Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Einleitung 27.10.2010<br />
Die französische <strong>Romantik</strong>, die uns in den kommenden 14 Wochen beschäftigen<br />
wird, ist ohne den europäischen Kontext, in dem sie entsteht, nicht zu begreifen.<br />
Besonders das Verhältnis der französischen <strong>Romantik</strong> zu ihren Vorläufern in<br />
England und Deutschland ist dabei von Bedeutung. Andererseits sind die<br />
Voraussetzungen für die romantische Literatur in Frankreich aufgrund der<br />
gesellschaftlichen Umbrüche, die die Französische Revolution bewirkt hat,<br />
grundlegend andere als in anderen europäischen Ländern.<br />
Der zeitliche Rahmen, in dem wir uns bewegen werden, umfaßt die knapp hundert<br />
Jahre vom letzten Drittel des 18. bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, mit<br />
einem Schwerpunkt allerdings auf der Zeit zwischen 1800 und 1850. Ältere<br />
französische Lehrbücher gehen für Frankreich von einem noch engeren Rahmen aus<br />
und lassen die französische <strong>Romantik</strong> mit Alphonse de Lamartines Gedichtband Les<br />
Méditations von 1820 beginnen und mit dem Bühnenmißerfolg von Victor Hugos<br />
Stück Les Burgraves von 1843 bereits wieder enden. Sieht man sich hingegen die<br />
Geschichte des Wortes „romantique“ im Französischen an, ergibt sich der wesentlich<br />
größere Zeitrahmen, der sich bereits mit Rousseau in den 1770er Jahren öffnet.<br />
Epochengrenzen der französischen <strong>Romantik</strong>: Anfänge<br />
Während sich der Anfang der deutschen <strong>Romantik</strong> ziemlich leicht auf die Zeit um<br />
1798 datieren läßt, als hier in Jena die Gruppe der sogenannten Frühromantiker mit<br />
den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel, mit Novalis, Tieck und<br />
Schleiermacher gemeinsam lebte und arbeitete. Mit der von 1798−1800 in Berlin<br />
erscheinenden Zeitschrift Athenäum hatte diese Gruppe ein eigenes publizistisches<br />
Organ und mit dem gemeinsamen Interesse an Kunst und Literatur eines als<br />
christlich verstandenen Mittelalters einen verbindenden ästhetischen Fluchtpunkt.<br />
Auch in England gilt das Jahr 1798, in dem Wordsworth und Coleridge gemeinsam<br />
die Lyrical Ballads veröffentlichen, als entscheidender Einschnitt.<br />
In Frankreich fehlt ein ähnlich eindeutiges Datum, aber egal, welches Werk oder<br />
welches Datum man ansetzt, man landet in jedem Fall in einem späteren Zeitraum.<br />
Die bereits erwähnten Méditations poétiques von Lamartine sind 1820 erschienen,<br />
der Streit um Victor Hugos Theaterstück Hernani findet im Februar 1830 statt, und<br />
1
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Baudelaire konnte noch 1846 in seiner Besprechung der jährlichen<br />
Gemäldeausstellung, dem Salon de 1846, schreiben: „Pour moi, le romantisme est<br />
l’expression la plus récente, la plus actuelle du beau“ 1 – ‚die <strong>Romantik</strong> ist für mich die<br />
neueste, die aktuelleste Ausdrucksform des Schönen‘. Die Werke eines der<br />
wichtigsten französischen <strong>Romantik</strong>er, diejenigen Gérard de Nervals, erscheinen zum<br />
größten Teil sogar erst nach 1850.<br />
Ein eindeutiges und unstrittiges Anfangsdatum läßt sich für die französische<br />
<strong>Romantik</strong> also nicht nennen, doch lassen sich ästhetische Umwertungsprozesse<br />
beobachten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nehmen und die<br />
sich allmählich zu dem verdichten, was sich dann ab ca. 1830 deutlich als eine<br />
vorherrschend romantische Ästhetik bezeichnen läßt. Die eben genannten Autoren<br />
Lamartine, Hugo und Nerval – und es ließen sich weitere Namen aus der Generation<br />
der zwischen 1790 und 1810 geborenen nennen – beziehen sich ihrerseits auf<br />
literarische Vorgänger, deren um 1800 erschienene Werke sich, gemessen an einem<br />
klassischen, überzeitlich-antikisierenden Ideal, unter vielen Gesichtspunkten als<br />
romantisch bezeichnen lassen, ohne daß diese Autoren den Begriff um 1800 bereits<br />
für sich selbst benutzt hätten. François de Chateaubriands Atala erscheint 1801, sein<br />
Génie du Christianisme 1802, und beide <strong>Text</strong>e werden schon von den Zeitgenossen<br />
als Einspruch gegen die im 18. Jahrhundert vorherrschende neoklassizistische<br />
Ästhetik wahrgenommen, die, in republikanischer Umformung, auch zur Zeit der<br />
Französischen Revolution wirksam geblieben war. Chateaubriand selbst hat übrigens,<br />
wie wir noch sehen werden, einiges dafür getan, um als Theoretiker einer neuen,<br />
christlich definierten Literatur unter Bonaparte zu erscheinen. Daß und warum ihm<br />
das nicht gelingt, werden wir ebenfalls sehen.<br />
Bereits zwei Jahre vor dem Génie du Christianisme war Anfang 1800 ein<br />
epochemachendes Werk einer jungen Frau erschienen, das von einem anderen<br />
politischen Standpunkt aus ebenfalls eine Krise des Klassizismus konstatierte. Es<br />
handelt sich um Germaine de Staëls literatursoziologische Studie De la littérature<br />
considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, in der die zum Zeitpunkt<br />
des Erscheinens vierunddreißigjährige Mme de Staël in einem großen historischen<br />
Wurf, der von der Antike bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert reicht, den Einfluß<br />
der politischen Verhältnisse auf die jeweilige literarische Produktion untersucht.<br />
Damit war eine Absage an die überzeitliche Gültigkeit der ästhetischen Normen der<br />
1 Baudelaire: OC/Pichois, Bd. 2, S. 420.<br />
2
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Antike verbunden, wie sie zu einem der zentralen Merkmale der <strong>Romantik</strong> werden<br />
sollte, ohne daß Mme de Staël deshalb selbst bereits als <strong>Romantik</strong>erin bezeichnet<br />
werden könnte. Aber der Versuch, die ästhetische Produktion vergangener Zeiten<br />
nicht mehr vor dem Hintergrund einer als ewig gültig verstandenen, an der Antike<br />
orientierten Klassik zu beurteilen, sondern aus ihren jeweiligen historischen<br />
Entstehungsbedingungen heraus zu verstehen, macht De la littérature zu einem<br />
wichtigen Ereignis innerhalb der Entwicklung dessen, was man in der<br />
Geschichtsschreibung als Historismus bezeichnet. Nicht mehr die Antike und ihre<br />
Mythologie, sondern die eigene nationale Geschichte, besonders die des Mittelalters,<br />
biete die Stoffe, an denen sich die Literatur zu orientieren habe, wenn sie ein<br />
zeitgenössisches Publikum ansprechen wolle. Es sollte noch gut zwei Jahrzehnte<br />
dauern, bis auch in Frankreich in nennenswerter Zahl Werke entstanden, die sich an<br />
dieser neuen Ästhetik orientierten, aber eine wichtige historische Prämisse war damit<br />
1800 bereits formuliert.<br />
Das philologische Spiel, nach den Ursprüngen eines Begriffs zu suchen, läßt sich<br />
aber natürlich noch fortsetzen. Die Umrisse der französischen <strong>Romantik</strong> an ihren<br />
Anfängen werden dadurch noch unschärfer, aber es gerät ein Autor in den Blick,<br />
ohne den besonders die frühen Werke Mme de Staëls und Chateaubriands nicht zu<br />
verstehen sind. Beide waren aufmerksame und enthusiastische Leser von Jean-<br />
Jacques Rousseau, beide haben mit ihren literarischen Erstlingswerken eine<br />
Huldigung an Rousseau vorgelegt: Mme de Staëls erste eigenständige Publikation<br />
sind eine Reihe von Lettres sur Jean-Jacques Rousseau von 1788, Chateaubriand<br />
veröffentlich 1797 im englischen Exil seinen Essai historique, politique et moral sur<br />
les révolutions anciennes er modernes considérées dans leur rapport avec la<br />
Révolution française, der ein wildes Gemisch aus geschichtsphilosophischen<br />
Betrachtungen und ersten eigenen literarischen Versuchen bildet. Chateaubriand<br />
bringt in dem <strong>Text</strong> bereits erste Passagen aus seinen amerikanischen<br />
Landschaftsschilderungen unter, die er später in seiner Langnovelle oder seinem<br />
Kurzroman Atala und in den Natchez wieder aufnehmen sollte. Diese verschachtelte<br />
Entstehungsgeschichte ist bezeichnend für die Schwierigkeit, einen präzisen Anfang<br />
für die französische <strong>Romantik</strong> zu bestimmen. Auch hier zeigt sich wieder das<br />
allmähliche Zusammenfließen verschiedener Umwertungsprozesse, denn es finden<br />
sich in diesem noch überwiegend der geschichtsphilosophischen Spekulation der<br />
Aufklärung verpflichteten <strong>Text</strong> bereits Einschübe, die später in Werken<br />
Chateaubriands wieder auftauchen, die zu den Gründungstexten der französischen<br />
3
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
<strong>Romantik</strong> zählen, und auf die sich noch Baudelaire berufen sollte. Rousseau gibt im<br />
Essai historique so etwas wie den Hausheiligen ab, mit dessen Schicksal der Autor<br />
sich identifiziert: So wie Rousseau von der Pariser Gesellschaft ausgestoßen und<br />
verfolgt worden sei, so ist der arme Exilant in seiner ärmlichen Londoner Unterkunft<br />
gleich doppelt isoliert, zum einen als von der Französischen Revolution aus<br />
Frankreich Vertriebener, zum anderen als wegen seiner Armut in die englische<br />
Gesellschaft nicht Integrierter.<br />
Rousseau ist aber nicht nur eine unmittelbare Inspiration für die beiden<br />
wichtigsten Autoren, die den Übergang von der Aufklärung zur <strong>Romantik</strong> markieren,<br />
also für Mme de Staël und Chateaubriand, sondern bei Rousseau finden sich auch<br />
einige der ersten Belege im Französischen für den Gebrauch des Wortes<br />
„romantique“ in einem modernen Sinn. Sehen wir uns also die Entwicklung des<br />
Begriffs näher an:<br />
Zur Wortgeschichte<br />
Der heutige, umgangssprachliche Gebrauch des Wortes hat mit der Bedeutung, die<br />
der Begriff im 18. Jahrhundert noch hatte, praktisch nichts mehr gemeinsam. Wenn<br />
man von einem romantischen Abendessen in einem <strong>Romantik</strong>hotel spricht – um nur<br />
ein besonders blödes Beispiel zu bringen – denkt man auch als<br />
literaturwissenschaftlich vorbelasteter Mensch nicht mehr an den Ursprung des<br />
Wortes. Wichtig ist außerdem, daß das Adjektiv „romantique“, ebenso wie die<br />
deutschen und englischen Entsprechungen, schon lange vor der ab 1800<br />
einsetzenden Strömung belegt ist, die schon von den Zeitgenossen als „romantisme“,<br />
„romanticism“, „romanticismo“ oder eben „<strong>Romantik</strong>“ bezeichnet worden ist:<br />
„romantique“ ist also nicht, genauso wenig wie die entsprechenden Adjektive in den<br />
anderen Sprachen, ein von „<strong>Romantik</strong>“ abgeleitetes Adjektiv, sondern das Adjektiv<br />
hat im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Bedeutungserweiterung<br />
mitgemacht, bis es dann in der Jenaer Frühromantik zur Selbstbeschreibung der<br />
ästhetischen Anliegen der Gruppe um die Brüder Schlegel wurde. Von da aus wird<br />
das Wort, u. a. von Mme de Staël, mit der neuen Bedeutung in die französische<br />
Debatte eingebracht. Erst um 1830 gibt es dann im Streit um Hugos Theaterstück<br />
Hernani eine Gruppe von französischen Autoren, vor allem Théophile Gautier und<br />
Gérard de Nerval, die sich selbst als „romantiques“ bezeichnen. Hans Eichner hat<br />
Anfang der 1970er Jahre unter dem Titel ‚Romantic‘ and its Cognates. The European<br />
4
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
History of a Word eine Aufsatzsammlung zur Geschichte dieser Begriffswanderung<br />
veröffentlicht. 2<br />
Was aber hat das Wort vor der Bedeutungserweiterung des späten<br />
18. Jahrhunderts bezeichnet? Es lassen sich grob drei Stationen skizzieren, für deren<br />
Rekonstruktion ich dem Eintrag im 2003 erschienenen 5. Band der Ästhetischen<br />
Grundbegriffe folge.<br />
Die drei Stationen sind in ihrer chronologischen Abfolge, eine erste Phase gegen<br />
Ende des 17.Jahrhunderts, in der das Wort vor allem als Adjektiv für „zum Roman<br />
oder zur Romanze gehörig“ verwendet wird, eine zweite Phase ab dem beginnenden<br />
18. Jahrhundert, in der es sich auf visuelle Medien und Praktiken wie<br />
Landschaftsmalerei und Landschaftsarchitektur bezieht, und eine dritte, in der ersten<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Phase, in der „romantisch“ ein<br />
literarhistorischer Begriff wird, der den Gegensatz zur klassisch-antiken Literatur<br />
markiert<br />
Zur ersten Phase: Im 17. Jahrhundert ist der Begriff in der Form „romanesque“ im<br />
Französischen zum ersten Mal belegt und ist eine Ableitung von den Bezeichnungen<br />
„Romanze“ oder „Roman“ für das entsprechende literarische Medium. Diese<br />
Bezeichnungen gehen ihrerseits ursprünglich, wie auch die Bezeichnung für das Fach,<br />
daß wir alle hier studieren, auf „Rom“ beziehungsweise die „romani“ zurück.<br />
Während damit zunächst der Unterschied zwischen den Römern und den von ihnen<br />
beherrschten Völkern bezeichnet wird, verkehren die im Mittelalter entstehenden<br />
Verbformen „enromancier“, „romancar“ oder „romanzare“ dieses Verhältnis und<br />
bezeichnen nun das Übertragen von Büchern aus der lateinischen Gelehrtensprache<br />
in die neu entstandenen romanischen Volkssprachen. Die so entstandenen <strong>Text</strong>e<br />
heißen dann „romanz“, „romant“ oder „romanzo“. Noch im späten 18. Jahrhundert<br />
ist dieser Zusammenhang bewußt, wie beispielsweise Sulzers Wörterbuch von 1774<br />
zeigt, in dem es heißt „Romanze“ sei das, „was wir itzt durch Roman verstehen“ und<br />
das leite sich „von der Romanschen, oder verdorbenen lateinischen Sprache her, in<br />
welcher die provenzalischen Poeten zuerst geschrieben haben“. 3<br />
Im 17. Jahrhundert beschreibt der Begriff dann vor allem die Literatur der<br />
Ritterromane des Spätmittelalters und wird im Sinne von „romanhaft“ als „erfunden“<br />
oder „unwahr“ verstanden. In diesem Zusammenhang taucht es auch im deutschen<br />
2 Toronto 1972.<br />
3 Sulzer Bd. 4 (1794), S. 110, Ästh.Grundbegr. Bd. 5, S. 317.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Sprachraum zuerst auf und wird sogleich negativ besetzt. Der Schweizer Theologe<br />
Gotthard Heidegger veröffentlicht 1698 eine Polemik gegen die Romanlektüre unter<br />
dem Titel Mythoscopia romantica oder Discours von den so benanten Romans das<br />
„begirrliche Lesen des Buchs der Wahrheit der heiligen Schrift“, also die Lektüre der<br />
Bibel, als die einzig statthafte Lektüre empfiehlt, während die „eitelen romantischen<br />
Belustigungen“ nur „Oehl zu dem Feuer unserer Begirden schütten“ und deshalb „die<br />
Romantische und alle andere Zeitvertreibe das Gemüth rechtschaffen anstincken“,<br />
also die Seelenruhe durch Erregung gefährden. Dies entspricht in etwa dem<br />
vorherrschenden, unmittelbar an die Romane gebundenen Gebrauch des Worts im<br />
17. und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, und ist dann immer negativ als<br />
Bezeichnung für Unwahres, Phantastisches, Unnatürliches, Künstliches oder<br />
Unmoralisches zu verstehen, wie es sich vor allem in den Abenteuerromanen oder<br />
den empfindsamen Romanen des 18. Jahrhunderts finde.<br />
Schon im frühen 18. Jahrhundert – und damit beginnt die zweite größere Phase<br />
der Geschichte des Begriffs – finden sich aber auch Belege, in denen das Wort als<br />
Bezeichnung für Naturwahrnehmung dient. Ausgehend von den in den<br />
Ritterromanen evozierten Landschaften, bezeichnen romantische Landschaften nun<br />
zunehmend solche, die ihren einsamen Betrachter absorbieren und ihn zwingen, die<br />
außer ihm wirksame Macht der Natur zu verehren. Durch den unmittelbaren Bezug<br />
auf Natur und Landschaft verliert sich die einseitige Bindung an das literarische<br />
Medium und eine Fülle vager Nebenbedeutungen lagert sich an das Wort an. Der<br />
englische Philosoph Shaftesbury benutzt das Wort 1709 in der Fügung „romantick<br />
way“ und verwendet es als Synonym für Enthusiasmus, Schwärmerei, Melancholie<br />
oder poetische Ekstase, wie sie besonders bei Liebenden, Künstlern oder Dichtern zu<br />
beobachten seien. 4 „Romantick“ meint in diesem Sinne Eigenschaften der rustikalen,<br />
wilden, erhabenen und schreckenerregenden Natur im Gegensatz zur domestizierten,<br />
wie sie ein symmetrischer französischer Garten bieten würde. Schroffe Felsen, steile<br />
Berge, reißende Wasser, Einöden oder Abgründe können so in englischen<br />
Landschaftsbeschreibungen schon im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts als<br />
„romantick“ bezeichnet werden. In James Thomsons europaweit rezipiertem<br />
Landschaftsgedicht The Seasons von 1730 ist die eigentlich romantische Landschaft<br />
das Hochgebirge, weil es die Gegensätze von Wildheit und Schönheit vereinige.<br />
Insbesondere die Alpen, die unter diesem Aspekt im 18. Jahrhundert eigentlich erst<br />
4 Shaftesbury: The Moralists (1709).<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
entdeckt werden, werden in dieser Zeit auch zur typisch „romantischen“ Landschaft.<br />
Auch die um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Mode der englischen<br />
Gärten, deren Auswirkungen wir heute noch im Weimarer Park an der Ilm<br />
beobachten können, ist mit dieser visuellen, auf Landschaft bezogenen Bedeutung<br />
von „romantisch“ verbunden.<br />
In dieser auf Landschaft bezogenen, visuell konnotierten Bedeutung gelangt der<br />
Ausdruck um 1770 auch nach Frankreich. Der französische Shakespeare-Übersetzer<br />
Pierre Letourneur benutzt den neuen Begriff zur Beschreibung von Gartenkunst und<br />
Malerei und übersetzt ihn als „romantique“, während er das bereits existierende<br />
„romanesque“ für literarische Bezüge beibehält. In seinem 1777 erschienenen Werk<br />
über Landschaftsarchitektur, De la composition des paysages, benutzt dann auch<br />
René-Louis de Girardin, ein Freund und Mäzen von Rousseau, das Wort in diesem<br />
Sinn: Er unterscheidet literarische Assoziationen, die er „poetisch“ nennt, und<br />
malerische, die er als „romantique“ bezeichnet. Auf Girardins Musterlandsitz<br />
Ermenonville ist Rousseau 1778 gestorben, und wahrscheinlich kannte er Girardins<br />
Gebrauch des Wortes bereits, als er in seinen letzten zwei Lebensjahren an den<br />
Rêveries du promeneur solitaire schrieb. In der 1782 erstmals erschienenen Schrift<br />
taucht jedenfalls die Stelle auf, die bis heute als der wichtigste frühe Beleg für das<br />
Wort „romantique“ im Französischen gilt. Im fünften Spaziergang findet es sich zur<br />
Beschreibung der Landschaft um den Bieler See im Vergleich zu der um den Genfer<br />
See: „Les rives du lac de Bienne sont plus sauvages et romantiques que celles du lac<br />
de Genève, parce que les rochers et les bois y bordent l’eau de plus près; mais elles ne<br />
sont pas moins riantes“. Rousseau verwendet „romantique“ also hier als Synonym<br />
von „sauvage“, und beides, um den Eindruck zu fassen, den die ans Wasser des Sees<br />
reichenden Felsen und Wälder auslösen.<br />
Daß auch für die Frühromantiker in Jena dieser Zusammenhang des Wortes<br />
„romantisch“ zur Beschreibung von Landschaftseindrücken noch ganz präsent war,<br />
zeigt eine Formulierung von August Wilhelm Schlegel, der 1800 Horace Walpoles<br />
History of the Modern Taste in Gardening von 1780 übersetzt hat. Bei aller<br />
Sympathie für den englischen gegenüber dem französischen Garten, merkt Schlegel<br />
dennoch einschränkend an, daß eine eigentliche Verschönerung der Natur auch im<br />
englischen Garten kaum möglich sei, da die Natur ohne menschliches Zutun bereits<br />
die eindrucksvollsten Szenen geschaffen habe:<br />
[…] wer sich einbildete, etwas Schöneres in einer gewissen Art hervorbringen zu können,<br />
als die Natur irgendwo ohne menschliche Absicht schon veranstaltet hat, müßte entweder<br />
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sehr vermeßen sein, oder wenig große Naturscenen gesehen haben. Wie kleinlich fällt<br />
immer in künstlichen Anlagen was wild und erhaben sein soll, als Felsen, Stromfälle,<br />
Ruinen, gegen die Wirklichkeit aus! Es scheint also verständiger, zur Natur hinzugehen,<br />
als sie auf eine mühsame und kümmerliche Art zu sich herkommen zu laßen. Die<br />
zahlreichen Villen der Römer, in den üppigsten Gegenden Italiens, um von jeder<br />
Jahreszeit die Blüthe zu genießen, waren ein ganz anderer Luxus, als ein englischer<br />
Landsitz, der die Eigenthümlichkeiten verschiedener Land- und Himmelsstriche in sich<br />
vereinigen soll. […] wer ein Landhaus mit einem bequemen Gärtchen am Meerbusen von<br />
Neapel oder am Genfersee bewohnt, darf gewiß den<br />
geräumigsten und am meisten auf’s Romantische angelegten Park nicht beneiden. 5<br />
Noch 1800 benutzt Schlegel den Begriff also zumindest auch noch ganz so wie<br />
Rousseau 1777, und auffälligerweise auch mit dem Genfer See als Beispiel. Wenige<br />
Jahre später wird Schlegel in seinen <strong>Vorlesung</strong>en über dramatische Kunst und<br />
Literatur, einem der europaweit folgenreichsten Bücher für die Verbreitung<br />
romantischer Theoriebildung, noch einmal auf die Gartenterminologie zurückgreifen,<br />
um damit die Überlegenheit zweier romantischer Modellautoren, Shakespeares und<br />
Calderóns, gegenüber der französischen Klassik Corneilles und Racines in ein Bild zu<br />
fassen. Die von Schlegel besonders vehement abgelehnte französische Tragödie des<br />
17. Jahrhunderts, die zur Zeit der Abfassung seiner <strong>Vorlesung</strong>en – also im Jahr 1808<br />
– im napoleonischen Frankreich von der offiziellen Ästhetik immer noch als<br />
mustergültig hochgehalten wurden, stand in diesem Bild natürlich auf der Seite des<br />
geregelten und deshalb langweiligen französischen Gartens. Die französischen<br />
Tragödien stünden, so Schlegel,<br />
in der Theorie der tragischen Kunst ungefähr auf dem Punkte, wo sie in der Gartenkunst<br />
zur Zeit des Lenotre standen . Das ganze Verdienst wird in einen der Natur durch die Kunst<br />
abgezwungenen Triumph gesetzt. Die Regelmäßigkeit begreifen sie bloß als eine<br />
abgezirkelte Symmetrie schnurgerader Bäume, beschnittener Hecken u.s.w. Vergeblich<br />
würde man sich bemühen, den Baumeistern solcher Gärten an einem englischen Park<br />
einen Plan, eine versteckte Ordnung begreiflich zu machen, und ihnen zu zeigen, wie eine<br />
Reihe von Landschaftgemählden, die durch ihre Stufenfolge, ihren Wechsel und ihre<br />
Gegensätze einander heben, alle auf Erregung einer gewissen Gemüthsstimmung<br />
abzwecken. 6<br />
„Romantisch“ bedeutet also für Schlegel hier sowohl in der Landschaftsarchitektur<br />
als auch in der Bühnenästhetik so viel, wie die Freiheit gegenüber einem<br />
unnatürlichen, künstlichen Regelzwang. Die Positionen August Wilhelm Schlegels<br />
sind auch für die französische Literatur von unmittelbarer Bedeutung, weil Schlegel<br />
seit 1804 der ständige Begleiter und literarische Ratgeber von Mme de Staël war. Sie<br />
hatte ihn, auf eine Empfehlung hin, die Goethe ihr Anfang 1804 in Weimar gegeben<br />
5 AWS: Vorrede zu Horatio Walpole’s historischen, literarischen u. unterhaltenden Schriften,<br />
übersetzt von A.W.Schlegel. Leipzig bei Hartknoch 1800. Hier nach der Ausgabe AWS/Böcking<br />
(1846), Bd. 8, S. 62.<br />
6 AWS: <strong>Vorlesung</strong>en über dramatische Kunst und Literatur.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
hatte, in Berlin als Hauslehrer ihrer Kinder engagiert und ihn umgehend auf ihr<br />
Schloß Coppet am Genfer See mitgenommen. Die <strong>Vorlesung</strong>en über dramatische<br />
Kunst und Literatur, aus denen die eben zitierte Passage stammt, hat Schlegel 1808<br />
in Wien gehalten, wo ihm Mme de Staël bei einem längeren gemeinsamen Aufenthalt<br />
einen Vortragssaal gemietet hatte. Wir werden auf diese deutsch-französischen<br />
Transferprozesse noch zurückkommen. Zunächst aber wieder zur Geschichte des<br />
Begriffs „romantisch“ und zur dritten Phase seiner Entwicklung.<br />
Schon vor dem Beginn der deutschen und englischen <strong>Romantik</strong> am Ende des<br />
18. Jahrhunderts ist „romantisch“ zwischen 1750 und 1770 in England zu einem<br />
literarhistorischen Begriff geworden. Zunächst wird damit bei einem Autor wie<br />
Thomas Warton in seinem 1774 erschienenen Of the Origine of Romantic Fictions die<br />
Eigenständigkeit von Renaissanceautoren wie Tasso oder Ariosto, später auch<br />
Spenser, Shakespeare und Milton, gegenüber der klassisch-antiken Tradition betont.<br />
An Wartons Überlegungen knüpfen in Deutschland Heinrich Wilhelm von<br />
Gerstenberg in seinen Briefen über die Merkwürdigkeit der Literatur von 1766 und<br />
besonders Herder in verschiedenen Schriften der 1760er und 1770er Jahre an. Bei<br />
Herder, der 1766 eine Skizze zu einem Aufsatz mit dem Titel Vom gotischen<br />
Geschmack anfertigt, werden „romantisch“ und „gotisch“ weitgehend synonym<br />
gebraucht und gemeinsam gegen den französischen Klassizismus in Anschlag<br />
gebracht, der sich seinerseits als Fortsetzung und Vollendung der klassischen Antike<br />
inszeniert. Wie wir noch sehen werden, ist damit bereits eine Grundopposition<br />
angelegt, die im Streit um die <strong>Romantik</strong> in Frankreich nach 1800 durchgängig<br />
wirksam und in der Lage ist, bis etwa 1830 für heftige Debatten zwischen den<br />
Vertretern einer als authentisch französisch aufgefaßten Klassik und den<br />
<strong>Romantik</strong>ern zu sorgen. Letztere verstanden sich selbst als kulturelle Avantgarde,<br />
während sie von den französischen Klassizisten als Anhänger unfranzösischer<br />
ästhetischer Prinzipien diffamiert wurden.<br />
Wir können also festhalten, daß der Begriff „romantisch“ bereits weitverbreitet<br />
und äußerst facettenreich entwickelt ist, als die Jenaer Frühromantiker um die<br />
Brüder Schlegel ihre programmatischen Schriften verfassen. In einem berühmten<br />
Brief von 1797 schreibt Friedrich denn auch an August Wilhelm: „Meine Erklärung<br />
des Worts Romantisch kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie – 125 Bogen lang ist.“<br />
Um die Pointe dieser Formulierung zu verstehen, muß man wissen, daß ein<br />
Druckbogen 16 Buchseiten umfaßt, daß also „125 Bogen“ ein Buch von gut 2000<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Seiten ergeben würden. Friedrich Schlegel hatte natürlich nicht vor, ein solches Buch<br />
zu verfassen, sondern deutete damit bloß an, daß die Diskussion dieses Begriffs schon<br />
1797 uferlos geworden wäre.<br />
In Frankreich setzt eine wirkliche Debatte um den Begriff und um die damit<br />
verbundenen ästhetischen und politischen Positionen erst nach dem Ende der<br />
napoleonischen Herrschaft und in Reaktion auf Mme de Staëls 1814 in der<br />
französischen Fassung erschienenes Buch De l’Allemagne ein. Wir werden uns dieser<br />
Debatte und ihrer weiteren Entwicklung in den nächsten Wochen in ihrem jeweiligen<br />
Kontext noch öfter zuwenden, für heute sollen nur noch ausblicksartig weitere<br />
entscheidende Stationen skizziert werden: Nach dem durch De l’Allemagne<br />
ausgelösten Streit um 1814 sind die beiden Fassungen von Stendhals Racine et<br />
Shakespeare zu beachten, die 1823 und 1825 erscheinen. Um 1825 verbinden sich<br />
dann Positionen eines politischen und ökonomischen Liberalismus mit den<br />
ästhetischen Forderungen der <strong>Romantik</strong>, so daß sich politische und literarische<br />
Programmatik bei den wichtigsten <strong>Romantik</strong>ern, wie Stendhal oder Hugo, parallel<br />
entwickeln. In der liberalen Zeitschrift Le Globe veröffentlicht Ludovic Vitet 1825<br />
einen Artikel, in dem er diese Parallelität auf die Formel bringt, die <strong>Romantik</strong> sei<br />
„l’indépendance en matière de goût“, also die Unabhängigkeit in Fragen des<br />
Geschmacks, und daß man auch auf diesem Gebiet einen 14. Juli, also gweissermaßen<br />
die Erstürmung der Bastille des Klassizismus, zu erwarten habe. Ganz ähnlich spricht<br />
Victor Hugo im programmatischen Vorwort zu seinem Drama Cromwell von 1827<br />
vom „ancien régime littéraire“ und bezeichnet damit den Klassizismus als die<br />
ästhetische Entsprechung der Herrschaftsform, die mit der Französischen Revolution<br />
ab 1789 untergegangen war. Es konnte, so sollten solche Formeln suggerieren, nur<br />
noch eine Frage der Zeit sein, bis nach dem Tod der alten politischen Ordnung auch<br />
deren anachronistische Ästhetik untergehen würde. Den geradezu offiziellen<br />
Durchbruch erzielte die <strong>Romantik</strong> in Frankreich dann 1830 mit dem Streit um Hugos<br />
Drama Hernani, in dessen Vorwort sich die Verbindung von <strong>Romantik</strong> und<br />
Liberalismus ausdrücklich ausgesprochen fand und das eine das andere<br />
gewissermaßen definierte: „Le romantisme, tant de fois mal défini, n’est, à tout<br />
prendre, et c’est là sa définition réelle, si l’on ne l’envisage que sous son côté militant,<br />
que le libéralisme en littérature“ – die <strong>Romantik</strong>, die man so oft falsch definiert habe,<br />
sei also, alles in allem, nichts anderes als der Liberalismus in der Literatur.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
In einem etwas schematischen Vergleich zwischen den Anfängen der deutschen<br />
<strong>Romantik</strong> um 1800 und denen der französischen in den 1820er Jahren ließe sich<br />
sagen, daß die deutsche <strong>Romantik</strong> zunächst eine eminent philosophische Ausrichtung<br />
hat, wie sich gerade an der Jenaer Frühromantik und Namen wie Schelling,<br />
Schleiermacher oder Friedrich Schlegel festmachen läßt. In Frankreich hingegen<br />
lassen sich hinter den ästhetischen Positionen der Vertreter der romantischen<br />
Richtung von Anfang an sehr präzise politische Programmatiken ausmachen. Nicht<br />
zufällig sind, schon bevor in den 1820er Jahren dieser Zusammenhang explizit wird,<br />
bereits zahlreiche Vorläufer der französischen <strong>Romantik</strong> wie Mme de Staël, Benjamin<br />
Constant oder Simonde de Sismondi auch Vordenker des europäischen Liberalismus<br />
im 19. Jahrhundert.<br />
Ausblick auf die nächste Woche: Die Erfindung des „Préromantisme“<br />
Die zentrale Bedeutung der kulturellen Transferprozesse für ein angemesenes<br />
Verständnis der <strong>Romantik</strong> in allen europäischen und später auch außereuropäischen<br />
Kulturen – besonders in Nord- und Lateinamerika–, eine Bedeutung, die uns heute<br />
als eine Selbstverständlichkeit erscheint, ist von den nationalen<br />
Literaturwissenschaften vom späten 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, oft mit<br />
erstaunlicher Borniertheit, ignoriert oder sogar geleugnet worden. So, wie sich viele<br />
Autoren in Deutschland ab dem Kaiserreich Mühe gaben, das spezifisch deutsche<br />
Wesen einer <strong>Romantik</strong> zu definieren, die sie als unabhängig von französischen<br />
Einflüssen darstellen wollten, so hat man in Frankreich in etwa demselben,<br />
nationalistisch geprägten Zeitraum versucht, die außerfranzösischen Inspirationen zu<br />
leugnen, die zur Entwicklung der französischen <strong>Romantik</strong> ab 1830 geführt haben.<br />
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, um 1910, ist in dieser Absicht unter politisch<br />
konservativen französischen Literaturhistorikern das Konzept des französischen<br />
„Préromantisme“ aufgekommen, das besagt, daß die französische <strong>Romantik</strong> weder<br />
die Französische Revolution und deren politische Folgen als Initialzündung noch die<br />
deutsche <strong>Romantik</strong> als Inspiration gebraucht habe, da alles, was die französische<br />
<strong>Romantik</strong> ab 1820 charakterisiert habe, bereits im Kern in der empfindsamen,<br />
sentimentalen Seite der französischen Kultur des 18. Jahrhunderts um 1750 angelegt<br />
gewesen sei. Die französische <strong>Romantik</strong> sei also ein rein nationales Gewächs, das sich<br />
auch ohne äußere Einflüsse hätte entwickeln können.<br />
11
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Auch wenn eine solche Sichtweise natürlich Unsinn ist, lohnt es sich, einige der<br />
Autoren und kulturellen Phänomene, auf die sich die Préromantisme-These stützt,<br />
näher zu betrachten, da umgekehrt auch das politische und intellektuelle Klima, das<br />
um 1800 zur deutschen romantischen Bewegung geführt hat, ohne Inspirationen wie<br />
Rousseau oder die Französische Revolution kaum denkbar gewesen wäre.<br />
Zur Vorbereitung können Sie sich für die nächste Woche die bereits kurz<br />
erwähnten Rêveries du promeneur solitaire von Rousseau in einer beliebigen<br />
Ausgabe ansehen. Der <strong>Text</strong> ist auch online verfügbar.<br />
12
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
2.11.2010<br />
A) Wiederholung der zentralen Punkte vom letzten Mal<br />
B) Rousseau und die „Präromantik“<br />
Das 18. Jahrhundert aus der Sicht des 19.<br />
Das Verhältnis der <strong>Romantik</strong> zur vorangehenden Epoche der Aufklärung scheint auf<br />
den ersten Blick das eines nahezu vollständigen Gegensatzes zu sein. Den Klischees<br />
von der irrationalen, individualistischen und zur Nachtseite der Dinge neigenden<br />
<strong>Romantik</strong> stehen die Klischees von der hellen, vernunftorientierten und auf die<br />
Gesellschaft bezogenen Aufklärung gegenüber. Wie es meistens der Fall ist, stimmt<br />
an diesen Klischees so gut wie gar nichts. Die Selbstinszenierung der Autoren des<br />
frühen 19. Jahrhunderts neigte in vielen Fällen dazu, die eigene intellektuelle<br />
Verbundenheit mit dem 18. Jahrhundert herunterzuspielen und die Revolution als<br />
einen nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Bruch darzustellen, nach dem<br />
auch literarisch nichts mehr so gewesen sei wie davor. Etwas schematisch könnte<br />
man sagen: Die Revolutionäre ab 1789 hatten sich auf Voltaire und Rousseau<br />
berufen, also mußten spätestens mit dem Ende der Revolution auch diese<br />
Bezugsgrößen überholt sein.<br />
Natürlich war schon das Bild von Voltaire und Rousseau, das sich die Revolution<br />
zurechtgemacht hatte, eine weitgehend unangemessene Verkürzung, die dann noch<br />
einmal reduziert wurde, als sich die Literaten des frühen 19. Jahrhunderts von dieser<br />
Tradition verbal zu distanzieren versuchten, um die eigene Originalität um so<br />
deutlicher herauszustellen. In seinen in den 1840er Jahren erschienenen Mémoires<br />
d’outre-tombe schreibt François de Chateaubriand in einer Passage, die angeblich<br />
bereits 1821 geschrieben wurde (aber man weiß, daß Chateaubriand den <strong>Text</strong> bis zur<br />
Veröffentlichung immer wieder überarbeitet hat):<br />
Lorsque je relis la plupart des écrivains du dix-huitième siècle, je suis confondu, et du bruit qu’ils<br />
ont fait et de mes anciennes admirations. Soit que la langue ait avancé, soit qu’elle ait rétrogradé,<br />
soit que nous ayons marché vers la civilisation, ou battu en retraite vers la barbarie il est certain<br />
que je trouve quelque chose d’usé, de passé, de grisaille, d’inanimé, de froid dans les auteurs qui<br />
firent les délices de ma jeunesse. Je trouve même dans les plus grands écrivains de l’âge voltairien<br />
des choses pauvres de sentiment, de pensée, de style.<br />
13
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
À qui m’en prendre de mon mécompte ? J’ai peur d’avoir été le premier coupable ;<br />
novateur né, j’aurai peut-être communiqué aux générations nouvelles la maladie dont<br />
j’étais atteint. 7<br />
Denkt man sich das jeweilige Gegenteil zu den Attributen, mit denen FDC die<br />
Literatur des 18. Jahrhunderts versieht, erhält man in etwa eine Charakteristik<br />
dessen, was er für modern und, wenn man den Schluß des Zitats sieht, vor allem als<br />
bezeichnend für seinen eigenen Stil hält: nicht „usé“, sondern frisch und<br />
unverbraucht, nicht vergangen, passé, sondern aktuell, nicht grisaille-grau, sondern<br />
farbig, nicht „inanimé“, sondern lebendig, nicht „froid“, sondern warm. Selbst die<br />
größten Schriftsteller des 18. Jahrhunderts erscheinen ihm im Rückblick arm an<br />
Gefühl, Gedanken und Stil. Er selbst sei aber, wie er im letzten Absatz andeutet, dafür<br />
verantwortlich, daß das 18. Jahrhundert mittlerweile so erscheine, da er als ein<br />
‚geborener Erneuerer‘ den neuen Generationen die ‚Krankheit‘ übertragen habe, an<br />
der er selbst gelitten habe. Was für eine Krankheit das sein könnte, werden wir uns<br />
noch öfter zu fragen haben, aber wichtig ist, daß sie anscheinend positiv zu verstehen<br />
ist und der neuen Literatur nach Chateaubriand die Eigenschaften zu verleihen im<br />
Stande ist, durch die sie sich von der Literatur des 18. Jahrhunderts unterscheidet.<br />
In einem Eintrag von 1822 benutzt Chateaubriand dann auch bereits das Wort,<br />
das uns interessiert, um die neue Literatur zu bezeichnen. Das, was man im Eintrag<br />
von 1821 aus der Reihe der Attribute für das 18. Jahrhundert im Umkehrschluß als<br />
Eigenschaften der neuen Literatur verstehen konnte und was Chateaubriand am<br />
Ende mit der Krankheit in Verbindung gebracht hatte, nennt er nun die „littérature<br />
romantique“:<br />
La littérature du dix-huitième siècle, à part quelques beaux génies qui la dominent, cette<br />
littérature, placée entre la littérature classique du dix-septième siècle et la littérature<br />
romantique du dix-neuvième, sans manquer de naturel, manque de nature ; nouée à des<br />
arrangements de mots, elle n’est ni assez originale comme école nouvelle, ni assez pure<br />
comme école antique. 8<br />
Das achtzehnte Jahrhundert repräsentiere also bestenfalls eine Zeit des Übergangs<br />
zwischen dem noch klassischen 17. und dem bereits modern-romantischen<br />
19. Jahrhundert. Die französische Literatur als Ganze hätte damit gewissermaßen den<br />
Streit, der im 17. Jahrhundert als Querelle des Anciens et des Modernes bezeichnet<br />
wurde, in sich aufgenommen und im Laufe von drei Jahrhunderten zugunsten der<br />
Positionen der Modernen entschieden. Sieht man sich aber die Herkunft der<br />
Kriterien an, die für Chateaubriand dieses Romantisch-Moderne ausmachen, wird<br />
7 FDC: MOT Teil 1, Buch 4, Kap. 12<br />
8 FDC: MOT I, Buch 11, Kap. 2.<br />
14
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
der Gegensatz weniger eindeutig: positiv wäre, wenn man die beiden Äußerungen<br />
zusammennimmt, „sentiment“, „pensée“, „style“, in einem gewissen Sinn auch<br />
„maladie“, und auf jeden Fall die „nature“ gegenüber dem bloßen „naturel“. Nun geht<br />
aber die emphatische Aufwertung von „sentiment“ und „nature“ nicht auf<br />
Chateaubriand zurück, sondern auf einen der Autoren, die für die angeblichen Übel<br />
des 18. Jahrhunderts verantwortlich sind, nämlich auf Rousseau.<br />
Die Selbstverständlichkeit, mit der Chateaubriand in diesem angeblich 1822<br />
geschriebenen <strong>Text</strong> von der „littérature romantique“ spricht, ist ein recht deutliches<br />
Indiz dafür, daß er die Passage in den 1840er Jahren noch einmal überarbeitet hat.<br />
Sieht man sich nämlich dagegen eine Abrechnung Victor Hugos mit dem<br />
18. Jahrhundert an, die mit Sicherheit von 1824 stammt, dann ist der Gebrauch des<br />
Wortes für die eigene literarische Produktion da noch wesentlich zurückhaltender<br />
und nur indirekt formuliert. In einem Nachruf auf den 1824 verstorbenen Lord<br />
Byron, der europaweit für die modernste Ausdrucksform der zeitgenössischen<br />
Literatur stand, hatte Hugo im selben Jahr geschrieben, daß die Literatur des<br />
18. Jahrhunderts mittlerweile vollkommen tot sei und daß nur noch literarische<br />
Betrüger behaupten könnten, es gebe eine lebendige literarische Produktion, die<br />
nicht dem neuen Stil Byrons oder Chateaubriands zuzuordnen sei:<br />
Des esprits faux, habiles à déplacer toutes les questions, cherchent à accréditer parmi<br />
nous une erreur bien singulière […] Ils continuent chaque jour de traiter la littérature<br />
qu’ils nomment classique comme si elle vivait encore, et celle qu’ils appellent romantique<br />
comme si elle allait périr. Ces doctes rhéteurs, qui vont proposant sans cesse de changer<br />
ce qui existe contre ce qui a existé, nous rappellent involontairement le Roland fou de<br />
l’Arioste qui prie gravement un passant d’accepter une jument morte en échange d’un<br />
cheval vivant. Roland, il est vrai, convient que sa jument est morte, tout en ajoutant que<br />
c’est là son seul défaut. Mais les Rolands du prétendu genre classique ne sont pas encore à<br />
cette hauteur, en fait de jugement ou de bonne foi. Ils faut donc leur arracher ce qu’ils ne<br />
veulent pas accorder, et leur déclarer qu’il n’existe aujourd’hui qu’une littérature comme<br />
il n’existe qu’une société ; que les littératures antérieures, tout en laissant des monuments<br />
immortels, ont dû disparaître et ont disparu avec les générations dont elles ont exprimé<br />
les habitudes sociales et les émotions politiques. 9<br />
Die Idee, es könne gleichzeitig zwei literarische Schulen in ein und derselben<br />
Gesellschaft geben, erklärt Hugo deshalb für falsch, weil die gesamte literarische<br />
Produktion unter denselben gesellschaftlich-politischen Bedingungen entstehe.<br />
Auffällig ist, daß er selbst die Bezeichnung ‚romantisch‘ für die nicht-klassische<br />
Position nur den Betrügern in den Mund legt, denjenigen also, die das tote Pferd des<br />
Klassizismus für lebendig erklären wollen („celle qu’ils appellent romantique“). Der<br />
9 Victor Hugo: Sur Lord Byron à propos de sa mort. Zuerst in : La Muse française, juin 1824, dann<br />
in Littérature et philosophie mêlées, 1834, hier nach VH : Œuvres complètes. Critique.<br />
Présentation de Jean-Pierre Reynaud. Paris : Laffont 1985, S. 155−160, hier S. 156.<br />
15
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
abschließende Hinweis auf die „habitudes sociales et les émotions politiques“ läßt<br />
bereits erwarten, daß nun das Argument des grundlegenden politischen Wandels<br />
folgen wird, den Frankreich seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts<br />
durchlaufen hat. Die Zeit der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs trenne<br />
nicht nur chronologisch das 18. vom 19. Jahrhundert, sondern auch literarisch habe<br />
die Gegenwart mit der unfruchtbaren und verstandeslastigen Zeit des Klassizismus<br />
nichts mehr zu tun. Die neue Literatur sei von Seele, Gefühl und Herz geprägt und<br />
zudem tief religiös, worüber auch die klassizistischen Kleingeister nicht<br />
hinwegtäuschen könnten:<br />
Qu’on ne s’y trompe pas: c’est en vain surtout qu’un petit nombre de petits esprits<br />
essaient de ramener les idées générales vers le désolant système littéraire du dernier<br />
siècle. Ce terrain, naturellement aride, est depuis long-temps desséché. D’ailleurs on ne<br />
recommence pas les madrigaux de Dorat après les guillotines de Robespierre, et ce n’est<br />
pas au siècle de Bonaparte qu’on peut continuer Voltaire. La littérature réelle de notre âge<br />
[…] est défendue par ceux qui pensent avec leur âme, jugent avec leur esprit et sentent<br />
avec le cœur ; cette littérature n’a point l’allure molle et effrontée de la muse qui chanta le<br />
cardinal Dubois, flatta la Pompadour et outragea notre Jeanne d’Arc. […] Étrangère à tout<br />
ce qui n’est pas son but véritable, elle puise la poésie aux sources de la vérité. Son<br />
imagination se féconde par la croyance. Elle suit les progrès du temps, mais d’un pas<br />
grave et mesuré. Son caractère et sérieux, sa voix est mélodieuse et sonore. Elle est, en un<br />
mot, ce que doit être la commune pensée d’une grande nation après de grandes<br />
calamités : triste, fière et religieuse. 10<br />
Die Literatur des 18. Jahrhunderts, in der Karikatur, die Hugo hier präsentiert, sei<br />
also « molle » und « effrontée », was sich vor allem als Hinweis auf frivole Liebeslyrik<br />
lesen läßt, wie auch die Erwähnung der « madrigaux de Dorat » unterstreicht.<br />
Claude-Joseph Dorat (1734–1780) galt schon unmittelbar nach der Revolution als<br />
typischer Vertreter der Gelegenheitsliteratur der 18. Jahrhunderts, als jemand, der zu<br />
jedem Anlaß und für jede beliebige Persönlichkeit etwas zu schreiben imstande war.<br />
ohne für jemals eigene Überzeugung damit zu verbinden. Der Gegensatz, den Hugo<br />
inszeniert, ist deshalb deutlich: die frivole und unverbindliche Literatur eines Dorat<br />
war nach dem historischen Ernst, den in Hugos Beispiel die Guillotinen der<br />
Revolution repräsentieren, nicht mehr denkbar. Der Vorwurf der Frivolität trifft auch<br />
Voltaire, dessen Stil im ‚Jahrhundert Bonapartes‘ nicht mehr angemessen sei. Auch<br />
die Aufzählung mit dem Loblieb auf Kardinal Dubois, den Schmeicheleien für Mme<br />
