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freigeist herbst 2013<br />
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freigeist herbst 2013<br />
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das leben in gemeinschaft<br />
- ein traum?<br />
Gedanken zum Thema Gemeinschaft<br />
von Paul Braunstätter.<br />
Paul Braunstätter<br />
ist Bautechniker, geschieden,<br />
Vater eines Schülers der LWS<br />
und zweier mittlerweile erwachsener<br />
Töchter, die ebenfalls die<br />
<strong>Lernwerkstatt</strong> besuchten; Mitbegründer<br />
eines Wohnprojektes im<br />
Bezirk St. Pölten Land.<br />
w<br />
wahrscheinlich träumt jeder<br />
Mensch einmal von der idealen<br />
Gemeinschaft und es ist ein soziales<br />
Grundbedürfnis des Menschen,<br />
in einer Gemeinschaft nach Geborgenheit<br />
zu suchen. Wenn die Gemeinschaft<br />
scheitert, kann daraus jedoch rasch ein<br />
Albtraum werden.<br />
Der Begriff der Gemeinschaft ist ein vielschichtiger<br />
und kann je nach Situation<br />
unterschiedlich definiert werden. Die<br />
wohl ältesten Gemeinschaftsformen sind<br />
die Paarbeziehung (z. B. Adam und Eva<br />
symbolisch als „erste Menschen“ im Alten<br />
Testament genannt) und die Familie im<br />
herkömmlichen Sinn. Die Paarbeziehung<br />
(Ehe oder eheähnliche Gemeinschaft) in<br />
unserer gegenwärtigen mitteleuropäischen<br />
Gesellschaft sollte frei wählbar<br />
sein. Dies war in der Vergangenheit wohl<br />
nicht immer so und in manchen Kulturkreisen<br />
sind Zwangsehen auch heute<br />
noch üblich. Die (Herkunfts-) Familie hingegen<br />
kann man sich nicht aussuchen,<br />
da wird man hineingeboren. Eine andere<br />
alte Form ist die Dorfgemeinschaft, auch<br />
diese kann man sich nicht wirklich wählen,<br />
sofern man in ihr aufwächst.<br />
Unabhängig davon, ob die Zugehörigkeit<br />
zu einer Gemeinschaft aus freiem<br />
Entschluss gewählt oder durch äußere<br />
Umstände gegeben ist, lässt sich die gesuchte<br />
Geborgenheit mehr oder weniger<br />
finden. Jedoch ist es keinem menschlichen<br />
Individuum möglich, jederzeit<br />
in allen sozialen Beziehungen gemeinschaftliche<br />
Ziele zu verfolgen. Oft wird<br />
der Begriff „Gemeinschaft“ daher auch<br />
von Zwangsorganisationen oder einzelnen<br />
charismatischen Personen dazu<br />
missbraucht, Menschen unter dem Vorwand,<br />
dem Interesse der Gemeinschaft<br />
zu dienen, zu bestimmten Handlungen<br />
zu drängen. Der Austritt aus einer Gemeinschaft<br />
kann mitunter schwerfallen,<br />
wird behindert oder als „Untreue“ diffamiert.<br />
In der Geschichte von verschiedensten<br />
Religionsgemeinschaften und<br />
von totalitären Diktaturen lassen sich<br />
dazu zahlreiche Beispiele finden.<br />
Die Motivation für die Gründung einer<br />
Gemeinschaft liegt daher im Spektrum<br />
zwischen Ablehnung von allgemein gesellschaftlichen<br />
Werten und den eigens<br />
bewusst erstellten. Gemeinschaften<br />
werden gegründet und können sich wieder<br />
auflösen.<br />
Zum Begriff des Scheiterns lässt sich<br />
sagen, dass sich dieser von den Verben<br />
„zuscheitern“ und „zerscheitern“ aus<br />
dem 16. Jahrhundert ableitet, d.h. „etwas<br />
in Stücke brechen“. Scheitern kann<br />
