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Gender an der Mittelschule - PHBern

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<strong>an</strong>gemessene Strategie gewählt. Die fehlerfeindliche Haltung im<br />

gängigen Unterricht ist dafür mitver<strong>an</strong>twortlich. Auch <strong>der</strong> hohe<br />

Zeitdruck, dem sowohl die Lehrpersonen als auch die Lernenden<br />

ausgesetzt sind, trägt zu einem oberflächlichen und stör<strong>an</strong>fälligen<br />

Anlernen bei. Und schliesslich ist die weit verbreitete<br />

kleinschrittige Methodik entl<strong>an</strong>g einer vorgegebenen Stoffsystematik<br />

ein weiterer Faktor, <strong>der</strong> die Haltung <strong>der</strong> ‹erlernten Hilflosigkeit›<br />

för<strong>der</strong>t.<br />

An<strong>der</strong>e Denkstile<br />

Darüber hinaus zeigen die Mädchen ein grösseres Bedürfnis<br />

nach Genauigkeit und Gründlichkeit. Dies könnte mit einer<br />

Präferenz für einen prädikativen Denkstil in Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

stehen (vgl. Seite 23). Darunter wird eine kognitive Struktur verst<strong>an</strong>den,<br />

die eher auf Beziehungsgeflechte und Ordnungsprinzipien<br />

ausgerichtet ist.<br />

Das von den Mädchen geäusserte Bedürfnis, den Unterrichtsstoff<br />

wirklich bzw. richtig verstehen zu wollen, könnte darauf<br />

hindeuten, dass die Mädchen sich ein umfassendes inneres<br />

Bild von <strong>der</strong> Struktur des Gegenst<strong>an</strong>des machen wollen. Dazu<br />

benötigen sie ausreichend viel Zeit. Die oben beschriebenen<br />

‹Haltegriffe› können beim Auau einer in sich stimmigen, vernetzten<br />

internen Repräsentation hilfreich sein und haben damit<br />

möglicherweise die Funktion von Strukturierungshilfen. Der<br />

Wunsch einer Teilgruppe <strong>der</strong> Jungen nach einer Beschleunigung<br />

des Unterrichtstempos und einem weniger gründlichen<br />

Vorgehen könnte dagegen mit einem funktionalen Denkstil in<br />

Zusammenh<strong>an</strong>g stehen. Die Jungen, die sich den For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Mädchen <strong>an</strong>geschlossen haben, verfügen möglicherweise<br />

ebenso wie die Mädchen über einen prädikativen Denkstil.<br />

Sozialisation<br />

Die Vorliebe <strong>der</strong> Mädchen für ein zeitintensiveres und gründliches<br />

Vorgehen im Unterricht könnte auch mit <strong>der</strong> geschlechtertypischen<br />

Sozialisation in Zusammenh<strong>an</strong>g stehen: Mädchen<br />

lernen eher enge, auf Gleichheit basierende Beziehungen aufzubauen.<br />

Dies erfor<strong>der</strong>t eine gründliche Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung mit<br />

den Ged<strong>an</strong>ken <strong>an</strong><strong>der</strong>er, und daraus resultiert möglicherweise<br />

auch das Bedürfnis, Probleme umfassend zu durchdenken (s.<br />

Jungwirth 1992).<br />

Eine weitere mögliche Erklärung für die Wünsche nach<br />

einer Be- bzw. Entschleunigung des Unterrichts könnte auch<br />

noch in einem unterschiedlichen mathematischen Leistungsvermögen<br />

zu finden sein. Da aber auch sehr gute Mathematikschülerinnen<br />

die gleichen Wünsche wie ihre in Mathematik weniger<br />

begabten Geschlechtsgenossinnen geäussert haben, erscheint<br />

mir diese Erklärung für die Mädchen nicht in Betracht<br />

zu kommen. Bei den Jungen hingegen könnte dieser Faktor<br />

durchaus eine Rolle gespielt haben.<br />

nicht Recht hat: ‹Ich habe im Koedukationsunterricht immer<br />

die Erfahrung gemacht: wenn m<strong>an</strong> sich nach den Mädchen richtet,<br />

so ist es auch für die Jungen richtig; umgekehrt aber nicht.›<br />

(Wagenschein 1965)<br />

Zumindest eine Teilgruppe <strong>der</strong> Jungen wird sich sehr l<strong>an</strong>gweilen,<br />

wenn allein den Bedürfnissen <strong>der</strong> Mädchen nachgegeben<br />

werden würde. Zudem: Wäre die Erfüllung aller ihrer Wünsche<br />

überhaupt für die Mädchen gut? M<strong>an</strong>che <strong>der</strong> geäusserten<br />