Pompadour und den Beleidigungen gegen die Nationalheldin Jeanne D’Arc bezieht<br />
sich auf Voltaire, der mit der Pucelle d’Orléans eine – übrigens sehr lustige – Satire<br />
auf den Kult um die Jungfräulichkeit der Jungfrau von Orléans geschrieben hatte.<br />
10 Ebd., S. 157.<br />
16
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Die neue Literatur, die Hugo weiter unten charakterisiert, zeichnet sich also, wie<br />
auch bei Chateaubriand, vor allem dadurch aus, daß die das Gegenteil der Literatur<br />
des 19. Jahrhunderts repräsentiere. Sie verfolge keine anderen als rein literarische<br />
Ziele und sei dem Ideal der Wahrheit verpflichtet: „Étrangère à tout ce qui n’est pas<br />
son but véritable, elle puise la poésie aux sources de la vérité“. Sie sei ernsthaft – also<br />
nicht verspielt und frivol, wie es angeblich die Literatur des 18. Jahrhunderts<br />
gewesen sei – und deshalb auch die angemessene literarische Ausdrucksform für eine<br />
Nation, die Umwälzungen wie die der Revolution hinter sich habe. Hugo, der 1824<br />
noch kein Liberaler war, spricht noch abwertend von den „calamités“. Die neue<br />
Literatur sei deshalb „triste, fière et religieuse“. Literatur sei nun kein frivoles Spiel<br />
mehr, kein Zeitvertreib, sondern eine ernste, geradezu religiöse Angelegenheit, der<br />
man sich ganz zu widmen habe. Paul Bénichou hat in seinem Buch Le sacre de<br />
l’écrivain die ideologische Verschiebung beschrieben, die hinter diesem neuen<br />
Anspruch der Literatur und des Literaten zu sehen ist: Die Rolle, die vor der<br />
Revolution noch der katholische Priester für sich beanspruchen konnte, wird nun<br />
vom romantischen Dichter übernommen: die tiefsten Wahrheiten – Hugos „sources<br />
de la vérité“ – verkündet nun die Literatur. Sie ist zwar zunächst noch religiös<br />
inspiriert: „Son imagination se féconde par la croyance“ sagt Hugo – aber sie folgt<br />
dabei auch dem Fortschritt, dem „progrès du temps“. Hier ist bereits eine<br />
Entwicklung angelegt, die der Poesie einen eigenen Wahrheitsanspruch zugestehen<br />
wird, für dessen Vermittlung nur der Dichter zuständig ist. Paul Bénichou hat<br />
deshalb vom Entstehen eines „sacerdoce poétique“, also eine poetischen Priestertums<br />
in der frühen <strong>Romantik</strong> gesprochen.<br />
Was können wir an diesen Selbstdefinitionen der frühen französischen <strong>Romantik</strong><br />
erkennen? Sowohl Chateaubriand als auch Hugo ziehen einen scharfen Trennstrich<br />
entlang der Jahrhundertgrenze. Das ist zwar naheliegend, weil damit im<br />
französischen Fall auch ziemlich genau die Zeit der Französischen Revolution<br />
bezeichnet ist, doch ist der fast schon karikaturale Gegensatz zwischen der Literatur<br />
vor und derjenigen nach dieser Grenze etwas zu schön und holzschnittartig, um wahr<br />
zu sein. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, daß vieles von dem, was typisch<br />
für die <strong>Romantik</strong> werden sollte, bereits vor der Revolution angelegt war und daß<br />
andererseits der angeblich so sterile Klassizismus noch bis weit in die<br />
Restaurationszeit lebendig war. Hugos Angriffe gegen den Klassizismus von 1824<br />
lassen sich, gegen Hugos Intention, auch genau so lesen: wenn der Klassizismus<br />
17
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
wirklich so tot wäre wie das Pferd von Ariostos rasendem Roland, müßte Hugo sicher<br />
nicht so vehement dagegen polemisieren.<br />
Für das Problem, den Übergang von einer vorwiegend klassisch orientierten<br />
Ästhetik zu einer vorwiegend romantischen zu beschreiben, hatten wir letzte Woche<br />
schon den Begriff des „préromantisme“ als Lösungsvorschlag kennengelernt. Auch<br />
wenn dieser erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der französischen<br />
Literaturwissenschaft erfundene Begriff, wie wir bereits gesehen hatten, zunächst vor<br />
allem politisch motiviert war und die Entstehung der französischen <strong>Romantik</strong> ohne<br />
Einflüsse aus Deutschland erklären sollte, verweist er auf eine tatsächliche<br />
Schwierigkeit. Die scheinbar so klare Epochengliederung, die in den eben gesehenen<br />
Äußerungen von Hugo und Chateaubriand suggeriert wird, ist eben vor allem<br />
polemisch motiviert. Catherine Thomas hat 2003 eine große Untersuchung mit dem<br />
Titel Le mythe du XVIII e siècle au XIX e siècle (1830–1860) vorgelegt, in der sie die<br />
polemisch motivierten, negativen Charakteristiken des 18. Jahrhunderts derjenigen<br />
untersucht, die sich selbst ausdrücklich als <strong>Romantik</strong>er bezeichnen. Wenn man<br />
dagegen die Literatur im Zeitraum zwischen 1770 und 1820 in den Blick nimmt, läßt<br />
sich eine Trennung zwischen einem angeblich rein aufklärerischen 18. Jahrhundert<br />
und einem rein romantischen, nachrevolutionären 19. Jahrhundert kaum feststellen.<br />
Vielmehr kann man von allmählichen Umwertungsprozessen sprechen. Georges<br />
Gusdorf, den Sie in Ihrer Literaturliste finden, hat 1976 ein dickes Buch mit dem Titel<br />
Naissance de la conscience romantique au siècle des Lumières veröffentlicht, das<br />
den Anfang dieser Umwertungsprozesse zu beschreiben versucht. Michel Delon, der<br />
zur Zeit einer der besten Kenner des späten 18. Jahrhunderts in Frankreich, hat 1988<br />
in seiner thèse d’état die Vorstellung von einem „tournant des Lumières“, also einem<br />
‚Wendepunkt der Aufklärung‘ vorgeschlagen, den er auf vielen verschiedenen Ebenen<br />
im Zeitraum zwischen 1770 und 1820 am Beispiel des Energiebegriffs untersucht:<br />
Michel Delon: L’Idée d’énergie au tournant des Lumières (1770–1820). Wir werden<br />
auf diese Kategorisierungsversuche in den nächsten Wochen noch ein paar Mal an<br />
konkreten Beispielen zurückkommen. Zunächst werden wir uns nun aber unter<br />
diesem Aspekt Auszüge aus Rousseaus autobiographischen Schriften ansehen, in<br />
denen sich um 1770 bereits viel von der Kritik findet, die Chateaubriand und Hugo<br />
später aus bewußt romantischer Perspektive an der Literatur des 18. Jahrhunderts<br />
formulieren.<br />
18
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Rêveries du promeneur solitaire<br />
Wie bereits gesagt, ist Rousseau 1778 auf dem Landsitz Ermenonville seines Freunds<br />
und Mäzens Girardin gestorben. Girardin hat sich direkt nach Rousseaus Tod dessen<br />
Manuskripte angeeignet und einiges davon publiziert – Rousseaus Witwe hat später<br />
gesagt, Girardin sei auf Zehenspitzen in das Totenzimmer geschlichen, während sie<br />
noch trauernd am Bett des Toten gestanden habe, und habe hinter ihrem Rücken die<br />
Manuskripte gestohlen. Die früher entstandenen Confessions und die kurz vor<br />
seinem Tod verfaßten Rêveries du promeneur solitaire sind 1782 zum ersten Mal<br />
erschienen und bilden seitdem so etwas wie ein Gründungsdenkmal der modernen<br />
Autobiographie, auch wenn Rousseau selbst den Begriff noch nicht kannte. Wir<br />
werden darauf im Zusammenhang mit der romantischen Autobiographie noch zu<br />
sprechen kommen.<br />
Gleich der erste Abschnitt der Rêveries zeigt uns ein von der Gesellschaft<br />
isoliertes und sich als ausgestoßen betrachtendes Ich, dem nur noch die<br />
Introspektion und die Selbstanalyse übrigbleiben:<br />
Me voici donc seul sur la terre, n’ayant plus de frère, de prochain, d’ami, de société que<br />
moi-même. Le plus sociable et le plus aimant des humains en a été proscrit par un accord<br />
unanime. Ils ont cherché dans les rafinemens de leur haine quel tourment pouvoit être le<br />
plus cruel à mon âme sensible, et ils ont brisé violemment tous les liens qui m’attachoient<br />
à eux. J’aurois aimé les hommes en dépit d’eux-mêmes. Ils n’ont pu qu’en cessant de l’être<br />
se dérober à mon affection. Les voilà donc étrangers, inconnus, nuls enfin pour moi puis<br />
qu’ils l’ont voulu. Mais moi, détaché d’eux et de tout, que suis-je moi-même ? Voilà ce qui<br />
me reste à chercher. 11<br />
Die als bewußte Verbannung wahrgenommene Isolation („proscrit par un accord<br />
unanime“) des schreibenden Individuums wird also zum Anlaß für die Erkundung<br />
des eigenen Ich. Die größte Strafe, die man der „âme sensible“ auferlegen konnte, war<br />
es, sie aus der Gesellschaft der Mitmenschen zu verstoßen, doch nun macht das<br />
sensible Wesen daraus eine Tugend und kümmert sich nur noch um sich selbst. Wir<br />
kümmern uns nun nicht um die Frage nach Rousseaus Verfolgungswahn, der hier<br />
sichtbar wird, sondern nur um die Selbststilisierung als Außenseiter, der aufgrund<br />
seiner erhöhten Sensibilität auf sich selbst zurückgeworfen ist.<br />
In diesem Zusammenhang ist auch die bereits letzte Woche zitierte Stelle aus dem<br />
fünften der insgesamt zehn Spaziergänge zu sehen, in dem das Wort „romantique“<br />
erstmals auftaucht. Die romantische Landschaft des Bieler Sees verdient dieses<br />
Attribut auch deshalb, weil es sich dabei um eine Landschaft handelt, in der das<br />
11 Rousseau: OC Bd. 1, ed. Gagnebin / Raymond 1959, S. 995.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Individuum sich von der Gesellschaft völlig zurückziehen kann, besonders auf der<br />
Isle de St. Pierre in der Mitte des Sees, auf der Rousseau 1765 gewohnt hatte:<br />
De toutes les habitations où j’ai demeuré (et j’en ai eu de charmantes), aucune ne m’a rendu si<br />
véritablement heureux et ne m’a laissés de si tendres regrets que l’Isle de St. Pierre au milieu du lac<br />
de Bienne. […] Aucun voyageur, que je sache, n’en fait mention. Cependant elle est très agréable et<br />
singulièrement située pour le bonheur d’un homme qui aime à se circonscrire; car quoique je sois<br />
peut-être le seul au monde à qui sa destinée en ai fait une loi, je ne puis croire être le seul qui ait un<br />
goût si naturel, quoique je ne l’aye trouvé jusqu’ici che nul autre.<br />
Les rives du lac de Bienne sont plus sauvages et plus romantiques que celles du lac de<br />
Genève, parce que les rochers et les bois y bordent l’eau de plus près ; mais elles ne sont<br />
pas moins riantes. 12<br />
Wenn Rousseau sagt, er könne nicht glauben, daß er der einzige Mensch sei, der<br />
einen so natürlichen Geschmack habe, gleichzeitig aber betont, er habe diesen<br />
Geschmack nie bei jemand anderem entdecken können, sagt er im Grunde, daß er der<br />
einzige natürliche Mensch auf Erden sei, gerade weil er sich von der restlichen<br />
Menschheit absondere. Diesen Konflikt zwischen einer sensiblen Seele, die von der<br />
Welt isoliert oder ausgestoßen ist und Introspektion betreibt, werden wir in den<br />
verschiedenen autobiographischen Spielarten des romantischen Ich in den nächsten<br />
Wochen noch öfter antreffen.<br />
Lesen Sie bitte zunächst für die kommende Woche das Kapitel „Du vague des<br />
passions“ aus Chateaubriands Génie du Christianisme.<br />
12 Rousseau: OC, Bd. 1, S. 1040.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Nach der Revolution: Staatsklassizismus vs. Frühromantik<br />
Wir hatten in der letzten Woche am Beispiel von Chateaubriands Mémoires d’outretombe<br />
und von Hugos Nachruf auf Lord Byron gesehen, wie zwei Hauptvertreter der<br />
französischen <strong>Romantik</strong> die literarische Epochengrenze zwischen dem 18. und dem<br />
19. Jahrhundert markieren. Beide suggerieren in ihren Definitionen einen radikalen<br />
Einschnitt um das Jahr 1800, weil mit dem Ende der Französischen Revolution auch<br />
die Literatur, die das 18. Jahrhundert geprägt habe, untergegangen sei. Für<br />
Chateaubriand verschwindet das Jahrhundert fast ganz zwischen dem klassischen 17<br />
und dem romantischen 19. Jahrhundert, ohne nennenswerte Spuren hinterlassen zu<br />
haben, zumindest nennt Chateaubriand namentlich niemanden:<br />
La littérature du dix-huitième siècle, à part quelques beaux génies qui la dominent, cette<br />
littérature, placée entre la littérature classique du dix-septième siècle et la littérature<br />
romantique du dix-neuvième, sans manquer de naturel, manque de nature ; nouée à des<br />
arrangements de mots, elle n’est ni assez originale comme école nouvelle, ni assez pure<br />
comme école antique. 13<br />
Neben dem « manque de nature », der dem 18. Jahrhundert hier angelastet wird,<br />
hatte wir auch die Vorwürfe Victor Hugos von 1824 gesehen, die noch schärfer<br />
ausfielen und im Entwurf eines romantischen Gegenprogramm mündeten, das Hugo<br />
auf die Trias von Trauer, Stolz und Religiostät zuspitzt:<br />
Étrangère à tout ce qui n’est pas son but véritable, elle puise la poésie aux sources de la<br />
vérité. Son imagination se féconde par la croyance. Elle suit les progrès du temps, mais<br />
d’un pas grave et mesuré. Son caractère et sérieux, sa voix est mélodieuse et sonore. Elle<br />
est, en un mot, ce que doit être la commune pensée d’une grande nation après de grandes<br />
calamités : triste, fière et religieuse. 14<br />
Wir hatten auch gesehen, daß Chateaubriand sich selbst als denjenigen in Szene setzt,<br />
auf den dieser radikale Bruch um 1800 zurückzuführen sei. Sie erinnern sich an seine<br />
Formulierung aus den Mémoires d’outre-tombe: „J’ai peur d’avoir été le premier<br />
coupable ; novateur né, j’aurai peut-être communiqué aux générations nouvelles la<br />
maladie dont j’étais atteint ». 15 Als Chateaubriand diesen Satz in den 18##er Jahren<br />
schreibt, ist er zumindest seit mehreren Jahrzehnten bemüht, diesen Eindruck auch<br />
in seiner Selbstvermarktung zu erwecken. Die Geschichte der Veröffentlichung des<br />
1802 zum ersten Mal erschienenen Génie du CHristianisme zeigt, wie Chateaubriand<br />
13 FDC: MOT I, Buch 11, Kap. 2.<br />
14 Ebd., S. 157.<br />
15 FDC: MOT Teil 1, Buch 4, Kap. 12<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
noch aus dem englischen Exil heraus gemeinsam mit publizistisch einflußreichen<br />
Freunden versucht, sein Buch als das erste theoretische Manifest der neuen Literatur<br />
und Kultur für die nachrevolutionäre Gesellschaft zu verkaufen. Dazu mußte er sich<br />
allerdings ab 1800 in Konkurrenz zu einem ähnlich programmatischen Entwurf<br />
bewegen, nämlich zu Mme de Staëls De la littérature. Die Entstehung dieser beiden<br />
grundlegenden <strong>Text</strong>e zur Literatur nach der Revolution werden wir uns nun näher<br />
ansehen. Beide stellen sich die Frage, welche Funktion die Literatur nach den<br />
Erfahrungen der Revolution und unter den Bedingungen des entstehenden<br />
autoritären Regimes des Ersten Konsuls noch haben kann.<br />
Sehen wir uns zunächst Mme de Staëls Antwort an: Die Literatur ist im Titel ihres<br />
Buchs noch in einem weiten Sinn zu verstehen und umfaßt außer fiktionalen Werken<br />
wie Poesie, Theater und Roman noch sämtliche Geisteswissenschaften. Nur<br />
naturwissenschaftliche Literatur ist nicht Gegenstand der Betrachtung.<br />
Mme de Staël ist 1766 als Tochter des Schweizer Bankiers und späteren<br />
Finanzministers Jacques Necker in Paris zur Welt gekommen. Anne Louise Germaine<br />
Necker wird 1786 mit dem schwedischen Diplomaten Erik Magnus de Staël<br />
verheiratet. Die Ehe dient vor allem dazu, der Tochter des schwerreichen, aber<br />
bürgerlichen Necker zu einem Adelstitel zu verhelfen. Im Gegenzug begleicht Necker<br />
die erheblichen Schulden des Schweden und garantiert ihm eine regelmäßige<br />
finanzielle Ausstattung. Die junge Germaine de Staël nutzt die neuen Freiheiten, die<br />
ihr der Status einer verheirateten Frau bietet und organisiert ab 1786 in ihrem<br />
Stadtpalais in der rue du Bac ein reges gesellschaftliches Leben, sie betreibt das, was<br />
man eine „conversation“ oder später einen „salon“ genannt hat. Diese biographischen<br />
Details sind im Falle Mme de Staëls nicht unwichtig, da die Tatsache, daß sie diesen<br />
Salon auch politisch einsetzte, wie überhaupt ihre öffentliche Erscheinung Zeit ihres<br />
Lebens Anlaß zu frauenfeindlichen Anwürfen gegen die Autorin geboten haben.<br />
Allein die Tatsache, daß eine Frau es wagte, anderes als sentimentale Romane zu<br />
schreiben und sich mit politischen und philosophischen Abhandlungen an die<br />
Öffentlichkeit wagte, war für viele Zeitgenossen bereits anstößig.<br />
1788 veröffentlicht Mme de Staël ihre erste selbständige Schrift, die Lettres sur les<br />
ouvrages et le caractère de Jean-Jacques Rousseau. Zwischen 1789 und 1791 ist sie<br />
eine aktive Beobachterin der revolutionären Ereignisse. In ihrem Salon in der rue du<br />
Bac treffen sich zahlreiche Anhänger der konstitutionellen Monarchie, also der<br />
Revolutionspartei, die für eine moderate Staatsveränderung und für eine Verfassung<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
nach englischem Vorbild eintritt. Ab 1792 muß sie häufig Paris verlassen und sich für<br />
längere Zeit auf dem Schloß ihres Vaters in Coppet in der Nähe von Genf aufhalten,<br />
1793 geht sie für ein halbes Jahr nach England und muß auch in den folgenden<br />
Jahren immer wieder auf die verschiedenen Regierungswechsel in Paris reagieren,<br />
indem sie sich aus der Hauptstadt in die Provinz zurückzieht.<br />
1795 veröffentlicht sie einen Essai sur les fictions, den Goethe ins Deutsche<br />
übersetzt. Der <strong>Text</strong> erscheint in der deutschen Fassung in Schillers Zeitschrift Die<br />
Horen, allerdings ohne den Kommentar, den Goethe sich von Schiller erhofft hatte.<br />
Goethe hat bereits zu diesem Zeitpunkt darauf spekuliert, über Mme de Staël die<br />
neueren ästhetischen Theorien aus Deutschland – vor allem seine eigenen – nach<br />
Frankreich zu transportieren.<br />
Ab Ende 1798 arbeitet Mme de Staël an dem Werk, von dem sie in einem<br />
Gespräch mit Wilhelm von Humboldt, der in Paris eine Zeitlang ihr Deutschlehrer<br />
ist, gesagt haben soll, es handele von den „destins de la littérature du siècle<br />
prochain“. Nachdem sie den Sommer 1799 wieder auf Schloß Coppet bei Genf<br />
verbracht hat, kommt sie am Tag von Napoleons Staatsstreich, dem sogenannten 18<br />
brumaire (9.11.1799) in Paris an. Ihr damaliger Geliebter, Benjamin Constant, wird<br />
nach dem Staatsstreich in das Tribunat gewählt. Das Amt ist vor allem repräsentativ,<br />
aber Constant besteht in der Eröffnungsrede zur ersten Sitzung des Tribunats am 5.<br />
Januar 1800 auf der Entscheidungskompetenz und der Unabhängigkeit der Tribune,<br />
was von allen als Einspruch gegen die bereits offen erkennbaren diktatorialen<br />
Ambitionen Bonapartes verstanden wird und auch so gemeint ist.<br />
Constant fällt darauf beim Ersten Konsul Bonaparte in Ungnade, wovon auch<br />
Mme de Staël getroffen wird. Diese Ereignisse sind als Vorgeschichte der<br />
Veröffentlichung von De la littérature von Bedeutung, weil auch eine angeblich bloß<br />
literaturtheoretisch gemeinte Äußerung Mme de Staëls nun erst recht allerseits auch<br />
als politischer Kommentar gelesen wurde. Ende April 1800 erscheint das Buch dann<br />
in der ersten Fassung und erregt sofort enormes Aufsehen. Neben einigen positiven<br />
Stimmen findet sich vor allem scharfe Kritik. Eine eigene Kampagne gegen das Buch<br />
lanciert die Zeitschrift Mercure de France, die unter der Leitung von Chateaubriands<br />
Freund Louis de Fontanes steht. Mme de Staël reagiert auf Fontanes Vorwürfe im<br />
Vorwort zur zweiten Auflage von De la littérature, an der sie im Sommer 1800<br />
arbeitet und die im November des Jahres erscheint. Im Dezember 1800 ist es dann<br />
Chateaubriand selbst, der in einem langen Brief an Fontanes, der im Mercure de<br />
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France abgedruckt wird, seinen Freund Fontanes gegen Mme de Staëls Kritik aus<br />
dem zweiten Vorwort verteidigt. Chateaubriand nutzt den Brief aber vor allem, um<br />
bereits auf das bevorstehende Erscheinen seines Génie du Christianisme<br />
hinzuweisen, das den aktuellen politischen und religiösen Verhältnissen besser<br />
entspreche als Mme de Staëls Werk.<br />
Der Streit dreht sich hauptsächlich um die Frage, wie das Erbe der Aufklärung zu<br />
beurteilen sei und welche Rolle unter den politischen Bedingungen von 1800 die<br />
Religion im Staat zu spielen hätte. Neben kaum verhüllten Vorwürfen, die jeweils<br />
andere Partei gefährde die gesellschaftliche Stabilität, dreht sich der Streit um Mme<br />
de Staëls Konzept der sogenannten „perfectibilité“, also der Möglichkeit, auf allen<br />
Gebieten menschlicher Erkenntnis zu immer weiteren Fortschritten zu gelangen.<br />
Mme de Staël bezieht dieses aus der Aufklärung, vor allem von Condorcet<br />
übernommene Konzept zwar zunächst auf die philosophischen Disziplinen und hält<br />
die literarischen Errungenschaften der Antike für größtenteils nicht mehr zu<br />
übertreffen. Das „système de perfectibilité“ sei deshalb anzuwenden auf die „progrès<br />
des idées, et non aux merveilles de l’imagination. On peut marquer un terme aux<br />
progrès des arts; il n’en est point aux dévouvertes de la pensée“.<br />
Doch obwohl sie damit eine prinzipiell noch klassizistische Position vertritt – in<br />
den Künsten, sagt sie ja, könne ein Punkt erreicht werden, ab dem weiterer<br />
Fortschritt nicht mehr möglich sei –, gebe es auf dem Gebiet der literarischen<br />
Darstellung der Gefühle durchaus einen Fortschritt bei den Modernen und Defizite<br />
der Antike zu beobachten. Im Kapitel über die lateinische Literatur zur Zeit des<br />
Kaisers Augustus heißt es in De la littérature:<br />
Ce qui manque aux anciens dans la peinture de l’amour, est précisément ce qui leur<br />
manque en idées morales et philosophiques. Lorsque je parlerai de la littérature des<br />
modernes, et en particulier de celle du dix-huitième siècle, où l’amour a été peint dans<br />
Tancrède, la nouvelle Héloïse, Werther et les poètes anglais, &c, je montrerari comment le<br />
talent exprime avec d’autant plus de force et de chaleur les affections sensibles, que la<br />
réflexion et la philosophie ont élevé plus haut la pensée. 16<br />
Fortschritt ist also auch auf literarischem Gebiet zu beobachten, aber offensichtlich<br />
nur als Folge des philosophischen Fortschritts. Weil die Philosophie des<br />
18. Jahrhunderts die menschlichen Emotionen besser und differenzierter erfaßt habe<br />
als ihre Vorgänger, könne nun auch die Literatur solche Emotionen besser darstellen.<br />
De la littérature ist in zwei Hauptteile gegliedert, erstens „De la littérature chez les<br />
anciens et chez les modernes“ und zweitens „De l’état actuel des lumières en France,<br />
16 De la littérature, Éd. Blaeschke, S. 116–117.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
et de leurs progrès futurs“. Der erste Teil bietet einen Überblick über die Entwicklung<br />
der Literatur im erwähnten weiten Sinn von der griechischen über die lateinische<br />
Antike, das christliche Mittelalter und die englische, spanische, italienische und<br />
deutsche Literatur von der Frühen Neuzeit bis 1789. Der zweite Teil widmet sich den<br />
gesellschaftspolitischen Aspekten literarischer Kommunikation in der Gegenwart und<br />
wagt Prognosen für die nähere Zukunft. Die insgesamt 9 Kapitel widmen sich so<br />
unterschiedlichen Themen wie<br />
(Kap. 2) Du goût, de l’urbanité des mœurs, et de leur influence littéraire et politique.<br />
(Kap. 4) Des Femmes qui cultivent les Lettres<br />
(Kap. 7) Du style des Ecrivains et de celui des Magistrats<br />
oder (Kap. 8) De l’Eloquence<br />
Im ersten Teil entwickelt Mme de Staël in handlicher Form ihre Version der<br />
Klimatheorie, der zufolge die lateinisch-mediterranen Kulturen in mehreren Phasen<br />
ihre Geschichte einen Grad dekadenter Raffinesse erreicht hatten, an dem sie des<br />
energischen Einflusses der Völker des Nordens bedurften, um vor dem völligen<br />
sittlichen Niedergang bewahrt zu werden. Zum ersten Mal sei dies in der Zeit der<br />
Völkerwanderungen der Fall gewesen, als die spätrömische Kultur moralisch und<br />
politisch bereits vollkommen entkräftet gewesen. Der Energiebegriff, dem Michel<br />
Delon die in der letzten Woche erwähnte Untersuchung gewidmet hat, spielt hier eine<br />
große Rolle. Über die Untergang des spätrömischen Reiches und die Invasion der<br />
nordischen Barbaren heißt es im Kapitel „De l’invasion des Peuples du Nord, de<br />
l’établissement de la Religion Chrétienne et de la renaissance des Lettres“:<br />
L’invasion des barbares fut sans doute un grand malheur pour les nations<br />
contemporaines de cette révolution; mais les lumières se propagèrent par cette<br />
événement même. Les habitans énervés du midi, se mêlant avec les hommes du nord,<br />
empruntèrent d’eux une sorte d’énergie, et leur donnèrent une sort de souplesse, qui<br />
devoit servir à compléter les facultés intellectuelles. 17<br />
Was in der Spätantike bereits einmal mit weitreichenden kulturellen Folgen<br />
funktioniert habe, sollte sich, wie wir noch sehen werden, Mme de Staël zufolge auch<br />
um 1800 im Verhältnis der urwüchsigen, melancholisch veranlagten nordischen<br />
Kulturen zur raffinierten, aber im Laufe des 18. Jahrhunderts kraftlos gewordenen<br />
französischen Kultur wiederholen. Die Völker des Nordens haben in Mme de Staëls<br />
Schema auch die Christianisierung besser überstanden als die mediterranen Völker,<br />
weil das Christentum dem düster-melancholischen Naturell der Nordeuropäer in<br />
17 De la littérature, Éd. Blaeschke, S. 130.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
einer Weise entgegengekommen sei, die deren Energien sinnvoll kanalisiert habe. Die<br />
Grunddisposition zur Entwicklung romantischer Theorien ist daher in England und<br />
Deutschland bereits im frühen Mittelalter angelegt:<br />
La religion chrétienne dominoit les peuples du nord, en se saisissant de leur disposition à<br />
la mélancholie, de leur penchant pour les images sombres, de leur occupation continuelle<br />
et profonde du souvenir et de la destinée des morts. […] Les dogmes de la religion<br />
chrétienne, l’esprit exalté de ses premiers sectaires, favorisoient et dirigeoient la tristesse<br />
passionnée des habitans d’un climat nébuleux […]. 18<br />
Mme de Staëls Sympathien für die Ausprägungen des Christentums im Norden<br />
Europas hängen auch damit zusammen, daß sie selbst Protestantin ist und deshalb<br />
die südeuropäisch-katholische Variante des Christentums schon von Anfang an als<br />
durch Aberglauben und Fanatismus geprägt sieht. Im warmen Klima des Südens<br />
mußte sich deshalb eine weniger intellektualisierte und extrovertiertere Form des<br />
Christentums entwickeln:<br />
Des ces têtes ardentes, aisément crédules, aisément fanatiques, germèrent toutes les<br />
superstitions et tous les crimes dont la raison a gémi. La religion leur fut moins utiles<br />
qu’aux peuples du nord, parce qu’ils étoient beaucoup plus corrompus, et qu’il est plus<br />
facile de civiliser un peuple ignorant, que de relever de sa dégradation un peuple<br />
dépravé. 19<br />
Trotz dieser unterschiedlichen Spielarten des Christentums im Norden und im Süden<br />
Europas habe im Mittelalter die gemeinsame Religion dennoch dazu beigetragen, daß<br />
sich die beiden Gegenden wechselseitig zum Besseren beeinflußt hätten:<br />
La religion chrétienne a été le lien des peuples du nord et du midi; ella a fondu, pour ainsi<br />
dire, dans une opinion commune des mœurs opposées; et rapprochant des ennemis, elle<br />
en a fait des nations, dans lesquelles les hommes énergiques fortifioient le caractère des<br />
hommes éclairés, et les hommes éclairés développoient l’esprit des hommes énergiques. 20<br />
Dieses Schema wendet Mme de Staël noch mehrfach an, so auch zur Erklärung der<br />
Französischen Revolution: In Frankreich habe es im späten 18. Jahrhundert eine<br />
zahlenmäßig kleine, aufgeklärte, aber verweichlichte Oberschicht gegeben („la<br />
prospérité les avoit amollis“), die von einer unkultivierten, den mittelalterlichen<br />
Barbaren des Nordens vergleichbaren Unterschicht von der Macht gejagt worden<br />
seien. Die innenpolitische Aufgabe in Frankreich bestehe nun darin, diese beiden<br />
Gruppen aneinander anzunähern und eine neue nationale Synthese zu erreichen.<br />
Nach demselben Schema erklärt sich für Mme de Staël auch der Gegensatz<br />
zwischen den Literaturen des Nordens und des Südens. Die des Südens leite sich von<br />
18 Ebd., S. 135.<br />
19 Ebd., S. 135–136.<br />
20 Ebd., S. 136.<br />
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Homer ab, die des Nordens von Ossian. Bei den angeblich frühmittelalterlichen<br />
Gesängen Ossians handelte es sich, wie sie vermutlich bereits wissen, um eine<br />
Fälschung des 18. Jahrhunderts, die in ganz Europa bis zum Ende des<br />
18. Jahrhunderts allerdings für echt gehalten wurde. Der schottische Schriftsteller<br />
und Politiker James Macpherson hatte 1761 behauptet, er habe die Gesänge eines<br />
gälischen Barden des 3. Jahrhunderts aus mündlicher Überlieferung gesammelt und<br />
niedergeschrieben. Damit löste er eine europaweite Begeisterung für Bardenliteratur<br />
aus, die man als Beweis für die Existenz einer frühen literarischen Hochkultur auch<br />
in Nordeuropa verwendetet. Diese Begeisterung drückte sich auch in anderen<br />
Editionsunternehmen aus, die zur Neubewertung der skandinavischen oder der<br />
deutschen Literatur des Mittelalters führten.<br />
Auch wenn die Literatur, die mit dem Namen Ossian verbunden wurde, eine<br />
Erfindung war, sind doch die Eigenschaften, die sich mit dieser Literatur verbinden,<br />
bereits deutlich romantisch beeinflußt. Mme de Staël verwendet zwar das Wort nicht,<br />
umschreibt aber in ihrer Charakteristik der „ossianischen“ Züge in der Literatur des<br />
Nordens relativ genau das, was man um 1800 darunter verstehen konnte:<br />
La poésie mélancolique est la poésie plus d’accord avec la philosophie. La tristesse fait<br />
pénétrer bien plus avant dans le caractère et la destinée de l’homme, que toute autre<br />
disposition de l’ame. Les poètes anglais qui ont succédé aux Bardes Ecossais, ont ajouté à<br />
leurs tableaux les réflexions et les idées que ces tableaux même devoient faire naître; mais<br />
ils ont conservé l’imagination du nord, celle qui se plaît au bord de la mer, au bruit des<br />
vents, dans les bruyères sauvages; celle enfin qui porte vers l’avenir, vers un autre monde,<br />
l’ame fatiguée de sa destinée. L’imagination des hommes du nord s’élance au-delà de cette<br />
terre dont ils habitoient les confins; elle s’élance à travers les nuages qui bordent leur<br />
horizon, et semblent représenter l’obscur passage de la vie à l’éternité. 21<br />
Die Begeisterung für das, was Mme de Staël hier als die „littérature du nord“<br />
umschreibt, ist deutlich zu vernehmen, und die Autorin formuliert ihre Präferenz<br />
auch ganz ausdrücklich: „Toutes mes impressions, toutes mes idées me portent de<br />
préférence vers la littérature du nord“ (ebd). Dabei handele es sich aber nicht nur um<br />
eine ästhetische, sondern auch um eine politische Präferenz, denn das rauhe Klima<br />
des Nordens führe dazu, daß die philosophische Reflexion und die politische Freiheit<br />
die einzigen Vergnügen seien, an denen man sich aufrichten könne. Während die<br />
Bewohner des Mittelmeerraums sich auch unter der Tyrannei immer noch mit dem<br />
milden Klima trösten könnten, sei im Norden die Freiheit unverzichtbar:<br />
La poésie du nord convient beaucoup plus que celle du midi à l’esprit d’un peuple libre.<br />
[…] L’indépendance étoit le premier et l’unique bonheur des peuples septentrionaux. Une<br />
21 Ebd., S. 178–179.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
certaine fierté d’ame, un détachement de la vie, que font naître, et l’âpreté du sol, et la<br />
tristesse du ciel, devoient rendre la servitude insupportable. 22<br />
Die ossianische Literatur des Nordens sei aber nicht nur gedankenreicher und<br />
freiheitsliebender, sie sei zudem noch universeller, da sie naturverbundener sei und<br />
deshalb die Gefühle stärker anspreche als die abstrakte antike Mytholgie. Wir finden<br />
hier bereits alle Negativurteile gegen die Klassik, die wir in Hugos <strong>Text</strong> von 1824<br />
gesehen hatten, nur verpackt in eine Spekulation über die früheste nordische<br />
Literatur:<br />
Les émotions causées par les poésies ossianiques peuvent se reproduire dans toutes les<br />
nations, parce que leurs moyens d’émouvoir sont tous pris dans la nature; mais il faut un<br />
talent prodigieux pour introduire, sans affectation, la mythologie grecque dans la poésie<br />
française. Rien ne doit être, en général, si froid et si recherché que des dogmes religieux<br />
transportés dans un pays où ils ne sont reçus que comme des métaphores ingénieuses. La<br />
poésie du nord est rarement allégorique; aucun de ses effets n’a besoin de superstitions<br />
locales pour frapper l’imagination. 23<br />
Das Schema wiederholt Mme de Staël auch für die Beschreibung des Verhältnisses<br />
zwischen der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in dem sie fast nur<br />
Rousseau gelten läßt, und der englischen und deutschen Literatur. Man hat ihr oft<br />
vorgeworfen, sie habe von der deutschen Gegenwartsliteratur zu diesem Zeitpunkt<br />
noch überhaupt keine Ahnung gehabt, und dieser Vorwurf ist sicherlich berechtigt.<br />
Er fällt aber für die Argumentation des Buchs nicht wirklich ins Gewicht, da es um<br />
immer neue Ausprägungen des einmal festgestellten Gegensatzes zwischen der<br />
Literatur des Südens, für die in den letzten Kapiteln vor allem die französische steht,<br />
und der Literatur des Nordens, die von Ossian genauso repräsentiert werden kann<br />
wie von Werther. Entscheidend ist, daß das, was sie als Literatur des Nordens<br />
bezeichnet, den Leser emotional ergreift, weil diese Literatur sich einer allen spontan<br />
zugänglichen Bildsprache bediene, während die Literatur des Südens auf die<br />
„superstitions locales“ angewiesen sie, um wirken zu können.<br />
Louis de Fontanes, des Freund und Mentor des jungen Chateaubriand, reagierte<br />
auf Mme de Staëls Buch im Juni 1800 mit einer langen Rezension im ersten Heft des<br />
Mercure de France. Der Mercure war mit Bonapartes Erlaubnis neugegründet<br />
worden und hatte den Auftrag, ästhetische und politische Fragen im Sinne der neuen<br />
Regierung zu behandeln. Das hieß auf ästhetischem Gebiet, daß eine Mischung aus<br />
Katholizismus und Staatsklassizismus gewünscht war. In diesem Sinn kritisierte<br />
Fontanes De la littérature. Doch benutzte er seine sehr ausführlich, über mehrere<br />
22 Ebd., S. 180.<br />
23 Ebd., S. 181–182.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Nummern der Zeitschrift reichende Rezension auch dazu, ein Werk seines Freundes<br />
Chateaubriand anzukündigen, das unter politischem, ästhetischem und religiösem<br />
Aspekt als Gegenentwurf zu Mme de Staëls De la littérature zu lesen sei. Dieses<br />
Werk, das den Titel Des beautés morales et poétiques de la Religion chrétienne<br />
tragen werde, sei zwar noch nicht erschienen, aber das Publikum dürfe bereits<br />
gespannt sein.<br />
Fontanes Kritik zielt vor allem auf Mme de Staëls Vorstellung von der Möglichkeit<br />
er ewigen Vervollkommnung des Menschen und seiner Kenntnisse, der sogenannten<br />
„perfectibilité“. Der technische Fortschritt beweise gar nicht, das Herz und die Seele<br />
seien seit der Antike unverändert. Deshalb sprechen Homer und die antike<br />
Mythologie auch das Publikum von 1800 noch genauso an wie am ersten Tag. Mme<br />
de Staëls Präferenz für die ossianische gegenüber der homerischen Literatur ist für<br />
Fontanes vollkommen abwegig:<br />
Jusqu’ici, tous ceux qui aiment [les beaux-arts] avaient tourné leurs regards vers la Grèce<br />
comme vers leur patrie naturelle. L’imagination des poëtes, ainsi que celle des artistes,<br />
aimait à parcourir les ruines d’Athènes, et cherchait l’inspiration autour des tombeaux<br />
d’Homère et de Sophocle. On nous apprend aujourd’hui que ce n’est point dans le climat<br />
le plus favorisé de la nature, che le peuple le plus sensible, dans la plus belle de toutes les<br />
languesm que l’esprit humain a créé le plus de prodiges. C’est dans les montagnes de<br />
l’ancienne Calédonie, c’est dans les forêts habitées par les descendants d’Arminius, que se<br />
trouvera désormais le modèle du beau, et de je ne sais quel nouveau genre supérieur à<br />
tous les autres, qu’on appelle mélancolique et sombre. 24<br />
Fontanes protestiert besonders gegen die Vorstellung, Melancholie ohne irgendeine<br />
Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode und ohne den Glauben an ein göttliches<br />
Wesen könne den Leser befriedigen. Nur der Glaube an die Existenz Gottes könne die<br />
Kunst befruchten:<br />
Ossian m’attendrit sans doute, quand il me conduit au tombeau de ses pères; mais il faut<br />
qu’une divinité veille autour des tombeaux pour leur donner plus d’intérêt et les rendre<br />
sacrés. […] Ainsi, l’idée d’un Dieu peut seule féconder les arts, comme elle anime le<br />
spectacle de la nature. C’est une grande erreur de croire, avec madame de Staël, que les<br />
peuples du Nord sont plus sensibles et plus mélancoliques que les peuples du Midi. […]<br />
Les poésies les plus mélancoliques ont été composées, il y a plus de trois mille ans, par<br />
l’Arabe Job, qui vivait sous un climat brûlant: les plaintes qu’il faisait entendre sous le<br />
palmier du désert, accompagnent encore les funérailles des peuples chrétiens, et<br />
retentissent sur leurs tombeaux. 25<br />
Fontanes verteidigt zwar, wie wir eben gesehen haben, die überhistorische und<br />
unerreichbare Größe der griechischen Literatur, aber er ist durchaus offen für die<br />
Qualitäten der Melancholie und der Sensibilität, nur daß er dieses Empfindungen an<br />
24 Louis de Fontanes: OC Bd. 2, 1839, S. 184.<br />
25 Ebd., S. 201–202.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
ein christliches Wertesystem zurückbinde möchte. Die Revolution, die der adlige<br />
Emigrant Fontanes im Ganzen verurteilt, sei vor allem ein Produkt des Glaubens an<br />
die Perfektibilität und an die Philosophie, des Glaubens also, den Mme de Staël in De<br />
la littérature immer noch predige. Die ästhetischen Prinzipien, die sich mit Mme de<br />
Staëls „littérature du nord“ verbinden, seien deshalb ebenso abzulehnen. Die<br />
christlich inspirierte Verbindung von Melancholie und Naturbetrachtung, die sich in<br />
der letzten zitierten Passage als Gegenmodell abzeichnet, verweist bereits auf das<br />
Werk, für das Fontanes recht hemmungslos Werbung macht, und dessen Autor,<br />
François de Chateaubriand, Ende 1800, ebenfalls im Mercure de France, die<br />
Gelegenheit erhielt, die zweite Auflage von De la littérature in einem offenen Brief an<br />
Fontanes zu kritisieren. Chateaubriand unterzeichnete die lange Rezension nicht mit<br />
seinem Namen, sondern als „L’auteur du Génie du Christianisme“, also eine sBUchs,<br />
das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Es sollte dann noch bis 1802<br />
dauern, bis das von Fontanes und Chateaubriand schon seit 1800 angekündigte Buch<br />
tatsächlich erscheinen konnte.<br />
Auf den „Vague des passions“ und den Génie du Christianisme muß ich Sie leider bis<br />
zum nächsten Mal vertrösten. Wir werden aber trotzdem noch nächste Woche zu<br />
Atala und René kommen, die Sie dann bitte zum nächsten Mal lesen. Dafür wird<br />
Delphine aus dem Programm verschwinden.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
17.11.2010<br />
Noch ein Nachtrag zur Frage der Perfektibilität, die am Ende der letzten Sitzung<br />
aufkam: eine umfassende Darstellung der Problematik vom frühen 18. bis ins<br />
19. Jahrhundert bietet<br />
Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität. Europäische <strong>Romantik</strong> und Französische<br />
Revolution. Paderborn: Schöningh 1989.<br />
Wir hatten in der letzten Woche gesehen, wie um 1800 in der Diskussion um die<br />
Rezeption der englischen und deutschen Frühromantik in Frankreich die Figur des<br />
schottischen Barden und der ossianischen Dichtung zu einem Kristallisationspunkt<br />
wurde. Mme de Staël bezeichnet in De la littérature die Literatur des Nordens<br />
gegenüber der „littérature du midi“ als die lebendigere und energiegeladenere, aber<br />
auch als die melancholischere, und nennt als idealtypische Vertreter der beiden<br />
literarischen Klimazonen Ossian für den Norden und Homer für den Süden.<br />
Wir hatten bereits die Abfolge der einzelnen Beiträge zum Streit um De la<br />
littérature gesehen: nach der langen Rezension von Louis de Fontanes vom Juni<br />
1800 reagiert im Dezember desselben Jahres Chateaubriand mit einem Brief an<br />
Fontanes, den ebenfalls der Mercure de France abdruckt, auf die zweite Auflage von<br />
Mme de Staëls Werk. Daß der Streit zwischen den beiden Konzeptionen bereits ein<br />
Streit um die Funktion der romantischen Literatur für das neue, unter Bonaparte<br />
befriedete Frankreich war, zeigen die rückblickenden Kommentare, mit denen<br />
Chateaubriand selbst oder später auch Baudelaire das Erscheinen des Génie du<br />
christianisme als den Beginn der französischen <strong>Romantik</strong> bezeichnen.<br />
Chateaubriand fand dafür die Formulierung, die ich in der letzten Woche bereits<br />
paraphrasiert hatte. Die Stelle findet sich im 11. Buch des ersten Teils der Mémoires<br />
d’Outre-Tombe und steht dort im Zusammenhang der Darstellung der Begegnung<br />
mit Fontanes im englischen Exil. Chateaubriand hat diese Passage vermutlich 1832<br />
geschrieben, also aus dem Abstand von mittlerweile mehr als dreißig Jahren zur<br />
geschilderten Periode. Die Ablösung der ‚klassischen Schule‘ durch die <strong>Romantik</strong><br />
wird in dieser Darstellung, wie meist bei Chateaubriand, personalisiert und in die<br />
Figuren Fontanes und die des Erzählers selbst verlegt. Fontanes ist darin der<br />
Vertreter der „école classique“, der das radikal Neue an Chateaubriands literarischer<br />
Produktion erkannt, wenn auch nicht wirklich verstanden habe:<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Si quelque chose au monde devait être antipathique à M. de Fontanes, c’était ma manière<br />
d’écrire. En moi commençait, avec l’école dite romantique, une révolution dans la<br />
littérature française: toutefois, mon ami, au lieu de se révolter contre ma barbarie, se<br />
passionna pour elle. Je voyais bien de l’ébahissement sur son visage quand je lui lisais des<br />
fragments des Natchez, d’Atala, de René; il ne pouvait ramener ces productions aux<br />
règles communes de la critique, mais il sentait qu’il entrait dans un monde nouveau; il<br />
voyait une nature nouvelle; il comprenait une langue qu’il ne parlait pas. Je reçus de lui<br />
d’excellents conseils; je lui dois ce qu’il y a de correct dans mon style; il m’apprit à<br />
respecter l’oreille; il m’empêcha de tomber dans l’extravagance d’invention et le rocailleux<br />
d’exécution de mes disciples. 26<br />
An dieser Selbstanalyse, die natürlich zugleich eine Selbstinszenierung ist, ist jedes<br />
einzelne Wort von Bedeutung: Die <strong>Romantik</strong> wird hier in ihren Auswirkungen mit<br />
der Revolution gleichgesetzt, und ausgerechnet der Royalist Chateaubriand, der vor<br />
der Revolution flüchten mußte, ist auf literarischem Gebiet der Revolutionsführer.<br />
Auch Chateaubriand verbindet die <strong>Romantik</strong> mit der Barbarei, die wir letzte Woche<br />
bereits bei Mme de Staël angetroffen hatten, auch wenn der Begriff „<strong>Romantik</strong>“ in De<br />
la littérature noch fehlte. Bei der Lektüre der romantischen Gründungsdokumente,<br />
den Natchez, Atala und René konnte der junge Chateaubriand angeblich unmittelbar<br />
im Gesicht des Vertreters der klassischen Schule die Reaktion beobachten, nämlich<br />
den „ébahissement“ angesichts der vermeintlichen Regellosigkeit der neuen Schule<br />
(„il ne pouvait ramener ces productions aux règles communes de la critique“).<br />
Besonders die Naturschilderungen seien für den Vertreter der Klassik überraschend<br />
neu gewesen, so sehr, daß es ihm sogar so vorgekommen sei, als habe er eine „nature<br />
nouvelle“ gesehen. Gleichzeitig nützt der unmittelbare Kontakt mit der alten<br />
klassischen Schule aber auch dem romantischen Revolutionsführer, der sich mit dem<br />
letzten Satz von seinen Nachfolgern um 1830 distanziert. Die Lektion Fontanes habe<br />
sein Ohr geschult, sagt Chateaubriand, und deshalb sei er nicht in die Extravaganzen<br />
verfallen, durch die sich die <strong>Romantik</strong>er der Hugo-Generation auszeichnen.<br />
Diese Rangfolge der ersten und zweiten Generation der französischen <strong>Romantik</strong><br />
