mit VORLÄUFiGER tAGESORDNUNG HALBJAHREStREFFEN
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titelgeschichte<br />
halbes Jahrhundert. Jean-Claude Juncker,<br />
Ministerpräsident von Luxemburg und<br />
zeitweilig EU-Ratspräsident, gibt dazu<br />
im Sommer 2005 einen nicht gerade optimistischen<br />
Kommentar: „Ich glaube<br />
nicht, dass die Generation nach uns in<br />
der Lage sein wird, all die nationalen<br />
Biographien zusammenzuführen, ohne<br />
dass die EU wieder in ihre nationalen<br />
Einheiten zerfällt – <strong>mit</strong> allen Gefahren,<br />
die da<strong>mit</strong> verbunden wären.“ (GM 888)<br />
Ahnt er, sieht er voraus, dass Europa<br />
wenige Jahre später in eine bisher nicht<br />
bewältigte Zerreißprobe gerät? Mit<br />
der Euro-, Banken- oder Schuldenkrise<br />
wurde die Angreifbarkeit und<br />
Verwundbarkeit des kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystems deutlich sichtbar.<br />
„Geld regiert die Welt. = L‘argent<br />
gouverne, mène le monde.“ Sind die<br />
technokratischen Väter der EU den<br />
Verheißungen dieses Sprichworts auf<br />
den Leim gegangen? Derzeit scheint die<br />
tiefere Wahrheit zu lauten: Geld erschüttert<br />
und zertrümmert die geordnete<br />
Welt Europas.<br />
Demnach sind es zwei Gefahren,<br />
die das Weiterbestehen der europäischen<br />
Einheit bedrohen: Das Geld und<br />
die nicht aufgearbeitete gemeinsame<br />
Geschichte. Dabei können sich die bisherigen<br />
Errungenschaften durchaus sehen<br />
lassen: Seit sechzig Jahren herrscht<br />
im größten Teil Europas Stabilität und<br />
Frieden – für Mak „in der Geschichte<br />
ohne Beispiel“ (GM 888). „Eine beispiellose<br />
Bewegung für Demokratisierung<br />
und Menschenrechte“ (GM 888) kommt<br />
dazu.<br />
Darüber hinaus ist „das wichtigste europäische<br />
Modernisierungsprojekt seit<br />
Napoleon“, <strong>mit</strong> etwa 2,5, Millionen neuen<br />
Arbeitsplätzen zu nennen. Um das<br />
Jahr 2000 gilt: „Der Wirtschaftsraum<br />
der EU ist im Augenblick der größte der<br />
Welt.“ (GM 889).<br />
Vor allem – Europa hat eine höhere<br />
Lebensqualität im Vergleich zur amerikanischen<br />
Gesellschaft: (GM 889/890):<br />
• eine durchschnittlich höhere<br />
Lebenserwartung,<br />
• eine niedrigere<br />
Säuglingssterblichkeit,<br />
• weniger Armut,<br />
• mehr Sicherheit,<br />
• wesentlich mehr Freizeit und<br />
Urlaub,<br />
• ein früherer Rentenbeginn,<br />
• großzügigere Sozialleistungen,<br />
• ein festeres soziales Netz.<br />
Nicht zuletzt aus dieser Perspektive<br />
ergibt sich eine günstiges und ermutigendes<br />
Bild. Es fehlt jedoch nicht an negativen<br />
Aspekten: „Nationalstolz und<br />
die Suche nach nationaler Identität“<br />
(GM 890) spielen wieder eine bedeutende<br />
Rolle.<br />
Die Einigung war „zu lange ein technokratisches<br />
Projekt“ (GM 890). „Die<br />
neue europäische Zusammenarbeit<br />
wurde den Gesellschaften Europas vor<br />
allem von oben auferlegt.“ (GM 891). Die<br />
Verwirklichung eines freien Marktes<br />
ist wichtiger als die Gestaltung und<br />
Sicherung friedlicher Beziehungen“. (GM<br />
891)<br />
Das europäische Projekt ist eng <strong>mit</strong><br />
der Globalisierung verbunden, die „von<br />
einer fast religiösen Heilserwartung ‚an<br />
den Markt‘, der alle Probleme lösen soll“<br />
(GM 891) vorangetrieben wird.<br />
„Für viele ist Europa durch die ständige<br />
Erweiterung der Gemeinschaft und<br />
ihres Apparats zu einer undurchschaubaren<br />
Macht geworden.“ GM 891) Geert<br />
Mak beschreibt dies sehr anschaulich:<br />
„Die EU-Richtlinien füllen <strong>mit</strong> insgesamt<br />
