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freigeist herbst 2013<br />
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unbekannte reformpädagogInnen<br />
jiddu krishnamurti<br />
Um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert war die „Theosophische Gesellschaft“ eine große<br />
spirituelle Gemeinschaft, deren Netzwerk die ganze Welt umspannte. Führende Mitglieder der Gesellschaft<br />
glaubten aufgrund verschiedener Zeichen, dass in naher Zukunft ein „Weltlehrer“ auf der Erde erscheinen<br />
würde, einem Messias gleich. Sie glaubten, diesen Weltlehrer in einem kleinen Jungen in Indien gefunden<br />
zu haben. Sein Name war Jiddu Krishnamurti. Aber es kam alles ganz anders.<br />
Von Rainer Wisiak<br />
j<br />
iddu Krishnamurti wurde 1895 in Südindien<br />
als achtes Kind in eine Brahmanenfamilie<br />
hinein geboren. Als er<br />
zehn Jahre alt war, starb seine Mutter,<br />
worauf er sich sehr an seinen jüngeren<br />
Bruder Nitya klammerte. Sein Vater war<br />
schon viele Jahre lang Mitglied der Theosophischen<br />
Gesellschaft und hatte bei<br />
dieser eine fixe Anstellung in Adyar. Als<br />
der Theosoph Charles Webster Leadbeater<br />
bei einem Spaziergang am Strand von<br />
Adyar um den jungen Krishnamurti eine<br />
ungewöhnlich schöne Aura sah, glaubte<br />
er, aus dem Jungen werde einmal ein<br />
großer spiritueller Lehrer und bat den<br />
Vater um das Sorgerecht für Jiddu und<br />
seinen Bruder Nitya.<br />
Nach der Aufnahme des jungen Krishnamurti<br />
in die Theosophische Gesellschaft<br />
wuchs dieser mit seinem Bruder Nitya<br />
an verschiedenen Orten der Welt auf, ab<br />
1912 vor allem in England. Er erhielt eine<br />
besondere Ausbildung und Erziehung.<br />
1911 wurde der „Order of the Star in the<br />
East“ gegründet, ein Orden, zu dessen<br />
Oberhaupt Krishnamurti ernannt wurde<br />
und welcher ihm den Weg zum wiedergeborenen<br />
Weltlehrer ebnen sollte.<br />
Der völlig unerwartete Tod seines Bruders<br />
aber (dem führende Mitglieder der<br />
Gesellschaft eine wichtige Rolle bei der<br />
Ankunft des Weltlehrers und deshalb ein<br />
langes Leben versprochen hatten) sowie<br />
eine immer größer werdende Kluft<br />
zwischen Krishnamurtis Gedanken und<br />
denen der Theosophischen Gesellschaft,<br />
die schon von einer Weltuniversität und<br />
einer neuen Weltreligion sprach, führten<br />
1929 zum Bruch zwischen Jiddu Krishnamurti<br />
und der Theosophischen Gesellschaft.<br />
Vor dreitausend Mitgliedern des<br />
„Order of the Star in the East“ hielt er am<br />
3. August 1929 folgende Rede, mit der<br />
er die für ihn gegründete Organisation<br />
auflöste und welche schon alle wesentlichen<br />
Standpunkte enthielt, die er für<br />
den Rest seines Lebens vertrat:<br />
„Ich behaupte, dass die Wahrheit ein<br />
Jiddu Krishnamurti (1895 - 1986)<br />
Foto: Krishnamurti Foundation<br />
unwegsames Land ist und dass es keine<br />
Pfade gibt, die zu ihr hinführen – keine<br />
Religionen, keine Sekten. Das ist mein<br />
Standpunkt, den ich absolut und bedingungslos<br />
vertrete. Die Wahrheit ist<br />
grenzenlos, sie kann nicht konditioniert,<br />
sie kann nicht auf vorgegebenen Wegen<br />
erreicht und daher auch nicht organisiert<br />
werden. Deshalb sollten keine Organisationen<br />
gegründet werden, die die Menschen<br />
auf einen bestimmten Pfad führen<br />
oder nötigen. Wenn ihr das einmal verstanden<br />
habt, werdet ihr einsehen, dass<br />
es vollkommen unmöglich ist, einen<br />
Glauben zu organisieren.<br />
Der Glaube ist eine absolut individuelle<br />
Angelegenheit und man kann und darf<br />
ihn nicht in Organisationen pressen.<br />
Falls man es tut, wird er zu etwas Totem,<br />
Starrem; er wird zu Gier, zu einer Sekte,<br />
einer Religion, die anderen aufgezwungen<br />
wird. Die Wahrheit wird zu einem<br />
Konsumgut für die Schwachen, die nur<br />
eine momentane Unzufriedenheit spüren.<br />
Der Mensch kann die Wahrheit nicht<br />
zu sich herabziehen, sondern muss sich<br />