sollte noch Baudelaire bestätigen, der 1859 in einem langen Essai über Théophile<br />
Gautier über die erste Blütezeit der französischen <strong>Romantik</strong> in der Restaurationszeit<br />
nach 1815 geschrieben hatte:<br />
Tout écrivain français, ardent pour la gloire de son pays, ne peut pas, sans fierté et sans<br />
regrets, reporter ses regards vers cette époque de crise féconde où la littérature romantique<br />
s’épanouissait avec tant de vigueur. Chateaubriand, toujours plein de force, semblait<br />
un Athos, qui contemple nonchalamment le mouvement de la plaine; Victor Hugo,<br />
Sainte-Beuve, Alfred de Vigny, avaient rajeuni, plus encore, avaient ressuscité la poésie<br />
française, morte depuis Corneille. 27<br />
26 FDC: MOT XI, 3, Éd. Berchet S. 545.<br />
27 Baudelaire: OC 2, S. 110.<br />
32
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Auch aus der Sicht von 1859 ist Chateaubriand der heilige Berg, der über dem<br />
Gewusel in der Ebene thront, in der sich Hugo, Sainte-Beuve und Vigny aufhalten.<br />
Auch wenn diese drei Herren dabei, nach Baudelaires Einschätzung, die französische<br />
Lyrik zu neuem Leben erweckt haben, bleibt doch Chateaubriand der Hintergrund,<br />
der alle weiteren Entwicklungen überschatttet.<br />
Doch sehen wir uns zunächst an, wie sich der selbsternannte Anführer der<br />
romantischen Revolution in Frankreich um 1800 als Vordenker einer neuen Literatur<br />
in Szene setzt. Chateaubriands Bericht über die Begegnung mit Fontanes, den wir<br />
eben gelesen haben, läßt bereits erahnen, welchen Eindruck die <strong>Text</strong>e, die dann im<br />
Génie du Christianisme versammelt werden sollten, auf einen Vertreter der<br />
klassischen Schule machen mußten. Der Bericht eines weiteren Bekannten<br />
Chateaubriands aus dem Kreis um Louis de Fontanes bestätigt die Schilderung aus<br />
den Mémoires d’Outre-Tombe. Mathieu Molé erinnert sich in seiner um 1810<br />
begonnenen Autobiographie an die erste Lektüre von Auszügen aus dem Génie, die<br />
Chateaubriand bereits ab 1800 in verschiedenen Zeitschriften kursieren ließ:<br />
Quelques épreuves du premier volume, qu’on venait de livrer à l’imprimerie, me<br />
tombèrent entre les mains. Je crus l’auteur fou – et Fontanes aussi. Jamais je n’avais<br />
trouvé réunis autant de talent, de mauvais goût et d’extravagance. Je m’en ouvris à<br />
Fontanes, qui me dit qu’il s’était jeté aux genoux de Chateaubriand pour qu’il brulât son<br />
livre et se mît à le réécrire, mais que le besoin d’argent l’obligeait à hâte cette malheureuse<br />
publication. 28<br />
Leicht bösartig stellt Molé den Schock, den Chateaubriands Stil bei den Zeitgenossen<br />
auslöste, also als Folge des Zeit- und Geldmangels dar, der den Autor gezwungen<br />
habe, den <strong>Text</strong> in einem unfertigen Zustand an die Öffentlichkeit zu geben. Wir<br />
wissen heute, daß Chateaubriand in Wirklichkeit ständig an seinen <strong>Text</strong>en gefeilt hat<br />
und daß die romantischen Effekte, die seinen Bekannten so verstörend erschienen,<br />
genau berechnet waren. Auch die Pressereaktionen hatte Chateaubriand zu steuern<br />
versucht, wie ebenfalls Mathieu Molé berichtet. Nachdem er ausführlich die<br />
publizistische Unterstützung beschrieben hat, die Louis de Fontanes seinem Freund<br />
habe zukommen lassen, erzählt er, daß Chateaubriand im Grunde keine<br />
Unterstützung benötigt habe, da er sehr gut für sein eigens Marketing habe sorgen<br />
können: „Personne ne sait comme lui travailler à sa renommée“. 29 Chateaubriand<br />
habe ein Abendessen ausgerichtet, zu dem er die Redakteure aller Zeitschriften in ein<br />
Pariser Restaurant eingeladen habe, um sich dann bei allen ins rechte Licht zu setzen:<br />
28 Mathieu Molé: Souvenirs de jeunesse 1793–1803. Paris: Mercure de France 1991, S. 155–156.<br />
29 Ebd., S. 156.<br />
33
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
„Il fallait le voir au milieu de tous ces amours-propres en présence, de ces vanités<br />
sous les armes, manœuvrer et s’insinuer dans le cœur et la confiance de chacun“. 30<br />
Die PR-Maßnahmen, die Chateaubriand ergreift, sind keineswegs nur anekdotisch zu<br />
verstehen, sondern als Zeichen für einen grundlegenden Wandel von Autorschaft in<br />
der nachrevolutionären Gesellschaft. Mit dem Untergang des Mäzenatentums und<br />
dem Entstehen eines Literaturmarkts ist der romantische Autor dazu verurteilt,<br />
selbst die Aufmerksamkeit für seine Produktionen zu wecken und wach zu halten.<br />
Wenn Chateaubriand also die Zeitungsredakteure bewirtet, hat er genau verstanden,<br />
über welches Medium er die meiste Aufmerksamkeit erzielt. Wie Paul Bénichou<br />
gezeigt hat und wie wir im Zusammenhang mit den Entwürfen des romantischen Ich<br />
noch sehen werden, läßt sich die Figur des tragisch an der Gesellschaft scheiternden<br />
Dichters, die die romantische Literatur prägen wird, in ein direktes Verhältnis zum<br />
Entstehen eines modernen Literaturmarkts setzen. Hinter der verständnislosen,<br />
bourgeoisen Masse, die den genialen Dichter verkennt, ist daher auch immer das<br />
zahlende Lesepublikum zu sehen, um dessen Gunst sich nun jeder Autor, der nicht<br />
über ein erhebliches Privatvermögen verfügt, bemühen muß.<br />
Doch werfen wir einen kurzen Blick auf den Génie du christianisme ou Beautés de<br />
la religion chrétienne, wie das 1802 erschienene Werk mit vollem Titel heißt. Wie<br />
bereits einige zeitgenössische Kritiker bemerkt haben, hat Chateaubriand einen vor<br />
allem ästhetischen Zugang zum Christentum, so daß der Rezensent des Journal de<br />
Paris im Mai 1802 fragen konnte: „Tout ce que l’auteur voit dans le Christianisme,<br />
est-il bien dans le Christianisme ou dans l’esprit de l’auteur?“ 31 Das Christentum in<br />
Chateaubriands Interpretation ist vor allem ein Feld, auf dem sich eine romantischmelancholische<br />
Gemütsverfassung in idealer Weise ausleben kann. Das erste Buch<br />
des ersten Teils des Génie widmet sich deshalb den „Mystères et sacrements“. Im<br />
Kapitel „De la nature du mystère“ heißt es: „Il n’est rien de beau, de doux, de grand<br />
dans la vie, que les choses mystérieuses. Les sentiments les plus merveilleux sont<br />
ceux qui nous agitent un peu confusément“. 32 Diesem Unbestimmten, Mysteriösen<br />
und Ungreifbaren entspricht eine Sehnsucht nach dem Unendlichen, dem „infini“.<br />
Das Glücksbedürfnis des Menschen sei auf Erden nicht zu stillen, weil es immer,<br />
wenn es ein Ziel erreicht zu haben scheint, ein neues Bedürfnis entwickele. Der<br />
optimistischen Vorstellung von der Perfektibilität, die Mme de Staël vertritt,<br />
30 Ebd.<br />
31 FDC: Essai/Génie-Pléiade, S. 1644.<br />
32 Ebd., S. 472.<br />
34
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
entspricht bei Chateaubriand eine pessimistischere Sicht von der ewigen<br />
Unzufriedenheit mit dem einmal Erreichten. Chateaubriand erläutert diesen Zustand<br />
am Beispiel des Verlangens der Seele nach Gott, das sich vor allem als ein<br />
ästhetisches beschreiben läßt.<br />
Il est certain que notre âme demande éternellement; à peine a-t-elle obtenu l’objet de sa<br />
convoitise, qu’elle demande encore: l’univers entier ne la satisfait point. L’infini est le seul<br />
champ qui lui convienne […]. Enfin gonflée et non rassasiée de ce qu’elle a dévoré, elle se<br />
précipite dans le sein de Dieu […]; mais elle ne se plonge dans la Divinité, que parce que<br />
cette Divinité est pleine de ténèbres, Deus absconditus. Si elle en obtenait une vue<br />
distincte, elle la dédaignerait, comme tous les objets qu’elle mesure. 33<br />
Die Unerforschlichkeit Gottes wird damit letztlich als eine Antwort auf ein<br />
ästhetisches Bedürfnis des Menschen auf der Suche nach dem unerreichbaren Glück<br />
erklärt. Gott muß unergründlich und unsichtbar sein, weil er damit der einzige<br />
Gegenstand ist, auf den sich das Bedürfnis nach dem „infini“ endlos richten kann,<br />
ohne jemals enttäuscht zu werden. Chateaubriands ästhetisch gefaßtes Christentum<br />
ist deshalb auch als Rezept gegen die Enttäuschungen zu verstehen, in denen die<br />
Hoffnungen des 18. Jahrhunderts geendet waren. Der Génie du Christianisme und<br />
die Romane Attala und René wurden deshalb schon von den Zeitgenossen als<br />
Ausdruck einer melancholischen Unzufriedenheit gelesen, als Flucht in eine<br />
unbestimmte Traumwelt, um der realen Welt zu entkommen. Chateaubriands Freund<br />
Joubert hatte im Jahr des Erscheinens des Génie in einem Brief geschrieben: „La<br />
Révolution a chassé mon esprit du monde réel en me le rendant trop horrible“. Der<br />
konservative Literaturhistoriker Saint-Marc Girardin hat bereits Mitte des<br />
19. Jahrhunderts Chateaubriands René als Symbol für dieses Bedürfnis nach einer<br />
Flucht ins Unendliche und Unbestimmte gelesen, das auf die große Enttäuschung<br />
gefolgt sei: „Tel était l’état des esprits à la fin du XVII e siècle et au moment où parut<br />
René. L’homme avait beaucoup espéré, et il avait été grandement déçu.“ 34<br />
Mme de Staëls Darstellung der Literatur des Nordens als spezifisch<br />
melancholischer Literatur versuchte Chateaubriand deshalb zu widerlegen, indem er<br />
die Melancholie zu einem typischen Produkt des Christentums erklärte. Mit den<br />
Mönchen des Mittelalters, die sich aus der Welt, von der sie enttäuscht worden<br />
waren, zurückzogen, sei die Melancholie bereits zu einem christlichen<br />
Massenphänomen geworden. Die Parallele zu den Enttäuschungen, an denen die<br />
nachrevolutionären Intellektuellen zu leiden hatten, ist offensichtlich, wenn<br />
33 Ebd., Ière partie, Livre VI, ch. I, S. 602–603.<br />
34 Saint-Marc Girardin: Cours de littérature dramatique. Bd. IV (1860), S. 93.<br />
35
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Chateaubriand schon in seinem Brief über Mme de Staëls De la littérature<br />
geschrieben hatte<br />
De toutes parts s’élevèrent des couvents, où se retirèrent des malheureux trompés par le<br />
monde, et des âmes qui aimaient mieux ignorer certains sentiments de l’existence, que de<br />
s’eposer à les voir cruellement trahis. Une prodigieuse mélancolie dut être le fruit de cette<br />
vie monastique; car la mélancolie s’engendre du vague des passions, lorsque ces passions,<br />
sans objet, se consument d’elles-mêmes dans un cœur solitaire. 35<br />
Bereits hier taucht der zentrale Begriff des „vague des passions“ auf, dem<br />
Chateaubriand im Génie dann ein ganzes Kapitel widmen sollte und der dann zu<br />
einem romantischen Schlagwort wurde. Die abgeschiedene Lage der Klöster habe den<br />
Mönchen, die den „vague des passions“ verspürten, zudem grandiose<br />
Naturerfahrungen ermöglicht, die ihrer melancholischen Disposition noch weiter<br />
entgegenkommen mußten:<br />
Toutes ces diverses puissances du malheur, de la religion, des souvenirs, des mœurs, des<br />
scènes de la nature se réunirent pour faire, du génie chrétien, le génie même de la<br />
mélancolie. Il me paraît donc inutile d’avoir recours aux Barbares du Nord, pour<br />
expliquer ce caractère de tristesse que Mme de Staël trouve particulièrement dans la<br />
litérature anglaise et germanique, et qui pourtant n’est pas moins remarquable chez les<br />
mâitres de l’école française. Ni l’Angleterre, ni l’Allemagne n’a produit Pascal et Bossuet,<br />
ces deux grands modèles de la mélancolie en sentiments et en pensées. 36<br />
Einige dieser Melancholie-Passagen nahm Chateaubriand dann 1802 wörtlich im<br />
„Vague des Passions“-Kapitel des Génie wieder auf. Am Ende des dritten Buchs des<br />
2. Teils, das der „Poésie dans ses rapports avec les hommes“ gewidmet ist, analysiert<br />
Chateaubriand die historischen Bedingungen dafür, daß sich der „vague des<br />
passions“ in der Moderne noch verstärkt habe. Die Menschheit vervollkommne sich<br />
also höchstens in ihrer Fähigkeit, unglücklich zu sein und dieses Unglück immer<br />
intensiver zu erleben. Besonders die immer raffiniertere Schilderung menschlicher<br />
Gemütszustände in der Literatur führe dazu, daß man desillusioniert und<br />
melancholisch werde, bevor man überhaupt authentische Erfahrungen gemacht<br />
habe:<br />
Plus le peuples avancent en civilisation, plus cet état du vague des passions augmente; car<br />
il arrive alors une chose fort triste: le grand nombre d’exemples qu’on a sous les yeux, la<br />
multitude de livres qui traitent de l’homme et de ses sentiments, rendent habile sans<br />
expérience. On est détrompé sans avoir joui; il reste encore des désirs, et l’on n’a plus<br />
d’illusions. L’imagination est riche, abondante et merveilleuse; l’existence pauvre, sèche<br />
et désenchantée. On habite, avec un cœur plein, un monde vide; et, sans avoir usé de rien,<br />
on est désabusé de tout. 37<br />
35 FDC: Lettre à M. de Fontanes (Pléiade Essai/Génie, S. 1272).<br />
36 Ebd.<br />
37 FDC, Vague des passions, Ebd., S. 714.<br />
36
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das, was bei Mme de Staël mit der Idee der Perfektibilität noch grundsätzlich<br />
optimistisch gedacht war, wurde in Chateaubriands romantischem Manifest nun<br />
umgekehrt zu einer Vervollkommnung der Fähigkeit, an der modernen, entzauberten<br />
Welt zu leiden. Die Gegensätze zwischen der Gefühlswelt des modernen Menschen<br />
und der ihn umgebenden Wüste sind in dieser Passage einprägsam schematisiert:<br />
1) „désirs“, aber keine „illusions“ mehr (man kann hier bereits an den Titel von<br />
Balzacs „Illusions perdues“ denken)<br />
2) imagination riche, abondante, merveilleuse / existence pauvre, sèche,<br />
désenchanté<br />
3) cœur plein / monde vide<br />
Die Literatur der Träume und der unendlichen Suche, die Chateaubriand dem<br />
Bewußtsein des Verlusts entgegenhält, ist der einzige Ort, an dem die<br />
Rückverzauberung der Welt zumindest für den Augenblick der Lektüre noch einmal<br />
möglich wird. Ein Name, den schon die Zeitgenossen Chateaubriand gegeben haben,<br />
ist deshalb auch der „enchanteur“, der „Verzauberer“.<br />
Atala und René<br />
In der Ausgabe des Génie du christianisme von 1802 folgte auf das Kapitel über den<br />
„vague des passions“ die Geschichte von René, die erst 1805, zusammen mit Atala, in<br />
einer eigenständigen Fassung erschienen ist. Sowohl Atala als auch René sind<br />
ursprünglich Teile von Chateaubriands großem Amerikamanuskript, an dem er seit<br />
seiner Amerikareise von Anfang der 1790er Jahre gearbeitet und das er vielfach<br />
recycelt hat. Wir werden uns im Folgenden auf René konzentrieren, den<br />
unumstrittenen Gründungstext der französischen <strong>Romantik</strong>. Die 1804 geborene<br />
George Sand hat in ihrer Autobiographie noch Jahrzehnte später den<br />
überwältigenden Eindruck festgehalten, den die erste Lektüre des René auf sie<br />
gemacht habe:<br />
Il me sembla que René c’était moi. […] je me sentis écrasée par ce dégoût de la vie qui me<br />
paraissait puiser bien assez de motifs dans le néant de toutes les choses humaines. […] Je<br />
pris, par l’imagination, tous les maux de l’âme décrits dans ce poème désolé. 38<br />
Die Formulierung, sie habe sich „tous les maux de l’âme“ zugezogen, die in<br />
Chateaubriands <strong>Text</strong> beschrieben werden, bestätigt indirekt die Selbsteinschätzung<br />
38 George Sand: Histoire de ma vie (Pléiade, Bd. 1, S. 1092).<br />
37
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
aus den Mémoires d’outre-tombe, die wir schon in der ersten Woche gesehen hatten,<br />
daß nämlich Chateaubriand den nachfolgenden Generationen seine ‚Krankheit‘<br />
übertragen habe („J’ai peur d’avoir été le premier coupable ; novateur né, j’aurai<br />
peut-être communiqué aux générations nouvelles la maladie dont j’étais atteint“). 39<br />
Wir werden auf René im Zusammenhang mit den romantischen Selbstentwürfen<br />
noch einmal zurückkommen, für den Anfang – und für diejenigen, die vielleicht die<br />
Lektüre noch nicht abgschlossen haben – fasse ich aber schon einmal kurz den Inhalt<br />
der Erzählung zusammen:<br />
René ist ein junger bretonischer Adliger, der beim Indianerstamm der Natchez in<br />
Louisiana lebt. Er ist dort zwar mit einer Indianerin verheiratet, lebt jedoch praktisch<br />
von ihr getrennt. Im Kreis der Stammesältesten erzählt er sein Leben, und diesem<br />
Bericht folgen wir im Lauf des <strong>Text</strong>s. Seine Zuhörer sind seine Adoptivväter, der<br />
Indianer Chactas und der französische Missionar Père Souël, also ein Geistlicher. Die<br />
Rahmenhandlung spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nach dem Ende der<br />
Herrschaft Ludwigs XIV. René berichtet von seiner Flucht aus Europa in die<br />
amerikanische Wildnis. Renés Mutter ist bei seiner Geburt ums Leben gekommen,<br />
und seinen Vater, auf dessen einsamem Schloß er seine Kindheit verbringt, erlebt er<br />
als furchterregenden Tyrannen. Als zweitgeborener Sohn kann er nicht auf die<br />
Erbschaft hoffen. Mit seiner Schwester Amélie verbindet ihn eine große Zuneigung,<br />
die in gemeinsamen romantischen Naturerlebnissen in der bretonischen Landschaft<br />
noch gesteigert wird. Nach dem Tod des Vaters trennt sich René von seiner Schwester<br />
und verläßt das Schloß. Er überlegt für einen Moment, ins Kloster zu gehen,<br />
entscheidet sich dann aber für Reisen durch die Länder der antiken Kultur, also<br />
durch Italien und Griechenland, und durch den modernen Norden, nämlich Ossians<br />
Schottland. Er durchreist also die Kulturräume des homerischen Südens und des<br />
ossianischen Nordens, die auch im „vague des passions“-Kapitel, auf das, wie gesagt,<br />
René ursprünglich folgte, ausführlich kommentiert werden. Zentrale Ideen dieses<br />
Kapitels tauchen auch an anderen Stellen des Romans auf, so in der Beschreibung<br />
von Renés Spaziergängen durch die wilde bretonische Natur. Chateaubriand betreibt<br />
dabei zudem ein intertextuelles Spiel mit Rousseaus Rêveries, deren Bedeutung für<br />
die Begriffsgeschichte der <strong>Romantik</strong> wir ja bereits gesehen hatten. In René heißt es:<br />
[…] comment exprimer cette foule de sensations fugitives que j’éprouvais dans mes<br />
promenades? Les sons que rendent les passions dans le vide d’un cœur solitaire,<br />
ressemblent au murmure que les vents et les eaux font entendre dans le silence d’un<br />
39 FDC: MOT Teil 1, Buch 4, Kap. 12<br />
38
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
désert: on en jouit, mais on ne peut les peindre. […] Le jour, je m’égarais sur de grandes<br />
bruyères terminées par des forêts. Qu’il fallait peu de choses à ma rêverie! 40<br />
Wir finden in diesem Abschnitt zwar den relativ deutlichen semantischen<br />
Rückverweis auf die Rêveries du promeneur solitaires, doch die Natureindrücke des<br />
Spaziergängers sind gebrochen durch das Bewußtsein eines leeren, einsamen<br />
Herzens. Auch die großen Reisen können deshalb aber Renés Melancholie nicht<br />
heilen, und sowohl die Städte als auch die Natur verstärken nur sein Gefühl einer<br />
absoluten, existentiellen Einsamkeit. Als er seinen Selbstmord bereits beschlossen<br />
hat, taucht plötzlich seine Schwester auf. Die beiden leben für eine gewisse Zeit<br />
wieder zusammen, doch während Renés Zustand sich dabei stabilisiert, verfällt<br />
Amélie zusehends in eine halb wahnsinnige Trübseligkeit. Sie verschwindet dann<br />
plötzlich in ein Kloster. Erst am Tag ihres Gelübdes, also des definitiven Eintritts ins<br />
Kloster, dem René beiwohnt, begreift er, daß sie vor ihrer inzestuösen Liebe zu ihrem<br />
Bruder geflohen ist. René wandert daraufhin nach Amerika aus, wo er erst nach dem<br />
Tod seiner Schwester seinen beiden neuen Vätern von seinem Leben berichtet. Die<br />
Erzählung endet mit dem Ausblick auf den gemeinsamen Tod von René, Chactas und<br />
Souël. Die letzten beiden Sätze lauten: „[René] périt peu de temps après avec Chactas<br />
et le père Souël, dans le massacre des Français et des Natchez à la Louisiane. On<br />
montre encore le rocher où il allait s’asseoir au soleil couchant“. 41<br />
Wir werden übernächste Woche auf René zurückkommen. Sehen Sie sich bitte für die<br />
nächste Woche Mme de Staëls De l’Allemagne an, besonders den zweiten Teil über<br />
Literatur und Kunst, und darin mindestens das elfte Kapitel, „Von der klassischen<br />
und der romantischen Poesie“.<br />
40 FDC: Atala. René. Paris: Pocket 1999, S. 112.<br />
41 FDC: Atala. René. Paris: Pocket 1999, S. 130.<br />
39
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
24.11.2010: Die Entdeckung der deutschen <strong>Romantik</strong> (Mme de Staël, De l’Allemagne,<br />
der groupe de Coppet, exemplarische Rezeption von Jean Paul)<br />
Rückblick auf letzte Woche:<br />
Chateaubriands „infini“, dem die Seele nachstrebt und das sie nie erreichen kann<br />
(wenn sie es erreichen könnte, würde sie sofort wieder enttäuscht), ähnelt prinzipiell<br />
– ohne daß Chateaubriand dafür Schlegel gekannt hätte – dem frühromantischen<br />
Programm, das Friedrich Schlegel etwa gleichzeitig in den Athenäums-Fragmenten<br />
formuliert:<br />
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Andere Dichtarten sind<br />
fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch<br />
im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein<br />
kann“. 42<br />
Die Athenäums-Fragmente heißen so, weil sie in der bereits in der ersten Sitzung<br />
erwähnten Zeitschrift der Jenaer Frühromantik, eben dem Athenäum, erschienen<br />
sind. Verfaßt wurden sie vor allem von Friedrich Schlegel und seinem Bruder August<br />
Wilhelm und skizzieren in aphoristischer Form die Umrisse eines romantischen<br />
Programms. August-Wilhelm Schlegel war, wie wir ebenfalls bereits gehört haben, ab<br />
1804 der ständige Begleiter und Deutschlandspezialist von Mme de Staël. Damit soll<br />
zwar kein mechanischer Zusammenhang zwischen der deutschen Frühromantik und<br />
Mme de Staëls Deutschlandbild behauptet werden, aber die Bedeutung dieser<br />
Verbindung sollte man dennoch nicht unterschätzen. Wir werden am Beispiel der<br />
unterschiedlichen Urteile über Shakespeare nachher noch sehen, daß Mme de Staël<br />
nicht einfach die Positionen der Schlegels übernimmt.<br />
Als Einstieg das Kapitel II, 11: De la littérature classique et de la poésie<br />
romantique“, mit dem wir zu einer ersten Synthese des bisher Gesagten kommen<br />
(erst einmal Reaktionen der eventuellen Leser und Leserinnen sammeln?)<br />
Wir hatten bereits in der Debatte um De la littérature und in den Reaktionen des<br />
Lagers um Fontanes und Chateaubriand gesehen, daß die Sympathien für die<br />
romantische Literatur Englands und Deutschlands, die Mme de Staël darin geäußert<br />
hatte, heftige Reaktionen provozierten. Das Lager der Klassizisten war der Ansicht,<br />
42 Friedrich Schlegel: Athenäumsfragment Nr. 116, KFSA Abt. 1, Bd. 2, S. 182−183.<br />
40
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
daß Frankreich überhaupt keine neuen Anregungen brauche, weil die Imitation der<br />
Antike der einzig akzeptable Weg sei; bei Chateaubriand und seinem Umfeld war die<br />
Position eher, daß eine christliche Rückbesinnung auf die eigene Tradition,<br />
besonders die des 17. Jahrhunderts, auch ohne Anleihen bei der nordeuropäischen<br />
<strong>Romantik</strong> eine angemessene literarische Antwort auf die sentimentalen und<br />
spirituellen Bedürfnisse der nachrevolutionären Gesellschaft bieten würde, die<br />
Synthese von Ossian und Homer, die Chateaubriand im „Vague des passions“-Kapitel<br />
skizziert hatte.<br />
Ein Punkt, in dem sich beide Positionen berührten, war die gesteigerte Reflexivität<br />
der neuen Literatur: Wenn alle Gefühle und alle Seelenzustände schon einmal<br />
literarisch durchlebt worden waren, konnte man sich über die Erfüllung seiner<br />
„désirs“ keine Illusionen mehr erlauben, wie wir letzte Woche gesehen hatten. Eine<br />
unendliche und prinzipiell unstillbare Sehnsucht war die Reaktion auf die immer<br />
schon enttäuschten Hoffnungen. Selbstreflexion und Selbstanalyse sind sowohl für<br />
den Chateaubriand von 1800 als auch für Mme de Staël in De l’Allemagne die<br />
entscheidenden Merkmale der modernen, romantischen Literatur gegenüber der<br />
Antike. Die Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung, die<br />
Friedrich Schiller in den 1790er Jahren formuliert hatte, geht prinzipiell in dieselbe<br />
Richtung. Chateaubriand hatte schon 1800 die Auswirkungen des Christentums auf<br />
die Fähigkeit zur psychischen Selbstanalyse notiert:<br />
[…] il résulte de là que nous devons découvrir dans les passions des choses que les anciens<br />
n’y voyaient pas, sans qu’on puisse attribuer ces nouvelles vues du cœur humain à une<br />
perfection croissante du génie de l’homme.<br />
Ganz ähnlich formulierte nun Mme de Staël im Kapitel über klassische und<br />
romantische Dichtung in De l’Allemagne. Sie spricht dort von einer „réflexion<br />
inquiète“, die den modernen Menschen so verzehre wie Prometheus im Mythos vom<br />
Geier angefressen worden sei. Diese „réflexion inquiète“ wäre in der Antike noch<br />
einfach als Geisteskrankheit beurteilt worden, während sie für die Moderne und ihre<br />
Literatur geradezu charakteristisch geworden sei. 43 Auch Mme de Staël setzt, wie<br />
Chateaubriand in der eben gesehenen Formulierung, die Erforschung des „cœur<br />
humain“ gegen die antike Vorstellung von der Seele:<br />
43 Vgl. De l’Allemagne II, 11 (GF-Ausgabe Bd. 1, S. 212): « L’événement était tout dans l’antiquité, le<br />
caractère tient plus de place dans les temps modernes ; et cette réflexion inquiète, qui nous dévore<br />
souvent comme le vautour de Prométhée, n’eût semblé que de la folie au milieu des rapports clairs<br />
et prononcés qui existaient dans l’état civil et social des Anciens. »<br />
41
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Les Anciens avaient pour ainsi dire une âme corporelle, dont tous les mouvements étaient<br />
forts, directs et conséquents, il n’en est pas de même du cœur humain développé par le<br />
christianisme : les modernes ont puisé, dans le repentir chrétien, l’habitude de se replier<br />
continuellement sur eux-mêmes. 44<br />
Doch anders als Chataubriand sieht Mme de Staël die literarischen Modelle, die diese<br />
„réflexion intérieure“ am besten ausdrücken, nicht bei Pascal oder Bossuet, sondern<br />
in der Ritterdichtung des Mittelalters und in den modernen Literaturen, die im Geist<br />
dieser Dichtungen zu schreiben versuchten. „Les nuances infinies de ce qui se passe<br />
dans l’âme“ seien nur mit dieser modernen, beweglichen und ebenso unendlich<br />
ausdrucksfähigen Literatur zu erfassen. Die romantische Literatur gleiche deswegen<br />
in ihrer Beweglichkeit eher der Malerei, während die antike Literatur in ihrer Statik<br />
der Bildhauerei entspreche. Die romantische Literatur speise sich aus dem<br />
„christianisme chevaleresque“, der die bewegliche Darstellung der unendlichen<br />
Nuancen der Seele ermögliche:<br />
L’honneur et l’amour, la bravoure et la pitié sont les sentiments qui signalent le<br />
christianisme chevaleresque ; et ces dispositions de l’âme ne peuvent se faire voir que par<br />
les dangers, les exploits, les amours, les malheurs, l’intérêt romantique enfin, qui varie<br />
sans cesse les tableaux. 45<br />
Eine entscheidende Weiterung gegenüber Chateaubriands Definitionen des<br />
Romantischen findet sich bei Mme de Staël darin, daß sie ein nationales Moment in<br />
die Argumentation einführt. De l’Allemagne war 1813 zum ersten Mal erschienen,<br />
nachdem die Ausgabe von 1810 eingestampft worden war. 1813 hatte sich bereits die<br />
antinapoleonische Allianz gebildet, die offen an nationalistische Gefühle in den von<br />
Napoleons Truppen besetzten Gebieten Europas appellierte, um den Widerstand<br />
gegen die Besatzer zu verstärken. Mme de Staël war über Österreich, Rußland und<br />
Schweden nach England geflüchtet und erhoffte sich von einem Sieg der reaktionären<br />
Mächte die Möglichkeit, nach Paris zurückzukehren. Die Verbindung von <strong>Romantik</strong><br />
und Nationalismus ist deshalb politisch durchaus beabsichtigt und gegen das<br />
napoleonische Frankreich gerichtet. In ihrer Definition der romantischen Literatur<br />
macht Mme de Staël daraus ein Argument dafür, daß die moderne Literatur, die vom<br />
„christianisme chevaleresque“ inspiriert sei, das Publikum stärker und unmittelbarer<br />
anspreche als die Imitationen der Antike:<br />
[…] la question pour nous n’est pas entre la poésie classique et la poésie romantique, mais<br />
entre l’imitation de l’une et l’inspiration de l’autre. La littérature des Anciens est chez les<br />
modernes une littérature transplantée : la littérature romantique ou chevaleresque est<br />
chez nous indigène, et c’est notre religion et nos institutions qui l’ont fait éclore.<br />
44 De l’Allemagne II, 11 (GF-Augsbabe Bd. 1, S. 212).<br />
45 Ebd., S. 213.<br />
42
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das, was dem Publikum religiös und sentimental näherstehe, nennt sie hier also<br />
„indigen“, etwas weiter beschreibt die dasselbe Phänomen mit dem Attribut<br />
„national“, wenn sie erklärt, warum die klassische Poesie vielleicht von Kennern<br />
gewürdigt, aber nie mehr wirklich populär werden könne: „[…] ces poésies d’après<br />
l’antique, quelque parfaites qu’elles soient, sont rarement populaires, parce qu’elles<br />
ne tiennent, dans le temps actuel, à rien de national. » 46<br />
Mit ‚national‘ meint Mme de Staël jedoch noch nicht dasselbe wie die bornierten<br />
deutschen Nationalisten, die gleichzeitig mit ihrer antinapoleonischen Haltung eine<br />
stumpfsinnige, fremdenfeindliche Begeisterung für eine vermeintlich deutsche<br />
Vorzeit entdecken, sondern zunächst nur die Tatsache, daß die historischen Stoffe<br />
aus dem europäischen Mittelalter die Einbildungskraft der modernen Bewohner<br />
Europas stärker ansprechen als die zeitlich und geographisch entferntere griechische<br />
Mythologie. Aus diesem Grund sei die romantische Literatur auch die einzige, die<br />
noch zur Perfektibilität fähig sei. Es sei deshalb auch ein Irrtum, wenn die<br />
französischen Klassizisten glauben, die deutsche und englische Literatur sei in einem<br />
kindlichen Stadium ihrer Entwicklung steckengeblieben und noch nicht ausgereift.<br />
Im Gegenteil, wenn so gelehrte Kenner der antiken Kultur wie die Deutschen und die<br />
Engländer sich trotz dieser Kenntnis für die romantische Literatur entscheiden, dann<br />
sicher nicht aus Naivität oder Rückständigkeit. Gegen den französischen<br />
Kunstnationalismus setzt sie also noch einmal ausdrücklich das ‚germanische‘<br />
Modell:<br />
Quelques critiques français ont prétendu que la littérature des peuples germaniques était<br />
encore dans l’enfance de l’art ; cette opinion est tout à fait fausse : les hommes les plus<br />
instruits dans la connaissance des langues et des ouvrages des Anciens n’ignorent<br />
certainement pas les inconvénients et les avantages du genre qu’ils adoptent ou de celui<br />
qu’ils rejettent ; mais leur caractère, leurs habitudes et leur raisonnement les ont conduits<br />
à préférer la littérature fondée sur les souvenirs de la chevalerie, sur le merveilleux du<br />
Moyen Age, à celle dont la mythologie des Grecs est la base. [--> caractère und habitudes<br />
bezeichnen die lokalen, « nationalen » Traditionen und Gebräuche, « raisonnement »<br />
kommt noch als reflexives Moment dazu] La littérature romantique est la seule qui soit<br />
susceptible encore d’être perfectionnée, parce qu’ayant ses racines dans notre sol, elles est<br />
la seule qui puisse croître et se vivifier de nouveau ; elle exprime notre religion ; elle<br />
rappelle notre histoire : son origine est ancienne, mais non antique. 47<br />
Die Ursprünge der romantischen Literatur sind alt, nämlich mittelalterlich, aber<br />
nicht vorchristlich-antik. Die Position des französischen Klassizismus ist die des<br />
sogenannten „bon goût“, der definiert, was in der Literatur und auf der Bühne noch<br />
als schicklich und akzeptabel gelten kann. Mme de Staël macht die Diktatur dieses<br />
46 Ebd., S. 213.<br />
47 Ebd.<br />
43
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
„bon goût“ für die Sterilität des französischen Klassizismus verantwortlich, für die<br />
„cessation des progrès de l’art“ (II. Buch, Kap. 14: Du goût), 48 und die politische<br />
Parallele zur Diktatur Bonapartes, die dahinter zu sehen war, hatte auch die Zensur,<br />
die die Ausgabe von 1810 verboten hatte, klar erkannt. Den folgenden Satz hatte die<br />
Zensur, bevor das Buch komplett verboten wurde, in einer ersten Phase bereits<br />
gestrichen: „Le bon goût en littérature est, à quelques égards, comme l’ordre sous le<br />
despotisme, il importe d’examiner à quel prix on l’achète“. 49<br />
Ganz wollte Mme de Staël auf den „bon goût“ allerdings auch nicht verzichten, da<br />
sie bereits in Shakespeares Dramen Szenen fand, die gegen den „goût naturel“<br />
verstießen und die sie daher für vollkommen inakzeptabel hielt. Wenn in King Lear<br />
im dritten Akt der Duke of Cornwall Gloucester die Augen ausreißt und die Augen<br />
dann mit dem Fuß zerquetscht, dann können auch alle deutschen Shakespeare-<br />
Anhänger sie nicht davon überzeugen, daß diese Szene dem Zweck des Stücks noch<br />
dient. Umgekehrt hält sie die französischen Kritiken an der Hexenszene in Macbeth<br />
für unangebracht. Diese Szene sei, ebenso wie die Erscheinung Banquos, für die<br />
Erschütterung der Seele des Zuschauers unbedingt notwendig. 50 Mme de Staël<br />
schlägt deshalb einen ‚Friedensvertrag‘ zwischen der französischen und der<br />
deutschen Auslegung des „goût“ vor:<br />
On pourrait proposer un traité de paix entre les façons de juger […] des Allemands et des<br />
Français. Les Français devraient s’abstenir de condamner, même une faute de<br />
convenance, si elle avait pour excuse une pensée forte ou un sentiment vrai. Les<br />
Allemands devraient s’interdire tous ce qui offense le goût naturel, tout ce qui retrace des<br />
images que les sensations repoussent: aucune théorie philosophique, quelque ingénieuse<br />
qu’elle soit, ne peut aller contre les répugnances des sensations, comme aucune poétique<br />
des convenances ne saurait empêcher les émotions involontaires. 51<br />
Das französische, klassizistische System enge demzufolge den Ausdruck der Gefühle<br />
und der starken Gedanken ein, das deutsche romantische System erlaube Bilder, die<br />
gegen den „goût naturel“ und gegen die „répugnance des sensations“ verstoßen. Daß<br />
48 GF-Ausgabe S. 248.<br />
49 Ebd.<br />
50 Du goût, GF-Ausgabe S. 249: „Les écrivains allemands les plus spirituels auraient beau soutenir<br />
que, pour comprendre la conduite des filles du roi Lear envers leur père, il faut montrer la barbarie<br />
des temps dans lesquels elles vivaient, et tolérer que le duc de Cornouailles, excité par Régane,<br />
écrase avec son talon, sur le théâtre, l’œil de Glocester: notre imagination se révoltera toujours<br />
contre ce spectacle, et demandera qu’on arrive à de grandes beautés par d’autres moyens. Mais les<br />
Français aussi dirigeraient toutes leurs critiques littéraires contre la prédiction des sorcières de<br />
Macbeth, l’apparition de Banquo, etc., qu’on ne serait pas moins ébranlé jusqu’au fond de l’âme<br />
par les terribles effets qu’ils voudraient proscrire“.<br />
51 Ebd., S. 248–249.<br />
44
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
damit die Frage nur verschoben wird, da man nun statt des „bon goût“ den „goût<br />
naturel“ definieren müßte, ist offensichtlich.<br />
Mme de Staëls Urteil über Shakespeare ist auch ein guter Indikator für die<br />
Unterschiede zwischen ihrem Verständnis von <strong>Romantik</strong> und dem der Schlegels.<br />
Trotz der großen Nähe besonders zu August Wilhelm Schlegel, der immerhin der<br />
wichtigste deutsche Shakespeare-Übersetzer seiner Zeit war, übernimmt Mme de<br />
Staël dessen Begeisterung für den Engländer nicht ohne Einschränkungen. Und was<br />
das Beispiel aus King Lear und die Darstellung von Grausamkeiten angeht, hatte<br />
Friedrich Schlegel schon in den Athenäums-Fragmenten gerade solche<br />
schockierenden Momente, zumindest für den Roman, als logische Konsequenz aus<br />
dem analytischen Interesse der sentimentalen, psychologischen Literatur gefordert:<br />
Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr<br />
inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung<br />
unnatürlicher Lüste, gräßlicher Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder<br />
geistiger Impotenz scheuen zu wollen. […] Auch die Darstellung absoluter Marter<br />
(Diderots Religieuse) gehört wesentlich zur modernen Poesie und zu den Prolegomena<br />
des Romans. 52<br />
Schlegel dachte dabei, neben Diderot, vermutlich vor allem an den Marquis de Sade,<br />
dem man die hier geforderte Konsequenz in der psychologischen Darstellung sicher<br />
nicht absprechen kann, und dessen Romane bewußt als die dunkle Seite der<br />
sentimentalen Literatur konzipiert sind. Für die Schlegels ist diese<br />
Weiterentwicklung der <strong>Romantik</strong> zur schwarzen <strong>Romantik</strong> also zumindest in der<br />
Logik der Sache angelegt, für Mme de Staël ist sie geradezu instinktiv unmöglich.<br />
Folgen von Mme de Staëls Deutschlandbuch<br />
Sehen wir uns noch an ein paar Beispielen die Folgen von De l’Allemagne für die<br />
Kenntnis der deutschen Literatur in Frankreich und für die weitere Entwicklung der<br />
französischen <strong>Romantik</strong> an. Angesichts der mangelnden Deutschkenntnisse, durch<br />
die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die meisten französischen<br />
Intellektuellen hervortaten, kann man ohne Übertreibung sagen, daß für die meisten<br />
von ihnen die von Mme de Staël gelieferten Informationen jahrzehntelang die Basis<br />
für ihr Deutschlandbild abgaben. Goethe hat im Rückblick von 1823, als das Buch der<br />
Weimarreisenden von 1803/1904 mittlerweile in ganz Europa bekannt war, die große<br />
Bedeutung von De l’Allemagne für die Kenntnis deutscher Literatur nicht nur in<br />
52 Friedrich Schlegel: Athenäumsfragment Nr. 124, KFSA Abt. 1, Bd. 2, S. 185.<br />
45
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Frankreich notiert. Während er den Besuch von Mme de Staël zwanzig Jahre vorher<br />
vor allem als strapaziös empfunden hatte und sich zunächst in Jena versteckt hielt,<br />
um sich nicht ständig ausfragen lassen zu müssen, war er in der Notiz von 1823<br />
geradezu dankbar für die Belästigungen, denen ihn Mme de Staël ausgesezt hatte:<br />
Was man jedoch von solchen Verhältnissen hinterher denken und sagen mag, so ist<br />
immer zu bekennen, daß sie von großer Bedeutung und Einfluß auf die Folge gewesen.<br />
Jenes Werk über Deutschland, welches seinen Ursprung dergleichen geselligen<br />
Unterhaltungen verdankte, ist als ein mächtiges Rüstzeug anzusehen, das in die<br />
chinesische Mauer antiquirter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte, sogleich eine<br />
breite Lücke durchbrach, so daß man über dem Rhein und, in Gefolg dessen, über dem<br />
Canal, endlich von uns nähere Kenntniß nahm, wodurch wir nicht anders als lebendigen<br />
Einfluß auf den ferneren Westen zu gewinnen hatten. Segnen wollen wir also jenes<br />
Unbequeme und den Conflict nationeller Eigenthümlichkeiten, die uns damals ungelegen<br />
kamen und keineswegs förderlich erscheinen wollten. 53<br />
Neben Goethe und Schiller, die auch vor dem Erscheinen von De l’Allemagne in<br />
Frankreich zumindest nicht unbekannt waren, war es besonders Jean-Paul, der seine<br />
Popularität unter den französischen <strong>Romantik</strong>ern Mme de Staël verdankte. Gleich im<br />
zweiten Kapitel des ersten Buchs, „Des mœurs et du caractère des Allemands“, zitiert<br />
sie Jean-Pauls Definition der Deutschen aus der Friedenspredigt an Deutschland von<br />
Ende 1807. Jean Paul hatte geschrieben, daß „so wie die Franzosen die Herren des<br />
Landes sind, die Engländer die des größern Meeres, wir – also die Deutschen – die<br />
der beide und alles umfassenden Luft sind“, 54 Mme de Staël machte daraus: „C’est<br />
l’imagination, plus que l’esprit, qui caractérise les Allemands. J.-P. Richter, l’un de<br />
leurs écrivains les plus distingués, a dit que l’empire de la mer était aux Anglais, celui<br />
de la terre aux Français, et celui de l’air aux Allemands.“ 55 Alfred de Musset, der<br />
sich in seinen Werken immer wieder auf Jean Paul beziehen sollte, schrieb 1831 in<br />
einem Artikel für die Zeitschrift Le Temps über Jean Pauls Satz: „Cette bizarre pensée<br />
est la première chose que nous avons connue de Frédérick Richter“. 56 Man kann das<br />
ruhig wörtlich nehmen: da man in Frankreich zuerst durch De l’Allemagne über Jean<br />
Paul informiert worden war, war logischerweise auch die erste Erwähnung von Jean<br />
Paul in Mme de Staëls Buch die erste Gelegenheit, etwas von ihm wahrzunehmen.<br />
Claude Pichois hat die Wege der Jean Paul-Rezeption in Frankreich in einer<br />
klassischen Studie von 1963 detailliert nachgezeichnet (Claude Pichois: L’image de<br />
Jean-Paul Richter dans les lettres françaises. Paris: José Corti 1963), aber zumindest<br />
53<br />
Tag- und Jahreshefte. Hrsg. von Irmtraut Schmid. FA, 1. Abteilung. Bd. 17. Frankfurt am Main<br />
1994, S. 129–130.<br />
54 Jean Paul: Friedens-Predigt an Deutschland. In: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 5, S. 889.<br />
55 GF-Ausgabe, Bd. 1, S. 57.<br />
56<br />
46
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
die weitere Wirkung einer Übersetzung aus Jean Pauls Siebenkäs, die Mme de Staël<br />
am Ende des Kapitels „Des romans“ von De l’Allemagne (II, 28) unterbringt, möchte<br />
ich noch kurz verfolgen, weil der <strong>Text</strong> in dieser Version von praktisch allen<br />
französischen <strong>Romantik</strong>ern, von Charles Nodier über Victor Hugo, Vigny, Balzac und<br />
Michelet bis zu Baudelaire und Nerval zur Kenntnis genommen worden ist. Unter der<br />
Überschrift „Un songe“ bot Mme de Staël eine sehr freie, lückenhafte und ungenaue<br />
Übersetzung des „Ersten Blumenstücks“ aus dem Siebenkäs. Es handelt sich dabei<br />
um die berühmte „Rede des toten Christus vom Kreuz herab, daß kein Gott sei“. 57<br />
Jean Paul hatte den <strong>Text</strong> 1796 als Anhang zum Siebenkäs geschrieben und darin<br />
einen Traum imaginiert, in dem der Erzähler nachts auf einem Friedhof erwacht und<br />
die Toten aus ihren Gräbern steigen sieht. Die Toten ziehen vom Friedhof in die<br />
angrenzende Kirche, wo ihnen der ebenfalls tote Christus erscheint, der ihnen<br />
weinend verkündet, daß es keinen Gott gebe:<br />
Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch<br />
die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine<br />
Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ aber ich hörte<br />
nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus<br />
Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. 58<br />
In diesem Stil geht es noch eine Weile weiter, die Germanisten unter ihnen kennen<br />
den <strong>Text</strong> vermutlich. Die Leere der Natur ohne Gott wird noch weiter ausgemalt, und<br />
das Ganze soll eine Aufforderung zur Gottesfurcht sein, da ohne Gott alles leer sei.<br />
Am Ende wacht der Träumende auf und seine Seele „weinte vor Freude, daß sie<br />
wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn<br />
waren das Gebet“. Die Natur, die er danach wahrnimmt, ist wieder gotterfüllt und<br />
von ihr „flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken“. Es handelt sich<br />
bei dem <strong>Text</strong> also, wie Jean Paul auch ausdrücklich sagt, um die Horrophantasie<br />
einer Welt ohne Gott, mit der der Autor sich und seine Leser von eventuellen<br />
Anfechtungen des Atheismus kurieren möchte: „Wenn einmal mein Herz so<br />
unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes<br />
bejahen, zerstöret wären: so würd’ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern<br />
und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben“.<br />
Mme de Staël übersetzt zwar diese Bemerkung am Anfang ihres langen Zitats,<br />
bricht dann aber die Übersetzung mitten in der trostlosesten Situation ab, als<br />
Christus verkündet, daß er und die gesamte Menschheit vaterlos seien: „Nous<br />
57 JP: Sämtliche Werke, Abt I, Bd. 2, S. 270–275.<br />
58 Ebd., S. 273.<br />
47
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
sommes tous orphelins, moi et vous nous n’avons point de père. A ces mots, le templs<br />