80.000 Seiten einen Bücherschrank. Und<br />
sie regeln praktisch alles bis hin zur<br />
Dicke von Fahrradreifen, der Länge von<br />
Fensterputz-Leitern, den Ingredienzien<br />
von Schokolade und der Zubereitung<br />
von Ziegenkäse.“ (GM 895)<br />
Politische Einigung hinkt<br />
ökonomischer hinterher<br />
Schwerer wiegt jedoch die Asymmetrie<br />
zwischen der vollständigen ökonomischen<br />
und der unvollständigen politischen<br />
Einigung Europas. Mit anderen<br />
Worten: Technokratische<br />
Anstrengungen ersetzen die notwendigen<br />
Veränderungen im Bewusstsein<br />
nicht; sie verändern Wahrnehmung<br />
und Einschätzung der anderen Völker<br />
nicht, schon gar nicht Verhalten und<br />
Einstellung zu ihnen.<br />
Jean Monnet, einer der bedeutendsten<br />
Wegbereiter der europäischen Einigung<br />
- man nennt ihn den „Vater Europas –<br />
schrieb 1978 „ … dass die Gemeinschaft,<br />
die wir geschaffen haben, ihr Ziel nicht<br />
in sich selbst hat“. Er fügt hinzu: „ … die<br />
Gemeinschaft ist nur eine Etappe auf<br />
dem Weg zu Organisationsformen der<br />
Welt von morgen.“<br />
Die derzeitige Entwicklung wird dem<br />
nicht gerecht. Europa grenzt sich ab. Es<br />
achtet zunächst auf sich und sein wirtschaftliches<br />
Wachstum. Es verteidigt<br />
seinen Lebensstandard. Es hat erst wenige<br />
Schritte auf dem Weg zu Organisationsformen<br />
der Welt von morgen<br />
zurückgelegt. Nach Mak ist in vieler<br />
Hinsicht das Gegenteil eingetreten von<br />
dem, was Jean Monnet visionär gesehen<br />
und gefordert hat: „Die europäische<br />
Gemeinschaft dient nicht selten als<br />
Festung, als geschlossener Handelsblock,<br />
durch den ärmere Länder in ihrer<br />
Entfaltung behindert und entmutigt<br />
werden.“ (GM 892)<br />
Die derzeit diskutierten Lösungsvorschläge<br />
greifen zu kurz:<br />
• Erhöhung des Eigenkapitals der<br />
Banken,<br />
• Grenzziehungen und mehr<br />
Transparenz bei den Hedgefonds,<br />
• mehr Kontrolle für Börsen und<br />
Ratingagenturen,<br />
• Verbote für Spekulationsgeschäfte,<br />
die der Volkswirtschaft schaden,<br />
• Steuern auf Finanztransaktionen,<br />
• Trennung der Geschäftsbanken von<br />
den Investmentbanken,<br />
• eine Bankenabgabe,<br />
• Aufteilung der Banken, die zu groß<br />
sind, um sie pleitegehen zu lassen.<br />
Wie leicht zu erkennen ist, kreisen<br />
alle diese Überlegungen nur ums<br />
Geld. Ausschließlich auf die finanzielle<br />
Drehscheibe bezogene Ideen, Vorschläge<br />
und Ansätze sollen die Spannungen zwischen<br />
den europäischen Völkern lösen,<br />
seit Jahrzehnten unzureichende<br />
oder verfehlte Wirtschaftspolitik auf<br />
gangbare Wege bringen, die extreme<br />
Schieflage zahlreicher Staatshaushalte<br />
ins Lot bringen.<br />
Einschätzungen, die den Unterschieden<br />
zwischen den verschiedenartigen<br />
Ländern nachgehen, Folgerungen,<br />
die ihnen Rechnung tragen, ethische<br />
Sichtweisen, die wirtschaftspolitische<br />
Vorgehensweisen und Entscheidungen<br />
in ein anderes Licht rücken, relativieren<br />
und korrigieren, nach alternativen<br />
länder- und situationsbezogenen<br />
Lösungsansätzen suchen, sind selten<br />
oder fehlen ganz.<br />
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal<br />
die aufgezeigten Gefahren für<br />
das seine Einigung suchende Europa:<br />
Ausgeprägte, von der historischen<br />
Entwicklung herrührende und durch<br />
sie verstärkte Nationalismen drohen<br />
den Weg zur Einheit zu blockieren.<br />
Finanzielle Forderungen und<br />
Verpflichtungen zwischen den Staaten<br />
8 OTD-Halbjahrestreffen in Walsrode, 18. bis 20. Oktober 2013 | Depesche 136