aber auch als Chance für einen Neuanfang<br />
gesehen werden oder sogar als<br />
Strukturzusammenbruch, als Normalität<br />
der Abweichung. Der Begriff des<br />
Scheiterns ist daher ebenfalls mit dem<br />
Begriff des Erfolgs gekoppelt. Dieser<br />
wird nur bemerkt, wenn gleichfalls die<br />
Möglichkeit des Scheiterns gegeben ist.<br />
Ein Erfolg, im Sinne der Erfüllung von Erwartungen,<br />
ist meist unwahrscheinlich,<br />
denn nicht immer sind die notwendigen<br />
Voraussetzungen dafür gegeben. Trotz<br />
allem ist es menschlich, eher Erfolg als<br />
Motiv zu bejahen, als ein Scheitern einzugestehen.<br />
Ich habe selbst erfahren, wie aus dem<br />
SCHÖPFERISCH SCHEITERN<br />
Anfangs herrschten Überschwang<br />
und Euphorie vor<br />
- „hatten wir uns doch so viel<br />
vorgenommen“ - doch es gingen<br />
allmählich die tragenden<br />
Kräfte verloren. Das Bild, das<br />
übersinnlich gewoben war, begann<br />
zu verblassen. Der Impuls<br />
jedoch verschwand nie ganz.<br />
Er schuf für viele Menschen<br />
ein einendes - schöpferisches -<br />
Band.<br />
Michael Heinen-Anders,<br />
freier Schriftsteller und Diplom-<br />
Ökonom<br />
Foto:<br />
Traum vom gemeinschaftlichen Leben<br />
ein Albtraum werden kann. Mein persönlicher<br />
Weg des Scheiterns:<br />
Unsere beiden Töchter waren noch im<br />
Vorschulalter, als wir in einer ländlichen<br />
Wohngemeinschaft mit gemeinsamer<br />
Nutzung von Küche, Wohnraum und<br />
Bad lebten. Hier gab es zu wenig Rückzugsbereich<br />
und es war bald klar, dass<br />
diese Gemeinschaftsform nicht lange<br />
bestehen konnte. Wir dachten in dieser<br />
Zeit viel über unsere Vorstellungen einer<br />
Gemeinschaft nach, welche Wünsche wir<br />
hatten und was wir keinesfalls wollten.<br />
Daraus entstand schließlich das Konzept<br />
für ein Wohnprojekt:<br />
Es war die Idealvorstellung vom gemeinsamen<br />
Leben und Arbeiten; getrennte<br />
Wohnungen, jedoch Gemeinschaftsräume,<br />
teilweise landwirtschaftliche Selbstversorgung…<br />
Getragen von Offenheit<br />
für neue Ideen, Ehrlichkeit und Transparenz<br />
in Denken, Kommunikation und<br />
Handeln. Respektvollen Umgang miteinander,<br />
gegenseitiges Vertrauen, Gewaltfreiheit,<br />
Eigenverantwortung und<br />
Achtsamkeit setzten wir voraus. Einige<br />
Familien machten begeistert mit, waren<br />
aber nicht bereit, die definierten Ideale<br />
zu unterstützen, letztlich standen persönliche<br />
Interessen über den Gemeinschaftsinteressen,<br />
es kam zu Intrigen<br />
und Verleumdungen, die jedoch von der<br />
Mehrheit der Gruppe ignoriert wurden.<br />
Auf Grund fortwährender Konflikte und<br />
der Unfähigkeit, diese gemeinsam zu lösen,<br />
wurde die Selbstverwaltung aufgegeben,<br />
nach sieben Jahren ist aus dem<br />
Traum vom gemeinsamen Leben und<br />
Arbeiten eine Wohnungseigentumsgemeinschaft<br />
wie jede andere geworden.<br />
Vielleicht müssen bei der Entstehung<br />
eines solchen Projekts bewusste klare<br />
Konzepte noch viel stärker zuvor erarbeitet<br />
werden, die man für ein zukünftiges<br />
Zusammenleben gar nicht hoch genug<br />
einschätzen kann. Im Vordergrund stehen<br />
zu oft die materiellen Objekte und weniger<br />
ein Einfühlungsvermögen zur bewussten<br />