et les enfants s’abîmèrent, et tout l’édifice du monde s’écroula devant moi dans son<br />
immensité. 59 Jean Pauls Warnung vor den Gefahren des Atheismus wurde dadurch<br />
von den romantischen Lesern von De l’Allemagne als Beispiel für die kühnen<br />
Traumwelten gelesen, durch die sich die deutsche <strong>Romantik</strong> auszeichne. Charles<br />
Nodier sprach 1818 von „cette monstrueuse production de l’imagination en délire<br />
[qui est] l’idée la plus hardie du génie romantique“ 60<br />
Spuren aus dem Songe, besonders die Vorstellung von einem leeren Himmel<br />
finden sich in Vignys Stello von 1832, in Mussets Confession d’un enfant du siècle von<br />
1836, und noch Baudelaire und Nerval greifen auf Mme de Staëls eigenwillige<br />
Übertragung zurück. Die Begeisterung der französischen <strong>Romantik</strong> für<br />
Traumliteratur, die uns noch öfter begegnen wird, hat in diesem Abschnitt von De<br />
l’Allemagne jedenfalls einen relativ präzise zu datierenden Anfangspunkt.<br />
Zur Wirkung der „Gruppe von Coppet“<br />
Mme de Staëls Schloß am Genfer See, bis zu ihrem Tod 1817 Treffpunkt für<br />
durchreisende Schriftsteller und Politiker aus ganz Europa,<br />
Umschlagplatz für Ideen zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, England,<br />
Skandinavien, Polen und Russland.<br />
Béatrice Jasinski hat in den Tagungsakten:<br />
Le groupe de Coppet. Actes et documents du deuxième colloque de Coppet.<br />
Genève / Paris: Slatkine 1977, S. 461–492<br />
eine Liste der Gäste in Coppet zwischen 1799 und 1816 erstellt, die eine<br />
Vorstellung von der Weite des Beziehungsnetzes vermittelt, das über Mme de Staëls<br />
Zirkel verlief. Neben deutschen <strong>Romantik</strong>ern wie den Schlegels, Zacharias Werner,<br />
Friedrich Tieck, oder Adelbert von Chamisso, verkehren dort Lord Byron, der Däne<br />
Adam Oehlenschläger, Simonde de Sismondi und viele andere.<br />
Die hervorragende neue Briefedition eines weiteren Dauergasts in Coppet, des<br />
deutsch und französisch schreibenden Schweizer Autors Karl Viktor von Bonstetten,<br />
erlaubt es, die Venetzungen dieses Kreises wenigstens ausschnittsweise zu<br />
59 De l’Allemagne, GF-Ausgabe, Bd. II, S. 55.<br />
60 Journal des Débats, 16.11.1818, hier nach Charles Nodier: Mélanges de littérature et de critique.<br />
Paris 1820, Bd. 2, S. 351–352.<br />
48
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
überblicken. Auch die Korrespondenznetze von Mme de Staël und von Benjamin<br />
Constant sind in neueren Ausgaben greifbar und bieten sehr anschauliche Eindrücke<br />
von der Ideenzirkulation in und um Coppet.<br />
--> Für die nächste Woche: noch einmal René (oder für diejenigen, die das bereits<br />
gelesen haben, Benjamin Constants Adolphe; den <strong>Text</strong> finden sie als pdf unter<br />
gallica.fr)<br />
49
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
1.12.2010 Fiktionen des romantischen Ich<br />
Benjamin Constant: Adolphe<br />
Constants Roman Adolphe erscheint zwar erst 1816, hat aber eine Entstehungsphase<br />
hinter sich, die bereits 1806 beginnt, wie Constants Tagebucheinträge und<br />
Korrespondenzen aus der Zeit belegen. Der <strong>Text</strong>, der uns in der heutigen Form das<br />
Drama eines melancholischen und seltsam handlungsunfähigen Manns in einer<br />
Beziehung zeigt, aus der er sich über mehrere Jahre vergeblich zu befreien sucht,<br />
sollte ursprünglich ein Roman des großen Liebesglücks werden. Ich bitte um<br />
Nachsicht, daß ich Sie zur näheren Erklärung kurz mit biographischen Details<br />
langweilen muß. Constant, der 1806 bereits seit mehreren Jahren Mme de Staëls<br />
Geliebter war, war ebenfalls seit mehreren Jahren in dieser Beziehung sehr<br />
unzufrieden. 1806 hatte Mme de Staël noch einmal eine kurzzeitige Milderung ihrer<br />
Verbannungsbedingungen erlangt und durfte sich in Rouen aufhalten, von wo aus sie<br />
an der Publikation ihres Italienromans Corinne arbeitete. In diese Phase fiel im<br />
Oktober 1806 die Paris-Reise einer ehemaligen Geliebten Constants, Charlotte von<br />
Hardenbergs. Constant reiste daraufhin von Rouen nach Paris, um die deutsche<br />
Dame zu treffen und an die alte Liebesgeschichte anzuknüpfen. Seinen euphorischen<br />
Tagebuchäußerungen zufolge gelingt das auch außerordentlich gut, allerdings ist<br />
Charlotte verheiratet, und Constant hat seinerseits noch nicht den Mut, Mme de Staël<br />
zu verlassen.<br />
In dieser Situation notiert er am 30.10.1806 nach seiner Rückkehr zu Mme de<br />
Staël nach Rouen in seinem Tagebuch: „écrit à Charlotte. commencé un Roman qui<br />
sera notre histoire. tout autre travail me serait impossible. Soirée ennuyeuse . Scènes. » 61 . Schon einen Tag später notiert er : « avancé beaucoup ce<br />
Roman qui me retrace de doux souvenirs. La crise doit avancer. heureusement que le<br />
travail me distrait ». 62 Der Roman sollte also ursprünglich die Geschichte einer<br />
erfüllten Liebesbeziehung werden, mit deren Abfassung Constant sich von seinen<br />
täglichen Streitereien mit Mme de Staël zu erholen hoffte. Doch schon im Dezember<br />
1806 finden sich in den Arbeitsnotizen Hinweise auf eine unglückliche Episode mit<br />
einer Ellénore, die Constant in seinen Liebesroman noch einzubauen gedachte.<br />
61 Constant: Journaux intimes (1804−1807). Hg. von Paul Delbouille u. Kurt Kloocke. Tübingen:<br />
Niemeyer 2002, S. 471.<br />
62 Ebd.<br />
50
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Allerdings bekommt er bald Zweifel an der Vereinbarkeit der beiden<br />
Frauengeschichten. Als er die Arbeit an seinem Roman 1809 wieder aufnimmt, ist<br />
von einem glücklichen Teil nicht mehr die Rede, er konzentriert sich mittlerweile<br />
ausschließlich auf die Ellénore-Geschichte. Im Freundeskreis liest er bereits Passagen<br />
aus dem Werk vor, das er dann 1810 in eine abgeschlossene Form bringt. An eine<br />
Publikation dachte er anscheinend zuerst nicht, er begnügte sich weiterhin damit,<br />
gelegentlich Auszüge in Gesellschaft vorzutragen.<br />
Erst 1816 entschloß er sich zu einer Veröffentlichung. [Parallele Existenz von<br />
Literatur als sozialer Praxis in der gehobenen Gesellschaft, die generell nicht auf<br />
Öffentlichkeit zielte, und als einer publikumsorientierten Literatur]<br />
Constant war während der 100 Tage nach der Rückkehr Napoleons von Elba einer<br />
der prominentesten Intellektuellen, die die liberale Wende des neuen Bonapartismus<br />
bezeugen sollten. Als Bonaparte im Frühjahr 1815 wieder in Paris war, hatte Constant<br />
einen Posten als Staatsrat angenommen und angeboten, einen Zusatz zur Verfassung<br />
zu schreiben. Dieses Engagement für Bonaparte wurde ihm nach der endgültigen<br />
Niederlage des Kaisers und der Rückkehr der Bourbonen zur Last gelegt, und er<br />
flüchtete, um drohenden Repressionen zu entgehen, nach London. In dieser auch<br />
finanziell schwierigen Lage erhielt Constant ein lukratives Angebot, den Roman, aus<br />
dem er auch in London in Gesellschaft weiter vorlas, zu verkaufen. Die Fassung, die<br />
wir heute kennen, ist also das Resultat einer oft unterbrochenen, zehnjährigen Arbeit,<br />
in deren Verlauf Constant sich mehrfach kritisch zu Chateaubriand und zu dessen<br />
literarischen und politischen Schriften geäußert hatte. Constant hatte mehrere<br />
Anläufe genommen, eine grundsätzliche Kritik von Chateaubriands 1809<br />
erschienenen Martyrs zu schreiben, in der er sich zur Frage des „merveilleux<br />
chrétien“ äußern wollte. Die Debatte war mit dem Erscheinen von Chateaubriands<br />
Werk in mehreren Zeitschriften geführt worden, und verlängerte die Frage nach einer<br />
zeitgemäßen Entsprechung der antiken Mythologie, die bereits die Diskussion<br />
zwischen De la littérature und dem Génie du christianisme geprägt hatte. Die<br />
Fragemente, die von Constants Kritik erhalten sind, zeigen, daß er die Martyrs unter<br />
religionshistorischem Aspekt für anachronistischen Blödsinn hielt, 63 wenn er in dem<br />
<strong>Text</strong> auch „beautés de styles“ gefunden hatte. Religionsgeschichte war ein Thema, mit<br />
63 Vgl. den Brief an Sismondi vom 22.3.1809, hier nach Constant: OC. Œuvres III,1, S. 533: „Je<br />
connais les premiers libres de cet ouvrage. Il y a de beautés de style, mais le plan est très mauvais,<br />
l’imitation d’Homère servile et déplacée, l’érudition mythologique récente, lourde et superficielle,<br />
et l’état dans lequel le Polythéisme est représenté, un anachronisme continuel ».<br />
51
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
dem sich Constant zeit seines Lebens intensiv beschäftigt hat, so daß man es<br />
bedauern kann, daß er die Rezension der chateaubriandschen Martyrs nie<br />
geschrieben hat. Auch von René hat Constant nicht viel gehalten, und man hat daher<br />
Adolphe auch als eine Art Anti-René zu lesen versucht. Vor allem aber hat die<br />
Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts sich mit großer Akribie der Frage<br />
gewidmet, welche privaten Frauengeschichten Constant denn in seinem <strong>Text</strong><br />
verarbeitet habe. Man darf diese Frage heute erfreulicherweise für vollkommen<br />
irrelevant halten, zumal sie von den eigentlichen Qualitäten des <strong>Text</strong>s als <strong>Text</strong> nur<br />
ablenkt. Sicher haben Constants Frustrationen aus der Beziehung mit Mme de Staël<br />
die Zeichnung der Ellénore mit beeinflußt, aber diese Feststellung bringt uns genauso<br />
wenig, als wenn wir zu einer Szene, in der jemand einen Apfel ißt oder auf einem<br />
Pferd reitet, sagen würden, daß er hier sicherlich eigene Erfahrungen beim<br />
Apfelessen oder beim Reiten verarbeitet hat. Erstaunlich ist eher, daß sich ansonsten<br />
sicher intelligente Menschen jahrelang mit solchen biographischen Details<br />
aufgehalten und sich untereinander wütende Streitereien geliefert haben, weil die<br />
eine Gruppe in Ellénore mehr Mme de Staël, die andere mehr eine andere ehemalige<br />
Geliebte von Constant, die Irin Anna Lindsay, sehen wollte.<br />
Wesentlich ergiebiger scheint es zu sein, den Roman mit einem Interesse an der<br />
Darstellung eines melancholischen romantischen Ich in seinem Verhältnis zur<br />
Sprache und zur Natur zu lesen. Constant gelingt es, einen relativ antriebslosen, eher<br />
unsympathischen jungen Mann zu zeichnen, dessen dauernder Selbstbetrug vom<br />
Leser durchschaut wird, ohne daß man deswegen das Interesse an den Folgen dieses<br />
Selbstbetrugs verlieren würde. Die spezifisch romantisch erscheinenden Moment,<br />
etwa im Verhältnis des Ich zur Natur, erscheinen dabei alle gebrochen durch die<br />
sprachliche Gestaltung des Ich-Erzählers, nämlich des Protagonisten Adolphe selbst,<br />
so daß die romantischen Effekte uns alle als Resultate dieses Selbstbetrugs<br />
erscheinen. Entscheiden können wir das aber nur bedingt, da wir nichts als die von<br />
Adolphe selbst überlieferten und von keiner anderen Instanz objektivierten<br />
sprachlichen Informationen erhalten. Stendhal hat den Roman in einer berühmten<br />
Rezension als einen „marivaudage tragique“ bezeichnet. Das soll heißen, daß man bei<br />
Adolphe nur darauf warte, wann und auf welchem Weg die Beziehung endgültig<br />
beendet werde, so wie man sich bei Marivaux’ Komödien im 18. Jahrhundert immer<br />
nur gefragt habe, wie die Beziehung nach vielen Verwicklungen zustande kommen<br />
werde:<br />
52
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
[…] marivaudage tragique, où la difficulté n’est point, comme chez Marivaux, de faire une<br />
déclaration d’amour mais une déclaration de haine. Dès qu’on y parvient, l’histoire est<br />
terminée. 64<br />
Das ist zwar eine sehr geistreiche Definition, aber auch damit wird man dem <strong>Text</strong><br />
nicht wirklich gerecht.<br />
Für diejenigen, die vielleicht ihre Lektüre des Romans noch nicht ganz<br />
abgeschlossen haben – aber natürlich auch für alle anderen – werde ich möglichst<br />
eng am <strong>Text</strong> die Geschichte des Romans interpretierend nacherzählen.<br />
Wir haben es bei Adolphe mit einem sogenannten „roman personnel“ zu tun,<br />
einem Roman also, der in der ersten Person Singular erzählt ist und<br />
bekenntnishaften Charakter hat, der allerdings ausdrücklich keine Autobiographie<br />
darstellt. Den Ton der Konfession und der peinlich genauen Selbstanalyse hat diese<br />
Romanform aus Rousseaus Confessions übernommen, doch handelt es sich bei<br />
<strong>Text</strong>en wie René oder Adolphe eben, trotz möglicherweise erkennbarer<br />
autobiographischer Züge, nicht um Autobiographien: René ist nicht Chateaubriand,<br />
Adolphe ist nicht Constant. Der roman personnel bietet üblicherweise aus der<br />
Rückschau eines politisch, moralisch oder gesellschaftlich gescheiterten Individuums<br />
ein desillusioniertes Fazit und den Versuch, die Gründe für das Scheitern zu<br />
analysieren. Während bei René der <strong>Text</strong> in der aus dem Genie du Christianisme<br />
herausgelösten Romanfassung unvermittelt einsetzt und endet, ohne daß die<br />
Erzählinstanz, der wir den Rahmenbericht verdanken, genau definiert würde, greift<br />
Constant in Adolphe auf die aus der Tradition des Briefromans vertraute<br />
Herausgeberfiktion zurück. Der volle Titel des Romans lautet Adolphe. Anecdote<br />
trouvée dans les papiers d’un inconnu par Benjamin Constant. Der <strong>Text</strong> beginnt mit<br />
einem „Avis de l’éditeur“, in dem wir erfahren, wie der Herausgeber an die<br />
Geschichte gelangt ist, die wir im folgenden lesen werden. Das erste „Je“, das uns im<br />
<strong>Text</strong> begegnet, ist also das des Herausgebers ‚Benjamin Constant‘:<br />
Je parcourais l’Italie, il y a bien des années. Je fus arrêté dans une auberge de Cerenza,<br />
petit village de la Calabre, par un débordement du Neto; il y avait dans la même auberge<br />
un étranger qui se trouvait forcé d’y séjourner pour la même cause. Il était fort silencieux<br />
et paraissait triste. 65<br />
Der schweigsame, traurige Gast, auf den wir den ersten Blick durch die Augen des<br />
Herausgebers werfen, ist Adolphe, dessen Namen wir aber erst viel später im <strong>Text</strong><br />
erfahren werden. Wir erfahren in diesem Vorbericht des Herausgebers weiter, daß<br />
64 Stendhal: Rez. im New monthly Magazine 1824.<br />
65 Benjamin Constant. Adolphe. Éd. Daniel Leuwers. GF 1989, S. 44.<br />
53
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
der Gast nicht nur allgemein schweigsam und traurig wirkt, sondern daß er alle<br />
Anzeichen des Melancholikers an sich trägt:<br />
[…] il ne voyageait point par curiosité, car il ne visitait ni les ruines, ni les sites, ni les<br />
monuments, ni les hommes. Il lisait beaucoup, mais jamais d’une manière suivie; il se<br />
promenait le soir, et souvent il passait les journées entières assis, immobile, la tête<br />
appuyée sur les deux mains. 66<br />
Als der Rahmenerzähler weiterreisen könnte, weil die Verkehrswege wieder frei sind,<br />
wird der namenlose Melancholiker schwer krank, und der Herausgeber fühlt sich<br />
verpflichtet, ihm Beistand zu leisten. Es wird deutlich, daß der Kranke nicht<br />
besonders am Leben hängt und fast enttäuscht ist, als der Arzt des kleinen Ortes<br />
seine Gesundheit wiederherstellt. Der Genesene bedankt sich und reist weiter, der<br />
Erzähler ebenfalls. Mehrere Monate später empfängt er, während er sich in Neapel<br />
aufhält, einen Brief und eine Kassette mit Papieren, die der kalabresische Gastwirt an<br />
einer Straße in der Nähe des kleinen Ortes gefunden hat, und von der er annimmt,<br />
daß sie entweder dem Erzähler oder dem melancholischen Gast gehört. Die Kassette<br />
enthält: „beaucoup de lettres fort anciennes sans adresses, ou dont les adresses et les<br />
signatures étaient effacées, un portrait de femme et un cahier contenant l’anecdote ou<br />
l’histoire qu’on va lire“. 67 Der Rahmenerzähler, der keine Adresse des Fremden hat,<br />
behält die Kassette noch zehn Jahre bei sich, bis er bei einer Reise in Deutschland<br />
zufällig einem Mann begegnet, der den melancholischen Besitzer der Kassette<br />
gekannt und die in der Anekdote zusammengefaßte Liebesgeschichte aus der Nähe<br />
verfolgt hatte. Dieser Mann bittet den Herausgeber, das Manuskript lesen zu dürfen,<br />
und als er es eine Woche später wieder zurückschickt, ermutigt er ‚Constant‘ in einem<br />
Begleitbrief, die Anekdote zu veröffentlichen. Diesen Brief sowie eine Antwort des<br />
Herausgebers darauf finden wir am Ende der Anekdote abgedruckt.<br />
Die zeitliche Abfolge sieht also in etwa so aus: der Herausgeber bietet uns einen<br />
<strong>Text</strong>, den er zehn Jahre früher erhalten hat und den der melancholische Fremde<br />
seinerseits noch einmal wesentlich früher verfaßt haben muß, wie die vergilbten<br />
Papiere zu erkennen geben. Der Zeitpunkt der Niederschrift der Anekdote muß<br />
wiederum einige Zeit nach den beschriebenen Ereignissen liegen, da der Ich-Erzähler<br />
der Anekdote, also Adolphe, wiederholt zu verstehen gibt, daß er sich in einigem<br />
zeitlichen Abstand dazu befindet. Einigermaßen genau datiert ist allein die<br />
Zeitspanne der Handlung der Anekdote: Das erste Kapitel beginnt, als Adolphe 22<br />
66 Ebd., S. 45.<br />
67 Ebd.<br />
54
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Jahre alt ist, und wir verfolgen in den insgesamt 10 Kapiteln der Anekdote die<br />
Geschehnisse zwischen Adolphe und Ellénore über drei Jahre. Im Vorwort zur<br />
zweiten Auflage hatte Constant bereits mehrere Lektüreschlüssel angeboten, die um<br />
die zentralen Begriffe „Sprache“ und „Natur“ kreisten. Ein Anliegen des <strong>Text</strong>s sei es,<br />
zu zeigen, daß aus einer Liebeserklärung, die anfangs nur ein Sprachspiel sein kann,<br />
unabsehbare und fatale Folgen entstehen können:<br />
[…] il y a dans la simple habitude d’emprunter le langage de l’amour, et de se donner ou<br />
de faire naître en d’autres des émotions de cœur passagères, un danger qui n’a pas été<br />
suffisamment apprécié jusqu’ici. 68<br />
Diese zynische Haltung der Liebe gegenüber sieht Constant als eine Tradition der<br />
alles relativierenden Aufklärung und insbesondere der libertinen Literatur des<br />
18. Jahrhunderts, die aber ihre Rechnung ohne die Wirkung der Natur gemacht habe.<br />
Die Männer glaubten, eine leichtfertig eingegangene Liebesbeziehung lasse sich<br />
ebenso leichtfertig wieder beenden, müßten dann aber feststellen, daß sie dazu erst<br />
die letzten Reste der Natur in sich abtöten müssen:<br />
Ils pensent pouvoir rompre avec facilité le lien qu’ils contractent avec insouciance. Dans<br />
le lointain, l’image de la douleur paraît vague et confuse, telle qu’un nuage qu’ils<br />
traverseront sans peine. […] Mais lorsque les larmes coulent, la nature revient en eux<br />
[…]. 69<br />
Um den natürlichen Reflex zu unterbinden, den der Anblick der Tränen einer<br />
verletzten Geliebten auslöst, müssen sie in ihrem Herzen alles vernichten, was<br />
großzügig, treu und gut ist. Wenn sie das vollbracht haben, leben sie zwar weiter,<br />
aber in einer sentimentalen Wüste: „Ils survivent ainsi à leur meilleure nature,<br />
pervertis par leur victoire, ou honteux de cette victoire, si elle ne les a pas<br />
pervertis.“ 70 Das ist, wie wir später erfahren werden, der eingangs geschilderte<br />
Zustand, in dem Adolphe dem Herausgeber in Süditalien begegnet war.<br />
Wir sehen Adolphe zuerst als 22-jährigen, der soeben seine Ausbildung an der<br />
Universität Göttingen abgeschlossen hat. In rückblickenden Passagen erfahren wir,<br />
daß er kein glückliches Verhältnis zu seinem Vater hat und daß er sich schon als<br />
17jähriger im Umgang mit einer wesentlich älteren Frau daran gewöhnt hatte, alles<br />
unter dem Aspekt des Todes zu betrachten:<br />
[…] nous avions envisagé la vie sous toutes ses faces, et la mort toujours pour terme de<br />
tout ; et après avoir tant causé de la mort avec elle, j’avais vu la mort la frapper à mes<br />
68 Ebd., S. 35.<br />
69 Ebd., S. 37.<br />
70 Ebd., S. 38.<br />
55
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
yeux. Cet événement m’avait rempli d’un sentiment d’incertitude sur la destinée, et d’une<br />
rêverie vague qui ne m’abandonnait pas. Je lisais de préférence dans les poètes ce qui<br />
rappelait la brièveté de la vie humaine. Je trouvais qu’aucun but ne valait la peine d’aucun<br />
effort. 71<br />
Adolphe leidet also unter dem von Chateaubriand diagnostizierten, undefinierbaren<br />
Zustand dessen, der schon früh all seiner Illusionen beraubt worden ist und darauf<br />
mit einem „sentiment d’incertitude“ und einer „rêverie vague“ reagiert und deshalb<br />
vollkommen antriebslos vom „ennui“ geplagt wird. An dem kleinen deutschen<br />
Provinzhof, an dem Adolf nach seinem Studium in Göttingen unterkommt, sieht er<br />
einen glücklich verliebten Bekannten und beschließt, sich einen ähnlichen<br />
Gefühlszustand zu verschaffen: „Le spectacle d’un tel bonheur me fit regretter de n’en<br />
avoir pas essayé encore ; je n’avais point eu jusqu’alors de liaison de femme qui pût<br />
flatter mon amour-propre.“. 72 Der desillusionierte Erzähler Adolphe kommentiert<br />
diese leichtsinnige Überlegung des jüngeren Adolphe mit einer der vielen Sentenzen,<br />
von denen der Roman durchzogen ist. Bereits hier formuliert er ein Ungenügen an<br />
der Sprache, die nie präzise genug sei, um die unendlich wandelbaren und<br />
gemischten Gefühlszustände des Menschen angemessen zu definieren:<br />
Les sentiments de l’homme sont confus et mélangés; ils se composent d’une multitude<br />
d’impressions variées qui échappent à l’observation; et la parole, toujours trop grossière<br />
et trop générale, peut bien servir à les désigner, mais ne sert jamais à les définir. 73<br />
Als er sich in diesem undefinierbaren, aber aufgewühlten Zustand befindet, begegnet<br />
ihm die zehn Jahre ältere Polin Ellénore, die infolge der politischen Wechselfälle<br />
ihrer Heimat Polen als Kind verlassen mußte und nun seit vielen Jahren als offizielle<br />
Geliebte eines Comte de P***, von dem sie auch zwei Kinder hat, mit diesem Comte<br />
zusammenlebt. Diese vollkommen zufällige Begegnung wählt Adolphe nun zum Ziel<br />
seiner Werbungen: „Offerte à mes regards dans un moment où mon cœur avait<br />
besoin d’amour, ma vanité de succès, Ellénore me parut une conquête digne de<br />
moi.“ 74 Nachdem Ellénore seinen Zudringlichkeiten eine Zeitlang widerstanden hat,<br />
schreibt er ihr einen pathetischen Brief. Der Erzähler Adolphe kommentiert aus dem<br />
Rückblick die sprachliche Kraft dieses zunächst nur in strategischer Absicht verfaßten<br />
Briefs. Bis zu diesem Punkt könnte man Adolphe noch für einen Nachfolger der<br />
Roman-Libertins des 18. Jahrhunderts halten. Besonders das Beispiel Valmonts aus<br />
Choderlos de Laclos’ Laisions dangereuses liegt nahe, wenn Adolphe seinen<br />
71 Ebd., S. 51.<br />
72 Ebd., S. 57.<br />
73 Ebd.<br />
74 Ebd., 62.<br />
56
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Liebesbrief in rein manipulativer Absicht und ohne eigene emotionale Beteiligung zu<br />
verfassen beginnt. Doch ist Adolphe eben kein konsequenter Zyniker, wie Valmont,<br />
sondern ein schwächlicher Melancholiker, der in seine eigene sprachliche Falle läuft:<br />
Les combats que j’avais livrés longtemps à mon propre caractère, l’impatience que<br />
j’éprouvais de n’avoir pu le surmonter, mon incertitude sur le succès de ma tentative,<br />
jetèrent dans ma lettre une agitation qui ressemblait fort à l’amour. Echauffé d’ailleurs<br />
que j’étais par mon propre style, je ressentais, en finissant d’écrire, un peu de la passion<br />
que j’avais cherché à exprimer avec toute la force possible.(65)<br />
Der Brief wirkt also gewissermaßen aufgrund eines doppelten sprachlichen<br />
Mißverständnisses : bei der Empfängerin, die aus dem sprachlichen Ausdruck der<br />
Gefühlswirrungen, die mit Liebe wenig zu tun haben, dennoch Liebe herausliest, und<br />
beim Verfasser, der sich in seinen eigenen Stil verliebt.<br />
Die Selbstbeschreibung, die er Ellénore von sich kurz danach mündlich liefert, ist<br />
einer der vielen deutlichen Anklänge an René und dessen einsames Herz. Adolphe<br />
sagt von sich selbst: „Vous connaissez ma situation, ce caractère qu’on dit bizarre et<br />
sauvage, ce cœur étranger à tous les intérêts du monde, solitaire au milieu des<br />
hommes, et qui souffre pourtant de l’isolement auquel il est condamné.“ Wir werden<br />
noch sehen, daß Constant diese Anklänge sehr planvoll einsetzt, daß er aber zu einer<br />
anderen Bewertung des einsamen Herzens gelangt als Chateaubriand. Zunächst<br />
weiter in der Romanhandlung: Adolphe steigert seine Liebesbekundungen in immer<br />
dramatischeren Tönen und versucht Ellénore einzureden, die Natur habe sie für ihn<br />
vorherbestimmt. Auch dafür bemüht er wieder das Bild von seinem einsamen,<br />
leidenden Herzen:<br />
[…] si je vous avais rencontrée plus tôt, vous auriez pu être à moi! J’aurais serré dans mes<br />
bras la seule créature que la nature ait formée pour mon cœur, pour ce cœur qui a tant<br />
souffert parce qu’il vous cherchait et qu’il ne vous a trouvée que trop tard! 75<br />
Es ist ersichtlich, daß die Begriffe „Herz“ und „Natur“ für Adolphe bloße<br />
Versatzstücke eines strategisch eingesetzten, romantischen Liebesdiskurses sind, an<br />
den er in dem Moment, in dem er ihn verwendet, nicht glaubt. Doch im Sinne der in<br />
der Préface bereits skizzierten Entwicklung verselbständigt sich dieser romantische<br />
Diskurs und affiziert letztlich auch denjenigen, der ihn anfangs nur zynisch benutzen<br />
wollte. Unmittelbar führt Adolphes romantisches Werben allerdings zum erhofften<br />
Erfolg: eine längere Reise des Comte de P*** kann Adolphe zum entscheidenden<br />
Angriff nutzen: Ellénore gibt seinem Werben nach und gesteht im zudem noch ihre<br />
Liebe. Gemessen an den Maßstäben der libertinen Literatur des 18. Jahrhunderts<br />
75 Ebd., S. 78.<br />
57
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
hätte Adolphe nun sein Ziel erreicht und die Geschichte könnte zum nächsten<br />
Abenteuer fortschreiten. Seine erste Reaktion nach der Liebesnacht mit Ellénore<br />
scheint auch noch in diese Richtung zu deuten:<br />
J’aimai, je respectai mille fois plus Ellénore après qu’elle se fut donnée. Je marchais avec<br />
orgueil au milieu des hommes ; je promenais sur eux un regard dominateur. L’air que je<br />
respirais était à lui seul une jouissance. Je m’élançais au-devant de la nature, pour la<br />
remercier du bienfait inespéré qu’elle avait daigné m’accorder. (82)<br />
Wieder fällt Adolphes eigenartiges Verständnis von Natur auf : die Natur ist für ihn<br />
noch immer vor allem eine sprachlich-manipulativ verstandene Größe, die er zu<br />
beherrschen glaubt. Doch schon bald wird ihm Ellénore, die nun jede freie Minute<br />
mit ihm zu verbringen hofft, lästig. Die Existenz, die er gerade noch als von der Natur<br />
bestimmt bezeichnet hatte, erscheint ihm nun unnatürlich gegenüber seinem<br />
bisherigen ungezwungenen Leben in der Gesellschaft:<br />
Il m’était quelquefois incommode d’avoir tous mes pas marqués d’avance et tous mes<br />
moments ainsi comptés. […] Je ne savais que répondre à mes connaissances lorsqu’on me<br />
proposait quelque partie que, dans une situation naturelle, je n’aurais point eu de motif<br />
pour refuser. (84)<br />
Nachdem er Ellénore im Sinne des libertinen Programms ‘erobert‘ hat, ist sie für ihn<br />
kein Ziel mehr, sondern nur noch eine lästige Verbindung : « Ellénore était sans<br />
doute un vif plaisir dans mon existence, mais elle n’était plus un but : elle était<br />
devenue un lien. » (85) Als Adolphe von seinem Vater aufgefordert wird, die<br />
Residenzstadt zu verlassen und nachhause zu kommen, bittet Adolphe dennoch um<br />
Aufschub, um Ellénore zu beruhigen. Er hofft beim Schreiben des Briefes allerdings,<br />
daß sein Vater seiner Bitte nicht entsprechen würde. Noch als er den Antwortbrief<br />
öffnet, ist er überzeugt, der Vater werde ihm die Verlängerung verweigern, redet sich<br />
aber zugleich ein, er werde mit den Schmerz der leidenden Ellénore aus der<br />
Entfernung teilen: „Il me semblait même que j’aurais partagé cette douleur avec une<br />
égale amertume“ (89). Wir sehen daran vor allem, daß Adolphe seinen eigenen<br />
Gefühlen nicht trauen kann. Er ist überzeugt, Ellénore die Karriere zu opfern, die ihn<br />
sicher erwarten würde, wenn er nach Hause zurückginge, und macht ihr daraus<br />
Vorwürfe; er unternimmt andererseits aber auch nichts, um sich von ihr zu trennen<br />
und seine Karriere aufzunehmen. Im Gegenteil, als Ellénore, die sich mittlerweile<br />
vom Comte de P*** getrennt, ihm die gemeinsamen Kinder überlassen und damit<br />
ihre gesellschaftliche Stellung nachhaltig beschädigt hat, von einem aufdringlichen<br />
Verehrer beleidigt wird, duelliert sich Adolphe mit dem Mann, um Ellénores Ehre zu<br />
verteidigen. Kurz darauf endet auch die verlängerte Aufenthaltsfrist, die Adolphes<br />
58
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Vater seinem Sohn gewährt hatte und Adolphe kehrt zu seinem Vater zurück. In den<br />
Briefen, die er Ellénore schreibt, bemüht er sich auf den ersten Seiten um einen<br />
besonders neutralen Ton, bekommt dann aber beim Gedanken an die einsam<br />
leidende Ellénore ein schlechtes Gewissen und endet seine Briefe regelmäßig<br />
besonders leidenschaftlich. Ellénore zieht ihm schließlich nach und nimmt sich eine<br />
Wohnung in seiner Stadt. Adolphe will deshalb zunächst die endgültige Trennung<br />
herbeiführen, doch als sein Vater Ellénore aus der Stadt jagen lassen will, flüchtet<br />
Adolphe mit ihr. Er ist in dem Moment wieder überzeugt, Ellénore zu lieben, doch die<br />
sagt ihm auf den Kopf zu, daß er nur Mitleid für sie empfinde. Seine Antwort darauf<br />
ist ein weiteres Beispiel für seine dauernden Selbstbetrugsversuche:<br />
[…] vous vous trompez sur vous-même ; […] vous croyez avoir de l’amour, et vous n’avez<br />
que de la pitié – Pourquoi prononça-t-elle ces mots funestes ? Pourquoi me révéla-t-elle<br />
un secret que je voulais ignorer ? (108)<br />
Ein Geheimnis, das man ignorieren möchte, ist logischerweise zumindest für<br />
denjenigen keines, der es ignorieren will, aber gerade deshalb ist dieser Satz so<br />
bezeichnend für Adolphes Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle zu beurteilen. Auch die<br />
Reaktion seines Vaters auf die Flucht mit Ellénore entspricht nicht seinen<br />
Erwartungen: Adolphe hatte gehofft, wenigstens dadurch, daß er Widerstand gegen<br />
den Willen seines leistet, so etwas wie eine romantische „gloire“ als leidenschaftlich<br />
Liebender zu ernten, wenn ihm schon der Ruhm einer professionellen Karriere<br />
dadurch versagt bleibt, daß er sich nicht von Ellénore lösen kann. Aber selbst das<br />
mißlingt, weil sein Vater überhaupt nicht versucht, etwas gegen die Flucht zu<br />
unternehmen und sich sogar von selbst bereit erklärt, seinen Sohn weiter finanziell<br />
zu unterstützen und die Flucht als Geschäftsreise zu maskieren. Er wirft Adolphe nur<br />
vor, daß er seine besten Jahre nutzlos vergeude. Genau das hatte sich aber ja Adolphe<br />
selbst schon vorgeworfen:<br />
La lettre de mon père me perça de mille coups de poignard. Je m’étais dit cent fois ce qu’il<br />
me disait: j’avais eu cent fois honte de ma vie s’écoulant dans l’obscurité et dans<br />
l’inaction. J’aurais mieux aimé des reproches, des menaces; j’aurais mis quelque gloire à<br />
résister, et j’aurais senti la nécessité de rassembler mes forces pour défendre Ellénore des<br />
périls qui l’auraient assaillie. Mais il n’y avait point de périls; on me laissait parfaitement<br />
libre; et cette liberté ne me servait qu’à porter plus impatiemment le joug que j’avais l’air<br />
de choisir. (110)<br />
Lange Phasen melancholischer Untätigkeit wechseln bei Adolphe mit kurzen<br />
Momenten von Entscheidungsfreudigkeit ab, doch diese Entscheidungen führen<br />
regelmäßig dazu, daß er genau das Gegenteil von dem erreicht, was er bezweckt hatte.<br />
Die romantische Existenz, die er sich als Kompensation der fehlenden ruhmreichen<br />
59
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Karriere erhofft hatte, scheitert kläglich daran, daß es keine Widerstände zu<br />
beseitigen gibt, und obwohl ihm seine Existenz als eine unterjochte erscheint, hat die<br />
Außenwelt den Eindruck, er habe diese Existenz frei gewählt.<br />
Adolphe und Ellénore halten sich in diesem unvergnügten Zustand fünf Monate<br />
lang in einer kleinen Stadt in Böhmen auf, als vom Comte de P*** die Nachricht<br />
eintrifft, daß er einen Prozeß gewonnen habe, der ihm viel Geld einbringen wird, von<br />
dem er die Hälfte Ellénore abzugeben bereit sei, wenn sie sich dafür von Adolphe<br />
trennen würde. Als sie Adolphe davon in Kenntnis setzt, hat sie das Angebot des<br />
Comte bereits abgelehnt. Adolphe beschließt darauf, ihr offen zu sagen, daß er sie<br />
nicht mehr liebe und daß sie auf das Angebot eingehen solle. Er behauptet sogar, die<br />
zwei Jahre mit ihr seien die schönste Zeit seines Lebens gewesen, doch der Kern<br />
seiner Rede ist schonungslos und eigentlich unmißverständlich:<br />
Les deux années de notre liaison ne s’effaceront pas de ma mémoire; elles seront à jamais<br />
l’époque la plus belle de ma vie. Mais l’amour, ce transport des sens, cette ivresse<br />
involontaire, cet oubli de tous les intérêts, de tous les devoirs, Ellénore, je ne l’ai<br />
plus.(113)<br />
Ellénore wird nach diesen Worten ohnmächtig, und der ratlose Adolphe behauptet<br />
nun das genaue Gegenteil, um sie wieder zu sich bringen. Er habe das Ende seiner<br />
Liebe nur vorgetäuscht, damit Ellénore in ihrer Entscheidung, ob sie das Geld des<br />
Comte annehme, ganz frei sei. Ellénore glaubt das tatsächlich und kommt wieder zu<br />
sich. Der Erzähler Adolphe kommentiert das mit einem grundsätzlichen Zweifel an<br />
der Zuverlässigkeit der Herzensentscheidungen: „Crédulités du cœur, vous êtes<br />
inexplicables! Ces simples paroles, démenties par tant de paroles précédentes,<br />
rendirent Ellénore à la vie et à la confiance“ (114).<br />
Während die beiden weiter in Böhmen sitzen, bietet sich die nächste Gelegenheit<br />
zu einer entscheidenden Wende. Ellénores Vater ist in Polen wieder in an seinen<br />
üppigen Besitz gelangt und möchte nun seinen Lebensabend mit seiner einzigen<br />
Tochter verbringen. Ellénore möchte annehmen und nach Polen reisen, jedoch nur<br />
unter der Bedingung, daß Adolphe sie begleitet. Adolphe weigert sich lange, und als<br />
er nach einem halben Jahr schließlich doch einwilligt, erreicht sie die Nachricht, daß<br />
der Vater mittlerweile gestorben sei. Von den äußeren Umständen der Reise nach<br />
Polen erfahren wir genau so wenig wie von Böhmen oder den anderen Gegenden der<br />
Handlung. Anders als bei Chateaubriand tauchen konkrete Naturbeschreibungen bei<br />
Constant praktisch nicht auf, statt dessen erhalten wir minutiöse Schilderungen<br />
seelischer Zustände. Das ist natürlich kein Zufall, sondern Teil des Programms, das<br />
60
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
sich Constant selbst vorgenommen hat, wie er in einem Entwurf zur zweiten Préface<br />
ausdrücklich sagt:<br />
J’ai voulu peindre dans Adolphe une des principales maladies morales de notre siècle,<br />
cette fatigue, cette incertitude, cette absence de force, cette analyse perpétuelle, qui place<br />
une arrière-pensée à côté de tous les sentiments, et qui par là les flétrit dès leur naissance.<br />
[…] Cette maladie de l’âme est plus commune qu’on ne le croit – beaucoup de jeunes gens<br />
nous en offrent les symptômes. 76<br />
Wir werden in der nächsten Woche noch einen kurzen Blick auf die Funktion der<br />
wenigen Naturschilderungen in Adolphe werfen. Wer es bis heute noch nicht<br />
geschafft haben sollte, sieht sich bitte bis nächste Woche noch den Schluß des<br />
Romans an. Achten Sie dabei besonders auf die verschiedenen Erzählinstanzen, die<br />
durch die Herausgeberfiktion ermöglicht werden. Ein Moment der Modernität in<br />
Constant „roman personnel“ liegt unter anderem in der Polyperspektivität, die er bis<br />
zum Schluß durchhält und durch die Adolphe eben kein Thesenroman mehr ist. Die<br />
Bewertung von Adolphes Verhalten bleibt offen, der <strong>Text</strong> selbst bietet mehrere<br />
mögliche Urteile an, von denen aber keines das des Autors oder des Lesers sein muß.<br />
Ich werde dann in der nächsten Woche auch noch etwas zu Mussets Confession<br />
d’un enfant du siècle sagen, die ausdrücklich an Adolphe anschließt und in der die<br />
„maladies morales de notre siècle“. von denen Constant spricht, noch zentraler<br />
thematisiert werden.<br />
76 Constant: OC. Bd. III,1, S. 196.<br />
61
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
8.12.2010 Fiktionen des romantischen Ich (II)<br />
Wir hatten letzte Woche am Beispiel von Benjamin Constants „roman personnel“<br />
Adolphe einen prinzipiellen Zweifel an der Sprache beobachtet, oder genauer: an der<br />
Fähigkeit der Sprache, als Instrument der Selbstanalyse zu dienen. Wir hatten zum<br />
Schluß Constants Formulierung aus dem Entwurf zum zweiten Vorwort seines<br />
Romans gelesen, in dem er davon spricht, daß die unverfälschte Wahrnehmung der<br />
eigenen Gefühle immer schon dadurch beeinträchtigt werde, daß eine Wahrnehmung<br />
ohne einen gleichzeitig entstehenden ‚Hintergedanken‘, eine „arrière-pensée“, wie<br />
Constant sagt, nicht denkbar sei. Die Verbindung dieser dauernden Selbstanalyse mit<br />
der allgemeinen Kraft- und Antriebslosigkeit, durch die sich die Generation der 1816<br />
etwa Zwanzigjährigen auszeichne, habe deshalb die Ausmaße einer moralischen<br />
Krankheit des Jahrhunderts angenommen:<br />
J’ai voulu peindre dans Adolphe une des principales maladies morales de notre siècle,<br />
cette fatigue, cette incertitude, cette absence de force, cette analyse perpétuelle, qui place<br />
une arrière-pensée à côté de tous les sentiments, et qui par là les flétrit dès leur naissance.<br />
[…] Cette maladie de l’âme est plus commune qu’on ne le croit – beaucoup de jeunes gens<br />
nous en offrent les symptômes. 77<br />
Wir werden am Beispiel von Alfred de Mussets zwanzig Jahre nach Constants Roman<br />
erschienener Confession d’un enfant du siècle gleich sehen, wie sich die bei Adolphe<br />
angelegte Zeitdiagnostik weiterentwickelt, aber zunächst werfen wir noch einen Blick<br />
auf die mehrschichtige und mehrperspektivische Erzählform von Adolphe. Der<br />
Leseprozeß wird durch mehrere Instanzen gelenkt, die jeweils einen anderen Blick<br />
auf die im Mittelteil erzählte Handlung erlauben.<br />
Préfaces<br />
(2ème éd. 1816<br />
3ème éd. 1824)<br />
„Schwellentext“/<br />
Paratext<br />
Avis de<br />
l’éditeur<br />
Anecdote<br />
trouvée<br />
Lettre à<br />
dans l’éditeur<br />
Réponse<br />
les papiers d’un<br />
inconnu<br />
(Kap. 1–10)<br />
Diegese Diegese Diegese Diegese<br />
Nur die erste Ausgabe, die 1816 in London erschienen war, hatte kein Vorwort, ab der<br />
zweiten, Pariser Ausgabe, die ebenfalls 1816 erschienen war, begann die Lektüre mit<br />
dem einer ausführlichen „Préface de la seconde édition ou Essai sur le caractère et le<br />
résultat moral de l’ouvrage“. Constant wandte sich darin zunächst vehement gegen<br />
77 Constant: OC. Bd. III,1, S. 196.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
alle Versuche, den Roman autobiographisch oder als Schlüsselroman über Constants<br />
Beziehung zu Mme de Staël zu lesen. Dann bot er eine Deutung des Romans, in der er<br />
die Herausgeberfiktion indirekt dementierte und den gesamten <strong>Text</strong> als von ihm<br />
selbst verfaßt zu erkennen gab. Das moralische Ziel sei es gewesen, die fatalen Folgen<br />
eines unbedarften Gebrauchs der Sprache der Liebe zu demonstrieren, wie wir bereits<br />
letzte Woche gesehen hatten.<br />
Nach diesem Schwellen- oder Paratext im Sinne der Erzähltheorie von Gérard<br />
Genette folgt dann mit dem „Avis de l’éditeur“ der Beginn der Diegese, wenn man<br />
darunter das Gesamt der Sachverhalte und Gegenstände versteht, die von einem<br />
narrativen <strong>Text</strong> als existent behauptet oder impliziert werden. In diesem Avis<br />
erfahren wir über den Protagonisten Adolphe noch nichts Präzises, nicht einmal<br />
seinen Namen. Wir erfahren vor allem, wie der Herausgeber an die Anekdote gelangt<br />
ist, die wir in den zehn Kapiteln des Hauptteils lesen werden. Wir hatten letzte<br />
Woche bereits gesehen, daß wir dabei zwei Zeitebenen unterscheiden müssen: die<br />
Ebene des Geschehens, also die drei Jahre der erzählten Zeit, die im Präteritun<br />
stehen, und die im Präsens gehaltenen Kommentare des verzweifelten, älteren<br />
Adolphe, die bereits eine erste Wertung enthalten. Daß zwischen diesen beiden<br />
Ebenen häufig eine Diskrepanz auftritt, die den Leser seinerseits zu einem Urteil<br />
zwingt, hatten wir auch letzte Woche gesehen. Der erzählende Adolphe verleiht den<br />
Handlungen des erzählten Adolphe oft nachträglich Motivationen, die diese<br />
Handlungen in dem Kontext, in dem sie uns beschrieben werden, nicht gehabt haben<br />
können. Nach dem dramatischen Schluß der Anekdote im 10. Kapitel folgt die „Lettre<br />
à l’éditeur“, die der unbekannte deutsche Gesprächspartner des Herausgebers verfaßt<br />
hat, der uns bereits im einleitenden „Avis“ angekündigt worden war. Dieser<br />
unbekannte Mitleser bestätigt uns, daß sich die Geschichte von Adolphe und Ellénore<br />
so abgespielt habe, wie sie in der Anekdote beschrieben wird.<br />
Der Brief liefert uns eine kurze Beschreibung von Adolphes Zustand nach<br />
Ellénores Tod und schließt dabei an ein Fazit an, das Adolphe selbst gegen Ende des<br />
10. Kapitels formuliert hatte. Adolphe hatte unmittelbar nach dem Tod seiner<br />
Geliebten festgestellt: „J’étais libre, en effet, je n’étais plus aimé : j’étais étranger pour<br />
tout le monde. » Der Kommentar des unbekannten Lesers zeigt uns, daß auch das<br />
wieder eine Selbsttäuschung war :<br />
L’exemple d’Adolphe ne sera pas moins instructif, si vous ajoutez qu’après avoir repoussé<br />
l’être qui l’aimait, il n’a pas été moins inquiet, moins mécontent ; qu’il n’a fait aucun<br />
usage d’une liberté reconquise au prix de tant de douleurs et de tant de larmes ; et qu’en<br />
se rendant bien digne de blâme, il s’est rendu aussi digne de pitié. (169)<br />
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Der Unbekannte erwähnt dann noch eine Reihe von Briefen Adolphes, die er dem<br />
Herausgeber übersendet, und die Adolphes Charakter noch deutlicher erkennen<br />
lassen und verständlicher machen sollen:<br />
„[…] vous le verrez dans bien des circonstances diverses, et toujours victime de ce<br />
mélange d’égoïsme et de sensibilité qui se combinait en lui pour son malheur et celui des<br />
autres.<br />
Doch diese Briefe zeigt uns der Herausgeber nicht. Stattdessen druckt er die<br />
„Réponse“ ab, die eine scharfe Verurteilung von Adolphes Verhalten bietet. Die<br />
Selbstanalyse, die Adolphe unternimmt, könne keine Entschuldigung für seine<br />
Vergehen sein:<br />
La grande question dans la vie, c’est la douleur que l’on cause, et la métaphysique la plus<br />
ingénieuse ne justifie pas l’homme qui a déchiré le cœur qui l’aimait. Je hais d’ailleurs<br />
cette fatuité d’un esprit qui croit excuser ce qu’il explique; je hais cette vanité qui s’occupe<br />
d’elle-même en racontant le mal qu’elle a fait, qui a la prétention de se faire plaindre en se<br />
décrivant, et qui, planant indestructible au milieu des ruines, s’analyse au lieu de se<br />
repentir. (171)<br />
Im Ton dieses vernichtenden Urteils endet die „Réponse“, die damit das zunächst<br />
letzte Wort behält. Wenn man von dieser Perspektive aus noch einmal das Vorwort<br />
von 1816 liest, fällt auf, daß die „fatuité“, also die ‚Selbstgerechtigkeit‘ die dem<br />
Herausgeber in der „Réponse“ als hassenswert erscheint, dort, also im Vorwort,<br />
bereits auftaucht. Dort erscheint sie allerdings nicht als die persönliche Schuld<br />
Adolphes, sondern als Generationsphänomen. Die Generation Adolphes habe diese<br />
Selbstgerechtigkeit von der Generation ihrer Väter geerbt, ohne jedoch die ironische<br />
Distanz aufrecht erhalten zu können, mit der die Väter sich die Leiden, die sie<br />
verursachten, noch vom Leib halten konnten:<br />
Une doctrine de fatuité, tradition funeste, que lègue à la vanité de la génération qui s’élève<br />
