Louise Michel und einer wahnsinnig kreativen Diskussionsfrage: ‹C’est nécessaire de parler de l’ém<strong>an</strong>cipation à l’école?› Ich diskutiere diese Frage nun noch einmal: mit fünf Semestern Soziologiestudium, viel Aktivismus für die Rechte von Queers und einiger Dist<strong>an</strong>z zu meiner alten Schule. Ich war 2006 bis 2010 Schüler <strong>der</strong> K<strong>an</strong>ti Wettingen mit Akzentfach GSW, Schwerpunktfach Biochemie und Ergänzungsfach Philosophie. Explizit mit den <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies konfrontiert wurde ich im Ergänzungsfach: Hier war <strong>Gen<strong>der</strong></strong>, insbeson<strong>der</strong>e die verwirrenden Texte von Judith Butler, einen g<strong>an</strong>zen Block l<strong>an</strong>g ema. Ausgezeichnet <strong>an</strong>geleitet habe ich mit meinen (heterosexuellen) Kolleg_innen kontrovers diskutieren können. Grundsätzlich halte ich <strong>Gen<strong>der</strong></strong> und Queer Studies für wichtig. Für unsere Gesellscha, für das kritische Hinterfragen von Rollenbil<strong>der</strong>n und des eigenen Rollenverhaltens. In den <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies wird Wissen erforscht und vermittelt, das sinnvolle und fundierte Aussagen zu Fragen <strong>der</strong> Geschlechtlichkeit und <strong>der</strong> Sexualität ermöglicht. Das überzeugt eine_n K<strong>an</strong>tonsschullehrer_in verständlicherweise noch nicht. Es gibt bek<strong>an</strong>ntlich ziemlich viel Wissen auf dieser Welt, das alles sehr relev<strong>an</strong>t ist. Für den Unterricht <strong>an</strong> <strong>der</strong> K<strong>an</strong>tonsschule ist die Perspektive <strong>der</strong> <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies aber darum produktiv, weil sie sich ausnahmslos in alle Fächer einglie<strong>der</strong>n lässt (auch und insbeson<strong>der</strong>e in die Naturwissenschaften) und ein Beispiel dafür sein k<strong>an</strong>n, was universitäres Studieren und Forschen bedeutet. Hier drei konkrete Argumente, warum die <strong>Gen<strong>der</strong></strong> und Queer Studies im Unterricht ihre Berücksichtigung finden sollen: I. Methodologisches Verständnis Über den Zug<strong>an</strong>g zu <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies k<strong>an</strong>n vieles ermöglicht werden, was zu einem Verständnis von Forschungsmethoden beiträgt: einerseits die kritische Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung mit gesellschalichen Vorkommnissen, die historische Einordnung aktueller Ereignisse, das Geflecht Individuum und Gesellscha, die Frage nach <strong>der</strong> Normativität und dem Verhalten, etc. – alles, was klassischerweise von Gesellschaswissenschaen untersucht wird; <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits bieten <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies auch den wissenschaskritischen Zug<strong>an</strong>g zu Forschungsmethoden. ‹Wie wird geforscht? Wer entscheidet, was geforscht wird? Wer darf forschen?› Diese Fragen können d<strong>an</strong>k <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies kritisch und sichtbar gestellt werden, um auch den Wissenschasbetrieb und die Wissensproduktion einmal produktiv zu hinterfragen. II. Gesellschaftskritisches Denken Die <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies sind auch ein sp<strong>an</strong>nendes Beispiel, weil sie etwas auslösen, ohne dass mensch dazu jahrenl<strong>an</strong>g studieren muss: Erschütterung über machtvolle und strukturelle Vorgänge in unserer Gesellscha. Mit den <strong>Gen<strong>der</strong></strong> Studies wird es möglich, solcherlei Geschehnisse einzuordnen und sichtbar zu machen. Und zwar auf eine Weise sichtbar, wie es eben bei <strong>an</strong><strong>der</strong>en Fragen <strong>der</strong> Gesellschasforschung viel schwieriger möglich ist: Es sind g<strong>an</strong>z simple Fragen, wie z.B. wer welchen Haarschnitt trägt, wer welche Toilette benutzen muss und keine Röcke tragen k<strong>an</strong>n und wer mit wem im Bett l<strong>an</strong>det? Diese Fragen bieten die Grundlage für einen kritischen Blick auf diese Welt: Wie ist das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit? Welchen H<strong>an</strong>dlungszwängen sind wir unterworfen? III. D<strong>an</strong>k Selbstbewusstsein zur Selbstbehauptung Immer wie<strong>der</strong> muss sich eine Schule von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch die Frage stellen, wie Menschen in ihrer Individualität hinsichtlich Geschlecht und Sexualität unterstützt werden können. Die Suizidrate homo- und bisexueller Jugendlicher ist, je nach Forschung, bis zu zehnmal (!) so hoch wie bei heterosexuellen Kolleg_innen. Klassischerweise steht eine einzelne Person dieser Tatsache eher hilflos gegenüber, trotz <strong>der</strong> Erkenntnis, dass es unter den Schüler_innen viele gibt, die mit ihrer nicht-heteronormativen sexuellen Orientierung und mit ihrer geschlechtlichen Identität überfor<strong>der</strong>t sind. Mit dem Forschungsrahmen <strong>der</strong> <strong>Gen<strong>der</strong></strong> und Queer Studies k<strong>an</strong>n auf dieses ema eingeg<strong>an</strong>gen werden, ohne eine problematisierende, defizitorientierte Haltung einzunehmen. (Wie etwa: Du bist schwul, darum müssen wir darüber reden.) Vielmehr wird d<strong>an</strong>k den mo<strong>der</strong>nsten Erkenntnissen dieser Wissenscha deutlich, dass sowohl geschlechtliche Identität wie auch sexuelle Orien- 15