bemühen, zu ihr aufzusteigen. Man kann<br />
den Berggipfel nicht ins Tal holen. …<br />
Ich betone noch einmal, dass keine Organisation<br />
einen Menschen zur Spiritualität<br />
führen kann. Wenn eine Organisation zu<br />
diesem Zweck gegründet wird, so wird<br />
sie zu einer Krücke, die euch schwächt, zu<br />
einem Gefängnis. Solche Organisationen<br />
verkrüppeln das Individuum, hindern es<br />
daran zu wachsen und seine Einzigartigkeit<br />
zu leben, die ja darin liegt, dass<br />
es ganz alleine diese absolute, uneingeschränkte<br />
Wahrheit entdeckt. Das ist ein<br />
weiterer Grund dafür, dass ich mich – da<br />
ich der Präsident des Ordens bin – entschlossen<br />
habe, den Orden aufzulösen.<br />
Niemand hat mich zu dieser Entscheidung<br />
gedrängt oder überredet. Das ist<br />
keine großartige Tat, denn ich will keine<br />
Jünger oder Anhänger; ich meine das so,<br />
wie ich es sage. In dem Moment, in dem<br />
man beginnt, jemandem zu folgen, hört<br />
man auf, der Wahrheit zu folgen. Es ist<br />
mir gleich, ob ihr auf meine Worte hört<br />
oder nicht. Ich will in dieser Welt etwas<br />
ganz Bestimmtes tun, und ich werde<br />
es unbeirrbar tun. Es geht mir um eine<br />
einzige, wesentliche Angelegenheit: die<br />
Befreiung des Menschen. Ich will ihn von<br />
allen Begrenzungen, allen Ängsten befreien<br />
und weder neue Religionen noch<br />
Sekten gründen. …<br />
Ich habe zwei Jahre lang darüber nachgedacht<br />
– langsam, sorgfältig, geduldig<br />
– und ich habe mich nun entschlossen,<br />
den Orden aufzulösen, dessen Leiter ich<br />
zufällig bin. Ihr könnt andere Organisationen<br />
gründen und auf jemand anders<br />
warten. Damit habe ich nichts zu tun. Ich<br />
habe kein Interesse daran, neue Gefängnisse<br />
zu errichten und neue Dekorationen<br />
für diese Gefängnisse zu kreieren.<br />
Mein einziges Interesse liegt in der absoluten,<br />
uneingeschränkten Befreiung des<br />
Menschen.“<br />
Rückzug und Aufbruch zu Neuem<br />
Kurze Zeit später wurden die verschiedenen<br />
Fonds und Stiftungen aufgelöst<br />
und die riesigen Ländereien an die ursprünglichen<br />
Besitzer zurückgegeben.<br />
Jahre des Rückzugs folgten, erst in Indien,<br />
später, während des 2. Weltkriegs,<br />
in den Vereinigten Staaten, wo er viele<br />
Jahre ganz zurückgezogen in Ojai, Kalifornien<br />
lebte. Er zerbrach bewusst sein<br />
Image als kommender Messias und wurde<br />
zunehmend als „spiritueller Philosoph“<br />
betrachtet.<br />
Erst nach 1947 begann Krishnamurti eine<br />
erfolgreiche Reise- und Vortragstätigkeit<br />
in alle Teile der Welt, die mehr und<br />
mehr Menschen anzog. Er verstand es,<br />
westliches und östliches Denken miteinander<br />
zu verbinden. Er traf den Quantenphysiker<br />
David Bohm ebenso zu Gesprächen<br />
wie den Dalai Lama, stand in<br />
freunschaftlichem Kontakt mit Literaten<br />
des Westens wie Aldous Huxley oder<br />
George Bernhard Shaw als auch mit Politikern<br />
des Ostens wie Jawaharlal Nehru<br />
oder Indira und Rajiv Gandhi.<br />
In den siebziger und achtziger Jahren besuchten<br />
oft mehrere tausend Menschen<br />
seine in aller Welt gehaltenen Vorträge.<br />
Der überwiegende Teil der heutigen Literatur<br />
von Krishnamurti besteht aus diesen<br />
niedergeschriebenen Gesprächen,<br />
die er mit den Besuchern seiner Vorträge<br />
führte. In allen Vorträgen spricht er aber<br />
darüber, dass man bezweifeln muss, was<br />
er sagt. Denn nur das, was wir selbst erkennen,<br />
ist wirkliche Einsicht, nicht das,<br />
was wir in Büchern lesen. Das gelte auch<br />
und besonders für seine Bücher. Seine<br />
Aussagen sollten uns stattdessen anregen,<br />
selbst die Wahrheit unseres Lebens<br />
und des Lebens insgesamt herauszufinden.<br />
Dafür sollte auch eine neue Art von<br />
Schulen entstehen, denn in den gegenwärtigen<br />
Schulen ginge es nur um den<br />
Erwerb von Wissen und die möglichst<br />
konfliktfreie Einordnung in die Mechanismen<br />
unserer Gesellschaft mit ihren Wer-