la corruption de la génération qui a vieilli, une ironie devenue triviale, mais qui séduit<br />
l’esprit par des rédactions piquantes, […] et tout ce qu’ils disent, semble les armer contre<br />
les larmes qui ne coulent pas encore.<br />
In der Anekdote sind die Vertreter der gealterten, ironischen Generation Adolphes<br />
Vater und dessen Freund, der französische Gesandte in Warschau, der Baron de T***.<br />
Wir haben bereits gesehen, daß die tolerante und nahezu gleichgültige Art, mit der<br />
der Vater auf Adolphes Eskapaden reagiert und die Folgen dieser Eskapaden noch zu<br />
decken versucht, den Sohn sich immer weiter in seinen Widersprüchen verstricken<br />
läßt.<br />
Der Generationenkonflikt ist auch ein Konflikt zweier Formen des Zynismus: des<br />
unbarmherzig konsequenten Zynismus der Vätergeneration und des inkonsquenten,<br />
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von der eigenen Sentimentalität durchkreuzten Zynismus der Söhne. In seinen für<br />
Ellénore tödlichen Folgen wird dieser Zusammenstoß in der Auseinandersetzung<br />
Adolphes mit dem Baron de T*** illustriert. Der Baron ist schon vor Adolphes<br />
Eintreffen in Warschau über die Affaire mit Ellénore informiert und reagiert auf<br />
Adolphes Beschreibung seiner verfahrenen Lage gelangweilt: das sei ein alter Hut,<br />
jeder Mann habe schon einmal eine Frau verlassen wollen und Angst gehabt, sie<br />
damit zu verletzen, und jede leidenschaftliche Frau habe schon einmal gesagt, daß es<br />
ihr Tod sei, wenn sie verlassen würde. Bis jetzt hätten das aber alle überlebt und sich<br />
auch bald getröstet:<br />
[…] il n’y a pas d’homme qui ne se soit, une fois dans sa vie, trouvé tiraillé par le désir de<br />
rompre une liaison inconvenable et la crainte d’affliger une femme qu’il avait aimée […].Il<br />
n’y a pas une de ces femmes passionnées dont le monde est plein qui n’ait protesté qu’on<br />
la ferait mourir en l’abandonnant ; il n’y en a pas une qui ne soit encore en vie et qui ne<br />
soit consolée. (122)<br />
Adolphe reagiert auf diese Belehrungen mit einer glühenden Verteidigung Ellénores,<br />
an die er aber schon selbst nicht mehr glaubt, als er das Zimmer des Barons verläßt.<br />
Er sucht nun in der herbstlichen polnischen Landschaft nach Reflexen seines inneren<br />
Zustands und findet diese auch sofort. Die Art, wie Adolphe diese Natureindrücke<br />
formuliert, sind allerdings so klischeehaft, daß man auch hier dem Erzähler nicht<br />
trauen kann. Der Anblick des grauen Himmels, der den Horizont verschwinden läßt,<br />
verschafft ihm ein Gefühl von Unermeßlichkeit, „la sensation de l’immensité“, was<br />
ihm gegenüber seinen ständigen Gedanken an seine komplizierte<br />
Beziehungsgeschichte als eine Befreiung erscheint. Er redet sich ein, daß ihm der<br />
Anblick der Natur zu neuen und großzügigeren Gedanken verhelfe, macht aber in der<br />
Art, in der er darüber spricht, für den Leser sofort klar, daß es sich um einen weiteren<br />
Versuch handelt, sich selbst zu betrügen:<br />
Je m’étais rapetissé, pour ainsi dire, dans un nouveau genre d’égoïsme, dans un égoïsme<br />
sans courage, mécontent et humilié; je me sus bon gré de renaître à des pensées d’un<br />
autre ordre, et de me retrouver la faculté de m’oublier moi-même, pour me livrer à des<br />
méditations désintéressées; mon âme semblait se relever d’une dégradation longue et<br />
honteuse.<br />
Welche sprachlichen Indizien haben wir hier dafür, daß wieder jedes vermeintlich<br />
spontane Gefühl von einem Hintergedanken, einer „arrière-pensée“ begleitet ist?<br />
Wenn er sich selbst dankbar dafür ist (“je me sus bon gré“), daß ihm die Natur zu<br />
angeblich desinteressierten Meditationen verhilft, haben wir es zumindest mit einer<br />
doppelten Persönlichkeit zu tun, sicher aber nicht mit spontanem, unvermitteltem<br />
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Naturempfinden. Das romantische Naturgefühl ist hier also nur ein Klischee, mit<br />
dem sich Adolphe für kurze Zeit einzureden versucht, er löse sich allmählich von<br />
Ellénore. In diesem Sinn schreibt er dann auch dem zynischen Baron de T*** einen<br />
Brief, in dem er ihn zunächst noch um etwas Aufschub bittet, den er dann aber, um<br />
diesen Aufschub um so sicherer zu erhalten, mit wortreichen Bekundigungen endet,<br />
daß man seine Beziehung mit Ellénore schon jetzt als beendet betrachten könne.<br />
Während aber Adolphe über sein Handeln immer nur spricht, ohne wirklich zu<br />
handeln, übernimmt der Zyniker aus der Vatergeneration den Schritt für ihn, indem<br />
er Ellénore den Brief sendet. Dadurch wird aus dem bloßen Sprechen über die Tat<br />
zwar noch nicht die Tat selbst, doch der Schock der Lektüre ruiniert Ellénores<br />
Gesundheit so gründlich, daß sie bald darauf stirbt. Als Adolphe die Reaktion<br />
Ellénores beobachtet, kann er sich sogar seinen eigenen Brief noch einmal neu<br />
interpretieren. Seine Feigheit und seine Passivität, die ihn vor der Trennung<br />
zurückschrecken ließen und die ihm die Versicherungen für den Baron eingegeben<br />
hatten, deutet er nun als ausdrücklichen Wunsch, mit Ellénore zusammenzubleiben:<br />
Ellénore avait lu, tracées de ma main, mes promesses de l’abandonner, promesses qui<br />
n’avaient été dictées que par le désir de rester plus longtemps près d’elle, et que la vivacité<br />
de ce désir m’avait porté à répéter, à développer de mille manières.<br />
Die Energie, die ihm für konkretes Handeln fehlt, steckt Adolphe offensichtlich<br />
ausschließlich in die schriftliche Reflexion über seine möglichen Handlungen. Der<br />
Baron hingegen handelt vollkommen skrupellos und überrumpelt den passiven<br />
Adolphe dadurch.<br />
Der Konflikt zwischen einer als zynisch und libertin interpretierten<br />
Aufklärungstradition der Generation der lebenstüchtigen Väter und der fatalen<br />
Passivität der melancholischen Generation der Söhne ist zwanzig Jahre nach dem<br />
Erscheinen von Adolphe in noch größerer Ausführlichkeit von Alfred de Musset in<br />
einem weiteren „roman personnel“ gestaltet worden. Die Confession d’un enfant du<br />
siècle, 1836 in Buchform erschienen, weist viele Parallelen zu Constants Adolphe auf:<br />
auch in der Confession erzählt ein Ich, der anfangs neunzehnjährige Octave,<br />
retrospektiv seine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte mit einer zehn Jahre<br />
älteren Geliebten; auch Octave ist hin- und hergerissen zwischen den Versuchungen<br />
einer Existenz als skrupelloser Libertin und seinen romantisch-sentimentalen<br />
Sehnsüchten nach der absoluten Liebe. Und wie Constant konstatiert auch Mussets<br />
Octave, daß er an einer moralischen Krankheit leide, die für seine ganze Generation<br />
typisch sei:<br />
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Ayant été atteint, jeune encore, d’une maladie morale abominable, je raconte ce qui m’est<br />
arrivé pendant trois ans. Si j’étais seul malade, je n’en dirais rien; mais, comme il y en a<br />
beaucoup d’autres que moi qui souffrent du même mal, j’écris pour ceux-là, sans trop<br />
savoir s’ils y feront attention. 78<br />
Wollte man außertextuelle Argumente heranziehen, könnte man noch sagen, daß<br />
auch Mussets Confession einen autobiographischen Hintergrund erkennen läßt. Die<br />
drei Jahre, von denen der <strong>Text</strong> von 1836 spricht, lassen sich relativ genau auf die<br />
Jahre von 1833 bis 1835 beziehen, in denen der 1810 geborene Musset eine äußerst<br />
dramatische Beziehung mit der sechs Jahre älteren Aurore Dupin durchlebte. Aurore<br />
Dupin war seit 1832 unter dem Namen George Sand als Autor von zwei Romanen<br />
bekannt, Indiana und Valentine, die das Leid junger Frauen unter den Konventionen<br />
der bürgerlichen Ehe dargestellt hatten. Die Beziehung zwischen Musset und George<br />
Sand ist deshalb seit jeher ein beliebter Gegenstand der Klatschgeschichte der<br />
französischen <strong>Romantik</strong>. Mussets Leben eignet sich überhaupt sehr gut für<br />
Klischeebilder des romantisches Autors: seine ersten literarischen Erfolge erzielt er<br />
mit nicht einmal zwanzig Jahren, er fällt durch eine ununterbrochene Reihe von<br />
Affairen auf, führt ein ausschweifendes Leben mit intensivem Alkohol- und<br />
Opiumkonsum und stirbt mit 47 Jahren. In seinen Gedichten, von denen viele zu den<br />
Anthologiestücken der französischen <strong>Romantik</strong> gehören, stilisiert er sich bisweilen<br />
als einsames Dichtergenie, das seinen Liebesschmerz besingt, doch er ist auch der<br />
Verfasser von zahlreichen elegant-satirischen Gesellschaftsdramen und einer Reihe<br />
von ironischen Briefen über die <strong>Romantik</strong>, den Lettres de Dupuis et Cotonet von<br />
1836, an die Flaubert mit seinem Roman Bouvard et Pécuchet anschließen wird. Wir<br />
werden darauf noch zurückkommen, doch zunächst zur Confession:<br />
Anders als Adolphe beginnt die Confession mit einer sehr präzisen historischen<br />
Lagebeschreibung. Die „maladie morale abominable“, von der im ersten Kapitel die<br />
Rede ist, wird im berühmten zweiten Kapitel in ihrer geschichtlichen Bedingtheit<br />
vorgeführt. Es ist die Krankheit der Söhne der Soldaten Napoleons, die ihre Väter<br />
jahrelang nur als ferne Helden kannten, die exotisch klingende Gegenden der Welt<br />
eroberten, die aber selbst keine Gelegenheit mehr hatten, es den Vätern gleichzutun,<br />
weil plötzlich der gottgleiche Kaiser verschwunden war und die einzige noch<br />
mögliche Karriere im Priesterstand lag. Diese Generation war schon mit allen<br />
Anzeichen der romantischen Verfassung zur Welt gekommen:<br />
78 Alle Zitate nach der Ausgabe der Confession in: Alfred de Musset: Œuvres complètes. 2 Bde. Paris:<br />
Seuil 1963, hier Bd. 2, S. 312.<br />
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Pendant les guerres de l’Empire, tandis que les maris et les frères étaient en Allemagne,<br />
les mères inquiètes avaient mis au monde une génération ardente, pâle, nerveuse. […]<br />
Diese blassen, nervösen Knaben träumen jahrelang davon, in die Fußstapfen ihrer<br />
Väter und ihrer größeren Brüder zu treten, doch plötzlich ist der „Cäsar“, der alles<br />
überstrahlt hatte, verschwunden, und die Restauration von Adel und Klerus<br />
dominiert das Land:<br />
Ils avaient rêvé pendant quinze ans des neiges de Moscou et du soleil des Pyramides. Ils<br />
n’étaient pas sortis de leurs villes, mais on leur avait dit que, par chaque barrière de ces<br />
villes, on allait à une capitale d’Europe. Ils avaient dans la tête tout un monde; ils<br />
regardaient la terre, le ciel, les rues et les chemins; tout cela était vide, et les cloches de<br />
leurs paroisses résonnaient seules dans le lointain. (313)<br />
Die Kinder hoffen immer noch, daß der Kaiser zurückkehren und die<br />
gespensterhaften Priester und die anachronistischen Adligen wieder wegblasen<br />
werde, aber nichts passiert und sie müssen die absurde Herrschaft einer<br />
zombiehaften Gesellschaft ertragen, die eigentlich schon seit 25 Jahren tot ist:<br />
Les enfants regardaient tout cela, pensant toujours que l’ombre de César allait débarquer<br />
à Cannes et souffler sur ces larves ; mais le silence continuait toujours, et l’on ne voyait<br />
flotter dans le ciel que la pâleur des lis. Quand les enfants parlaient de gloire, on leur<br />
disait : ‘Faites-vous prêtres‘, quand ils parlaient d’ambition : ‘Faites-vous prêtres‘ ;<br />
d’espérance, d’amour, de force, de vie : ‘Faites-vous prêtres‘. (313)<br />
Stendhal hatte diese Stimmung 1830 in Le Rouge et le Noir beschrieben und im<br />
Heuchler Julien Sorel genau diesen inneren Konflikt zwischen dem Kult für den<br />
verschwundenen Kaiser und dem Priestertum als einziger Karriereperspektive<br />
dargestellt. Die Confession ist zwar insgesamt wesentlich weniger unterhaltsam als<br />
Stendhals Roman, aber als Dokument der Heuchelei der Restaurationsgesellschaft<br />
ebenso wichtig. Die Restauration habe nach 1815 die gesellschaftlichen Kontakte<br />
zwischen Männern und Frauen stark eingeschränkt und einem antiquierten<br />
katholischen Ideal unterworfen. Die Frauen sollten vor der Ehe in Fragen der<br />
Sexualität unwissend bleiben, die Männer durften sich mehr oder weniger<br />
stillschweigend mit Prostituierten die Zeit vor und außerhalb der Ehe vertreiben:<br />
En même temps que la vie au-dehors était si pâle et si mesquine, la vie intérieure de la<br />
société prenait un aspect sombre et silencieux ; l’hypocrisie la plus sévère régnait dans les<br />
mœurs. […] s’étaient jeté dans le vin et dans les courtisanes. Les étudiants<br />
et les artistes s’y jetèrent aussi : l’amour était traité comme la gloire et la religion : c’était<br />
une illusion ancienne. (315)<br />
Weder in der bürgerlichen Ehe noch in den Ausschweifungen der desillusionierten<br />
jungen Männer spielte die Liebe noch irgendeine Rolle. Das Drama der Beziehung<br />
zwischen Octave und seiner Geliebten wird auch genau darin bestehen, daß Octave<br />
nach einer Phase als Libertin zwischen der zynischen Haltung gegenüber Frauen und<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
der Idee der Liebe einerseits und seiner immer wieder ausbrechenden Sehnsucht<br />
nach der absoluten Liebe andererseits kein erträgliches Gleichgewicht mehr findet.<br />
Doch das historische Eingangskapitel macht noch einen weiteren Grund für die<br />
Verzweiflung der „enfants du siècle“ aus: Auch literarisch ist schon alles gesagt, weil<br />
Goethe und Byron, die literarischen Napoleons, die Seelenzustände der Generation<br />
von Octave bereits beschrieben haben, ohne daß sie selbst die gleiche Ohnmacht zu<br />
erleiden gehabt hätten.<br />
Or, vers ce temps-là, deux poètes, les deux plus beaux génies du siècle après Napoléon,<br />
venaient de consacrer leur vie à rassembler tous les éléments d’angoisse et de douleur<br />
épars dans l’univers. Goethe, le patriarche d’une littérature nouvelle, après avoir peint<br />
dans Werther la passion qui mène au suicide, avait tracé dans son Faust la plus sombre<br />
figure humaine qui eût jamais représenté le mal et le malheur. Ses écrits commencèrent<br />
alors à passer d’Allemagne en France. […] Byron lui répondit par un cri de douleur […].<br />
(315)<br />
Die Wirkung der Ideen der Literaturen des Nordens auf die Franzosen – und hier<br />
erkennen wir deutlich die Spuren von Mme de Staëls Länderschema – seien<br />
besonders verhängnisvoll gewesen, weil man in Frankreich auf derart schwere<br />
melancholische Kost nicht vorbereitet gewesen sei. Die leichtsinnigen Franzosen<br />
hätten sich daher an den romantischen Ideen aus England und Deutschland<br />
lebensgefährlich übernommen:<br />
Quand les idées anglaises et allemandes passèrent ainsi sur nos têtes, ce fut comme un<br />
dégoût morne et silencieux, suivi d’une convulsion terrible. […] Ce fut comme une<br />
dénégation de toutes choses du ciel et de la terre, qu’on peut nommer désenchantement,<br />
ou, si l’on veut, désespérance, comme si l’humanité en léthargie avait été crue morte par<br />
ceux qui lui tâtaient le pouls. (316)<br />
Leider verliert Musset den historischen und kulturellen Rahmen, den er in diesem<br />
zweiten Kapitel skizziert, im Verlauf der Geschichte immer weiter aus den Augen.<br />
Viele Kritiker haben deshalb den Roman mit Ausnahme des zweiten Kapitels als<br />
weitgehend ungenießbar bezeichnet, so etwa noch vor einigen Jahren Pierre<br />
Laforgue, der von einer „illustration insupportable de toute le mussétisme“ (Pierre<br />
Laforgue: La confession d’un enfant du siècle, ou Histoire, fiction, Œdipe. In: ders.:<br />
L’Œdipe romantique. Grenoble: Ellug 2002, S. 161) gesprochen hat.<br />
Das scheint mir aber ein wenig ungerecht zu sein, besonders wenn man sieht, wie<br />
überlegt und ironisch Musset kurz nach Erscheinen des Romans in den erwähnten<br />
Lettres de Dupuis et Cotonet die literarischen Konventionen der <strong>Romantik</strong> analysiert.<br />
Wir werden uns diese Briefe noch näher ansehen, aber es fällt jedenfalls schwer zu<br />
glauben, daß Musset fast gleichzeitig an seinem Roman gearbeitet haben soll, ohne<br />
diese Konventionen genau zu bedenken.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Die eigentliche Romanhandlung beginnt damit, daß der junge und schwer<br />
verliebte Octave bei einem Festessen seine Gabel verliert. Als er sich unter den Tisch<br />
bückt, um sie aufzuheben, sieht er, daß seine Geliebte, die ihm gegenübersitzt, ihr<br />
Bein über das ihres Tischnachbarn geschlungen hat. Octave wird fast ohnmächtig,<br />
kann dem Gesichtsausdruck der beiden aber keine Regung entnehmen, so daß er<br />
schon zu hoffen beginnt, er habe sich getäuscht. Er läßt nun seine Serviette fallen,<br />
bückt sich noch einmal unter den Tisch – und muß denselben unveränderten Anblick<br />
der ineinander verschlungenen Beine ertragen.<br />
Nach dem Fest beginnt eine Phase verzweifelter Szenen mit Mord- und<br />
Selbstmorddrohungen, doch die Trennung ist unvermeidlich. Ein Freund Octaves,<br />
der ein Leben als skrupelloser „débauché“ führt, will Octave dazu verleiten, sich<br />
ähnlich hemmungslos zu amüsieren und die treulose Geliebte zu vergessen. Octave<br />
lehnt zunächst empört ab, gibt sich dann aber zumindest Mühe und kann einige<br />
Erfolge auf dem Gebiet der „débauche“ verzeichnen. Nach einigen Rückfällen in seine<br />
melancholische Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten gelingt ihm seine Existenz<br />
als Libertin immer besser, so daß er im zweiten Teils des Romans schon beschließen<br />
kann, die „gloire“, die ihm ansonsten beruflich und gesellschaftlich versagt ist,<br />
wenigstens auf dem Gebiet des offen ausgelebten Libertinage zu erreichen:<br />
Tandis que le libertinage honteux et secret avilit l’homme le plus noble, dans le désordre<br />
franc et hardi, dans ce qu’on peut nommer la débauche en plein air, il y a quelque<br />
grandeur, même pour le plus dépravé. (335)<br />
Doch er wird immer wieder von grundsätzlichen Zweifeln geplagt und flüchtet sich<br />
ins Gebet, womit er in besonders aufgewühlten Momenten sogar seinen libertinen<br />
Freund zu Tränen rührt. In einem solchen Moment des Zweifels erreicht ihn die<br />
Nachricht, daß sein Vater im Sterben liege. Er eilt auf den Landsitz seines Vaters,<br />
doch kommt er zu spät. Er beschließt nun, nicht nach Paris zurückzukehren und<br />
bleibt im Haus des Vaters, das in einem kleinen Dorf fern der Hauptstadt liegt. Dort<br />
lernt er nach einigen Wochen eine knapp dreißigjährige Frau namens Brigitte Pierson<br />
kennen, in die er sich bald heftig verliebt. Nach intensivem Werben gesteht auch sie<br />
ihm ihre Liebe, doch die Beziehung ist schon nach kurzer Zeit durch Octaves<br />
Schwanken zwischen Rückfällen in seine libertine Frauenfeindlichkeit und Attacken<br />
rasender Eifersucht belastet, obwohl ihm seine Geliebte dazu nicht den geringsten<br />
Anlaß bietet.<br />
Die beiden werden bald zum Gesprächsthema des kleinen Dorfes, und die<br />
ehemalige Tugendkönigin Brigitte verspielt ihren guten Ruf. Sie erträgt das alles mit<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
unendlicher Leidensfähigkeit, ebenso wie die dauernden Quälereien ihres halb<br />
wahnsinnigen Freundes, dem sie schließlich sogar nach Paris folgt. Dort machen die<br />
beiden Reisepläne, die sie für einige Zeit wieder heiterer stimmen. Als plötzlich ein<br />
junger Mann aus dem Heimatort von Brigittes Eltern auftaucht, der ihr Briefe<br />
überbringt, verschlechtert sich ihre Stimmung schlagartig. Sie teilt Octave mit, daß<br />
ihre Eltern ihr drohen, sie zu verstoßen, wenn sie sich nicht von ihrem Geliebten<br />
trennen sollte. Brigitte ist trotzdem bereit, die Reise sofort anzutreten. Doch Octave<br />
will nun in einem masochistischen Selbstversuch testen, ob sich Brigitte nicht in den<br />
jungen Mann verlieben könnte, der die Briefe überbringt, und verschiebt die Abreise<br />
ständig. Als er auf dem Höhepunkt der selbst provozierten Eifersucht angelangt ist,<br />
will er die nach einem heftigen Streit kollabierte Brigitte im Schlaf erdolchen, findet<br />
dabei aber zunächst ein Kreuz auf ihrer Brust, das ihn zurückschrecken läßt, und<br />
findet dann einen Brief, in dem Brigitte dem jungen Mann, in den sie sich tatsächlich<br />
verliebt hat, mitteilt, daß sie trotz allem bei Octave zu bleiben gedenke und daß sie<br />
bereit sei, für und durch Octave zu sterben. Das führt bei Octave zu einer<br />
schlagartigen christlichen Läuterung und zu einem ziemlich unbefriedigenden<br />
Romanende.<br />
Wir werden in der nächsten Woche noch einige Aspekte der „maladie du siècle“<br />
aus der Confession ansehen und noch knapp auf die besagten Lettres de Dupuis et<br />
Cotonet eingehen. Als Beispiel für eine romantische Autobiographie werden wir uns<br />
dann vor allem Stendhals Vie de Henry Brulard und Chateaubriands Mémoires<br />
d’outre-tombe ansehen.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
14.12.2010<br />
Wir hatten in der letzten Woche die Handlung von Mussets Confession d’un enfant<br />
du siècle zusammengefaßt und dabei einen auffälligen Kontrast zwischen dem<br />
historischen Ton des zweiten Kapitels des ersten Teils und der anschließenden<br />
Romanhandlung festgestellt. Nach der sehr ausführlichen Schilderung des<br />
historischen und literarischen Klimas, in dem die „enfants du siècle“ unter dem<br />
Empire und zu Beginn der Restauration aufwachsen, nach der Nennung von präzisen<br />
Daten und Namen (der Kaiserkrönung, bei der Napoleon den Papst nach Paris<br />
kommen ließ und ihm dann die Krone aus der Hand nahm, um sie sich selbst<br />
aufzusetzen; Schlachten des Kaiserreichs, Ägypten, Moskau, Goethe und Byron mit<br />
ihren Werken Werther, Faust und Manfred), erfolgt die eigentliche Erzählung in<br />
einem praktisch undatierten und von den historischen Einflüssen auf den ersten<br />
Blick vollkommen unberührten Vakuum.<br />
Es ließe sich aber auch argumentieren, daß das historische Eingangskapitel nur<br />
die Zeit von etwa 1805 bis 1820 beschreibt, und daß die folgende Romanhandlung in<br />
der Zeit danach angesiedelt ist, in der die lebensunfähigen ‚Kinder des Jahrhunderts‘<br />
in einer historisch unbestimmten Zeit eines ‚Dazwischen‘ leben müssen: das Alte ist<br />
unwiederbringlich vergangen, aber das Neue ist noch nicht in Sicht:<br />
Toute la maladie du siècle présent vient de deux causes ; le peuple qui a passé par 93 et<br />
1814 porte au cœur deux blessures. Tout ce qui était n’est plus ; tout ce qui sera n’est pas<br />
encore. Ne cherchez pas ailleurs le secret de nos maux. (317)<br />
Die Kritik hat sich gefragt, warum die Julirevolution von 1830 in diesem 1836<br />
erschienenen Roman nicht auftaucht (Pierre Barbéris: Le Prince et le Marchand.<br />
Paris: Fayard 1980), aber das ist aus mindestens zwei Gründen eine unsinnige Frage:<br />
erstens ist der Autor ja nicht verpflichtet, alle zeithistorischen Ereignisse angemessen<br />
zu berücksichtigen, seien sie auch noch so wichtig,<br />
und zweitens erlaubt uns die historische Vagheit der Handlung gar nicht zu sagen,<br />
ob wir uns bereits nach 1830 befinden, oder ob sich nicht die gesamte Diegese auch<br />
um 1825 abspielen könnte.<br />
Man könnte auch versuchen, den Roman stärker zu machen als er üblicherweise<br />
gelesen wird und gerade das auf den ersten Blick unbefriedigende Ungleichgewicht<br />
als Teil des Konzepts zu erklären versuchen. Die Geschichtslosigkeit des Hauptteils<br />
wäre dann auch ein Ausdruck der Krankheit und eine Reaktion auf die Übersättigung<br />
mit Geschichte, der diese „enfants du siècle“ in ihrer Kindheit ausgesetzt waren.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Für diese Lesart würde auch das merkwürdige Schwanken zwischen Libertinage und<br />
romantischer Beziehungssehnsucht sprechen, in dem wir Octave hin- und<br />
hergerissen sehen. Die <strong>Romantik</strong> wäre dann im Roman nur die andere Seite des<br />
Libertinage, und tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise im <strong>Text</strong>, daß beide<br />
austauschbar sein könnten. Schon die große literarische Entdeckung, die<br />
Chateaubriand mit der angeblich christlichen <strong>Romantik</strong> gemacht hatte, erscheint bei<br />
Musset als ein vergiftetes Geschenk. Hinter der christlichen Hülle habe sich in<br />
Wirklichkeit die asiatische Pest der Verzweiflung, der „desespérance“ versteckt. Die<br />
Würde des christlichen Kults habe deshalb dazu beigetragen, eine Krankheit zu<br />
verbreiten, deren Folgen man sich als den reinen Horror vorstellen darf:<br />
Pareille à la peste asiatique exhalée des vapeurs du Gange, l’affreuse désespérance<br />
marchait à grands pas sur la terre. Déjà Chateaubriand, prince de la poésie, enveloppant<br />
l’horrible idole de son manteau de pèlerin, l’avait placée sur un autel de marbre, au milieu<br />
des parfums des encensoirs sacrés. […] Une littérature cadavéreuse et infecte, qui n’avait<br />
que la forme, mais une forme hideuse, commença d’arroser d’un sang fétide tous les<br />
monstres de la nature. (316)<br />
Das, was Chateaubriand christlich verpackt auf einen Altar gestellt hatte, kennen wir<br />
bereits als die französische Frühromantik. In Mussets drastischem Bild hat<br />
Chateaubriand damals aber eher wie ein Schmuggler unter seinem christlichen<br />
Pilgermantel einen äußerst ungesunden Gegenstand versteckt, um ihn dann auf dem<br />
Marmoraltar mit Weihrauch zu umgeben, gewissermaßen um die Pestgerüche, die<br />
davon ausgingen, noch für eine Weile zu vertreiben. Aber wie die Fortsetzung dieser<br />
Stelle zeigt, war die Wirkung dieser Pest damit nicht unterbunden. An wen genau wir<br />
bei dieser ziemlich ekelerregenden Literatur zu denken haben, sagt uns der Erzähler<br />
nicht, aber wir dürfen uns diese Literatur als direkte Folge der von Chateaubriand auf<br />
den Altar gehobenen „desespérance“ vorstellen, an der schon René gelitten hatte. Die<br />
<strong>Romantik</strong> ist also im <strong>Text</strong> eine von mehreren möglichen Ausdrucksformen, von<br />
denen keinen eindeutig bevorzugt wird. Man könnte deshalb die Confession,<br />
gemeinsam mit Mussets kurz nach dem Roman veröffentlichten Lettres de Dupuis et<br />
Cotonet als zwei Versuche lesen, eine Bestandsaufnahme der französischen <strong>Romantik</strong><br />
aus der Perspektive von 1836 zu bieten. Während die Confession die pathetische<br />
Variante liefert, in der die Symptome des romantischen Verhaltens eine von<br />
mehreren mehr oder weniger pathologischen Möglichkeiten darstellen, zeigen die<br />
Briefe der beiden Provinzler Dupuis und Cotonet die naive Außensicht zweier<br />
bürgerlicher Spießer, die in ihren pedantischen Versuchen, die <strong>Romantik</strong> zu<br />
definieren, zwangsläufig scheitern. Aber gerade das definitorische Scheitern ließe sich<br />
73
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
als gemeinsames Merkmal des pathetischen „roman personnel“ und der satirischen<br />
Briefe festmachen.<br />
Einen überzeugenden literarischen Gegenentwurf zur <strong>Romantik</strong> gibt es im <strong>Text</strong><br />
der Confession jedoch nicht. Auch jede mögliche andere Form von Literatur ist<br />
diskreditiert, weil es eine heile Welt und unbeschwerte Liebeserlebnisse nicht mehr<br />
geben kann Die endlosen und letztlich ergebnislosen oder zumindest frustrierenden<br />
Versuche, das eigene Ich zu begreifen, machen den Kern des „roman personnel“ aus.<br />
Véronique Dufief-Sanchez hat in einer sehr lesenswerten Arbeit, die vor kurzem<br />
erschienen ist, diese melancholische Suche nach Selbsterkenntnis anhand einer Reihe<br />
von Ich-Romanen als zentrales Problem der Gattung beschrieben. Einige dieser <strong>Text</strong>e<br />
sind uns schon begegnet, an einigen weiteren ließe sich dieses Problem in weiteren<br />
Varianten untersuchen.<br />
Dufief-Sanchez behandelt in chronologischer Abfolge u. a.<br />
Chateaubriands René (1802)<br />
Senancours Obermann (1804)<br />
Constants Adolphe (1816)<br />
Émile de Girardin: Émile, fragments (1827)<br />
Astolphe de Custine: Aloys ou le religieux du Mont Saint-Bernard (1829)<br />
Mussets Confession (1836)<br />
Balzacs Le Lys dans la Vallée (1836)<br />
Flauberts Mémoires d’un fou (1838)<br />
Flauberts Novembre (1842)<br />
Alphonse Karr: Voyage autour de mon jardin (1845)<br />
und als Endpunkt der Gattung Eugène Fromentin: Dominique (1863)<br />
(Véronique Dufief-Sanchez: Philosophie du roman personnel de Chateaubriand à<br />
Fromentin 1802–1863. Genève: Droz 2010)<br />
Aber zurück zu Musset.<br />
Schon in einem Langgedicht mit dem Titel Les vœux stériles, das er im Oktober 1830<br />
in der Revue de Paris veröffentlicht hatte, stand das gespannte Verhältnis des<br />
schreibenden zum analysierten Ich zur Debatte. Damals hatte er geschrieben:<br />
Je suis jeune; j’arrive. A moitié de ma route,<br />
Déjà las de marcher, je me suis retourné.<br />
La science de l’homme est le mépris sans doute;<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
C’est un droit de vieillard qui ne m’est pas donné.<br />
Mais qu’en dois-je penser? Il n’existe qu’un être<br />
Que je puisse en entier et constamment connaître,<br />
Sur qui mon jugement puisse au moins faire foi,<br />
Un seul!… Je le méprise. – Et cet être, c’est moi.<br />
In der Confession ist dann zur Verachtung auch noch die Ungewißheit<br />
hinzugekommen, ob das, was Octave über sich sagen kann, auch wirklich zutrifft.<br />
Diese dauernden Zweifel werden auch durch das Schwanken zwischen den<br />
literarischen Präferenzen illustriert, also zwischen der libertinen Literatur und der<br />
<strong>Romantik</strong>.<br />
Octaves libertiner Freund Desgenais macht sich über den Liebeskummer des<br />
soeben von seiner Geliebten verlassenen Octave lustig und sagt, daß Octave offenbar<br />
an ein unrealistisches literarisches Ideal glaube, das nichts mit dem wirklichen<br />
menschlichen Verhalten zu tun habe. Für Desgenais ist das natürlich ein Argument,<br />
sich noch hemmungsloser auszuleben: „Octave, […] je vois que vous croyez à l’amour<br />
tel que les romanciers et les poètes le représentent; vous croyez, en un mot, à ce qui<br />
se dit ici-bas et non à ce qui s’y fait.“ (323) Nun ist Desgenais sicher auch keine<br />
zuverlässige Instanz in Fragen des literarischen Urteils, aber die Realität aller<br />
Liebesbeziehungen, die wir innerhalb des Romangeschehens kennenlernen, gibt ihm<br />
zumindest auf der Romanebene Recht. Auch Octaves nächste erotische Begegnung<br />
nach dem Gespräch mit Desgenais scheint den Libertin zu bestätigen. Octave trifft<br />
eine Freundin seiner untreuen Geliebten, die ebenfalls gerade verlassen wurde.<br />
Während Octave gemeinsam mit der vermeintlichen Leidensgenossin ein trauriges<br />
Gespräch voller Weltschmerz und Lebensekel führen möchte, hat die Dame<br />
wesentlich handfestere Vorstellungen davon, wie man sich gegenseitig trösten<br />
könnte. Als Octave irgendwann in seinem langen Klagemonolog bemerkt, daß die<br />
Dame ihn offensichtlich verführen will, läuft er entsetzt nach Hause. Dort stößt er –<br />
und wir mit ihm – sofort auf den nächsten Anlaß, über das Verhältnis von libertiner<br />
und romantisch-sentimentaler Literatur nachzudenken. Er findet vor seiner<br />
Wohnung eine große Bücherkiste, die ihm eine alte und sehr fromme Tante vermacht<br />
hat. Zu seiner Überraschung finden sich in der Kiste der frommen Frau fast nur<br />
libertine Romane aus der Zeit Ludwigs XV., also aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.<br />
Octave versucht sich einzureden, daß seine Tante diese Romane bestimmt nicht<br />
selbst gelesen, sondern ihrerseits nur geerbt haben konnte:<br />
C’étaient pour la plupart des romans du siècle de Louis XV; ma tante, fort dévote, en avait<br />
probablement hérité elle-même, et les avait conservés sans les lire; car c’étaient pour ainsi<br />
dire autant de catéchismes de libertinage. (327)<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Auch in dieser Szene wird das Verhältnis zwischen Libertinage und <strong>Romantik</strong> so<br />
augenfällig zum Thema gemacht, daß wir in diesem Verhältnis einen der möglichen<br />
Schlüssel zum Verständnis des <strong>Text</strong>s vermuten dürfen. Octave stürzt sich begeistert<br />
in die Lektüre dieser frivolen Romane und stimmt der darin enthaltenen Botschaft<br />
uneingeschränkt zu:<br />
Dussé-je paraître puéril en ceci, l’arrivée de ces livres me frappa, dans la circonstance où<br />
je me trouvais. Je les dévorai avec une amertume et une tristesse sans bornes, le cœur<br />
brisé et le sourire aux lèvres. ‚Oui, vous avez raison, leur disais-je, vous seuls savez les<br />
secrets de la vie; vous seuls osez dire que rien n’est vrai que la débauche, l’hypocrisie et la<br />
corruption‘. (327)<br />
Der Gegensatz zur romantisch-sentimentalen Literatur, der hier bereits offensichtlich<br />
ist, wird auch unmittelbar im Anschluß an diese Stelle noch einmal ausgesprochen, so<br />
als könnte es Leser geben, die es nicht nicht begriffen hätten:<br />
Pendant que je m’enfonçais ainsi dans les ténèbres, mes poètes favoris et mes livres<br />
d’études restaient épars dans la poussière. Je les foulais aux pieds dans mes accès de<br />
colère: ‚Et vous, leur disais-je, rêveurs insensés qui n’apprenez qu’à souffrir, misérables<br />
arrangeurs de paroles, charlatans, si vous saviez la vérité, niais si vous étiez de bonne foi,<br />
menteurs dans les deux cas, qui faites des contes de fées avec le genre humain, je vous<br />
brûlerai tous jusqu’au dernier!<br />
In seiner Begeisterung für die libertine Literatur will er also seine sentimentalen<br />
Bücher, die er nun für verlogen oder für naiv hält, zunächst sogar verbrennen. Das tut<br />
er dann doch nicht, sondern schlägt in seiner Verwirrung nach dem Zufallsprinzip die<br />
Bibel auf. Aber selbst in der heiligen Schrift findet er keinen Trost, sondern nur<br />
weitere Ernüchterung. Zu seinem Unglück landet er im Alten Testament genau an<br />
einer der pessimistischsten Stellen des Buchs Kohelet:<br />
Wie es dem Guten geht, so geht’s auch dem Sünder. Wie es dem geht, der schwört, so<br />
geht’s auch dem, der den Eid scheut. Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne<br />
geschieht, daß es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz der Menschen<br />
voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie<br />
sterben. (Kohelet 9,2–3)<br />
Daß nicht einmal in der Bibel Trost zu finden ist, versetzt ihm den vorläufig<br />
letzten Schlag. Es ist vor diesem Hintergrund fraglich, ob die katholische Lösung am<br />
Ende des Romans (Sie erinnern sich: Octave erblickt in dem Moment, in dem er seine<br />
schlafende Geliebte gerade erstechen will, das Kreuz, das sie um den Hals trägt und<br />
wird plötzlich fromm) – ob diese katholische Lösung also wirklich ernst zu nehmen<br />
ist, oder ob wir nicht darin einen weiteren Selbstbetrug sehen sollten. Da wir Octave<br />
vorher auch schon zwischen einer Phase des libertinen Zynismus und einer des<br />
romantischen Eifers immer wieder einmal im Gebet gesehen haben, wissen wir, daß<br />
auch seine christlichen Anwandlungen von begrenzter Dauer sein können. Letztlich<br />
76
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
scheinen sowohl Libertinage als auch <strong>Romantik</strong> und Katholizismus jederzeit<br />
mögliche und bis zu einem gewissen Grad austauschbare Symptome der „maladie du<br />
siècle“ zu sein. So sehen wir beispielsweise die Libertins an manchen Abenden, an<br />
denen sie sich besonders ausschweifend geben möchten, gerührt bei der Lektüre<br />
eines romantischen Modellautors wie Lamartine zusammensitzen:<br />
Nous passions quelquefois ensemble des soirées délicieuses sous prétexte de faire les<br />
libertins. […] Que de fois l’un de nous […] tenait à la main un volume de Lamartine et<br />
lisait d’une voix émue! Il fallait voir alors comment toute autre pensée disparaissait! (339)<br />
Entscheidend ist offensichtlich, daß die unruhigen Gedanken stillgestellt werden, und<br />
das kann auch im Kreis der Libertins durch die Lektüre von Alphonse de Lamartine<br />
geschehen. Umgekehrt sind die katholischen Anwandlungen Octaves oft nur<br />
Vorstufen oder Ausdruck erotischer Phantasie, beispielsweise wenn ihm Brigitte als<br />
eine Art Madonna erscheint. Die Vergöttlichung der Geliebten ist natürlich im<br />
christlichen Sinn unzulässig und eine andere Form der Blasphemie, Octave hingegen<br />
wird dadurch offensichtlich erregt: „L’espace renfermé entre les quatre murs de votre<br />
jardin est le seul lieu au monde où je vive; vous êtes le seul être humain qui me fasse<br />
aimer Dieu.“ (354)<br />
In der abschließenden Krise, als er zwischen Selbstmord und Mord schwankt, sieht er<br />
sich kurz im Spiegel und erschrickt vor sich selbst. Die Persönlichkeitsspaltung ist an<br />
diesem Punkt so weit fortgeschritten, daß er sich vorkommt, als werde er von einem<br />
fremden Wesen bewohnt, das ihn zu grausamen Verhaltensweisen zwinge, die ihm<br />
selbst unerklärlich sind:<br />
Mon pauvre visage, que j’apercevais dans la glace, me regardait avec étonnement.<br />
Qu’était-ce donc que cette créature qui m’apparaissait sous mes traits? qu’était-ce donc<br />
que cet homme sans pitié qui blasphémait avec ma bouche et torturait avec mes mains?<br />
(392)<br />
Als ihn der Anblick des Kreuzes daran hindert, seine Geliebte zu erstechen und er<br />
überzeugt ist, zum Glauben zurückgefunden haben, schiebt er noch einmal die Schuld<br />
an seinem gottlosen Verhalten auf die libertinen Lektüren seiner Jugend.:<br />
Que ceux qui ne croient pas au Christ lisent cette page; je n’y croyais pas non plus. […]<br />
Empoisonné, dès l’adolescence, de tous les écrits du dernier siècle, j’y avais sucé de bonne<br />
heure le lait stérile de l’impiété. (395)<br />
Sein Beispiel soll also nun sogar Zweifelnde und Atheisten zum Glauben<br />
zurückführen. Wir hatten aber ja gesehen, daß er die „écrits du dernier siècle“ nicht<br />
nur in seiner Jugend, sondern noch vor wenigen Monaten gelesen hatt und daß der<br />
unmittelbare Effekt immer noch der war, daß ihm alles andere als ein schonungsloser<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Zynismus als Naivität oder als Betrug erschienen war. Wenn wir also als letzten Satz<br />
des Romans die Beschreibung von Octaves Aufbruch aus Paris lesen, nachdem der<br />
neubekehrte Katholik gerade Verzicht geleistet und seine Geliebte an Henry Smith<br />
abgetreten hat, dann können wir ihm zumindest aufgrund dessen, was wir im Verlauf<br />
des Romans über seine Wankelmütigkeit erfahren haben, keine besonders gute<br />
Prognose stellen. Daß der christliche Glaube seine Zweifel und seine Melancholie<br />
länger und gründlicher beruhigen wird als Libertinage und <strong>Romantik</strong>, ist jedenfalls<br />
nicht sehr wahrscheinlich.<br />
Im September 1836 erschien dann in der Revue des deux mondes der erste von<br />
insgesamt vier Briefen von zwei bildungsbeflissenen Bürgern aus dem Provinznest La<br />
Ferté-sous-Jouarre. Die beiden Herren namens Dupuis und Cotonet denken bereits<br />
seit zwölf Jahren über die Frage nach, was die <strong>Romantik</strong> eigentlich sei. Dazu bieten<br />
sie eine sehr geschwätzige Chronik der französischen <strong>Romantik</strong> von 1824 bis 1836.<br />
Die Verunsicherung der beiden beginnt 1824: „nous n’avons jamais pu comprendre,<br />
ni mon ami Cotonet ni moi, ce que c’était que le romantisme“. Zunächst sind sie der<br />
Meinung, daß sich die <strong>Romantik</strong> nur auf das Theater beziehe, das sich nicht mehr an<br />
die klassischen Regeln der Einheit von Raum, Zeit und Handlung halte und für das<br />
insbesondere Shakespeare stehe. Doch dann, gegen 1828, müssen sie zu ihrem<br />
Entsetzen erfahren, daß auch andere Gattungen in romantischer Form auftreten<br />
können. Das verwirrt sie enorm, weil sie nun nicht mehr wissen, welcher Richtung sie<br />
einen <strong>Text</strong> zuordnen sollen:<br />
Mais on nous apprend tout à coup (c’était, je crois, en 1828) qu’il y avait poésie<br />
romantique et poésie classique, roman romantique et roman classique, ode romantique et<br />
ode classique; que di-je, mon cher monsieur, un seul et unique vers pouvait être<br />
romantique ou cassique, selon que l’envie lui en prenait. Quand nous reçûmes cette<br />
nouvelle, nous ne pûmes fermer l’œil de la nuit. Deux ans de paisible conviction venaient<br />
de s’évanouir comme un songe. Toutes nos idées étaient bouleversées […]. Par quel<br />
moyen, en lisant un ouvrage, savoir à quelle école il appartenait ?<br />
Die beiden können sich zwar noch auf die klare Definition stützen, die das Wort<br />
„romantisch“ in der Provinz hat („[…] il faut vous dire, monsieur, qu’en province, le<br />
mot romantique a, en général, une signification facile à retenir, il est synonyme<br />
d’absurde et on ne s’en inquiète pas autrement“), doch das beruhigt sie nicht. Sie<br />
gehen alles durch, Madame de Staël und die deutsche und englische Literatur im<br />
Gegensatz zur Nachahmung der Antike, aber nichts überzeugt sie, alles verwirrt sie:<br />
De 1830 à 1831, nous crûmes que le romantisme était le genre historique, ou, si vous<br />
voulez, cette manie, qui depuis peu, a pris nos auteurs d’appeler des personnages de<br />
romans et de mélodrames Charlemagne, François Ier ou Henri IV, au lieu d’Amadis,<br />
d’Oronte ou de Saint-Albin. […]<br />
78
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
De 1831 à l’année suivante, voyant le genre historique discrédité, et le romantisme<br />
toujours en vie, nous pensâmes que c’était le genre intime, dont on parlait fort. […]<br />
De 1832 à 1833, il nous vint à l’esprit que le romantisme pouvait être un système de<br />
philosophie et d’économie politique. […]<br />
De 1833 à 1834 nous crûmes que le romantisme consistait à ne pas se raser, et à porter<br />
des gilets à larges revers, très empesés.<br />
Sie finden vielleicht über Weihnachten die Gelegenheit, den Brief ganz zu lesen, das<br />
Fazit möchte ich ihnen aber nicht vorenthalten, da wir uns ja auch alle fragen, was<br />
den eigentlich die französische <strong>Romantik</strong> ist. Die beiden Herren aus La Ferté-sous-<br />
Jouarre kommen jedenfalls zu dem Schluß, daß der einzige Unterschied zwischen<br />
Klassik und <strong>Romantik</strong> der sei, daß die <strong>Romantik</strong>er einen exzessiven Gebrauch von<br />
Adjektiven machen:<br />
Il n’y a guère de romans maintenant où l’ont n’ait rencontré autant d’épithètes au bout de<br />
trois pages, et plus violentes, qu’il n’y en a dans tout Montesquieu. Pour en finir, nous<br />
croyons que le romantisme consiste à employer tous ces adjectifs, en non en autre chose.<br />
Das ist zwar eine schöne Faustregel, aber gleich der nächste Autor, dem wir uns jetzt<br />
zuwenden werden, wird uns zeigen, daß auch diese Definition ungenügend ist. Damit<br />
wir nicht mit einer Musset-Depression in die Weihnachtspause gehen müssen,<br />
werden wir uns die romantische Autobiographie vor allem am Beispiel von Stendhal<br />
ansehen.<br />
Romantische Autobiographie<br />
Wenn Sie bereits Le Rouge et le Noir oder die Chartreuse de Parme gelesen haben,<br />
wissen Sie bereits, daß Stendhal einer der unterhaltsamsten Autoren der<br />
französischen <strong>Romantik</strong> und sicherlich des gesamten 19. Jahrhunderts ist. Mit seinen<br />
romantischen Streitschriften, die er Mitte der 1820er Jahre unter dem Titel Racine et<br />
Shakespeare veröffentlicht hatte, war er zwar als Verfasser journalistischer Schriften<br />
bekannt geworden, doch erst mit Le Rouge et le Noir von 1830 wurde er auch als<br />
Romanautor einem großen Publikum bekannt. Stendhal ging allerdings zeit seines<br />
Lebens davon aus, daß das Publikum, das ihn wirklich verstehen würde, erst um 1880<br />
exisitieren würde. Seine beiden großen autobiographischen Schriften, die Souvenirs<br />
d’égotisme von 1832 und die Vie de Henry Brulard von 1835/1836 sollten deshalb<br />
auch frühestens zehn Jahre nach seinem Tod erscheinen. Der 1783 geborene<br />
Stendhal ist 1842 gestorben, aber beide <strong>Text</strong>e sind erst um 1890 zum ersten Mal<br />
publiziert worden, also eher fünfzig als zehn Jahre nach seinem Tod.<br />
79
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das Problem für jede Form von Selbstbeschreibung nach Rousseau ist das der<br />
unbedingten Aufrichtigkeit. Auch Stendhal schlägt sich permanent mit diesem<br />
Problem herum, sieht die Aufrichtigkeit aber vor allem als die einzige Möglichkeit,<br />