Bedürfnisse scheinen eher Ausdruck eines fehlenden Selbstvertrauens<br />

zu sein. Ich halte es für sinnvoller, das Selbstvertrauen<br />

<strong>der</strong> Mädchen zu stärken als den Wünschen zu entsprechen,<br />

<strong>der</strong>en Erfüllung sie in ihrer Unselbstständigkeit hält. Nach welchen<br />

Wünschen sollten sich also die Lehrpersonen im Sinne<br />

Wagenscheins richten? Das Kooperationsbedürfnis <strong>der</strong> Mädchen<br />

und ihr Wunsch, im eigenen Tempo arbeiten zu dürfen<br />

(d.h. ohne Zeitdruck), erscheinen mir typisch für ihre Art, sich<br />

den Stoff zu erschliessen (im Sinne eines gründlichen Verstehens<br />

im Austausch mit <strong>an</strong><strong>der</strong>en). Von <strong>der</strong> Berücksichtigung dieser<br />

Wünsche können nicht nur die Mädchen, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Jungen sehr profitieren. Auch einige <strong>der</strong> gewünschten ‹Haltegriffe›<br />

können – wenn sie im Sinne von Strukturierungshilfen<br />

eingesetzt werden – für Mädchen und Jungen sehr hilfreich sein.<br />

Das Führen eines Regelhees, auf freiwilliger Basis zu bearbeitende<br />

zusätzliche Übungsblätter mit <strong>der</strong> Möglichkeit zur Selbstkontrolle<br />

o<strong>der</strong> Probearbeiten werden von Mädchen und Jungen<br />

sehr d<strong>an</strong>kbar aufgenommen. Aber auch mit getrenntgeschlechtlichem<br />

Unterricht habe ich inzwischen gute Erfahrungen<br />

gemacht. Den Bedürfnissen <strong>der</strong> Mädchen konnte in einem<br />

solchen Unterricht stärker nachgegeben werden. Allerdings war<br />

die Jungengruppe sehr inhomogen.<br />

Curriculare Verän<strong>der</strong>ungen allein werden aber vermutlich<br />

nicht ausreichen, um eine gleiche Teilhabe <strong>der</strong> Mädchen bzw.<br />

Frauen im MINT-Bereich zu erzielen. Die fehlende Repräsent<strong>an</strong>z<br />

<strong>der</strong> Mädchen und Frauen in diesem Bereich k<strong>an</strong>n m. E.<br />

nicht losgelöst von <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Geschlechterhierarchie verbundenen<br />

Zuschreibung dieses Bereiches zum männlichen Geschlecht<br />

betrachtet werden. Dennoch ist es lohnenswert, sich<br />

mit kleinen Schritten auf den Weg zu machen …<br />

Dr. phil. Sylvia Jahnke-Klein unterrichtet am Institut für Pädagogik mit<br />

Schwerpunkt Gymnasium <strong>an</strong> <strong>der</strong> Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg.<br />

Artikel übernommen aus: mathematik lehren, Heft 127.<br />

Wir d<strong>an</strong>ken für die Abdruckerlaubnis.<br />

25<br />

Konsequenzen<br />

Aus den vorgestellten Untersuchungsergebnissen ergeben sich<br />

eine Vielzahl von Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung<br />

und die Schulorg<strong>an</strong>isation, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt<br />

werden können (siehe dazu Jahnke-Klein 2001). Insbeson<strong>der</strong>e<br />

die gemeinsamen Wünsche von Mädchen und Jungen<br />

geben konkrete Anregungen für die Verbesserung <strong>der</strong> Unterrichtspraxis.<br />

Doch wie soll mit den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> Mädchen und einer Teilgruppe <strong>der</strong> Jungen umgeg<strong>an</strong>gen<br />

werden? Die Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin,<br />

dass Wagenschein mit seinem vielzitierten Satz vermutlich

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