Wahrnehmung des eigenen Befindens<br />
und das der anderen. Fähigkeiten<br />
wie Verbundenheit und die Bereitschaft<br />
zu Kooperation und Konfliktbehandlung<br />
sind genauso nötig wie Toleranz.<br />
Genauso kommt es vor, dass entscheidende<br />
Informationen nicht an die betroffenen<br />
Personen weiter geleitet werden,<br />
es entstehen Missverständnisse, persönliche<br />
Kränkungen oder andere Kommunikationsunstimmigkeiten.<br />
Man vertraut<br />
auf Umstände, die sich plötzlich ändern.<br />
Ein weiterer Punkt kann sein, dass ein<br />
Mitglied nicht oder nur teilweise die erforderlichen<br />
Fähigkeiten oder das geforderte<br />
Wissen besitzt. Alle diese Umstände<br />
sind nicht besonders förderlich für eine<br />
Verbesserung der Gruppendynamik.<br />
Wie entsteht wirkliche Gemeinschaft in<br />
einer Gruppe von Menschen? Wie kann<br />
ein Zustand hergestellt werden, in dem<br />
sich alle in ihrem Verschieden‐Sein achten,<br />
ein höheres Bewusstsein entsteht<br />
und die Gruppe über die Möglichkeit<br />
der Einzelnen hinausgeht? Nach M.<br />
Scott Peck (Gemeinschaftsbildung:<br />
Der Weg zu authentischer Gemeinschaft)<br />
durchläuft eine Gruppe vier Phasen<br />
auf dem Weg in eine authentische<br />
Gemeinschaft:<br />
die Pseudogemeinschaft,<br />
das Chaos,<br />
die Leere<br />
und schließlich die echte, zuverlässige<br />
Gemeinschaft.<br />
Dieser steinige Weg lässt sich seiner<br />
Ansicht nach nicht abkürzen. Die Pseudogemeinschaft<br />
ist eine Phase oberflächlicher,<br />
unechter Harmonie, wo<br />
Differenzen unter den Teppich gekehrt<br />
werden – eine Phase der Konfliktvermeidung.<br />
Irgendwann lassen sich jedoch<br />
Konflikte nicht mehr vermeiden und das<br />
Chaos entsteht.<br />
Die Formulierung der Gruppenvision<br />
und ein Mindestmaß an Kommunikationsregeln<br />
sollte die Voraussetzung sein,<br />
damit Gruppen in einer Gemeinschaft<br />
erfolgreich existieren können.<br />
Wohnen ist ein Grundbedürfnis, die Toleranzschwelle<br />
liegt daher meiner Erfahrung<br />
nach bei einem Wohnprojekt<br />
niedriger als beispielsweise in einem<br />
Sportverein. Dies hat sich auch durch die<br />
zeitlich parallel dazu gemachten Erfahrungen<br />
in einer anderen Gemeinschaft<br />
bestätigt: der <strong>Lernwerkstatt</strong>. Der Weg<br />
durch diese Gemeinschaft ist mit der<br />
Schulzeit der Kinder begrenzt, die Gruppenzusammensetzung<br />
ändert sich von<br />
Jahr zu Jahr, bewährte Strukturen z. B.<br />
zur Konfliktbehandlung werden jedoch<br />
beibehalten. Indem auf Bewährtem aufgebaut<br />
wird, hat sich im Laufe der Jahre<br />
eine recht stabile Kontinuität entwickelt.<br />
Meines Erachtens ist diese Gemeinschaft<br />
so stabil und lebendig, weil die gemeinsamen<br />
Werte für ihre Mitglieder umfassend<br />
und bewusst sind. Es gibt Raum für<br />
die Entwicklung und die Kreativität jedes<br />
Einzelnen, aber auch Zeiten der Reflexion<br />
und des Rückzugs. Die Mitglieder der<br />
<strong>Lernwerkstatt</strong> fühlen sich verantwortlich<br />
für die Umsetzung ihrer Werte und Visionen.<br />
Das vermittelt ein gewisses Gefühl<br />
der Sicherheit, absoluten Schutz gegen<br />
Scheitern gibt es allerdings nicht.