das Interesse des Lesers zu gewinnen, den er durch das ständige Reden in der ersten<br />
Person Singular zu langweilen befürchtet. Zu Beginn der Souvenirs d’égotisme heißt<br />
es deshalb:<br />
Quel homme suis-je? Ai-je du bon sens, ai-je du bon sens avec profondeur? Ai-je un esprit<br />
remarquable? En vérité, je n’en sais rien. Ému par ce qui m’arrive au jour le jour, je pense<br />
rarement à ces questions fondamentales, et alors mes jugements varient comme mon<br />
humeur. Mes jugements ne sont que des aperçus. […] Le génie poétique est mort, mais le<br />
génie du soupçon est venu au monde. Je suis profondément convaincu que le seul<br />
antidote qui puisse faire oublier au lecteur les éternel Je que l’auteur va écrire, c’est une<br />
parfaite sincérité. 79<br />
Mit einer ähnlichen Formulierung gibt Stendhal zu Beginn der Vie de Henry Brulard<br />
außerdem zu verstehen, daß bereits 1835 die vollkommene romantische<br />
Autobiographie Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe waren, die zu diesem<br />
Zeitpunkt zwar noch nicht erschienen waren, von denen aber bereits Auszüge<br />
vorlagen und über die Chateaubriand vor allem ständig sprach. Stendhal findet die<br />
Vorstellung, einfach und ungebrochen „Ich“ zu sagen, jedoch sehr belastend:<br />
[…] cette effroyable quantité de Je et de Moi! Il y a de quoi donner de l’humeur au lecteur<br />
le plus bénévole. Je et Moi, ce serait, au talent près, comme M. de Chateaubriand, ce roi<br />
des égotistes. 80<br />
Sie wissen vermutlich, daß Stendhal weder Stendhal noch Henry Brulard hieß,<br />
sondern als Henry Beyle geboren wurde, und daß er noch viele weitere Namen<br />
erfunden hat, um nicht Ich sagen zu müssen.<br />
Wie er dann doch über sich selbst spricht, werden wir uns im neuen Jahr noch<br />
ansehen und dann auch zu Racine et Shakespeare und dem romantischen Theater<br />
kommen, das uns heute nur aus der Provinzsicht der Herren Dupuis und Cotonet<br />
begegnet ist.<br />
79 Stendhal: Souvenirs. In: Œuvres intimes. Pléiade-Del Litto, Bd. 2, S. 430.<br />
80 Stendhal: Vie de Henry Brulard. In: Ebd., S. 533.<br />
80
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
5.1.2011: Romantische Autobiographie<br />
Wir hatten in der letzten <strong>Vorlesung</strong> vor der Weihnachtspause einen ersten Blick auf<br />
Stendhals autobiographisches Schreiben geworfen und uns den Anfang der Souvenirs<br />
d’Égotisme angesehen, an denen Stendhal 1832 ein paar Wochen intensiv arbeitet,<br />
die er dann aber nicht abschließt. Wir hatten auch Stendhals Skrupel kennengelernt,<br />
ständig in der ersten Person Singular zu sprechen, eine Sprechhaltung, die Stendhal<br />
in der Vie de Henry Brulard, seinem zweiten Anlauf für eine Autobiographie,<br />
namentlich mit François de Chateaubriand verbindet. Diese beiden Namen stehen für<br />
zwei der wichtigsten autobiographischen Projekte der <strong>Romantik</strong>, die in den<br />
modernen Ausgaben jeweils mehr als 2000 Seiten bedrucktes Papier umfassen.<br />
Während Chateaubriand von 1803 bis 1847 an seinen Erinnerungen arbeitet,<br />
umfassen die erhaltenen autobiographischen Aufzeichnungen von Stendhal – wenn<br />
man sein Tagebuch und die beiden erwähnten Erinnerungsbücher aus den 1830er<br />
Jahren zusammennimmt, die Jahre 1801 bis 1842.<br />
Wenn die Autobiographie uns aus heutiger Sicht auf den ersten Blick als die ideale<br />
Form der romantischen Ich-Aussprache erscheinen mag, dürfen wir nicht vergessen,<br />
daß es sich dabei zur Zeit der <strong>Romantik</strong> noch nicht um eine etablierte literarische<br />
Gattung handelt. Für das Schreiben über sich selbst gibt es keine verbindlichen<br />
Regeln, deshalb ist die Autobiographie zunächst keine Literatur. Selbst das Wort<br />
existiert für die Zeitgenossen noch nicht. Es handelt sich dabei, wieder einmal, um<br />
einen Import aus dem Deutschen und Englischen, wo der Begriff ab 1830 häufiger<br />
auftaucht. Der erste französische Beleg findet sich erst 1842. Natürlich haben auch in<br />
Frankreich vorher Menschen über sich selbst geschrieben, aber erst mit der<br />
Revolution und der beginnenden <strong>Romantik</strong> erweitert sich der Kreis derjenigen, die<br />
ihr eigenes Ich für einen beschreibenswerten Gegenstand halten, signifikant, so wie<br />
sich auch der Blick auf dieses Ich signifikant verändert. Die Modelle, die für dieses<br />
Schreiben bereitstehen, sind vor 1800 überschaubar wenige:<br />
Zum einen existiert die Form der Memoiren, die üblicherweise von historisch<br />
bedeutenden Persönlichkeiten verfaßt werden und den Anspruch haben, einen<br />
Beitrag zur Geschichtsschreibung zu leisten. Die differenzierte Darstellung des<br />
eigenen, möglicherweise problematischen Ich ist dabei nicht vorgesehen, der Akzent<br />
liegt auf dem Exemplarischen und historisch Bemerkenswerten.<br />
81
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das andere Modell ist die religiös inspirierte Introspektion oder der Bericht einer<br />
religiösen Bekehrung, der auf die spätantiken Confessiones des Augustinus<br />
zurückgeht und dessen unmittelbares Vorbild für die <strong>Romantik</strong> Rousseau geliefert<br />
hat. Zum Konfessionsstil gehört das zumindest behauptete Bemühen um<br />
Aufrichtigkeit und Selbsterforschung. Weder die Memoiren noch die Konfessionen<br />
unterliegen jedoch definierten Gattungsregeln und bieten deshalb eine große<br />
Bandbreite von Ausdrucksmöglichkeiten und erlauben vor allem, beständig zwischen<br />
Fiktion und Geständnis schwanken zu dürfen. Alfred de Musset hat den Reiz dieses<br />
undefinierten Status der Confessions sehr deutlich wahrgenommen. Schon 1828<br />
hatte er die Confessions of an English Opium-Eater von Thomas de Quincey ins<br />
Französische übersetzt, und nach dem großen Erfolg seiner Confession d’un enfant<br />
du siècle – die erste Auflage war schon nach wenigen Tagen verkauft – hat er im Juni<br />
1836 an Franz Liszt geschrieben:<br />
Ces sortes d’ouvrages, intéressants ou non, sont en dehors de l’art, il me semble; pas assez<br />
vrais pour être des mémoires, à beaucoup près et pas assez faux pour des romans.<br />
Den Titel der Confessions, oder, in weltlicher Abwandlung, der Confidences, finden<br />
wir bei so unterschiedlichen Autoren wie dem Sozialrevolutionär Pierre-Joseph<br />
Proudhon (Confessions d’un révolutionnaire, 1849) oder dem frommen Alphonse de<br />
Lamartine (Les Confidences, 1849)<br />
Die Gattungslosigkeit oder Gattungsoffenheit des autobiographischen Schreibens<br />
bedeutet für viele Autoren eine Gelegenheit, neue Ausdrucksformen zu erproben,<br />
während gleichzeitig das nachrevolutionäre Lesepublikum Lebensgeschichten mit<br />
besonderem Interesse aufnimmt. Ein großangelegtes Unternehmen wie die Mémoires<br />
relatifs à la Révolution française, eine Reihe des Verlags Baudouin, in der von 1820<br />
bis 1828 sechzig Bände mit Erinnerungsliteratur erscheinen, hat von diesem<br />
Interesse gelebt und eine romantische Sicht auf die Französische Revolution<br />
etabliert. Man hat die Zeit zwischen 1815 und 1848, also die Jahrzehnte der<br />
Restauration und der Julimonarchie in Frankreich, als die große Zeit der Memoiren<br />
bezeichnet, in der das relative politische Vakuum durch die Erinnerung an die Zeiten<br />
von Frankreichs Größe kompensiert wurde. Das konnten sowohl die Memoiren<br />
historischer Persönlichkeiten des Ancien Régime als auch solche aus der jüngsten<br />
Vergangenheit der Revolution und der Zeit des Empire sein. Die Gattung der<br />
„Mémoires historiques“, wie der Untertitel meist lautete, ermöglichte es, zwei<br />
romantische Hauptinteressen zu verbinden, nämlich den „culte du moi“ und den<br />
„culte de l’histoire“. Wir werden auf die Bedeutung der <strong>Romantik</strong> für die Entwicklung<br />
82
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
des historischen Denkens noch zurückkommen, die Begeisterung für<br />
autobiographische Erinnerungsliteratur in dieser Zeit ist aber schon einmal ein<br />
wichtiges Indiz. Der Erfolg von verlegerischen Initiativen wie den genannten<br />
Mémoire relatifs à la Révolution française erklärt sich jedenfalls durch diese<br />
Begeisterung. Die Übergänge zwischen dem historischen Rohmaterial, als das man<br />
die Memoiren betrachtete, und der Literatur im engeren Sinn sind fließend: Stendhal<br />
war zeit seines Lebens von Mme Roland fasziniert, der guillotinierten Frau des<br />
Ministers Roland, die ihre Erinnerungen im Revolutionsgefängnis verfaßt hatte. In<br />
Stendhals autobiographischen Schriften findet sich immer wieder die Formulierung,<br />
daß er für ideale Leser wie Mme Roland schreibe, so zu Beginn der Souvenirs<br />
d’égotisme:<br />
J’avoue que le courage d’écrire me manquerait si je n’avais pas l’idée qu’un jour ces<br />
feuilles paraîtront imprimées et seront lues par quelque âme que j’aime, par un être tel<br />
que Mme Roland […]. 81<br />
Wenn die Memoirenliteratur auch keine präzise definierte Gattung war, gab es doch<br />
Vorbilder, und Stendhal hatte schon 1805 die Mémoires von Mme Roland gelesen,<br />
die er am Anfang der Souvenirs ebenso zitiert wie Benvenuto Cellini, dessen<br />
Mémoires er in seinen italienischen Reiseberichten mehrfach als „admirables“<br />
bezeichnet hatte.<br />
Das ungeklärte Verhältnis zwischen Memoiren und Literatur zeigt sich auch bei<br />
Balzac, der 1830 die Einleitung zu den Memoiren Sansons, des Scharfrichters der<br />
Revolution, schreiben sollte. Charles-Henri Sanson war der Henker, der auch die<br />
Guillotine für Ludwig XVI. betätigt hatte, und die Herausgeber zielten mit der<br />
Publikation seiner Memoiren auf das Publikumsinteresse, mit dem auch die bereits<br />
erwähnten 60 Bände der Mémoires relatifs à la Révolution française aufgenommen<br />
worden waren, die zwischen 1820 und 1828 erschienen waren. Selbst der Titel sollte<br />
an die erfolgreiche Reihe erinnern, und die Bände erschienen im Februar 1830, also<br />
wenige Monate vor der Juli-Revolution, als Mémoires pour servir à l’Histoire de la<br />
Révolution française, par Sanson, exécuteur des arrêts criminels de la Révolution.<br />
Balzacs Einleitung war aber eine kurze Erzählung, mit der er die Authentizität des<br />
folgenden Memoirentexts garantieren wollte. Balzac erzählt, wie eine alte Frau, die<br />
sich später als ehemalige Klosterschwester herausstellen wird, im verschneiten Paris<br />
des Januar 1793 in der Atmosphäre der Terreur bei einem Bäcker heimlich Hostien<br />
kauft. Sie wird bei ihrem Einkauf von einem Mann verfolgt, der ihr bis in das<br />
81 Souvenirs d’égotisme. Pléiade-Ausgabe, Bd. 2, S. 429.<br />
83
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
ärmliche Versteck folgt, in dem sie mit einer weiteren ehemaligen Nonne und einem<br />
ehemaligen Priester lebt. Man erfährt, daß alle drei den antiklerikalen<br />
Ausschreitungen vom September 1792 nur knapp entkommen sind und nun fürchten,<br />
doch noch von der Polizei der Jakobiner entdeckt zu werden, was zu diesem<br />
Zeitpunkt, kurz nach der Enthauptung des Königs, mit ziemlicher Sicherheit ihren<br />
Tod bedeuten würde. Die alte Nonne berichtet den beiden anderen gerade von ihrem<br />
Verfolger, als im Treppenhaus Schritte zu hören sind. Als es an der Tür klopft,<br />
verstecken die beiden Nonnen den Priester und lassen den Mann ein, in dem die<br />
Nonne ihren Verfolger erkennt. Der Mann beruhigt die beiden alten Frauen und gibt<br />
ihnen zu verstehen, daß er weiß, daß sich auch noch der Priester in der Wohnung<br />
befindet. Diesen bittet er, gemeinsam mit ihm eine Totenmesse für jemanden zu<br />
halten, dem keine Messe mehr gewährt wurde, wie er sagt. Der Priester kommt dem<br />
Wunsch nach und der Mann ist sichtlich ergriffen von der Messe, von der allen vier<br />
Beteiligten unausgesprochen klar ist, daß sie dem wenige Tage zuvor geköpften König<br />
gilt, für den nun alle vier beten. Zum Dank gibt der Mann, bevor er den Priester und<br />
die Ordensschwestern verläßt, eine Schachtel mit einem Taschentuch, an dem Blutund<br />
Schweißspuren zu sehen sind. Sie verabreden noch, bevor sie sich trennen, daß<br />
sie sich am 21. Januar 1794, also am Jahrestag der Hinrichtung des Königs, wieder zu<br />
einer Totenmesse treffen werden. Die drei Bewohner des ärmlichen Verstecks wissen<br />
nicht, wer der Mann ist, doch bemerken sie in den Wochen und Monaten nach<br />
seinem Besuch, daß jemand heimlich für ihr Wohlergehen sorgt und ihnen<br />
Lebensmittel und Kleidung zukommen läßt. Zum verabredeten Treffen am Jahrestag<br />
erscheint der Mann noch einmal, verschwindet aber nach der Feier sofort wortlos.<br />
Im Jahr 1806 wird der Priester, der mittlerweile der Privatgeistliche einiger<br />
reicher Familien geworden ist, aus einer Gesellschaft ans Sterbebett eines Mannes<br />
gerufen, dessen Namen man ihm nicht sagen will. Als er bei dem Mann eintritt,<br />
erkennt er seinen Besucher von 1793. Der Sterbende will aber nicht die Sakramente<br />
empfangen, sondern drückt dem Geistlichen ein versiegeltes Paket mit Papieren in<br />
die Hand und sagt dazu:<br />
Ces papiers […] contiennent des observations et des documents qui ne doivent être<br />
appréciés que par une personne d’honneur et de probité, et qui n’appartienne pas à ma<br />
famille. […] en vous les confiant, je crois les remettre à la seule personne que je connaisse<br />
en état d’apprécier ces écrits à leur juste valeur. J’aurais pu le brûler; mais quel est<br />
l’homme, si bas que l’ait placé le sort, qui ne prétende à l’estime de ses semblables? Je<br />
vous en constitue donc le seul maître. 82<br />
82 Balzac: Nouvelles et contes. Bd. 1, S. 128.<br />
84
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Als der Abbé das Haus verlassen hat, fragt er seinen Kutscher, wessen Haus er da<br />
gerade verlassen habe.<br />
Sie können es sich denken…<br />
Es handelt sich natürlich um das Haus des Henkers Sanson, dessen Mémoires der<br />
Abbé nun in Händen hält. Der Abbé sei dann 1818 gestorben und die Papiere seien<br />
nach dem Tod in den Besitz der aktuellen Herausgeber gelangt, die nun, nachdem die<br />
Familie von Sanson der Publikation zugestimmt haben, die Erinnerungen des<br />
Henkers Ludwigs XVI. endlich der Öffentlichkeit übergeben können. Balzac hat diese<br />
Einleitung, die die Authentizität der Mémoires durch eine Fiktion beglaubigen soll,<br />
später überarbeitet, den Schlußteil entfernt, der die Verbindung zur Publikation von<br />
1830 herstellen sollte, und den <strong>Text</strong> schließlich 1846 unter dem Titel „Un épisode<br />
sous la Terreur“ in die Abteilung der Scènes de la vie politique seiner Comédie<br />
humaine aufgenommen.<br />
Der pathetische Nachdruck, mit dem Balzac die Authentizität der Memoiren des<br />
Henkers behauptet, wird durch den so offensichtlich fiktionalen Rahmen, in dem die<br />
Behauptung steht, für den heutigen Leser sofort fragwürdig. Die letzten Jahre der<br />
Restauration hatten allerdings einen Boom historischer Memoiren erlebt, von denen<br />
ein großer Teil von spezialisierten Verlagen regelrecht fabriziert wurde. Der großen<br />
Publikumsnachfrage entsprachen die Verlage, indem sie die Memoiren von Zeugen<br />
aller großen Höfe von dem Ludwigs XIV bis zu dem Napoleons entweder schlicht<br />
erfinden ließen – dazu sollten die angeblichen Autoren natürlich schon möglichst<br />
lange gestorben sein – oder indem sie Lohnschreiber engagierten, die sich mit noch<br />
lebenden Zeitzeugen unterhielten oder etwaige Dokumente, die ihnen diese<br />
Zeitzeugen überließen – meistens Briefe – zu zusammenhängenden Memoiren<br />
ausschrieben. Balzac war 1829 ein solcher Lohnschreiber, der sich für den Verleger<br />
Louis Mame mit der Familie Sanson getroffen und vermutlich die Memoiren des<br />
Henkers in Teilen oder ganz geschrieben hat.<br />
Weitere Mémoires historiques diesen Stils sind die des Mörders Pierre-François<br />
Lacenaire, die des ehemaligen Verbrechers und späteren Polizeichefs Vidocq, die<br />
Memoiren von Mme Pompadour und von diversen weiteren Geliebten Ludwigs XV,<br />
um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Verbindung von „culte du moi“ und „culte<br />
de l’histoire“ konnte also sehr erstaunliche Resultate hervorbringen, und machte<br />
gleichzeitig aber auch die Authentizität, die alle Erinnerungsschreiber behaupten, zu<br />
einem fragwürdigen Kriterium.<br />
85
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Zu den Standards der echten, der gefälschten und auch der romanhaften<br />
Mémoires gehört außerdem die Feststellung, daß es sich um eine offene Gattung<br />
handele, wie wir das vorhin schon bei Musset gesehen hatten. Étienne Pivert de<br />
Senancour (1770–1846) hatte bereits 1804 in seinem Briefroman Obermann, der<br />
vermutlich auf Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit von Senancours Exil in der<br />
Schweiz zur Zeit der Revolution zurückgeht, einleitend klargestellt:<br />
Ces lettres ne sont pas un roman. Il n’y a point de mouvement dramatique, d’événemens<br />
préparés et conduits, point de dénouement; rien de ce qu’on appelle l’intérêt d’un ouvrage<br />
[…]. 83<br />
Und der 17jährige Flaubert beginnt seine Mémoires d’un fou von 1838 mit der<br />
Bemerkung:<br />
Je ne sais pas plus que vous ce que vous allez lire. Car ce n’est point un roman ni un<br />
drame avec un plan fixe, ou une seule idée préméditée, avec jalons pour faire serpenter la<br />
pensée dans des allées tirées au cordeau. Seulement je vais mettre sur le papier tout ce qui<br />
me viendra à la tête, mes idées avec mes souvenirs, mes impressions mes rêves mes<br />
caprices, tout ce qui passe dans la pensée et dans l’âme […]. 84<br />
Senancours Obermann war bei seinem ersten Erscheinen 1804 weitgehend<br />
unbemerkt geblieben. Erst 1832 hatte ein Artikel des berühmten Kritikers Sainte-<br />
Beuve in der Revue de Paris größere Aufmerksamkeit für den <strong>Text</strong> erregt, der dann<br />
1833 in seiner zweiten Ausgabe erstmals ein nennenswertes Publikum fand. 1840<br />
erscheint eine dritte Ausgabe, diesmal mit einem Vorwort von Georges Sand, die<br />
mittlerweile mit ihren Romanen zu den meistverkauften Autoren Frankreichs<br />
gehörte. Das Changieren zwischen autobiographisch gefärbtem Roman und fiktional<br />
verfremdeter Selbstbeschreibung, das einen der Reize von Senancours Obermann<br />
ausmachte, war auch ein Kennzeichen von Sands <strong>Text</strong>en. Allerdings hatte sie bislang<br />
nur solche <strong>Text</strong>e veröffentlicht, die das fiktionale Moment betonten. Sie arbeitete<br />
allerdings schon seit längerem an einen autobiographischen Werk, wie sie zu Anfang<br />
ihrer ab 1847 erschienenen Histoire de ma vie erläutert. Zunächst macht auch Sand<br />
sich Gedanken übe da Verhältnis von Roman und Autobiographie:<br />
J’éprouvais, je l’avoue, un dégoût mortel à occuper le public de ma personnalité, qui n’a<br />
rien de saillant, lorsque je me sentais le cœur et la tête remplis de personnalités plus<br />
fortes, plus logiques, plus complètes, plus idéales, de types supérieurs à moi-même, de<br />
personnages de roman en un mot. Je sentais qu’il ne faut parler de soi au public qu’une<br />
fois en sa vie, très-sérieusement, et n’y plus revenir. 85<br />
83 Senancour: Obermann (Folio-Gallimard, S. 52).<br />
84 Flaubert: Mémoires d’un fou. Éd. Gothot-Mersch (Folio, S. 50).<br />
85 GS: Histoire de ma vie (Éd. Pirot 2000, Bd. 1, S. 23).<br />
86
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Die Beschreibung eines authentischen, historischen Ich muß also gegenüber einem<br />
romanhaften Ich immer als defizitär erscheinen. Dennoch – oder gerade deshalb –<br />
hatte Sand sich dem autobiographischen Projekt zunächst in einer hybriden Form<br />
angenähert und unter der Maske eines alten Reisenden einige Selbstzeugnisse<br />
veröffentlicht. Über das Verhältnis dieser als Lettres d’un voyageur 1837<br />
erschienenen <strong>Text</strong>e zur Histoire de ma vie sagt sie zu Beginn ihrer Lebensgeschichte:<br />
La plupart de ces fragments – sie hatte schon ab etwa 1820 Material für eine<br />
Autobiographie gesammelt – n’ont jamais éte publiés, et me serviront de jalons à<br />
l’examen que je vais faire de ma vie. Quelques-uns seulement ont pris une forme à demi<br />
confidentielle, à demi littéraire, dans des lettres publiées à certains intervalles et datées<br />
de divers lieux. Elles ont été réunies sous le titre de Lettres d’un voyageur. À l’époque où<br />
j’écrivis ces lettres, je ne me sentis trop effrayée de parler de moi-même, parce que ce<br />
n’était pas ouvertement et littéralement de moi-même que je parlais alors. Ce voyageur<br />
était une sorte de fiction, un personnage convenu, masculin comme mon pseudonyme,<br />
vieux quoique je fusse encore jeune ; et dans la bouche de ce triste pèlerin, qui en somme<br />
était une sorte de héros de roman, , je mettais de impressions et des réflexions plus<br />
personnelles que je ne les aurais risquées dans un roman, où les conditions de l’art sont<br />
plus sévères. 86<br />
Es folgt eine längere Passage, in der sie sich mit dem Modell aller modernen<br />
Autobuiographie, den Confessions von Rousseau, auseinandersetzt und dem Autor<br />
vorwirft, seine Selbstbezichtigungen und das Aufdecken von Vergehen, die ohne die<br />
Veröffentlichung der Confessions kein Mensch je erfahren hätte, seien vor allem auf<br />
den Publikumserfolg berechnet. Sie unterstellt Rousseau sogar, daß er<br />
möglicherweise einige besonders finstere Züge an sich selbst schlicht erfunden habe.<br />
Es sei jedenfalls Schmeichelei dem Publikum gegenüber, wenn man sich schlechter<br />
mache, als man in Wirklichkeit sei Bevor sie dann mit ihrer Geburt ihr Leben zu<br />
erzählen beginnt, markiert sie noch einmal die Differenz zwischen dem Roman und<br />
der offenen Gattung der Mémoires, die nicht zur Kunst rechne:<br />
Je ne fais point ici un ouvrage d’art, je m’en défends même, car ces choses ne valent que<br />
par la spontanéité et l’abandon, et je ne voudrais pas raconter ma vie comme un roman.<br />
La forme emporterait le fond. 87<br />
Damit spricht sie sich indirekt bereits gegen die alles andere als spontane<br />
Selbstbeschreibung aus, durch die sich François de Chateaubriand in seinen<br />
Mémoires d’outre-tombe auszeichnet, an denen so ziemlich alles durchkomponiert<br />
ist. Sand sagt darüber nur knapp „L’âme y manque“. Wir hatten bereits gesehen, daß<br />
Stendhal Chateaubriand als den „roi des égotistes“ bezeichnet, dem der ständige<br />
Gebrauch von „je“ und „moi“ keine Schwierigkeiten bereite. Doch gerade bei<br />
86 Ebd., S. 25–26.<br />
87 Ebd., S. 36.<br />
87
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Chateaubriand ist fraglich, ob hinter den vielen Ichs überhaupt der Anspruch auf eine<br />
authentische Ich-Aussprache gesucht werden darf, oder ob der Verfasser nicht gerade<br />
deshalb so problemlos Ich sagen kann, weil er sich selbst als eine literarische Figur<br />
versteht. Schon die sogenannte „Préface testamentaire“, die er 1834, also 14 Jahre vor<br />
seinem Tod und vor der Veröffentlichung der Mémoires publiziert hatte, sprach er<br />
über sein Leben durchgehend in literarischen Kategorien:<br />
Quand la mort baissera la toile entre moi et le monde, on trouvera que mon drame se<br />
divise en trois actes. 88<br />
Der Zweifel, ob der Bericht über das eigene Leben eher der Geschichte oder der<br />
Literatur zugerechnet werden muß, kommt Chateaubriand nicht, oder zumindest<br />
nicht in der Form, in der wir ihn bisher gesehen hatten: da er sich selbst als zugleich<br />
welthistorische und weltliterarische Figur sieht, ist auch seine Autobiographie<br />
zwangsläufig ein Epos, das ihn in der Nachfolge von Vergils Aeneas zeigt, nur daß er<br />
selbst nicht nur Aeneas, sondern auch Vergil ist.<br />
Andere Formen autobiographischen Schreibens, die in der <strong>Romantik</strong> aufgewertet<br />
oder neu entdeckt werden, sind das Tagebuch und der Reisebericht. Besonders die<br />
Reiseliteratur bietet diverse Möglichkeiten, Selbst- und Fremderfahrung<br />
auszudrücken und mit den romantischen Themen der Reise und der Ortlosigkeit zu<br />
verbinden. Fast alle Autoren, die, uns heute als Verfasser von autobiographischen<br />
<strong>Text</strong>en begegnet sind, haben auch umfangreiche reiseliterarische <strong>Text</strong>e hinterlassen:<br />
Stendhal, Chateaubriand, George Sand, Flaubert, – aber das wäre ein eigenes Thema<br />
für eine ganze Sitzung. Ich verweise nur auf zwei Standardwerke dazu:<br />
Friedrich Wolfzettel: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und ENtwicklung<br />
des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1986.<br />
und, speziell zum romantischen Orientalismus und zu den Ägyptenreiseberichten von<br />
romantischen Autoren wie Chateaubriand, Alexandre Dumas, Gérard de Nerval und<br />
Maxime du Camp<br />
Frank Estelmann:Sphinx aus Papier. Ägypten im französischen Reisebericht von der<br />
Aufklärung bis zum Symbolismus. Heidelberg: Winter 2006.<br />
Wir werden nächste Woche zum Streit zwischen Klassikern und <strong>Romantik</strong>ern am<br />
Beispiel des Dramas – speziell Hugos Hernani – kommen und damit auch zum<br />
bereits für heute angekündigten Racine et Shakespeare von Stendhal.<br />
88 FDC: MOT, éd. Berchet, Pochothèque, Bd. 1, S. 1540.<br />
88
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
10) 1<br />
2.1.2011 Klassiker und <strong>Romantik</strong>er in Frankreich, sich heftig bekämpfend<br />
Wenn wir uns mit dem Streit um das Drama in Frankreich um 1830 beschäftigen,<br />
begegnen wir einigen Bekannten wieder, die wir bereits zu Anfang dieser <strong>Vorlesung</strong><br />
kennengelernt hatten. Vor dem großen Skandal, den im Frühjahr 1830 die<br />
Aufführung von Victor Hugos Drama Hernani auslösen wird, gibt es schon eine gut<br />
zehnjährige Debatte um die angemessene Form des modernen Theaters. Stendhals<br />
erster öffentlicher Beitrag dazu ist sein im Frühjahr 1823 erschienenes Pamphlet<br />
Racine et Shakespeare. Stendhal reagierte damit auf eine aktuelle Polemik, die im<br />
Sommer 1822 um die Othello-Aufführung einer englischen Schauspieltruppe<br />
entstanden war. Wir befinden uns 1822 noch in der Frühphase der französischen<br />
<strong>Romantik</strong>, die, wie wir gesehen hatten, zunächst vor allem das ästhetische Programm<br />
der politischen Reaktion war. Wir müssen uns daran erinnern, daß die <strong>Romantik</strong> in<br />
ihren französischen Anfängen, besonders in der von Mme de Staël vertretenen<br />
Definition, eine antinapoleonische Ästhetik war, die sich gegen den Klassizismus der<br />
Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs richtete. Unter der Restauration ab<br />
1815 lagen die Sympathien für die romantische Ästhetik deshalb eher im Lager der<br />
royalistischen Anhänger der wiedererrichteten Bourbonen-Monarchie, während<br />
diejenigen, die der napoleonischen Herrschaft oder zumindest der verlorenen<br />
politischen Größe Frankreichs nachtrauerten, eher klassizistische Positionen<br />
vertraten.<br />
Die Gegner der besagten Othello-Aufführung von 1822 waren deshalb vor allem<br />
liberale Oppositionelle. Deren wichtigste Zeitung, Le Constitutionnel, hatte schon<br />
Tage vor der Aufführung des Shakespeare-Stücks Stimmung dagegen zu machen<br />
versucht und es als merkwürdig bezeichnet, daß in Paris ausländische Theaterstücke<br />
aufgeführt werden sollten. Als dann am 31. Juli die Premiere des Othello stattfand,<br />
wurde die Aufführung systematisch durch Anhänger der liberalen Partei im<br />
Publikum gestört, ebenso wie wenige Tage später die Aufführung eines Stücks von<br />
Richard Sheridan, die von Anfang an ausgepfiffen wurde. Die konservative Presse<br />
berichtete empört über diese Störungen, der liberale Constitutionnel verteidigte sie<br />
dagegen als Ausdruck französischen Patriotismus und Klassizismus. Auf diese<br />
Ereignisse bezieht sich Stendhal noch, wenn er in der Einleitung von Racine et<br />
Shakespeare wenige Monate später schreibt:<br />
89
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Je m’adresse sans crainte à cette jeunesse égarée, qui a cru faire du patriotisme et de<br />
l’honneur national en sifflant Shakespeare parce qu’il fut Anglais. Comme je suis rempli<br />
d’estime pour des jeunes gens laborieux, l’espoir de la France, je leur parlerai le langage<br />
sévère de la vérité. 89<br />
Stendhals freundliches Urteil über die jungen Leute, die sich im Theater so sehr<br />
daneben benommen hatten, ist nicht bloß als Ironie zu verstehen. Politisch standen<br />
ihm die jungen Liberalen und Napoleon-Nostalgiker ja tatsächlich sehr nah, aber er<br />
sah es dennoch als notwendig an, ihnen in Fragen der Theaterästhetik<br />
Nachhilfeunterricht zu erteilen. Stendhals Verständnis des neuen Theaters hatte sich<br />
an den Theorien der italienischen <strong>Romantik</strong>er in Mailand geschult, wo er sich von<br />
1814 bis 1821 fast ununterbrochen aufgehalten hatte. Er hatte dadurch den<br />
sogenannten Mailänder <strong>Romantik</strong>erstreit, der 1816 ausgebrochen war, aus nächster<br />
Nähe verfolgt und war mit den meisten italienischen Protagonisten dieses Streits<br />
persönlich bekannt. Die Debatte in Italien war ausgelöst worden durch einen Artikel<br />
von Mme de Staël vom Januar 1816, in dem die Verfasserin von De l’Allemagne die<br />
Italiener aufforderte, sich ihre literarische Inspiration nicht mehr ausschließlich in<br />
der klassischen Literatur und in der antiken Mythologie zu suchen, sondern sich an<br />
den nordeuropäischen Literaturen der Gegenwart zu orientieren. Dazu sollten sie in<br />
großem Umfang deutsche, englische und französische Romane übersetzen und dann<br />
eine eigene moderne, zeitgemäße Literatur entwickeln.<br />
Mme de Staëls Vorschläge lösten in Italien einen Streit aus, der sich über mehrere<br />
Jahre hinzog. Auch in Italien waren politische und ästhetische Positionen vermischt.<br />
Mme de Staëls Plädoyer für die <strong>Romantik</strong> wurde vielen Italienern dadurch suspekt,<br />
daß sie es im ersten Heft einer Zeitschrift veröffentlichte, der Biblioteca italiana –,<br />
die von den österreichischen Besatzern ausdrücklich zu dem Zweck ins Leben gerufen<br />
worden war, die italienischen Intellektuellen zur Kollaboration mit dem neuen<br />
Regime zu bewegen. Die <strong>Romantik</strong> erschien dadurch vielen Italienern als das<br />
ästhetische Programm, mit dem die neue Herrschaft den italienischen Patriotismus<br />
abwürgen und nationale Bestrebungen unterdrücken wollte, da die klassische Antike<br />
in Italien schlicht der Ursprung der nationalen Literatur sei. Der Streit nahm<br />
besonders in Mailand solche Ausmaße an, daß Goethe noch 1820 darauf reagierte<br />
und dem deutschen Publikum die italienischen Zustände in einem eigenen Artikel zu<br />
erklären versuchte. Der Titel „Klassiker und <strong>Romantik</strong>er in Italien, sich heftig<br />
bekämpfend“ deutete bereits darauf hin, daß der Streit aus der Weimarer Perspektive<br />
89 Stendhal: Racine et Shakespeare (1823). In: Ders.: Racine et Shakespeare (1818–1825) et autres<br />
textes de théorie romantique. Hg. Michel Crouzet. Paris: Champion 2006, S. 269.<br />
90
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
vor allem belustigend wirkte. Goethe konnte aber auch bei dieser Gelegenheit<br />
feststellen, daß Mme de Staël für die Vermittlung der neueren deutschen Ästhetik –<br />
und das hieß vor allem der Werk von Schiller und Goethe – in das restliche Europa<br />
enorm wichtig war.<br />
Stendhal konnte diese Debatten in Mailand, wie gesagt, aus nächster Nähe<br />
mitverfolgen, und der erste Teil von Racine et Shakespeare ist auch eine fast<br />
wörtliche Übersetzung eines Mailänder Diskussionsbeitrags von 1819. Unter dem<br />
Titel Dialogo sulle unità drammatiche di luogo e di tempo hatte Ermes Visconti<br />
darin einen Klassiker und einen <strong>Romantik</strong>er über die Regeln der Einheit von Ort und<br />
Zeit im klassischen Drama diskutieren lassen. Dieses Gespräch konnten nun mit<br />
vierjähriger Verspätung die französischen Leser verfolgen. Stendhal hatte das<br />
zentrale Problem gleich im ersten Satz von Racine et Shakespeare zusammengefaßt:<br />
Rien ne ressemble moins que nous aux marquis couverts d’habits brodés et de grandes<br />
perruques noires, coûtant mille écus, qui jugèrent, vers 1670, les pièces de Racine et de<br />
Molière. Ces grands hommes cherchèrent à flatter le goût de ces marquis, et travaillèrent<br />
pour eux. Je prétends qu’il faut désormais faire des tragédies pour nous, jeunes gens<br />
raisonneurs, sérieux et un peu envieux, de l’an de grâce 1823. Ces tragédies-là doivent<br />
être en prose. De nos jours, le vers alexandrin n’est le plus souvent qu’un cache-sottise. 90<br />
Es ist bemerkenswert, daß ausgerechnet ein Autor wie Stendhal, der nie selbst ein<br />
Theaterstück verfaßt hat, gerade das Drama zum Maßstab für die romantische Kunst<br />
macht. Aber die offizielle dramatische Literatur war in Frankreich noch 1823 derart<br />
an den klassischen Regeln ausgerichtet, daß das Theater als der rückständigste Ort<br />
der französischen Kulturproduktion erscheinen konnte. Stendhal vergleicht die Lage<br />
des Theaters um 1820 mit der Lage der französischen Malerei kurz vor der<br />
Revolution, als David mit seinen heroischen Bildern den süßlichen Rokokostil<br />
beseitigte. So wie die französische Malerei noch 1780 nach den ästhetischen<br />
Prinzipien Ludwigs XIV. funktioniert habe, so sei das Theater noch 1820 nach den<br />
Vorschriften des 17. Jahrhunderts geregelt. Das gegenwärtige Theater sei deshalb<br />
eines der imitation, nicht der invention. Doch auch in der dramatischen Literatur<br />
sieht Stendhal eine Revolution voraus, die derjenigen Davids in der Malerei<br />
vergleichbar sein werde [HIER EIN BILD VON DAVID]:<br />
La poésie dramatique en est en France au point où le célèbre David trouva la peinture vers<br />
1780. […] M. David apprit à la peinture à déserter les traces des Lebrun et des Mignard, et<br />
à oser montrer Brutus et les Horaces. En continuant à suivre les errements du siècle de<br />
Louis XIV, nous n’eussions été, à tout jamais, que de pâles imitateurs. Tout porte à croire<br />
que nous sommes à la veille d’une révolution semblable en poésie. Jusqu’au jour du<br />
succès, nous autres défenseurs du genre romantique, nous serons accablés d’injures.<br />
90 Ebd., S. 265.<br />
91
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Enfin ce grand jour arrivera, la jeunesse française se réveillera; elle sera étonnée, cette<br />
noble jeunesse, d’avoir applaudi si longtemps, et avec tant de sérieux, à de si grandes<br />
niaiseries. 91<br />
Stendhal zielt also, wie wir auch bereits an seiner Bemerkung über die verirrten<br />
jungen Liberalen gesehen hatten, die die Shakespeare-Aufführung von 1822<br />
ausgepfiffen hatten, tatsächlich darauf, die romantische Literatur – und hier<br />
besonders das romantische Drama – als die angemessene ästhetische Ausdrucksform<br />
der Gegenwart zu etablieren. Gerade aufgrund der Sympathie, die er für das<br />
politische und ökonomische Programm des Liberalismus hatte, war es für Stendhal<br />
wichtig, daß das System der Freiheit – man könnte im Fall des französischen<br />
Theaters tatsächlich ganz wörtlich von Deregulierung sprechen – auch den Bereich<br />
der ästhetischen Produktion erfasste. Die liberale Wende der französischen<br />
<strong>Romantik</strong>, von der wir schon zu Beginn der <strong>Vorlesung</strong> gehört hatten, vollzieht sich<br />
also am sichtbarsten in der Theaterästhetik und ist programmatisch mit dem<br />
Erscheinen von Stendhals Pamphlet verbunden. Die Regeln, die es zu beseitigen gilt,<br />
sind, wie der Titel der Schrift von Ermes Visconti bereits sagte, vor allem die des Orts<br />
und der Zeit, also die Vorschrift, die sie aus der klassischen Tragödie von Corneille<br />
oder Racine kennen, daß die Handlung eines Stücks innerhalb von 24 Stunden<br />
ablaufen muß und daß sich alles an einem einzigen Ort abspielt. Wir hatten bereits<br />
darüber gesprochen, daß deshalb das Theater Shakespeares das rote Tuch für die<br />
Klassizisten war. Aber auch Stücke von Schiller und Goethe, wie Die Räuber oder<br />
Götz von Berlichingen, die sich ihrerseits an Shakespeare orientierten, wurden in der<br />
italienischen und französischen Diskussion immer wieder als aktuelle Beispiele<br />
genannt. Es genügt, sich an die Entstehungsdaten der beiden deutschen Stücke zu<br />
erinnern, um das Gefühl der Rückständigkeit zu verstehen, daß bei jemandem wie<br />
Stendhal im Blick auf das französische Theater aufkommen mußte: Goethes Götz war<br />
von 1773, Schillers Räuber von 1780, und in beiden Stücken wurden große zeitliche<br />
und geographische Räume durchschritten, das Personal war wesentlich zahlreicher<br />
als in einem klassischen französischen Stück und die Ausdrucksweise war realistischderb,<br />
wie das berühmte Götz-Zitat noch demonstriert. Auf der französischen Bühne<br />
wäre kein einziges dieser Elemente vorstellbar gewesen, schon gar nicht ein<br />
Ausspruch wie der von Götz. Stendhal benennt dieses Problem gleich zu Beginn von<br />
Racine et Shakespeare, wenn er, ganz im Sinne der Forderungen von Mme de Staël,<br />
die französische Renaissance als Fundgrube für effektive Theaterstoffe bezeichnet,<br />
91 Ebd., S. 265–266.<br />
92
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
aus der sich aber kein klassischer Autor bedienen könne, weil die derbe Sprache der<br />
Renaissance den Anstandsregeln widerspreche:<br />
Les règnes de Charles VI, de Charles VII, du noble François I er , doivent être féconds pour<br />
nous en tragédies nationales d’un intérêt profond et durable. Mais comment peindre avec<br />
quelque vérité les catastrophes sanglantes narrées par Philippe de Commynes, et la<br />
Chronique scandaleuse de Jean de Troyes si le mot pistolet ne peut absolument pas entrer<br />
dans un vers tragique? 92<br />
Nicht nur ein Wort wie „pistolet“ wirkte schockierend, auch ein Taschentuch wäre<br />
unvorstellbar gewesen. Noch 1829, kurz vor der Aufführung von Hernani, hatte eine<br />
Version von Shakespeares Othello, die Alfred de Vigny für das Théâtre français<br />
verfaßt hatte, bei jeder Erwähnung des Taschentuchs, nach dem Othello Desdemona<br />
fragt, für lautes Gelächter der Klassiker im Saal gesorgt. Stendhal bringt im dritten<br />
Kapitel von Racine et Shakespeare ein Beispiel für die sprachlichen Verrenkungen,<br />
die die Anstandsregeln den klassischen Autoren abverlangen. In seiner Tragödie La<br />
mort de Henri IV von 1806 wollte Gabriel-Marie Legouvé (1764–1812) den<br />
berühmten Ausspruch Heinrichs IV unterbringen, daß jeder Bauer im Königreich am<br />
Sonntag ein Huhn im Topf haben sollte. An der Art, wie Legouvé dabei alle<br />
anstößigen Wörter – Bauer, Huhn, Topf – umkurvt, macht Stendhal den Unterschied<br />
zwischen sprachlichem Klassizismus und der <strong>Romantik</strong>, zwischen Shakespeare und<br />
Racine deutlich:<br />
Ce qu’il y a d’antiromantique, c’est M. Legouvé, dans sa tragédie de Henri IV, ne pouvant<br />
pas reproduire le plus beau mot de ce roi patriote: „Je voudrais que le plus pauvre paysan<br />
de mon royaume pût du moins avoir la poule au pot le dimanche“: Ce mot raiment<br />
français eût fourni une scène touchante au plus mince élève de Shakespeare. La tragédie<br />
racinienne dit bien plus noblement:<br />
Je veux enfin qu’au jour marqué pour le repos,<br />
L’hôte laborieux des modestes hameaux<br />
Sur sa table moins humble ait, par ma bienfaisance,<br />
Quelques-uns de ces mets réservés à l’aisance. 93<br />
Die französische Renaissance, die Stendhal ins Spiel gebracht hatte, wurde wenig<br />
später tatsächlich ein bevorzugter Schauplatz der neuen Dramen. Eines der ersten<br />
erfolgreichen romantischen Stücke ist 1829 Henri III et sa cour von Alexandre<br />
Dumas père. Wie hatten bereits in der Chronologie der <strong>Romantik</strong>, die Mussets<br />
Provinzintellektuelle 1836 in den Lettres de Dupuis et Cotonet entwerfen, gesehen,<br />
daß auch den beiden spießigen <strong>Romantik</strong>forschern aufgefallen war, daß um 1830 das<br />
Mittelalter und die Renaissance sehr beliebt waren:<br />
92 Ebd., S. 265.<br />
93 Ebd., S. 299.<br />
93
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
De 1830 à 1831, nous crûmes que le romantisme était le genre historique, ou, si vous<br />
voulez, cette manie, qui depuis peu, a pris nos auteurs d’appeler des personnages de<br />
romans et de mélodrames Charlemagne, François I er ou Henri IV, au lieu d’Amadis,<br />
d’Oronte ou de Saint-Albin. […]<br />
Stendhal veröffentlichte 1825 einen zweiten Teil von Racine et Shakespeare, in dem<br />
er auf eine 1824 erschienene Rede eines Mitglieds der Académie française reagierte,<br />
der noch einmal aus klassischer Position das romantische Theater, oder das, was er<br />
dafür hielt, frontal angegriffen hatte. Stendhal führt dagegen aus, daß es ein solches<br />
Theater noch nicht gebe, benennt aber die Bedingungen, die es zu erfüllen hätte:<br />
Une tragédie romantique est écrite en prose, la succession des événements qu’elle<br />
présente aux yeux des spectateurs dure plusieurs mois, et ils se passent dans des lieux<br />
différents. Que le ciel nous envoie bientôt un homme à talent pour faire une telle<br />
tragédie. 94<br />
Es gäbe zu Stendhals zweitem Pamphlet noch viel zu sagen, aber ich möchte jetzt zu<br />
dem <strong>Text</strong> kommen, den die Literaturgeschichte üblicherweise als das<br />
epochemachende Werk betrachtet, das Stendhals Anspruch an eine „tragédie<br />
romantique“ am ehesten erfüllt hat. Wir werden aber gleich sehen, daß auch Hugos<br />
Hernani, von dem nun die Rede sein soll, Stendhals Forderungen nur teilweise<br />
gerecht wird.<br />
Hugo: Préface de Cromwell, Theorie des „drame“, Marion Delorme,<br />
Hernani<br />
Die aggressive Haltung, mit der die englische Schauspieltruppe 1822 im Théâtre de la<br />
Porte Saint-Martin empfangen worden, hatte sich innerhalb weniger Jahre<br />
grundlegend gewandelt. Als 1828 in Paris wieder eine englische Truppe Shakespeare<br />
im Original bietet, wird sie triumphal empfangen. Die Wende, deren Anfang wir mit<br />
Stendhals Pamphleten von 1823 und 1825 gesehen hatten, war innerhalb von sechs<br />
Jahren deutlich vollzogen. Victor Hugo hatte 1827 ein 6000 Verse umfassendes,<br />
historisches Drama über Oliver Cromwell verfaßt, den englischen Staatsmann des<br />
17. Jahrhunderts. Diesem Drama stellte er ein langes Vorwort voran, in dem er seine<br />
Theorie des romantischen Dramas entwickelte. Shakespeare war darin eine der<br />
wichtigsten Bezugsgrößen. François Guizot, ein liberaler Historiker, der unter der<br />
Julimonarchie nach 1830 eine große politische Karriere machen sollte, hatte bereits<br />
1821 eine neue Shakespeare-Ausgabe betreut, die auch für Hugos Bild des Engländers<br />
94 Ebd., S. 472.<br />
94
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
wichtig wurde. Guizot hatte im mehr als 150 Seiten langen Vorwort, das er zu seiner<br />
Ausgabe schrieb, den Klassizismus für tot erklärt, indem er ihn historisierte:<br />
Le système classique est né de la vie de son temps; ce temps est passé: son image subsiste<br />
brillante dans ses œuvres, mais ne peut plus se reproduire.<br />
François Guizot : Vie de Shakespeare. In : Shakespeare : Œuvres complètes. Paris :<br />
Ladvocat 1821, S. CLI.<br />
Der Klassizismus ist für den Historiker Guizot keine zeitlose Größe, sondern das<br />
Produkt bestimmter historischer Bedingungen, die unter Ludwig XVI. gegeben<br />
waren, die aber nun nicht mehr existieren. Neue literarische Denkmäler können<br />
deshalb nicht mehr auf dem Boden der Werke von Corneille und Racine errichtet<br />
werden. Sie können zwar auch nicht unmittelbar auf Shakespeare aufbauen, aber der<br />
Engländer biete doch zumindest ein System, mit dem auch die historische Situation<br />
der Gegenwart noch angemessen wiedergegeben werden könne<br />
Ce terrain n’est pas celui de Corneille et de Racine; ce n’est pas celui de Shakespeare, c’est<br />
le nôtre; mais le système de Shakespeare peut seul fournir, ce me semble, les plans<br />
d’après lesquels le génie doit travailler. 95<br />
Guizot fordert daher historische Dramen, die wie die Historienmalerei alle Aspekte<br />
der großen Umwälzungen erfassen, deren Zeuge Frankreich seit der Revolution<br />
geworden sei. Das Theater dürfe nicht auf die begrenzten Konflikte des klassischen<br />
Repertoires mit all seinen Regelbeschränkungen festgelegt werden, sondern müsse<br />
den ganzen Menschen in seiner historischen Situation zeigen können:<br />
Témoins depuis trente ans des plus grandes révolutions de la société, nous ne reserrerons<br />
pas volontiers le mouvement de notre esprit dans l’espace étroit de quelque événement de<br />
famille, ou dans les agitations d’une passion purement individuelle. […] Il nous faut de<br />
tableaux où se renouvelle ce spectacle, où l’homme tout entier se montre et provoque<br />
toute notre sympathie. 96<br />
Was Guizot Shakespeares „System“ nannte, wurde von Victor Hugo in der „Préface de<br />
Cromwell“ von 1827 dramentheoretisch entwickelt. Shakespeare diente Hugo als<br />
Beispiel für die Überwindung des Gegensatzes von Tragödie und Komödie. Ähnlich<br />
wie Guizot hielt Hugo es für unmöglich, „l’homme tout entier“ auf die Bühne zu<br />
bringen, ohne die klassischen Gattungsgrenzen zu überschreiten. Da die von Gott<br />
geschaffene Natur und das menschliche Leben als Teil der Natur nicht nur schön und<br />
erhaben seien, sondern Schönes neben Häßlichem, Anmutiges neben Unförmigem<br />
existiere, müsse das Bühnengeschehen dem Rechnung tragen. Die Regeln des<br />
95 Ebd.<br />
96 Ebd.<br />
95
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
klassischen Theaters würden das aber ausschließen, deshalb sei die Synthese von<br />
Tragischem und Komischem, die Shakespeares Stücke bieten, das ideale Modell für<br />
das moderne Theater: Nicht Tragödie oder Komödie, sondern alles in einem unter<br />
der Bezeichnung des Dramas. In einem historischen Durchgang durch die Geschichte<br />
der Weltliteratur, den Hugo in der „Préface“ bietet, verkörpert Shakespeare deshalb<br />
den Beginn und vorläufigen Höhepunkt der modernen Literatur:<br />
Nous voici parvenus à la sommité des temps modernes. Shakespeare, c’est le drame; et le<br />
drame, qui fond sous un même souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon,<br />
la tragédie et la comédie, le drame est le caractère propre de la troisième époque de<br />
poésie, de la littérature actuelle. 97<br />
Hugo teilt die Geschichte der Weltliteratur in drei Epochen ein, eine der Ode, eine<br />
des Epos und eine des Dramas:<br />
1) Les temps primitifs sont lyriques<br />
2) les temps antiques sont épiques<br />
3) les temps modernes sont dramatiques.<br />
Besonders die Verbindung des Sublimen mit dem Grotesken führt Hugo in vielen<br />
Variationen als das besondere Kennzeichen der modernen Dichtung seit dem<br />
Christentum an. Dantes Frauengestalten seien deswegen so sublim, weil Dante auch<br />
den conte Ugolino gezeichnet hat, der in einer gräßlich-grotesken Szene im<br />
Hungerturm seinen eigenen Kinder aufißt. Der direkte Kontakt des Sublimen mit<br />
dem Grotesken hebe erst das Sublime hervor, deshalb sei auch das moderne<br />
Erhabene dem antiken überlegen.<br />
Das neue Drama erfordert aber auch neue Aufführungspraktiken. Ein<br />
herkömmlicher Theaterabend beginnt zwischen 17 und 18 Uhr und endet gegen 23<br />
Uhr. In der Zeit wird den Zuschauern normalerweise ein Versprolog geboten, dann<br />
folgt ein kleines Stück und schließlich ein großes, fünfaktiges Drama. Dazwischen<br />
gibt es musikalische Intermezzi. Hugo schlägt nun vor, daß diese gesamte Zeit für ein<br />
einziges Stück benutzt werde. Der Cromwell mit seinen 6000 Versen würde einen<br />
solchen Abend füllen Wie Guizot spricht Hugo vom „tableau“, das auf der Bühne<br />
entworfen werden sollte. Die Charaktere sollten sich während des Stücks entwickeln<br />
können und in den Zusammenhang ihrer historischen Epoche gestellt werden. Das<br />
erfordere zwangsläufig mehr Aufführungszeit als ein herkömmliches Stück, das nach<br />
zwei Stunden zu Ende sein muß:<br />
97 Hugo: Préface de Cromwell (1827).<br />
96
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
On conçoit qu’un pareil tableau serait gigantesque. Au lieu d’une individualité, comme<br />
celle dont le drame abstrait de la vieille école se contente, on en aura vingt, quarante,<br />
cinquante, que sais-je? de tout relief et de toute proportion. Il y aura foule dans le drame.<br />
Ne serait-il pas mesquin de lui mesurer deux heures de durée pour donner le reste de la<br />
représentation à l’opéra-comique ou à la farce?<br />
In England und In Deutschland, so behauptet Hugo, gebe es bereits Stücke, die sechs<br />
Stunden dauern. Die Stücke, die Hugo dann tatsächlich für die Aufführung schreibt,<br />
nämlich Marion Delorme und Hernani, umfassen keine 6000 Verse mehr, aber<br />
immerhin noch jeweils über 2000. Bei beiden handelt es sich um historische<br />
Dramen, beide sorgen für größere Skandale. Marion Delorme von 1829 erzählt die im<br />
17. Jahrhundert spielende Geschichte der gleichnamigen Prostituierten, um die sich<br />
zwei ihrer Liebhaber duellieren. Da das unter Kardinal Richelieu verboten war,<br />
werden die beiden zum Tode verurteilt. Alle Versuche, den König, Ludwig XIII. oder<br />
den Kardinal umzustimmen scheitern und die beiden, die mittlerweile die besten<br />
Freunde geworden sind, werden hingerichtet. Das Stück zeichnete kein besonders<br />
freundliches Bild des Königs und des Kardinals, so daß es vom regierenden Minister<br />
Martignac persönlich Zensur verboten wurde, obwohl die Comédie-Française es<br />
bereits akzeptiert hatte. Der Minister sagte Hugo dazu:<br />
„ce n’est pas l’heure d’exposer aux rires et aux insultes la personne royale“<br />
Doch auch die positive Darstellung einer Prostituierten auf der Bühne de Comédie-<br />
Française war sicher keine erwünschte Aussicht. Die Regierung bot Hugo zwar an,<br />
ihm seine finanziellen Verluste zu ersetzen und ihm die Pension, die er seit seinen<br />
royalistischen Odes et Ballades von 1822 bezog, zu erhöhen, aber Hugo lehnte ab und<br />
machte sich an die Arbeit für Hernani, den er in weniger als einem Monat von Ende<br />
August bis Ende September 1829 schrieb.<br />
Hat das jemand gelesen? Handlungsabriß?<br />
Geschichte Kaiser Karls V., bevor er Kaiser wird; Liebeskonflikt um Doña Sol, die mit<br />
ihrem Onkel, dem alten Don Ruy Gomez de Silva verheiratet werden soll, zwischen<br />
dem zukünftigen Kaiser und dem Banditenführer Hernani, der eigentlich der Sohn<br />
des Königs von Aragón ist. Karl, bis dato nur König von Spanien, hat den<br />
Konkurrenten umgebracht, und der Sohn hat Rache geschworen.<br />
Mantel und Degen-Geschichte, nächtliche Verkleidungen, gemeinsamer<br />
Attentatsplan von Ruy Gomez und Hernani, Ruy rettet Hernani, der ihm darauf sein<br />
Leben verpflichtet (Hornrufsignal)<br />
Wandel des Königs, als er Kaiser geworden ist: Begnadigung Hernanis, der sich nun<br />
wieder Jean d’Aragon nennen und seine Doña Sol heiraten darf. In der<br />
97
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Hochzeitsnacht erklingt dann der Hornruf, mit dem Ruy Hernanis Leben einfordert;<br />
schließlich gemeinsamer Gifttod Hernanis und Doña Sols, der dann die Liebesnacht<br />
ersetzt.<br />
Das Stück wird im Oktober 1829 von der Comédie-Française angenommen, und<br />
auch die Zensur will nicht zweimal innerhalb von zwei Monaten ein Stück von Hugo<br />
verbieten. Der Bericht des Zensors, mit dem er das Stück zur Aufführung freigibt, ist<br />
aber sprechend, weil der Zensor sinngemäß sagt, daß das Stück so unsinnig und<br />
geschmacklos sei, daß das Publikum sich selbst eine Meinung davon machen solle:<br />
Cette pièce abonde en inconvenances de toute nature. Le roi s’exprime souvent comme un<br />
bandit, le bandit traite le roi comme un brigand. La fille d’un grand d’Espagne n’est<br />
qu’une dévergondée, sans dignité ni pudeur, etc. Toutefois, malgré tant de vices capitaux,<br />
nous sommes d’avis […] qu’il est d’une sage politique de n’en pas retrancher un seul mot.<br />
Il est bon que le public voie jusqu’à quel point d’égarement peut aller l’esprit humain<br />
affranchi de toute règle et de toute bienséance. 98<br />
Der Zensor sagt also deutlich: hätte Hugo sich an die klassischen Regeln gehalten,<br />
wäre ihm ein solcher Irrsinn nicht aus der Feder geflossen. Bemerkenswert ist bei<br />
aller Regellosigkeit, daß Hugo bewußt am Alexandriner festhält und sich in diesem<br />
Punkt von Stendhals Forderungen nach einem historischen Drama in Prosa entfernt.<br />
Stendhals Forderungen entspricht eher der mit Stendhal befreundete Prosper<br />
Mérimée, der ab 1825, also ab dem Erscheinen des zweiten Racine et Shakespeare,<br />
mit der Veröffentlichung des Théâtre de Clara Gazul beginnt, einer Sammlung von<br />
historischen Stücken in Prosa, die angeblich von einer alten spanischen<br />
Schauspielerin verfaßt sind. Passend zum Theatertheoretiker Stendhal, der selbst<br />
keine Theaterstücke verfaßt, sind Mérimées <strong>Text</strong>e reine Lesedramen, die für die<br />
Lektüre in ausgewählten Kreisen, nicht aber für die Bühne geschrieben sind.<br />
Wir haben heute mit François Guizot schon einen der wichtigsten romantischen<br />
Historiker kennengelernt, wir werden nächste Woche noch einmal auf den<br />
romantischen Geschichtsbegriff und dessen Folgen in Roman, Drama und<br />
Literaturgeschichtsschreibung zurückkommen. Es ist kein Zufall, daß die Anfänge zu<br />
dem, was wir hier heute als Literaturwissenschaft betreiben, in der <strong>Romantik</strong> liegen.<br />
Dazu nächste Woche mehr.<br />
98 Bericht des Zensors Charles Brifaut; zit. nach Hugo: OC. Éd. Massin. Bd. 3, S. 1413–1414.<br />
98
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
19.1.2011: Walter Scott und die Folgen: Der romantische<br />
Geschichtsbegriff in Drama, Roman und Literaturgeschichtsschreibung<br />
Wir hatten letzte Woche über die Verbindung der Anfänge des romantischen Dramas<br />
um 1830 mit der Vorliebe für historische Stoffe gesprochen. ‚Historisch‘ heißt in<br />
diesem Fall, daß die Stoffe aus der nationalen Geschichte genommen werden,<br />
besonders der des Mittelalters und der Renaissance, wie das bereits Mme de Staël<br />
gefordert und wie es Stendhal in Racine et Shakespeare noch einmal unterstrichen<br />
hatte. Ein Symptom für die europaweite Rückwendung zu solchen Stoffen war der<br />
Erfolg von Walter Scott, dessen Romane aus der schottischen Frühzeit in alle großen<br />
Sprachen übersetzt wurden und dessen Schema des historischen Romans in ganz<br />
Europa imitiert und weiterentwickelt wurde.<br />
Wir hatten letzte Woche auch bereits darüber gesprochen, daß es bei dem Streit<br />
um das romantische Drama vor allem darum ging, ob die neue Gattung an der<br />
offiziellen Spielstätte der Klassik, also an der Comédie Française akzeptiert würde<br />
oder nicht. An privaten Theatern wie der Porte Saint-Martin waren die Übergänge<br />
fließender, weil das symbolische Gewicht nicht so groß war, wie an der Comédie<br />
Française. Daß romantische Themen und Bearbeitungsweisen schon vor dem Erfolg<br />
von Hernani beliebt waren, zeigen besonders die europaweiten Verkaufszahlen der<br />
Romane von Walter Scott. Stendhal hatte die französische Scott-Begeisterung schon<br />
1823 als Indiz dafür genommen, daß es zwischen dem offenkundig romantischen<br />
Publikumsgeschmack und der Haltung des offiziellen Theaters und der Zeitungen,<br />
die darüber berichteten, eine deutliche Diskrepanz gebe. Im ersten Kapitel von<br />
Racine et Shakespeare hatte er unter Bezug auf die <strong>Romantik</strong>feindlichkeit der großen<br />
Tageszeitungen 1823 geschrieben:<br />
Si le pauvre romanticisme avait une réclamation à faire entendre, tous les journaux de<br />
toutes les couleurs lui seraient également fermés. Mais cette apparente défaveur ne nous<br />
effraie nullement, parce que c’est une affaire de parti. Nous y répondon par un seul fait:<br />
Quel est l’ouvrage littéraire qui a le plus réussi en France depuis dix ans? Les romans de<br />
Walter Scott. Qu’est-ce que les romans de Walter Scott? De la tragédie romantique,<br />
entremêlée de longues descriptions. 99<br />
[Romanticisme wegen Stendhals italienischer Bekanntschaft mit dem Begriff]<br />
Stendhal, der ein großer Englandliebhaber war, gehört zu den ersten französischen<br />
Autoren, die sich zu Scott äußern. 1813 war die europaweit erste vollständige<br />
Übersetzung eines Romans von Walter Scott in Frankreich erschienen (Lady of the<br />
99 Racine et Shakespeare 1823, ed Crouot, S. 267–268.<br />
99
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Lake), ab 1815 bezog sich Stendhal regelmäßig auf den Erfinder des modernen<br />
historischen Romans. Danach explodierte sowohl die Zahl der Übersetzungen als<br />
auch die der französischen Nachahmungen. 1828 konnte der Kritiker Sainte-Beuve<br />
sagen, daß man in einer Zeit lebe, in der es selbst für die großen Talente notwendig<br />
sei, sich durch die Imitation Walter Scotts im Schreiben auszubilden, er sprach von<br />
„une époque où l’imitation de Walter Scott est presque une contagion nécessaire,<br />
même pour de très hauts talents“. 100 Sainte-Beuve sagt das 1828, und 1829 erscheint<br />
der erste Band dessen, was wenig später die Comédie Humaine werden sollte,<br />
nämlich Balzacs Roman Les Chouans über die gegenrevolutionären Aufstände in der<br />
Bretagne in den 1790er Jahren. Die Ähnlichkeiten mit Walter Scotts erstem<br />
Waverley-Roman sind auffällig. Wenn bei Scott der Widerstand der heroischen<br />
schottischen Clans gegen die englische Zentralmacht beschrieben wird, der mit dem<br />
großen Gemetzel von Culloden Moor von 1745 niedergeschlagen wurde, dann sind es<br />
bei Balzac die heldenhaften königstreuen Bretonen, die sich ab 1792 gegen die<br />
revolutionäre Zentralmacht wehren, bis sie in den großen Straffeldzügen der<br />
Revolutionsarmee niedergemacht werden. Ein ähnliches Szenario liegt James<br />
Fenimore Coopers Last of the Mohicans von 1826 zugrunde. Hier sind es die<br />
Mohikaner, die sich der Unterdrückung durch die weiße Kolonialmacht widersetzen.<br />
Auch Cooper hatte Scott gelesen, Balzac hatte sich an Scott und Cooper orientiert.<br />
Balzacs geniale Leistung in der endgültigen Fassung der Comédie humaine wird es<br />
dann sein, daß er sich vom Vorbild Scott emanzipiert und nicht mehr mehr oder<br />
weniger entfernte historische Perioden zum zeitlichen Rahmen seiner Romane<br />
macht, sondern die unmittelbare Gegenwart erfaßt, darüber aber so schreibt, als<br />
behandele er eine historisch entfernte Epoche. Darin kam Balzac Stendhal sehr nahe,<br />
der ebenfalls die Mittelalterstimmungen unerträglich fand und sowohl für Le Rouge<br />
et le Noir als auch für die Chartreuse de Parme auf die unmittelbare Zeitgeschichte<br />
zurückgriff.<br />
Weitere bekannte Scott-Nachfolger – die sich jeweils wieder für die kostümierte,<br />
entfernte Geschichte entscheiden – sind in Frankreich Alfred de Vigny, Victor Hugo<br />
oder Alexandre Dumas père. Vigny hatte schon 1826 mit seinem Roman Cinq-Mars<br />
ou une conjuration sous Louis XIII eine Geschichte aus dem französischen<br />
17. Jahrhundert im Stil Walter Scotts erzählt. Der Marquis de Cinq-Mars gerät darin<br />
in Konflikt mit dem allmächtigen Minister des Königs, dem Kardinal Richelieu. Als<br />
100 Sainte-Beuve, 1828.<br />
100
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
seine Verschwörungsversuche alle gescheitert sind, akzeptiert er schließlich stoisch<br />
das Todesurteil, das der Kardinal über ihn verhängen läßt. Die Sympathien der Leser<br />
sollen deutlich dem Marquis zuteil werden, und der frustrierte Adlige Vigny<br />
formuliert damit indirekt die Anklage, daß die französischen Könige selbst an dem<br />
Schicksal Schuld seien, das sie nach 1789 ereilt habe, weil sie den alten Adel<br />
zugunsten der modernen Ministerialregierungen entmachtet und aufgegeben hätten.<br />
Victor Hugo, der Scott, wie wir gleich noch sehen werden, auch für historische<br />
Dramen ausschlachtete, hatte sich für den 1831 erschienenen Roman Notre-Dame de<br />
Paris ausgiebig bei Scotts Waverley-Novels bedient. Die große Schlacht- und<br />
Belagerungsszene in Notre-Dame, in der die Bettler und Diebe der Cour des Miracles<br />
die Kirche zu stürmen versuchen, ist fast Wort für Wort der Belagerung des Schlosses<br />
Torquilstone in Scotts Ivanhoe von 1819 nachgebildet, Hugos schöne Zigeunerin<br />
Esemeralda entspricht exakt der schönen Jüdin Rebecca bei Scott, der Glöckner von<br />
Notre-Dame, Quasimodo, entspricht genau dem grotesken Außenseiter Ulrica bei<br />
Scott, der dort das Schloß in Brand steckt, so wie Quasimodo die Kirche.<br />
Vielleicht noch bekannter als Notre-Dame, zumindest bis Hugos Roman zum<br />
Musical gemacht wurde, sind Alexandre Dumas’ Trois Mousquetaires von 1844. Auch<br />
hier ist der Böse wieder der Kardinal Richelieu, der die Vertreter des alten Adels im<br />
Sinne der neuen Zentralmacht zu disziplinieren sucht. Es ließen sich noch zahllose<br />
französische Romane nennen, die der von Walter Scott ausgelösten Mode<br />
nachschreiben, aber das würde uns zu weit führen. Für einen Überblick und für<br />
weitere Literaturhinweise ist zu empfehlen:<br />
Richard Maxwell: Scott in France. In: The Reception of Walter Scott in Europe. Hg. von<br />
Murray Pittock. London: continuum 2006, S. 11–30.<br />
Auch das historische Drama verdankt seinen Erfolg dieser Mode. Auch wenn es<br />
bereits vor Hernani Dramen mit historischen Themen gab (Dumas, Henri III et sa<br />
cour), wird die große Zäsur vom Erfolg von Hugos Drama auf der Bühne der Comédie<br />
française im Februar 1830 gebildet. Théophile Gautier, der zu den jungen Hugo-<br />
Anhängern gehörte, die am Abend der Uraufführung die traditionelle, bezahlte<br />
Claque ersetzten, und der selbst einer der wichtigsten Autoren der <strong>Romantik</strong> ab den<br />
1830er Jahren war, hat noch im Abstand von über vierzig Jahren, zu Beginn der<br />
1870er Jahre, eine Histoire du Romantisme geschrieben, die ganz im Zeichen von<br />
Hernani steht. Es gibt in Gautiers Geschichte der <strong>Romantik</strong> zwar auch Kapitel über<br />
101
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Gérard de Nerval, Alfred de Vigny, den Komponisten Hector Berlioz und viele andere,<br />
deren Namen heute weitgehend vergessen sind. Der erste Satz aber beginnt in<br />
melancholischem Ton und setzt den Anfang der französischen <strong>Romantik</strong> zeitlich<br />
gleich mit dem Streit um Hernani:<br />
De ceux qui, répondant au cor d’Hernani, s’engagèrent à sa suite dans l’âpre montagne du<br />
Romantisme et en défendirent si vaillamment les défilés contre les attaques des<br />
classiques, il ne survit qu’un petit nombre de vétérans […]. 101<br />
Hugo, 1802 geboren, lebte noch und war gerade aus dem Exil auf Guernesey<br />
zurückgekehrt, als Gautier diesen Satz Anfang der 1870er Jahre schrieb, Gautier<br />
selbst, Jahrgang 1811, war Anfang sechzig und blickte zurück auf seine eigene Jugend.<br />
Bei der Premiere von Hernani war er noch nicht zwanzig, Gérard de Nerval, Jahrgang<br />
1808 und einer der Mitstreiter von Gautier beim Versuch, das Eröffnungspublikum<br />
für das Stück einzunehmen, war 1830 Anfang zwanzig und hatte sich 1855 das Leben<br />
genommen. Gautier sieht die Zeitspanne, die die <strong>Romantik</strong> umfaßt, also sehr stark<br />
mit seiner Biographie und der Biographie derjenigen verbunden, die 1830 das<br />
romantische Drama in der Comédie Française etablieren halfen. Auch die weiteren<br />
romantischen Künstler, denen Gautier Kapitel in seiner Geschichte widmete, waren<br />
mittlerweile fast alle gestorben: Hector Berlioz 1803–1870, Alfred de Vigny 1799–<br />
1863, Eugène Devéria 1805–1865, auch die Schauspielerin Marie Dorval, die Hugos<br />
Marion Delorme und Dumas Adèle d’Hervey aus Antony verkörpert hatte, war schon<br />
lange tot. Gautiers Geschichte liest sich also wie eine lange Nekrologie der<br />
französischen <strong>Romantik</strong>, von deren Protagonisten nun nur noch Hugo und Gautier<br />
selbst am Leben sind. 1872 stirbt dann auch Gautier, nur Hugo überlebt sie alle und<br />
stirbt erst 1885, im Alter von 83 Jahren.<br />
Aber kommen wir noch einmal zum Zusammenhang von Drama und Geschichte<br />
um 1830. Wir hatten letzte Woche schon die Préface de Cromwell von 1827<br />
kennengelernt und gehört, daß das Stück mit seinen 6000 Versen und mehr als 60<br />
Personen als unspielbar galt. Der <strong>Text</strong> wurde aber dennoch als Lesedrama ein großer<br />
Erfolg. Die Handlung, die im England des 17. Jahrhunderts nach dem Bürgerkrieg<br />
spielt, als Karl I. geköpft worden war und Oliver Cromwell, der Revolutionsführer,<br />
davor stand, sich zum König krönen zu lassen, spielte für die Leser in vielen Punkten<br />
auf die französische Aktualität seit 1789 an.<br />
101 Théophile Gautier: Histoire du Romantisme<br />
102
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Der Verkaufserfolg seines unspielbaren historischen Dramas bringt Hugo dazu, es<br />
mit einem tatsächlich für die Aufführung geschriebenen Stück zu probieren. 1828<br />
läßt er im Théâtre de l’Odéon, das dem Anspruch nach so etwas wie die kleinere<br />
Schwester der Comédie Française war, seine Walter Scott-Adaption Amy Robsart<br />
aufführen. Den Stoff hatte Hugo Walter Scotts Roman Kenilworth von 1821<br />
entnommen. Der Roman spielt im 16. Jahrhundert im Umfeld des Hofs von Königin<br />
Elisabeth I und erzählt die melodramatische Geschichte von Elisabeths Günstling<br />
Graf Leicester, den Sie auch aus Schillers Maria Stuart kennen, der heimlich Amy<br />
Robsart heiratet. Nach einer Reihe von Hofintrigen wird Amy ermordet und Leicester<br />
flieht nach Amerika. Hugo verzichtet darauf, Shakespeare in Person auf die Bühne zu<br />
bringen, was Scotts Vorlage hergegeben hätte (Shakespeare tritt in Kenilworth bei<br />
einem Hoffest ebenso auf wie sein zeitgenössischer Dichterkollege Edmund Spenser),<br />
aber Hugo bringt zumindest einen intertextuellen Verweis an, indem er als das<br />
groteske Element im Stück einen teuflischen Zwerg namens Flibbertigibbet in den<br />
Vordergrund rückt, der aus Shakespeares King Lear stammt.<br />
Auch Hugos folgende Dramen spielen in historisch weit zurückliegenden<br />
Epochen. Marion Delorme, über die wir letzte Woche kurz gesprochen hatten, spielt<br />
zur Zeit Ludwigs XIII., der Böse ist auch hier wieder Kardinal Richelieu. Der erste<br />
Versuch mit diesem Stück war, wie bereits gesagt, 1829 an der Zensur gescheitert,<br />
nachdem die Comédie-Française den <strong>Text</strong> bereits akzeptiert hatte. 1831, nun unter<br />
der Julimonarchie, unternimmt er einen zweiten Versuch, diesmal am Theater der<br />
Porte Saint-Martin. Das Stück kommt gut an, und Hugo macht sich an die Arbeit zu<br />
Le Roi s’amuse, der im Novemer 1832 wieder an der Comédie-Française Premiere<br />
hat. Hugo ist noch ein Jahrhundert weiter zurückgegangen, die Geschichte spielt nun<br />
am Hof von François I in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Erwartungen<br />
des Publikums sind hoch, die gesamte intellektuelle Elite der <strong>Romantik</strong> ist zur<br />
Premiere versammelt: Nerval, Musset, Sainte-Beuve, George Sand, Balzac, Gautier,<br />
Stendhal, die Maler Ingres und Delacroix, Franz Liszt und viele andere Größen der<br />
Zeit. Doch die zutiefst finstere Geschichte verstört das Publikum ungemein. Sie<br />
kennen die Handlung vielleicht aus Giuseppe Verdis Oper Rigoletto von 1851, die sich<br />
direkt auf Le Roi s’amuse stützt:<br />
Triboulet, der grotesk-häßliche Hofnarr des Königs hat eine schöne,<br />
sechzehnjährige Tochter mit dem sprechenden Namen Blanche, die er vor der Welt<br />
versteckt hält. Bei Hof nimmt er sich alle Freiheiten heraus, die ihm sein<br />
103
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Hofnarrenamt gewährt und beleidigt alles und jeden. Als am Ende des ersten Akts ein<br />
alter Adliger kommt und den König anklagt, weil François Ier seine Tochter, Diane de<br />
Poitiers, verführt habe, verspottet Triboulet auch den alten Mann. Der verflucht ihn<br />
dafür:<br />
Qui que tu sois, valet à langue de vipère;<br />
Qui fais risée ainsi de la douleur d’un père,<br />
Sois maudit! (I, 5, v. 385–387)<br />
Der Fluch wird des alten Vaters wird auch Triboulet in seiner Eigenschaft als Vater<br />
treffen. Triboulet weiß nicht, daß der König, als Student verkleidet, die Aufseherin<br />
von Blanche besticht und sich bereits heimlich mit Triboulets Tochter in deren<br />
Versteck trifft. Auch die Höflinge, die Triboulet wegen seiner groben Scherze hassen,<br />
haben bemerkt, daß er eine junge Frau versteckt hält und entführen sie, weil sie<br />
glauben, daß es sich um seine Geliebte handelt. Am Hof angekommen, wird Blanche<br />
sofort vom König verführt, die sich zu allem Überfluß auch noch in François verliebt<br />
hat. Triboulet kann sie wieder an sich bringen und vom Hof entfernen. Um sich am<br />
König zu rächen, engagiert er eine junge Frau, die den König, der weiter in<br />
Verkleidung seinen Untertaninnen nachstellt, zu seinem üblichen Balzverhalten<br />
animieren soll. Gleichzeitig engagiert er den Bruder der jungen Frau, der den Mann,<br />
von dem er nicht weiß, daß es sich um den König handelt, ermorden soll. Er sorgt<br />
dafür, daß seine Tochter aus einem Versteck zusehen kann, wie der verkleidete König<br />
seiner neuesten Eroberung in einer schmierigen Absteige genau die gleichen<br />
Schmeicheleien sagt, die sie von ihm zu hören bekommen hatte. Auch sein<br />
gesungenes Erkennungszeichen läßt er vor der anderen hören:<br />
Souvent femme varie<br />
Bien fol est qui s’y fie.<br />
Une femme souvent<br />
N’est qu’une plume au vent.<br />
Sie kennen das Lied vermutlich in der Fassung aus Verdis Oper als « Donna è<br />
mobile ». Blanche ist schockiert von dem, was sie hört und sieht und folgt zunächst<br />
der Anordnung ihres Vaters, Paris zu verlassen und sich in Männerkleidern nach<br />
Evreux zu begeben. Triboulet vereinbart noch einmal mit dem Mörder, daß er ihm<br />
die Leiche nach vollbrachter Tat in einem Sack übergeben solle, damit er, Triboulet,<br />
den Sack persönlich in die Seine schmeißen könne.<br />
Die Schwester des Mörders, die den verkleideten König bis in ihr Schlafzimmer<br />
gebracht hat, wo er sich erst einmal schlafen legt, wird plötzlich von Skrupeln<br />
geplagt, weil ihr der schlafende Mann so sympathisch ist. Da ihr Bruder aber mit<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Triboulet vereinbart hat, daß er ihm eine Leiche im Sack liefern wird, beschließen die<br />
beiden, daß sie den nächsten Passanten, der an der Tür ihrer Herberge vorbeikommt,<br />
ermorden und in den Sack stecken werden. Mittlerweile ist jedoch die als Mann<br />
verkleidete Blanche zurückgekehrt, die den König immer noch liebt und nun heimlich<br />
beobachten will, wie er die Nacht in der finsteren Absteige verbringen wird. Dabei<br />
belauscht sie den Plan der beiden Geschwister, den Schlafenden umzubringen,<br />
bekommt aber auch die Skrupel der anderen Frau mit. Sie beschließt nach langem,<br />
melodramatischem Zögern, sich für den Undankbaren zu opfern und klopft an der<br />
Tür, wohl wissend, daß dahinter der Mörder mit dem Messer auf sie wartet. Mit den<br />
christusgleichen Worten „O Dieu! pardonnez-leur! Pardonnez-moi, mon père!“ läßt<br />
sie sich abschlachten, und der vierte Akt endet.<br />
Triboulet empfängt dann triumphierend den Sack und führt einen Freudentanz à<br />
la Rumpelstilzchen auf, bei dem er den Sackinhalt tritt und schlägt und sich<br />
daraufstellt. Als er den Sack gerade mit den Worten „À l’eau, François premier!“ in<br />
die Seine werfen will, sieht das Publikum den König aus der Behausung der beiden<br />
Geschwister schleichen. Als er wieder sein Erkennungslied „Souvent femme varie“<br />
anstimmt, begreift Triboulet, daß die Leiche im Sack nicht die des Königs sein kann.<br />
Er öffnet den Sack und erkennt im Licht der Blitze – es regnet und gewittert natürlich<br />
genau in dieser mitternächtlichen Szene – seine Tochter. Mit seinem Klagegeschrei<br />
holt er sie noch einmal kurz ins Leben zurück, und sie richtet sich für eine bereits<br />
sehr opernwürdige, lange Sterbeszene noch einmal halb auf, während ihr<br />
Unterkörper im Sack stecken bleibt, um schließlich mit den Worten „Pardonnez-lui!<br />
mon père… Adieu!“ endgültig die Welt zu verlassen. Triboulet, der halb wahnsinnig<br />
geworden ist, ruft durch sein lautes Klagen die ganze Nachbarschaft zusammen, und<br />
über seinem Ausruf „J’ai tué mon enfant, j’ai tué mon enfant“ endet das Stück.<br />
Das Premierenpublikum hatte allerdings Schwierigkeiten, den Dialogen der<br />
beiden Schlußakte zu folgen, weil ein Teil der Zuschauer laut pfeifend und lachend<br />
die Aufführung störte. Hugos Frau hat die Reaktion des Publikums beschrieben, die<br />
Schreie des Vaters auf der Bühne übertönte:<br />
La marée montante des rires, des huées et des sifflets couvrait les sanglots paternels;<br />
l’orage de la scène n’était qu’un doux murmure près de l’orage de la salle.<br />
Hugo machte sich noch in der Nacht des 22. November 1832 daran, die anstößigsten<br />
Stellen abzumildern, die obszönen Flüche und die provozierende Gestalt des Königs<br />
François Ier. Doch es ist alles umsonst: Am nächsten Tag, dem 23.11., wird die<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Aufführung zunächst verschoben, dann wird das Stück am 24. ganz verboten, weil es<br />
gegen die Sitten verstoße. Hugo protestiert und strengt einen Prozeß vor Gericht an.<br />
Vor der Verhandlung läßt er ein langes Vorwort verteilen, das er zu seinem Stück<br />
verfaßt hat und das man auch heute noch vor den Ausgaben von Le Roi s’amuse lesen<br />
kann. Hugo verband darin unmittelbar die Freiheit der Kunst mit der politischen<br />
Freiheit, die beide seit der Julirevolution eigentlich garantiert sein sollten. Das Stück<br />
zu verbieten, sei ein Angriff auf die Rechte und auf den Privatbesitz des Dichters,<br />
schrieb er im Vorwort vom 30. November 1832:<br />
Le ministre lui avait pris sa pièce, lui avait pris son droit, lui avait pris sa chose. Il ne<br />
restait plus qu’à le mettre, lui poète, à la Bastille. […] Mille questions se pressent dans<br />
votre esprit. – Où est la loi? Où est le droit? Est-ce que cela peut se passer ainsi? Est-ce<br />
qu’il y a eu en effet quelque chose qu’on appelle la révolution de juillet?<br />
Auch Hugos folgende Dramen brachten Themen, die in einem relativ großen<br />
historischen Abstand zur Gegenwart lagen: Im selben Jahr 1832 brachte er Lucrèce<br />
Borgia im Theater der Porte Saint-Martin auf die Bühne, 1833 Marie Tudor und<br />
Anfang 1835 Angelo, tyran de Padoue. Die Stücke haben zwar alle Erfolg, aber die<br />
Forderungen nach einem Theater, das die Gegenwart auf die Bühne bringt, werden<br />
immer vernehmbarer. Die liberale Theaterzeitung Entr’acte hatte schon Ende 1833<br />
den hohen Ton und die komplizierten Handlungen der historischen Stücke beklagt,<br />
di ein entfernten Gegenden Europas spielten. Statt Walter Scott für die Bühne wollte<br />
man lieber den französischen Alltag als Gegenstand des Dramas sehen:<br />
Parlez-nous plus bas, parlez-nous de nous-mêmes […]; descendez dans notre vie de tous<br />
les jours, foulez aux pieds les chroniques, les manteaux des rois.<br />
Und Alfred de Musset schrieb zur selben Zeit in der Revue universelle:<br />
Où voit-on un peintre, un poète préoccupé de ce qui se passe non à Venise ou à Cadix,<br />
mais à Paris, à droite et à gauche ? Que dit-on de nous dans les théâtres ? de nous dans les<br />
livres ?<br />
Der Autor, der das Publikum mit Gegenwartsdramen bediente, war Alexandre<br />
Dumas. Aus heutiger Sicht ist vor allem Hugo der typische Vertreter des<br />
romantischen Dramas, für die Zeitgenossen war Dumas mindestens genauso wichtig,<br />
und wenn man die Zahl der Aufführungen in den 1830er Jahren nimmt, war er sogar<br />
der erfolgreichere von beiden.<br />
Noch um 1840 waren Hugos Le roi s’amuse und Dumas’ Antony für den jungen<br />
Flaubert der Inbegriff des Gegenwartstheaters, wie Flauberts Freund Maxime du<br />
Camp in seinen Souvenirs littéraires von 1880 notiert hat. Flaubert habe unter dem<br />
Eindruck dieser beiden Autoren sogar selbst von einer Schauspielerkarriere<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
geträumt. Der unglaubliche Erfolg von Dumas’ Antony sei allerdings schon für die<br />
jugendlichen Leser von 1880 kaum noch vorstellbar:<br />
[Flaubert] éprouvait le regret […] de n’être pas acteur pour jouer le rôle de Triboulet du<br />
Roi s’amuse. Le théâtre l’appelait; nous y allions souvent ensemble. Il s’était pris de<br />
passion pour Antony, qui est une des œuvres les plus puissantes de l’école romantique et<br />
qui eut une importance que les générations actuelles ne peuvent se figurer. 102<br />
Antony nähert sich sehr weit dem Melodrama an, weshalb auch das Theater der Porte<br />
Saint-Martin der geeignete Spielort für das Stück ist, wo es im Mai 1831 Premiere hat.<br />
Dumas gelingt das Kunststück, Sympathie für zwei Ehebrecher zu wecken und am<br />
Ende doch behaupten zu können, die Moral habe gesiegt und der Ehebruch werde<br />
verurteilt. Antony liebt Adèle d’Hervey, kann sie aber nicht heiraten, weil er nur der<br />
uneheliche Sohn eines einflußreichen Mannes ist. Er will seine Familieverhältnisse<br />
klären und bittet Adèle, zwei Wochen auf ihn zu warten, doch wegen diverser<br />
Komplikationen kommt er erst drei Jahr später wieder. Adèle ist mittlerweile<br />
verheiratet mit einem Offizier, der aber in Strasbourg stationiert und also weit weg<br />
ist. Der romantische Held Antony umwirbt Adèle so heftig, daß sie ihm schließlich<br />
nachgibt. Doch die offen ehebrecherische Beziehung, die die beiden in Abwesenheit<br />
des Ehemanns führen, erzeugt bald bösartigen Klatsch, der bis nach Strasbourg<br />
dringt. Als der eifersüchtige Ehemann unerwartet in die Pariser Wohnung<br />
zurückkommt, bittet Adèle ihren Geliebten, er solle sie erstechen, um ihre Ehre zu<br />
retten. Antony erfüllt ihr diesen Wunsch. Die melodramatische Lösung, die Dumas<br />
für den Schluß gefunden hatte, begeisterte das Publikum zeitgenössischen Berichten<br />
zufolge bis zur Raserei. Sie können nun testen, wie Sie selbst darauf reagieren. Wir<br />
befinden uns mit Adèle und Antony in Adèles Schlafzimmer, von draußen hört man<br />
den tobenden Ehemann nahen. Adèle sagt ihrem Geliebten, er solle fliehen, aber<br />
Antony lehnt ab [mit verteilten Rollen lesen lassen]:<br />
Antony: Eh! je ne veux pas fuir, moi… Écoute… Tu disais tout à l’heure que tu ne<br />
craignais pas la mort?<br />
Adèle: Non, non… Oh! tue-moi, par pitié!<br />
Antony: Une mort qui sauverait ta réputation, celle de ta fille?<br />
Adèle: Je la demanderais à genoux.<br />
Une voix, en dehors: Ouvrez!… ouvrez!… Enfoncez cette porte…<br />
Antony: Et, à ton dernier soupir, tu ne haïrais pas ton assassin?<br />
Adèle: Je le bénirais… Mais hâte toi!… Cette porte…<br />
Antony ersticht Adèle, in dem Moment wird die Tür aufgebrochen und der Colonel<br />
d’Hervey steht im Raum:<br />
Le Colonel: Infâme!… Que vois-je?… Adèle!… morte!…<br />
Antony: Oui! morte! Elle me résistait, je l’ai assassinée!…<br />
102 Maxime Du Camp: Souvenirs littéraires. […] Bruxelles: Éditions complexes 2002, S. 22.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Il jette son poignard aux pieds du Colonel.<br />
Dumas hat in seinen Mémoiren die Grundidee für Antony notiert, die das moralische<br />
Problem auf den Punkt bringt und gleichzeitig löst:<br />
Un jour, je me promenais sur le boulevard, je m’arrêtai tout à coup, me disant à moimême:<br />
Un homme qui, surpris par le mari de sa maîtresse, la tuerait en lui disant qu’elle<br />
lui résistait, et qui mourrait sur l’échafaud à la suite de ce meurtre, sauverait l’honneur de<br />
cette femme, et expierait son crime. L’idée d’Antony était trouvée. (Dumas, Mémoires)<br />
Dumas hatte in seinem Stück selbst den romantischen Streit um die Frage nach<br />
historischen oder aktuellen Themen aufgenommen und im vierten Akt ein Gespräch<br />
im Salon der Vicomtesse de Lacy auf die Bühne gebracht, in dem die Personen über<br />
Vor- und Nachteile der Aktualität diskutieren. Eugène, ein junger Dichter, verteidigt<br />
darin seine mittelalterlichen Dramen, aber die anderen Salongäste verlangen<br />
gegenwärtige Stoffe. Adèle fragt den Dichter:<br />
Adèle: Et vous achevez sans doute quelque chose, monsieur.<br />
Eugène: Oui, madame.<br />
Madame de Camps: Toujours du Moyen Âge?<br />
Eugène:<br />
Toujours.<br />
Adèle: Mais pouquoi ne pas attaquer un sujet au milieu de notre société moderne ?<br />
La Vicomtesse : C’est ce qui je lui répète à chaque instant : ‘Faites de l’actualité‘. N’est-ce<br />
pas qu’on s’intéresse bien plus à des personnages de notre époque, habillés comme nous,<br />
parlant la même langue ? (Antony, IV, Sc. 6)<br />
Eugène verteidigt im weiteren mit guten Argumenten die Notwendigkeit, sich einen<br />
Abstand von der Gegenwart zu verschaffen, weil die Gesellschaft nach der Revolution<br />
zu gleichförmig geworden sei, um noch starke Kontraste zu ermöglichen. Das<br />
Raffinierte ist nun, könnte man sagen, daß der Stoff des Stücks den anderen<br />
Gesprächsteilnehmern gegen den Vertreter des Dichters recht gibt: der Dichter<br />
vertritt zwar noch die historischen Themen, aber das tut er im Rahmen eines Stücks,<br />
das in der Gegenwart spielt.<br />
Ich hatte am Anfang bereits gesagt, daß auch Balzac eine ähnliche Wendung für<br />
den Roman vollzieht. Nach historischen Anfängen, die noch deutlich von Scott<br />
inspiriert sind, entwickelt er innerhalb weniger Jahre sein monumentales Projekt<br />
einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte der Gegenwart in Romanform. Spätestens<br />
mit dem Père Goriot von 1835 plant Balzac, seine bisherigen und die noch zu<br />
schreibenden Werke drei große Gruppen aufzuteilen:<br />
1. Études de mœurs<br />
2. Études philosophiques<br />
3. Études analytiques.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Den ersten Teil, die Études de mœurs, untergliedert er später noch genauer in:<br />
Scènes de la vie privée<br />
Scènes de la vie de province<br />
Scènes de la vie parisienne<br />
Scènes de la vie politique<br />
Scènes de la vie militaire<br />
Scènes de la vie de campagne<br />
Zunächst will Balzac seine Sammlung „Études sociales“ nennen, ab 1842 hat er dann<br />
den definitiven Titel „Comédie humaine“, in Anlehnung an und Abgrenzung von<br />
Dantes „Divina Commedia“ eingeführt.<br />
Von den insgesamt 137 Titeln, die die definitive Fassung enthalten wird, entfallen 105<br />
auf den ersten Teil, also die Études de mœurs, 27 auf den zweiten Teil, die Études<br />
philosophiques und nur 5 auf die Études analytiques.<br />
Mit dem „Avant-propos“, den er 1842 verfaßt hat, gab er den einzelnen Werken<br />
dann erstmals einen systematischen Zusammenhang. Das wollte ich eigentlich heute<br />
noch besprechen, aber das wird zu knapp. Lesen Sie also bitte für die nächste Woche<br />
noch die Einleitung in die Comédie Humaine, die Sie auch online unter Wikiquotes<br />
und an vielen anderen Orten finden, und sehen Sie sich die Méditations poétiques<br />
von Lamartine an.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
12) Balzac: Comédie humaine; Lyrik: Lamartine, Hugo etc.<br />
Wir hatten in der letzten Woche die Wirkung gesehen, die Walter Scotts Modell des<br />
historischen Romans in Frankreich gehabt hat. Speziell am Beispiel der Romane von<br />
Alfred de Vigny (Cinq-Mars), Victor Hugo (Notre-Dame de Paris) und Alexandre<br />
Dumas père (Les Trois Mousquetaires), aber auch im historischen Drama von Hugo<br />
oder Dumas (Cromwell, Marion Delorme, Hernani, Le Roi s’amuse, Henri III et sa<br />
cour) lassen sich die französischen Variationen des schottischen Vorbilds erkennen).<br />
Wir hatten auch gesehen, daß der früheste von Balzacs Romanen, der Eingang in die<br />
Comédie humaine findet, Les Chouans von 1829, noch ganz nach dem Vorbild der<br />
Scottschen Waverley-Romane gestrickt ist und den Widerstand der katholischen und<br />
royalistischen Bretagne gegen die zentralisierende Revolution heroisiert. Nur wenig<br />
von dem, was Balzac vor 1830 geschrieben hat, wird auch in der Comédie landen.<br />
Balzac kommt 1799 in Tours zur Welt – sein Geburtshaus stand noch bis 1940, dann<br />
wurde die Stadt von den Deutschen bombardiert – und zieht nach einer freudlosen<br />
Kindheit mit mittelmäßigen Schulergebnissen mit der Familie nach Paris, wo er 1816<br />
ein Jurastudium an der Sorbonne beginnt. Er arbeitet nebenbei in verschiedenen<br />
Anwaltskanzleien und schreibt an historischen Dramen und Romanen. 1819 hat er<br />
ein fünfaktiges Versdrama über Cromwell verfaßt, das aber bei der Lektüre im<br />
Familienkreis einstimmig abgelehnt wird. Balzacs schriftstellerische Arbeiten in<br />
dieser Zeit sind sehr typisch für das großstädtische literarische Proletariat der<br />
<strong>Romantik</strong>, und viele Romane, die sich in der Comédie humaine wiederfinden,<br />
schildern dieses Milieu, in dem sich Journalisten, Verleger, Theater- und<br />
Romanschriftsteller bewegen und mit mehr oder weniger kriminellen Tricks<br />
versuchen, zu Geld zu kommen. Balzac schreibt zwischen 1821 und 1824 etwa zehn<br />
Romane pro Jahr, von denen allerdings keiner unter seinem Namen veröffentlicht<br />
wird. Er arbeitet u. a. für eine sogenannte Romanfabrik, in der Abenteuerromane<br />
nach Scottschem Vorbild am Fließband hergestellt werden. Balzac bedient bei dieser<br />
Schreibarbeit alle gängigen Unterhaltungsgenres, vom Schauerroman bis zum<br />
sentimentalen Liebesroman und lernt dabei sein ‚Handwerk‘ tatsächlich wie einen<br />
Handwerksberuf durch serienweise Imitation. In einer ähnlichen Beschäftigung<br />
hatten wir ihn schon im Zusammenhang mit der industriellen Produktion von<br />
historischen Memoiren gesehen, als er 1829 an den Memoiren des Henkers Sanson<br />
beteiligt war. 1825 versucht er sein Glück als Verleger und steigt in illustrierte<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Ausgaben der gesammelten Werke von Molière und La Fontaine ein. Gleichzeitig<br />
arbeitet er an einer Histoire de France pittoresque in einer Reihe von Romanen, die<br />
in einigen Zügen bereits die Idee der Comédie humaine vorwegnimmt. 1827 beteiligt<br />
er sich zudem noch an einer Schriftgießerei, die Lettern für den Buchdruck herstellt.<br />
1828 scheitern alle seine Geschäftsprojekte und er muß sich hochverschuldet wieder<br />
auf die Literaturproduktion konzentrieren. Er arbeitet weiter an historischen<br />
Romanen und Dramen, inspiriert von Scott und Fenimore Cooper, darunter auch Les<br />
Choans, der zunächst noch unter dem direkt von Coopers Mohikaner-Roman<br />
entlehnten Titel Le dernier des Chouans ou la Bretagne en 1800 erscheint. Mit den<br />
Mémoires de Sanson, von denen wir bereits gesprochen haben, erscheint 1830 noch<br />
ein letzter anonymer <strong>Text</strong>, 1831 erscheint mit La Peau de chagrin einer der ersten<br />
großen Romane der späteren Comédie. 1833 unterzeichnet er einen Vertrag für eine<br />
Reihe von Romanen, die er als Études de mœurs au XIX e siècle ankündigen läßt. Die<br />
ersten <strong>Text</strong>e für das neue Projekt, das bereits eine deutliche Vorstufe zur Comédie<br />
darstellt, sind im selben Jahr 1833 Louis Lambert, der Médecin de campagne und<br />
Eugénie Grandet. Seit 1832 steht Balzac in Briefkontakt mit einer polnischen Leserin,<br />
der verheirateten Eva Hanska, mit der er in den folgenden Jahren einen intensiven<br />
Briefwechsel unterhält, die er von Zeit zu Zeit in mondänen Badeorten in Frankreich<br />
oder der Schweiz trifft und der er – das ist der Teil der Beziehung, der für uns<br />
relevant ist – immer wieder konzeptuelle Überlegungen zu seinem Großprojekt<br />
brieflich darlegt.<br />
1834 erklärt er Mme Hanska in einem berühmt gewordenen Brief das Programm<br />
seiner Études de mœurs, das bereits den Anspruch der späteren Comédie erkennen<br />
läßt:<br />
Les Études de mœurs représenteront tous les effets sociaux sans que ni une situation de la<br />
vie, ni une physionomie, ni un caractère d’homme ou de femme, ni un manière de vivre,<br />
ni une profession, ni une zone sociale, ni un pays français, ni quoi que ce soit de l’enfance,<br />
de la vieillesse, de l’âge mûr, de la politique, de la justice, de la guerre ait été oublié. Cela<br />
posé, l’histoire du cœur humain tracée fil à fil, l’histoire sociale faite dans toutes ses<br />
parties, voilà la base. Ce ne seront pas des faits imaginaires; ce sera ce qui se passe<br />
partout.<br />
Im Vorwort zu den Études de mœurs, das 1835 erscheint, macht er dann auch noch<br />
einmal die ursprüngliche Inspiration durch Walter Scott deutlich, sagt aber nun auch,<br />
wodurch er Scott nun zu überbieten gedenke:<br />
Il ne suffit pas d’être un homme, il faut être un système […]. Le génie n’est complet que<br />
quand il joint à la faculté de créer la puissance de coordonner ses créations. Il s’agit donc<br />
d’être, dans un autre ordre d’idées, Walter Scott plus un architecte.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das romantische Projekt einer totalen Beschreibung der Gesellschaft wird hier<br />
bereits deutlich sichtbar. 1833 war ihm auch die Idee gekommen, die einzelnen<br />
Romane des entstehenden Großpanoramas dadurch zu verknüpfen, daß er das<br />
Personal in verschiedenen <strong>Text</strong>en auftreten lassen würde. Seiner Schwester hat er<br />
damals angeblich gesagt: „Saluez-moi, car je suis tout bonnement en train de devenir<br />
un génie“. Das Verknüpfungsprinzip bot ihm die Möglichkeit, ganze<br />
Lebensgeschichten einzelner Personen über mehrere Romane verteilt zu erzählen, es<br />
führte aber auch dazu, daß der Realitätseffekt seiner <strong>Text</strong>e erhöht wurde und die<br />
Romane eine eigene Welt zu bilden scheinen, aus denen die einzelnen <strong>Text</strong>e immer<br />
neue Ausschnitte bieten, die sich aber mit anderen Ereignissen oder Biographien<br />
innerhalb dieser Welt überschneiden können. Im „Avant-propos“ der Ausgabe von<br />
1842, die erstmals mit dem Namen Comédie humaine auftrat, hat er diese Qualität<br />
ausdrücklich betont:<br />
Mon ouvrage a sa géographie comme il a sa généalogie et ses familles, ses lieux et ses<br />
choses, ses personnes et ses faits; comma il a son armorial, ses nobles et ses bourgeois,<br />
ses artisans et ses paysans, ses politiques et ses dandies, son armée, tout son monde<br />
enfin!<br />
Marcel Proust hat über die Comédie gesagt, sie verdanke sich einer „illumination<br />
rétrospective“, also einer rückblickenden Erleuchtung, die Balzac erst um 1840<br />
gekommen sei. Was den Titel angeht, ist das sicher richtig, aber daß die Konstruktion<br />
spätestens ab 1833 auf eine Gesamtdarstellung der Gesellschaft der Gegenwart<br />
abzielte, haben wir vorhin gesehen. Balzacs Idee liegt eine Vorstellung der<br />
Gesellschaft zugrunde, die sich bei der Zoologie inspiriert. So wie französische<br />
Biologen wie Buffon im 18. und Geoffroy de Saint-Hilaire im frühen 19. Jahrhundert<br />
die Tier- und Pflanzenwelt kategorisiert und in Familien eingeteilt hatten, so wollte<br />
auch Balzac den Menschen in allen seinen gesellschaftlich zu beobachtenden<br />
Konkretisierungen analysieren. Im „Avant-propos“ nennt er diese Biologen auch als<br />
wichtige Bezugsgrößen. Er faßt Geoffroy Saint-Hilaires System so zusammen, daß es<br />
in der Natur nur ein animalisches Grundprinzip gebe, von dem sich alle Tiere<br />
ableiten lassen. Die Unterschiede, die sich zwischen den Tierarten beobachten lassen,<br />
seien nur die Folge der Umwelt, in der sich die verschiedenen Arten entwickelt<br />
haben:<br />
L’animal est un principe qui prend […] les différences de sa forme, dans les milieux où il<br />
est appelé à se développer. Les Espèces Zoologiques résultent de ces différences.“ 103<br />
103 Balzac: Avant-Propos (Comédie humaine, Pléiade-Ausgabe, Bd. 1, S. 8).<br />
112
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Von dieser Theorie ausgehend, stellt Balzac nun Spekulationen über den<br />
Zusammenhang von Zoologie und Gesellschaft an:<br />
Pénétré de ce système […] je vis que, sous ce rapport, la Société ressemblait à la Nature.<br />
La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant<br />
d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie?<br />
Und er schließt daraus, daß es zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem<br />
Beamten, einem Anwalt und allen möglichen sonstigen Gesellschaftsrollen ebenso<br />
große Unterschiede gebe wie zwischen einem Wolf, einem Löwen, einem Esel, einem<br />
Raben, einem Schaf etc. Damit sieht er die Aufgabe seiner Comédie humaine<br />
skizziert:<br />
Si Buffon [einer der wichtigsten französischen Naturwissenschaftler des<br />
18. Jahrhunderts] a fait un magnifique ouvrage en essayant de représenter dans un livre<br />
l’ensemble de la zoologie, n’y avait il pas une œuvre de ce genre à faire pour la Société?<br />
Noch bevor Balzac also irgendwelche literarischen Referenzen nennt, vergleicht er<br />
seinen Anspruch mit dem der Naturwissenschaften. Doch gebe es auch wichtige<br />
Unterschiede, weil die Natur den Geschöpfen Grenzen setze, die es in der Gesellschaft<br />
nicht gebe. Wenn Buffon einen Löwen beschreibt, kann er sich die Beschreibung der<br />
Frau des Löwen weitgehend sparen, weil es kaum nennenswerte Unterschiede gebe.<br />
In der Gesellschaft gebe es einen solchen Zusammenhang jedoch nicht. Die Frau<br />
eines Kaufmanns könnte auch eines Prinzen würdig sein, und die Frau eines Prinzen<br />
sei oft weniger wert als die eines Künstlers. Balzac faßt diese Einsicht in den Satz:<br />
L’État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la<br />
Société.<br />
Erst nach dieser Feststellung folgt der nächste Schritt, in dem Balzac bemerkt, daß<br />
die Historiker bislang das Studium der Sitten der von ihnen beschriebenen Zeiten<br />
vernachlässigt hätten. Einen ersten Schritt zur Lösung dieses Problems habe Walter<br />
Scott geliefert, indem er das Alltagsgeschehen der vergangenen Zeiten wieder<br />
lebendig gemacht und damit die Lücken geschlossen habe, die die traditionelle<br />
Geschichtsschreibung offen ließ:<br />
Walter Scott élevait donc à la valeur philosophique de l’histoire le roman […]. Il y mettait<br />
l’esprit des anciens temps, il y réunissait à la fois le drame, le dialogue, le portrait, le<br />
paysage, la description; il y faisait entrer le merveilleux et le vrai, ces éléments de<br />
l’épopée, il y faisait coudoyer la poésie par la familiarité des plus humbles langages.<br />
Doch Scott habe noch nicht den Anspruch gehabt, ein System zu errichten und<br />
deshalb noch nicht daran gedacht, seine Romane untereinander zu verknüpfen und<br />
dadurch eine „histoire complète“, also eine vollständige, totale Geschichte einer<br />
113
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Epoche zu schreiben. In diesem Punkt sollte die Comédie humaine nun Walter Scotts<br />
bereits enorme Leistung noch überbieten:<br />
En apercevant ce défaut de liaison, […] je vis à la fois le système favorable à l’exécution de<br />
mon ouvrage et la possibilité de l’exécuter.<br />
Balzacs Programm umfaßt also sowohl den romantischen Anspruch, alle Gattungen<br />
zu vermischen und den Roman auf das Niveau der Philosophie zu heben, den er an<br />
Scotts Romanen lobt, wie wir gerade gesehen haben, umfaßt aber gleichzeitig auch<br />
den Asnpruch, dabei ein System zu begründen, mit dem sich Scotts Leistungen noch<br />
überbieten lassen. Das Resultat dieser Verbindung von historischem Roman und<br />
analytischem System ist ein Beschreibungsinstrument, mit dem sich sogar die<br />
bisherige Geschichtsschreibung noch überbieten lasse. Balzac sagt jedenfalls im<br />
„Avant propos“ von 1842, daß mit seiner Beschreibungsweise eine Realität in den<br />
Blick rückt, die bislang von den Historikern vernachlässigt worden sei:<br />
En saisissant bien le sens de cette composition, on reconnaîtra que j’accorde aux faits<br />
constants, quotidiens, secrets ou patents, aux actes de la vie individuelle, à leurs causes et<br />
à leurs principes autant d’importance que jusqu’alors les historiens en ont attaché aux<br />
événements de la vie publique des nations. 104<br />
Ein historiographisches Projekt, das mit Balzacs Romanprojekt große<br />
Gemeinsamkeiten aufweist, besonders im Anspruch, die Gesellschaft in ihrer<br />
Totalität zu erfassen, ist die ebenfalls in den frühen 1830er Jahren begonnene<br />
Histoire de France von Jules Michelet. Ähnlich wie Balzac von seiner plötzlichen<br />
Eingebung sprechen konnte, die ihm auf einen Schlag die Grundlagen für sein Werk<br />
klargemacht habe, spricht Michelet im Vorwort zu seiner Geschichte Frankreichs mit<br />
einer Lichtmetapher von der neuen Perspektive, in der ihm Frankreich nach der Juli-<br />
Revolution von 1830 erschienen sei. Im Rückblick von 1869 schreibt Michelet über<br />
die Anfänge seines monumentalen Werks, das die Geschichte von Frankreichs von<br />
den mittelalterlichen Anfängen bis zur Revolution auf vielen tausend Seiten darstellt:<br />
Cette œuvre laborieuse d’environ quarante ans fut conçue d’un moment, de l’éclair de<br />
juillet. Dans ces jours mémorables, une grande lumière se fit, et j’aperçus la France. Elle<br />
avait des annales, et non point une histoire Des hommes éminents l’avaient étudiée<br />
surtout au point de vue politique. Nul n’avait pénétré dans l’infini détail des<br />
développements divers de son activité (religieuse, économique, artistique, etc.). Nul ne<br />
l’avait encore embrassée du regard dans l’unité vivante des éléments naturels et<br />
géographiques qui l’ont constituée. Le premier je la vis comme une âme et une personne.<br />
(Jules Michelet : « Préface » zur abgeschlossenen Histoire de France, 1869)<br />
Die hier ausgedrückte Vorstellung, Frankreich wie eine Person untersuchen zu<br />
können und in den zahllosen Facetten doch immer denselben Gegenstand zu<br />
104 Balzac: Avant-Propos (Comédie humaine, Pléiade-Ausgabe, Bd. 1, S. 17).<br />
114
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
beschreiben, ähnelt bis in einzelne Formulierungen Balzacs Programm, die<br />
gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen des Menschen mit zoologisch geschultem<br />
Blick zu analysieren. Aber trotz dieser auffälligen Ähnlichkeiten in der Beschreibung<br />
der eigenen Leistungen sind doch die politischen Intentionen, die hinter Michelets<br />
Histoire de France und hinter Balzacs Comédie humaine liegen, diametral<br />
entgegengesetzt. Während Michelet von der demokratischen Idee begeistert ist und<br />
die Französische Revolution als den Gipfel der französischen Geschichte betrachtet,<br />
von dem aus der Fortschritt der Menschheit des 19. Jahrhunderts beginnt, ist für den<br />
Royalisten Balzac die Revolution von 1789 die Wurzel allen Übels. Die Revolution<br />
von 1830, die Michelet noch im Rückblick so begeistert beschreibt („l’éclair de juillet.<br />
Dans ces jours mémorables, une grande lumière se fit“), hat für Balzac die negativen<br />
Tendenzen, die 1789 angelegt worden waren, nur noch verstärkt. Eben deshalb<br />
erfordert aber auch die neue Gesellschaft in ihrer größeren Mobilität und<br />
Durchlässigkeit eine neue Methode der literarischen Beschreibung. Balzacs kritischer<br />
Blick auf die neue Gesellschaft, die er ablehnt, die ihn aber dennoch fasziniert, macht<br />
sein Projekt so wichtig. Er hat, wie Erich Köhler sagt, gleichzeitig „erkannt und<br />
theoretisch formuliert, daß mit der großen Revolution – also der von 1789 – und dem<br />
Zerfall der hierarchischen Gesellschaftsform das Individuum aus seinen<br />
jahrhundertealten Bindungen entlassen wurde, und er hat auch erkannt und in<br />
seinem Werk die Konsequenz gezogen, daß an die Stelle der alten Determination eine<br />
neue getreten ist, die der Industriegesellschaft, daß aber die Standesgrenzen gefallen<br />
sind und im Prinzip dem Individuum jeder Weg offen steht.“ 105<br />
Wir hatten letzte Woche schon Balzacs Plan von 1845 gesehen, in dem er die<br />
gesamte Comédie auf 137 Einzelwerke veranschlagte. Bis zu seinem Tod im August<br />
1850, also mit nur 51 Jahren, waren davon 91 abgeschlossen, in denen mehr als 2400<br />
Personen vorkommen. Balzac hat seine Gesundheit systematisch durch die<br />
Schreibarbeit ruiniert und dazu noch in seinen letzten Lebensjahren strapaziöse<br />
Reisen im Winter in die Ukraine, die Heimat von Eva Hanska, unternommen. Ende<br />
April 185o reisen die beide von dort wieder nach Paris, wo sie nach einer<br />
einmonatigen Reise Ende Mai eintreffen. Balzac stirbt dort am 18. August, am 21.<br />
wird er auf dem Père-Lachaise beerdigt. Die Grabrede hielt Victor Hugo, der sich<br />
bereits sicher war, daß Balzacs Werk zu den bleibenden Höhepunkten des<br />
19. Jahrhunderts gehören würde. In einer knappen Skizze würdigt er die neuartige<br />
105 Erich Köhler: <strong>Vorlesung</strong>en zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert II.<br />
Stuttgart: Kohlhammer 1987, S. 37.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Anlage der Comédie, die daraus eine komplette Geschichte der gegenwärtigen<br />
Zivilisation mache:<br />
M. de Balzac faisait partie de cette puissante génération des écrivains du dix-neuvième<br />
siècle qui est venue après Napoléon […]. Tous ces livres ne forment qu’un livre, livre<br />
vivant, lumineux, profond, où l’on voit aller et marcher et se mouvoir, avec je ne sais quoi<br />
d’effaré et de terrible mêlé au réel, toute notre civilisation contemporaine; livre<br />
merveilleux que le poëte a intitulé comédie et qu’il aurait pu intituler histoire, qui prend<br />
toute les formes et tous les styles, qui dépasse Tacite et qui va jusqu’à Suétone, qui<br />
traverse Beaumarchais et qui va jusqu’à Rabelais; livre qui est l’observation et qui est<br />
l’imagination; qui prodigue le vrai, l’intime, le bourgeois, le trivial, le matériel, et qui par<br />
moments, à travers toute les réalités brusquement et largement déchirées, laisse tout à<br />
coup entrevoir le plus sombre et le plus tragique idéal. 106<br />
Für eine eingehende Darstellung der Comédie humaine bräuchte man ein ganzes<br />
Semester, es ging mir deshalb nur darum, die Entstehung von Balzacs System aus<br />
zentralen romantischen Anliegen zu zeigen. Besonders die Aufwertung des Romans<br />
als der Gattung, die alle anderen in sich vereinigen und deshalb Drama, Lyrik und<br />
Geschichtsschreibung und noch vieles mehr zugleich sein kann, wird auch in Hugos<br />
Grabrede bereits deutlich. Noch bis 1830 war der Roman keine anerkannte Gattung,<br />
zumindest nicht im Vergleich mit den ehrwürdigeren Gattungen Poesie, Drama und<br />
Geschichtsschreibung. Der Roman war eine zweitrangige Gattung, wie z. B. die<br />
quantitative Verteilung von Victor Hugos Produktion noch bis an sein Lebensende<br />
zeigt, ganz deutlich aber in den Anfängen seiner Karriere: sehr viel Poesie, sehr viel<br />
Drama, und ein Roman, wenn auch ein sehr dicker, nämlich Notre-Dame de Paris. In<br />
der Aufwertung des Romans als einer Übergattung sah Balzac auch Walter Scotts<br />
Leistung. Während die klassische Geschichtsschreibung sich immer nur auf die<br />
großen Persönlichkeiten konzentriert habe, sei mit Scotts Roman erstmals eine<br />
Möglichkeit aufgetaucht, eine Gesellschaftsgeschichte zu schreiben, die größere<br />
Massen darstellbar machte. Es ging nun darum, diese Darstellung für ein<br />
anspruchsvolles Publikum genauso wie für die Massen der Leser ansprechend zu<br />
gestalten, wie Balzac im „Avant-propos“ bemerkt hatte:<br />
[…] comment rendre intéressant le drame à trois ou quatre mille personnages que<br />
présente une société? comment plaire à la fois au poète, au philosophe et aux masses qui<br />
veulent la poésie et la philosophie sous de saisissantes images?<br />
Victor Hugo war in seinem Cromwell – also in der Dramenform – an der Darstellung<br />
wesentlich kleinerer Menschenmengen gescheitert, deswegen konnte die Walter<br />
Scott-Lektüre Balzac einen Schlüssel liefern, wie er sagt:<br />
106 VH: Discours prononcé aux funérailles de M. Honoré de Balzac. 21 août 1850. In: VH: OC.<br />
Politique. Laffont Bouqins 1985, S. 326.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Ce fut avec cette idée que je lus les œuvres de Walter Scott. Walter Scott, ce trouveur<br />
(trouvère) moderne, imprimait alors une allure gigantesque à un genre de composition<br />
injustement appelé secondaire.<br />
Mit dieser „zweitrangigen Gattung“, dem „genre injustement appelé secondaire“<br />
meinte Balzac natürlich den Roman. Nur in der Romanform, die alle Formen<br />
gleichzeitig erlaubte, vermochte Balzacs sein Großprojekt anzugehen. Der<br />
romantische Anspruch einer vollständigen Abbildung der Wirklichkeit führt daher<br />
bei Balzac zur Aufwertung der Romangattung.<br />
Für knappe exemplarische Interpretationen von einigen der bekanntesten<br />
Romane aus der Comédie sind die folgenden Bände geeignet (beliebig<br />
herausgegriffen, die Literatur ist natürlich uferlos):<br />
Der bereits erwähnte Band aus Erich Köhlers Literaturgeschichte enthält knappe<br />
Abschnitte zu Le Colonel Chabert (vor ein paar Jahren mit Depardieu verfilmt), La<br />
Cousine Bette, Le Père Goriot, den Illusions perdues und Splendeurs et misères des<br />
courtisanes.<br />
Hans-Ulrich Gumbrecht u. a. (Hg.): Balzac. München: Fink 1978<br />
und für die drei großen Romanciers insgesamt:<br />
Stendhal, Balzac, Dumas. Un récit romantique? Sous la direction de Lice Dumays,<br />
Chantal Massol, Marie-Rose Corredor. Toulouse: Presses universitaires du Mirail<br />
2006.<br />
Damit machen wir einen Schnitt und sehen uns die romantischen Veränderungen<br />
einer der hohen Gattungen an, nämlich der Lyrik.<br />
1820 erschien der Gedichtband Méditation poétiques des damals dreißigjährigen<br />
Alphonse de Lamartine, der damit mit einem Schlag berühmt wurde. Die erste<br />
Ausgabe vom März 1820 umfaßte nur 24 Gedichte, und verkaufte sich so gut, daß<br />
Lamartine bis Anfang 1821 schon bei der siebenten Auflage angekommen war. Es war<br />
also ein sehr schmaler Band, der Lamartines Ruhm begründete, und in den 24<br />
Gedichten der ersten Ausgabe waren bereits alle <strong>Text</strong>e enthalten, für die Lamartine<br />
auch heute noch bekannt ist und für die er, neben dem 12 Jahre jüngeren Victor<br />
Hugo, als der Begründer der romantischen Lyrik in Frankreich gilt. Lamartine hat<br />
neben seinem umfangreichen poetischen Werk noch Reiseberichte,<br />
historiographische Schriften zur französischen Revolution und zur Restauration<br />
hinterlassen und 1848 einen sentimentalen Roman mit dem Titel Graziella<br />
veröffentlicht, über den sich Gustave Flaubert furchtbar aufgeregt hat. Nach dem<br />
117
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
großen Erfolg der Méditations konnte er eine finanziell attraktive Ehe schließen und<br />
eine diplomatische politische Karriere beginnen. 1830 wurde er in die Académie<br />
française gewählt, den Höhe- und Endpunkt seiner politischen Karriere erreichte er,<br />
als er nach der Februarrevolution von 1848 zum Präsidenten der zweiten<br />
französischen Repuiblik gewählt wurde.<br />
Der Herausgeber einer der letzten Ausgaben des poetischen Gesamtwerk von<br />
Lamartine konnte schon 1963 schreiben, daß alle glaubten, Lamartine zu kennen, daß<br />
ihn nur wenige lesen und daß ihn niemand mehr schätzt. Auch wir wollen nicht<br />
versuchen, Lamartine zu retten, aber wir müssen verstehen, was das Publikum von<br />
1820 so neuartig und begeisternd an ihm fand. Einen Hinweis gibt uns gleich das<br />
zweite Gedicht aus den Méditations, „L’Homme“, das Lord Byron gewidmet ist und<br />
sich auch direkt an den Engländer wendet. Der Anfang lautet:<br />
Toi, dont le monde encore ignore le vrai nom,<br />
Esprit mystérieux, mortel, ange, ou démon,<br />
Qui que tu sois, Byron, bon ou fatal génie,<br />
J’aime de tes concerts la sauvage harmonie,<br />
Comme j’aime le bruit de la foudre et des vents<br />
Se mêlant dans l’orage à la voix des torrents!<br />
La nuit est ton séjour, l’horreur est ton domaine:<br />
L’aigle, roi des déserts, dédaigne ainsi la plaine;<br />
Il ne veut, comme toi, que des rocs escarpés<br />
Que l’hiver a blanchis, que la foudre a frappés;<br />
Des rivages couverts des débris du naufrage,<br />
Ou des champs tout noircis des restes du carnage […]<br />
Das Gedicht ist in seiner Bilderflut typisch für den Lamartine-Effekt, der hier noch<br />
dadurch gesteigert wird, daß es keinen wirklichen Gegenstand hat, der beschrieben<br />
werden müßte, sondern assoziierend Bilder aneinanderreiht, die Lord Byron mit<br />
verschiedenen Naturphänomenen in Verbindung bringen. Byron veranstaltete<br />
Konzerte, die sich durch eine „sauvage harmonie“ auszeichnen, und die in diesem<br />
Begriffspaar enthaltene Spannung läßt sich auch als ein wichtiger Grund für<br />
Lamartines Erfolg von 1820 identifizieren. Lamartine bietet ein Konzentrat von<br />
romantischen Naturklischees, die so etwas wir Wildnis und Einsamkeit evozieren,<br />
bindet diese Wildnis aber in die strenge Harmonie der klassischen Form, die nur<br />
selten aufgebrochen wird. Wenn wir das Versmaß ansehen, haben wir einen<br />
klassischen 12hebigen Alexandriner, der in einfachen Paarreimen verbunden wird.<br />
Der inhaltlichen Wildheit von „bruit“, „foudre“, „orage, „torrent“, „horreur“ usw.<br />
steht also eine formale Ruhe und Klassizität gegenüber, die den möglichen Schock<br />
des Inhalts dämpft und zurücknimmt. Ein Blick auf einige der bekanntesten Titel der<br />
Sammlung läßt bereits erahnen, wie dieses Schema weitergeführt wird. Die <strong>Text</strong>e<br />
118
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
heißen u. a. „L’isolement“, L’Homme, Le Soir, L’immortalité, Le vallon, Le désespoir,<br />
La providence à l’homme, Souvenir, La retraite, Le Lac, La prière, Invocation, Adieu,<br />
Le chrétien mourant, L’automne.<br />
Lamartine hat in einer späteren Ausgabe der „Méditations“ selbst formuliert, was das<br />
Neue an seiner Gefühlslyrik im Gegensatz zur klassischen Poesie bis 1820 war:<br />
Il fallait avoir un dictionnaire mythologique sous son chevet, si l’on voulait rêver des vers.<br />
Je suis le premier qui ai fait descendre la poésie du Parnasse, et qui ai donné à ce qu’on<br />
nommait la muse, au lieu d’une lyre à sept cordes de convention, les fibres mêmes du<br />
cœur de l’homme, touchées et émues par les innombrables frissons de l’âme et de la<br />
nature.<br />
Lamartine hängte sich in den ersten Jahren seiner dichterischen Karriere noch<br />
mehrfach an den Ruhm Byrons an, beruhigte seine Leserschaft aber gleichzeitig<br />
durch seine betonte Katholizität. [wenn er auch in den 1830er Jahren mit seiner<br />
privaten Interpretation des Katholizismus mehrfach in Konflikt mit der Zensur des<br />
Vatikan geriet und einige seiner Gedichtbände auf dem krichlichen Index<br />
wiederfand]. Man konnte sich bei der Lamartine-Lektüre also dem frivolen Kitzel<br />
hingeben, thematisch ganz nah bei Byron zu sein, ohne aber Gewissensbisse wegen<br />
der gefürchteten Gottlosigkeit des Engländers haben zu müssen. 1825 veröffentlichte<br />
Lamartine eine eigene Übersetzung des letzten Gesangs von Byrons Childe Harolds<br />
Pilgrimage. Byron war im April 1824 in Griechendland gestorben, und der Name<br />
versprach nun erst recht gute Absatzzahlen.<br />
Die Méditation poétiques sind auf der biographischen Ebene auch der Versuch<br />
den Verlust einer Geliebten zu verarbeiten, die in der Sammlung als „Elvire“<br />
besungen wird. Eines der bekanntesten Gedichte von Lamartine, „Le Lac“, evoziert<br />
die Absenz der Verstorbenen in der tröstenden Natur. Beim Anblick des Sees fallen<br />
dem nun einsam zurückgekehrten Liebenden die pathetischen Worte ein, die seine<br />
Geliebte beim ihrem letzten Aufenthalt auf dem See ausgerufen hat und die in der<br />
französischen Literatur oft parodiert worden sind:<br />
Ainsi, toujours poussés vers de nouveaux rivages,<br />
Dans la nuit éternelle emportés sans retour,<br />
Ne pourrons-nous jamais sur l’océan des âges<br />
Jeter l’ancre un seul jour?<br />
Ô lac! l’année à peine a fini sa carrière,<br />
Et près des flots chéris qu’elle devait revoir,<br />
Regarde! je viens seul m’asseoir sur cette pierre<br />
Où tu la vis s’asseoir! […]<br />
Un soir, t’en souvient-il? nous voguions en silence;<br />
On n’entendait au loin, sur l’onde et sous les cieux,<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Que le bruit des rameurs qui frappaient en cadence<br />
Tes flots harmonieux.<br />
Tout à coup des accents inconnus à la terre<br />
Du rivage charmé frappèrent les échos:<br />
Le flot fut attentif, et la voix qui m’est chère<br />
Laissa tomber ces mots:<br />
„Ô temps! suspends ton vol, et vous, heures propices!<br />
Suspendez votre cours:<br />
Laissez-nous savourer les rapides délices<br />
Des plus beaux de nos jours!“<br />
Das Gedicht endet dann mit der Bitte des Trauernden, die Natur rund um den See<br />
möge die Erinnerung an den letzten gemeinsamen Besuch der beiden bewahren und<br />
synästhetisch von ihrer Liebe berichten:<br />
Que le vent qui gémit, le roseau qui soupire,<br />
Que les parfums légers de to air embaumé,<br />
Que tout ce qu’on entend, l’on voit ou l’on respire,<br />
Tout dise: Il sont aimé!<br />
Wir haben damit zumindest einen knappen Eindruck von Lamartines typischem Ton<br />
und seinem Bildarsenal gewonnen. Die weitere Entwicklung der romantischen<br />
Dichtung bis hin zu Baudelaire wird sich, auch wenn sie sich teilweise über Lamartine<br />
lustig macht, doch an diesem Ton abarbeiten müssen. Sehen Sie sich deshalb bitte bis<br />
zur nächsten Woche zumindest Baudelaires „Le Coucher du Soleil romantique“ aus<br />
den „Nouvelles Fleurs du Mal“ an.<br />
120
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
2.2.2011 Romantische Lyrik II<br />
Wir hatten letzte Woche mit Lamartine geschlossen und den literarhistorischen<br />
Einschnitt benannt, der mit dem Erscheinen der ersten Auflage seiner Méditations<br />
poétiques 1820 verbunden war. Wir hatten an einigen Beispielen gesehen, daß<br />
Lamartines Erneuerung nicht so sehr auf formaler als auf inhaltlicher Ebene zu<br />
suchen ist. Während er im Blick auf Rhythmus, Versform und Reimschema noch dem<br />
18. Jahrhundert verbunden bleibt, sind die Gegenstände seiner Gedichte und die<br />
darin verwendeten Bilder für die französische Lyrik um 1820 noch neu. Lamartine<br />
selbst hatte das mit dem mythologischen Wörterbuch umschrieben, das man<br />
gebraucht habe, um die Lyrik seiner Vorgänger zu verstehen. Er habe als erster die<br />
alte Leier – ganz wörtlich zu verstehen als die Leier, das Musikinstrument des<br />
antiken Dichters – beiseitegelegt und begonnen, auf den Saiten – mit AI – des<br />
Herzens zu spielen. In diese Richtung weist bereits der Titel seiner Sammlung:<br />
Méditations sind vor Lamartine keine in der Lyrik verwendete Gattung, Meditationen<br />
kennt man bis dahin nur aus der Philosophie oder der Religion. „Meditation“<br />
bedeutet normalerweise ein intellektuelles Sich-Versenken in einen Gegenstand, dem<br />
man sich zurückgezogen von der umgebenden Gesellschaft hingibt. Auch das ist eine<br />
Haltung, die man vor Lamartine in Frankreich nicht mit Lyrik verbindet; im<br />
Gegenteil, die übliche Form der Rezeption von Gedichten ist der öffentliche Vortrag<br />
in einer Gesellschaft, die Publikation in Buchform ist erst ein zweiter Schritt, der das<br />
Nachlesen ermöglicht. Daß eine Gedichtsammlung von Anfang an, und das heißt<br />
hier: vom Titel an, auf die einsame, versunkene Lektüre angelegt ist, war bis zu<br />
Lamartine nicht vorgesehen. Lamartines Lyrik bekommt damit eine betont<br />
weltabgewandte Funktion und wird zum Teil religiöser Kommunikation erklärt, wie<br />
nach den Méditations auch die weiteren Titel, die wir letzte Woche bereits kurz<br />
gesehen hatten, unterstreichen:<br />
Nouvelles Méditations poétiques (1823)<br />
Harmonies poétiques et religieuses (1830)<br />
Lyrische Meditation in der Natur und Gebet werden für Lamartine austauschbar, wie<br />
auch die freie Natur und der geschlossene Tempel als Orte der Besinnung auf die<br />
eigene Existenz und auf Gott austauschbar werden. Die ideale Beleuchtung für die<br />
religiös-poetische Handlung ist der Sonnenuntergang oder der nächtliche<br />
Mondschein. Die Begeisterung für die Natur geht dabei so weit, daß der gläubige<br />
121
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Meditierende die Kirche als Institution kaum noch zu benötigen scheint, jedenfalls<br />
wird bereits in den Méditations, von 1820 die Natur zum sakralen Raum. Die<br />
Anfänge zweier <strong>Text</strong>e aus den Méditations können das verdeutlichen. Das erste ist<br />
„La Prière“<br />
Le roi brillant du jour, se couchant dans sa gloire,<br />
Descend avec lenteur de son char de victoire.<br />
Le nuage éclatant qui le cache à nos yeux<br />
Conserve en sillons d’or sa trace dans les cieux,<br />
Et d’un reflet de pourpre inonde l’étendue.<br />
Comme une lampe d’or, dans l’azur suspendue,<br />
La lune se balance aux bords de l’horizon;<br />
Ses rayons affaiblis dorment sur le gazon,<br />
Et le voile des nuits sur les monts se déplie:<br />
C’est l’heure où la nature, un moment recueillie,<br />
Entre la nuit qui tombe et le jour qui s’enfuit,<br />
S’élève au Créateur du jour et de la nuit,<br />
Et semble offrir à Dieu, dans son brillant langage,<br />
De la création le magnifique hommage.<br />
Voilà le sacrifice immense, universel!<br />
L’univers est le temple, et la terre est l’autel.<br />
„La Prière“ beginnt also mit der Abendstimmung, in der die untergehende Sonne (le<br />
roi brillant du jour) nur noch in den letzten goldfarbenen Streifen (sillons d’or) am<br />
Horizont zu sehen ist. Der aufgehende Mond, der wie eine goldene Lampe am<br />
Horizont schwebt, bescheint schwach die Wiese und der Schleier der Nacht verhängt<br />
die Berge. In dieser Stunde ist es zunächst die Natur selbst, die ein Gebet an Gott<br />
richtet (semble offrir à Dieu, dans son brillant langage / De la création le magnifique<br />
hommage). Das ganze Universum ist eine Kirche, die Erde ist ihr Altar. Der Gläubige<br />
kann also überall in der Natur sein Gebet sprechen und sich dabei immer wie im<br />
sakralen Raum der Kirche fühlen. Wir hatten bereits letzte Woche gehört, daß<br />
Lamartines Interpretation des Christentums nicht die ungeteilte Zustimmung der<br />
katholischen Orthodoxie fand, und tatsächlich sind solche Naturschwärmereien auch<br />
ohne weiteres mit aufklärerischem Deismus vereinbar. Zu Lamartines großem Erfolg<br />
hat sicher auch diese Offenheit gegenüber aufklärerischen Traditionen beigetragen.<br />
Für ein alltäglich-populäres Verständnis des Christentums waren Lamartines <strong>Text</strong>e<br />
außerdem nicht so anstößig, wie für die katholische Kirche als Institution, so daß sich<br />
beide Lager davon angesprochen fühlen konnten, das christlich-populäre und das<br />
aufklärerische. Im weiteren <strong>Text</strong>verlauf kommt dann auch die „raison“ (wenn auch<br />
als „humble raison“) ausdrücklich zu ihrem Recht, als nun nicht mehr nur die Natur,<br />
sondern auch der einsame Gläubige sein Gebet spricht:<br />
Seul, invoquant ici son regard paternel,<br />
Je remplis le désert du nom de l’Éternel;<br />
Et celui qui du sein de sa gloire infinie,<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Des sphères qu’il ordonne écoute l’harmonie,<br />
Écoute aussi la voix de mon humble raison,<br />
Qui contemple sa gloire et murmure son nom.<br />
Der Haltung des <strong>Text</strong>s von „La Prière“, in dem die Natur zum sakralen Raum wird,<br />
entspricht umgekehrt das kurz darauf folgende Gedicht „Le temple“, in dem nun eine<br />
alte verlassene Dorfkirche zum Teil der Natur wird. Die Szenerie erinnert an Thomas<br />
Grays „Elegy written in a Country Churchyard“, eines der berühmtesten Gedichte des<br />
18. Jahrhunderts, in dem in ähnlicher Weise der Trost durch die Religion und der<br />
Trost in der Natur ineinander übergehen. Bei Lamartine ist es wieder eine<br />
Nachtstimmung, die den <strong>Text</strong> eröffnet. Die Beschreibung des Übergangs zwischen<br />
Tag und Nacht ist fast identisch wie in „La Prière“, was die Vermutung nahelegt, daß<br />
die beiden <strong>Text</strong>e tatsächlich als zusammenhängend zu lesen sind und daß die<br />
Gleichwertigkeit von Naturraum und sakralem Raum betont werden soll. Der Anfang<br />
von „Le Temple“ lautet:<br />
Qu’il est doux, quand du soir l’étoile solitaire,<br />
Précédant de la nuit le char silencieux,<br />
S’élève lentement dans la voûte des cieux,<br />
Et que l’ombre et le jour se disputent la terre,<br />
Qu’il est doux de porter ses pas religieux<br />
Dans le fond du vallon, vers ce temple rustique<br />
Dont la mousse a couvert le modeste portique,<br />
Mais où le ciel encor parle à des cœurs pieux!<br />
Dem „char de victoire“ aus „La Prière“, mit dem im ersten <strong>Text</strong> die Sonne untergeht,<br />
entspricht in „Le Temple“ der „char silencieux“ der Nacht, und der „heure […] / Entre<br />
la nuit qui tombe et le jour qui s’enfuit“ entspricht hier der Moment, „quand […] /<br />
l’ombre et le jour se disputent la terre“. Während in „La Prière“ das Universum als<br />
Ganzes zum sakralen Raum wird, ist es hier die alte, moosbewachsene Kirche, die wie<br />
ein Teil der Natur erscheint.<br />
„char de victoire“ --> „char silencieux“<br />
„heure […] / Entre la nuit qui tombe et le jour qui s’enfuit“ --> „quand […] / l’ombre<br />
et le jour se disputent la terre“<br />
Ähnlich wie Lamartine, der 1820 als katholischer Monarchist zu schreiben beginnt<br />
und 1848 als republikanischer Revolutionär zum Sturz der Julimonarchie beiträgt,<br />
entwickelt sich auch Victor Hugo vom Royalisten zum Republikaner. Hugos Karriere<br />
beginnt 1819 mit der Veröffentlichung einiger royalistischer Oden, in denen<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Mitglieder des Königshauses besungen oder die Opfer der Revolution beklagt werden.<br />
Titel wie<br />
La Vendée<br />
La mort du duc de Berry<br />
La naissance du duc de Bordeaux<br />
Le baptême du duc de Bordeaux<br />
lassen auch ohne genauere Analyse erkennen, daß sich der junge Autor – Hugo ist<br />
1819 17 Jahre alt – bei der herrschenden Klasse der Restauration nicht unbeliebt<br />
machen möchte, um es vorsichtig zu formulieren.<br />
Im Gegensatz zu Lamartine ist Hugo darauf angewiesen, von seinen Publikationen<br />
leben zu können, und das bedeutet während der Restauration noch, daß man auf eine<br />
königliche Pension spekulieren muß. Wir hatten über Hugos Pension bereits im<br />
Zusammenhang der Zensurentscheidung gegen sein Drama Marion Delorme von<br />
1829 gesprochen. Ab 1822 bezog Hugo dann auch tatsächlich eine Art Gehalt des<br />
Königshauses, was sich im Vorwort zur ersten Sammlung seiner Gedichte<br />
niederschlägt. Diese erste Sammlung erschien 1822 unter dem Titel Odes et Poésies<br />
diverses, und der mittlerweile zwanzigjährige Autor gab sich betont katholisch und<br />
betont monarchistisch:<br />
Il y a deux intentions dans la publication de ce livre, l’intention littéraire et l’intention<br />
politique ; mais, dans la pensée de l’auteur, la dernière est la conséquence de la première,<br />
car l’histoire des hommes ne présente de poésie que jugée du haut des idées<br />
monarchiques et de croyances religieuses. 107<br />
Hugos literarische und politische Entwicklung läßt sich in Kurzform an der<br />
Entwicklung der Vorreden zu dieser Gedichtsammlung und an deren Titel ablesen.<br />
Die Ausgabe von 1824, die unter dem Titel Nouvelles Odes erschien, nahm im<br />
Vorwort bereits ausführlich Stellung zum Streit zwischen Klassikern und<br />
<strong>Romantik</strong>ern. Hugo spricht darin von „deux partis dans la littérature comme dans<br />
l’état; et la guerre poétique ne paraît pas devoir être moins acharnée que la guerre<br />
sociale n’est furieuse“. 108 Er beschreibt die unterschiedlichen Positionen in dem<br />
Streit, äußert sich zur Wortgeschichte von „romantique“ und möchte eine<br />
vermittelnde Position einnehmen: „Des conciliateurs se sont présentés avec de sages<br />
paroles entre les deux fronts d’attaque. […] C’est dans leur rang que l’auteur de ce<br />
107 Hugo: Préface 1822. Œuvres poétiques. Pléiade. Bd. 1, S. 265.<br />
108 Préface 1824. Ebd., S. 269.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
livre veut être placé“. 109 Doch ist seine revolutionsfeindliche und monarchistische<br />
Haltung ungebrochen, ich erspare ihnen aber die Belege, die sie bequem in der<br />
Pléiade-Ausgabe der Gedichte von Hugo nachlesen können, in der alle Vorworte<br />
versammelt sind. Im Vorwort zur Ausgabe von 1853, die also erscheint, als der<br />
mittlerweile zum Republikaner gewordene Hugo sich bereits im Exil befindet,<br />
beschreibt er, als er seine royalistischen Jugendwerke erneut dem Publikum<br />
präsentiert, seine Entwicklung als die vom Dunkel zum Licht, vom Irrtum zur<br />
Wahrheit, und historisiert sich gewissermaßen selbst, indem er seine frühesten <strong>Text</strong>e<br />
nun als Ausdruck seiner jugendlichen politischen Verwirrungen präsentiert. Auch<br />
diesen <strong>Text</strong> kann ich Ihnen nur zur Lektüre empfehlen.<br />
Ab der Ausgabe von 1826 heißt die Sammlung Odes et Ballades, und neben der<br />
klassischen Gedichtform der Ode, die an die griechische und römische Antike und<br />
den hohen Ton erinnert, steht nun die romantische Gedichtform par excellence, die<br />
Ballade, die bereits im Namen auf den Volkstanz und die populäre Unterhaltung<br />
verweist. Während man bei der Ode an Pindar, an Horaz oder Ronsard denken kann,<br />
fallen dem zeitgenössischen Publikum bei der Ballade Namen wie Wordsworth und<br />
Coleridge, Schiller oder Bürger ein. --> Odes et Ballades-Folie<br />
Ich habe gerade gesagt, daß die Ode eine klassische Form ist, doch die Art, wie<br />
Hugo diese Gattung bedient, ist bereits recht unklassisch. Allen insgesamt 73 Oden<br />
ist ein Motto vorangestellt, und unter den Autoren, denen die Motti entnommen sind,<br />
finden sich so unklassische wie Charles Maturin, der Autor des Horrorromans<br />
Melmoth the Wanderer, Shakespeare, Calderón oder Alfred de Vigny. Die Oden sind<br />
in fünf Bücher aufgeteilt, die von 1818 bis 1828 entstanden sind. Das erste Buch<br />
enthält die ultraroyalistischen Jugendgedichte, die ich vorhin schon erwähnt hatte.<br />
Das dritte Buch beginnt mit 1824 und 1825 entstandenen Oden auf Lamartine und<br />
Chateaubriand, mit denen Hugo sich noch als Anhänger einer gemäßigten,<br />
katholisch-royalistischen <strong>Romantik</strong> zu erkennen gibt. Auch die Oden auf die<br />
Beerdigung Ludwigs XVIII. und auf die Krönungsfeierlichkeiten für Charles X,<br />
Les funérailles de Louis XVIII<br />
Le sacre de Charles X<br />
unterstreichen Hugos Anhänglichkeit an die königliche Hand, die ihm seine Pension<br />
auszahlen läßt. Mit dem ab 1826 hinzugekommenen Balladenteil öffnet sich Hugo<br />
dann vollends für die romantische Welt der Hexen, Feen, Kobolde und Wassergeister.<br />
109 Ebd., S. 270.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Unter den 15 Balladen finden sich solche nach mittelalterlichen Stoffen oder mit<br />
schauerromantischen Gruselthemen wie der „Ronde du Sabbat“, die Hugo Charles<br />
Nodier widmet, einem Spezialisten für derartige Themen. Eine sentimentale Ich-<br />
Aussprache, wie wir sie bei Lamartine oder auch in den Oden noch ansatzweise<br />
finden, spielt in den Balladen überhaupt keine Rolle mehr, einige <strong>Text</strong>e sind vor<br />
allem technische Bravourstücke, die Hugos beeindruckende Meisterschaft in der<br />
Versbeherrschung vorführen, wie z. B. die elfte Ballade, „La chasse du Burggrave“, die<br />
jeden Vers mit zwei homophonen, aber semantisch unterschiedlichen Reimwörtern<br />
beschließt:<br />
Daigne protéger notre chasse,<br />
Châsse<br />
De Monseigneur saint-Godefroi,<br />
Roi!<br />
Si tu fais ce que je désire,<br />
Sire,<br />
Nous t’édifîrons un tombeau,<br />
Beau;<br />
Puis je te donne un cor d’ivoire,<br />
Voire<br />
Un dais neuf à pans de velours,<br />
Lourds,<br />
Avec six chandelles de cire,<br />
Sire!<br />
Donc te prions à deux genoux,<br />
Nous,<br />
Nous qui, né de bons gentilhommes,<br />
Sommes<br />
Le seigneur burgrave Alexis<br />
Six!<br />
USW., Hugo hält das über fünfzig Strophen so durch. Ähnliches bietet die zwölfte<br />
Ballade, „Le pas d’armes du roi Jean“, in der Hugo es schafft, 32 Strophen mit jeweils<br />
acht dreihebigen Versen und dem Reimschema ababcccb zu finden, um die<br />
Waffentaten des roi Jean auf einem Ritterturnier in Paris zu besingen:<br />
Ça, qu’on selle,<br />
Écuyer,<br />
Mon fidèle<br />
Destrier.<br />
Mon cœur ploie<br />
Sous la joie,<br />
Quand je broie<br />
L’étrier.<br />
Par Saint-Gille,<br />
Viens nous-en,<br />
Mon agile<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Alezan;<br />
Viens, écoute,<br />
Par la route,<br />
Voir la joute<br />
Du roi Jean.<br />
usw., über weitere dreißig Strophen. Es ist klar, daß in solchen Kompositionen nicht<br />
mehr Meditation, Ich-Aussprache oder sonst etwas von dem, was wir bei Lamartine<br />
gesehen hatten, eine Rolle spielt, sondern hier geht es um die artistische<br />
Formbeherrschung und um dichterische Rekordleistungen. Théophile Gautier hat<br />
deshalb in solchen <strong>Text</strong>en Hugo als Vorläufer des „art pour l’art“ gesehen, also der<br />
Kunst um der Kunst willen, bei der die Sprache sich verselbständigt und Klangkunst<br />
ist, ohne unbedingt noch unmittelbar Bedeutung zu transportieren.<br />
In seinem Gedichtband Les Orientales von 1829 setzt Hugo die Tendenz der<br />
Balladen fort. Was in den Balladen ein romantisch gedeutetes Mittelalter war, das ist<br />
in den Orientales ein sehr großzügig definierter Orient, der vom Balkan über die<br />
Türkei und Ägypten, Nordafrika und Andalusien einmal um das ganze Mittelmeer<br />
reicht. Im Vorwort zu den 31 „orientalischen“ Gedichten betont er nun ausdrücklich,<br />
daß nicht inhaltliche, sondern Formfragen über die Qualität eines Gedichts<br />
eintscheiden. Der Dichter sei frei, über alles zu schreiben, die Kritik könne nur<br />
entscheiden, ob es gelungen sei oder nicht:<br />
A voir les choses d’un peu haut, il n’y a, en poésie, ni bons ni mauvais sujets, mais de bons<br />
et de mauvais poètes. D’ailleurs, tout est sujet; tout relève de l’art; tout a droit de cité en<br />
poésie. […] Que le poète donc aille où il veut, en faisant ce qui lui plaît; c’est la loi. Qu’il<br />
croie en Dieu ou aux dieux, à Pluton ou à Satan, […] ou à rien. […] C’est à merveille. Le<br />
poète est libre. Mettons-nous à son point de vue, et voyons. 110<br />
Sieben Jahre nach seinem christlich-monarchistischen Bekenntnis aus dem ersten<br />
Vorwort der Oden sagt Hugo nun also, daß es für die Kunst keine ideologischen,<br />
sondern nur ästhetische Kriterien gebe. Ob man an Gott, also den einen Gott der<br />
monotheistischen Religionen, oder an einen heidnischen Götterhimmel glaube, sei<br />
für die Dichtung ganz egal. Hugo spricht im Vorwort von seinen Orientales als „ce<br />
livre inutile de pure poésie“, also diesem zwecklosen Buch reiner Dichtung. Der<br />
Orient sei für ihn, wie das Mittelalter, vor allem ein „Meer von Poesie“, in dem er<br />
seinen Bilderdurst stillen könne, oder eine Art poetische Fata Morgana:<br />
110 Ebd., Orientales, Préface de l’édition originale, S. 577.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
[L’auteur] avait toujours eu une vive sympathie de poète […] pour le monde oriental. Il lui<br />
semblait y voir briller de loin une haute poésie. […] Là, en effet, tout est grand, riche,<br />
fécond, comme dans le moyen-âge, cette autre mer de poésie. 111<br />
Wir haben in den Orientales also die Aufwertung des Mittelalters, die wir schon seit<br />
Mme de Staël kennen und die Hugo sich selbst in den Balladen bereits zunutze<br />
gemacht hatte, aber nun kommt noch ein sehr weiträumig verstandener Orient als<br />
Projektionsfläche dazu. Es geht bei Hugo nicht darum, den Orient, wie auch immer<br />
definiert, zu verstehen oder angemessen zu repräsentieren, sondern um einen<br />
Imaginationsraum, der ungewohnte neue Bilder bereithält.<br />
Das artistische Meisterstück in den Orientales ist „Les Djinns“, in dem Mittelalter<br />
und Orient ganz wörtlich zusammenkommen: das Motto ist aus dem fünften Gesang<br />
von Dantes Inferno entnommen, und die Geschichte der Djinns, die hier eher<br />
Vampire sind, wird in 15 Strophen mit jeweils acht Versen und dem Reimschema<br />
ababcccb erzählt, das wir bereits kennen. Doch die Schwierigkeit ist gegenüber der<br />
Ballade mit dem Turnier des Königs Jean noch dadurch gesteigert, daß die erste<br />
Strophe zweihebig ist, die zweite dreihebig, die vierte vierhebig, usw. bis zur<br />
zehnhebigen achten Strophe, und daß dann alles wieder zurückläuft bis zur<br />
zweihebigen letzten Strophe, also in etwa so:<br />
XX<br />
XXX<br />
XXXX<br />
XXXXX<br />
XXXXXX<br />
XXXXXXX<br />
XXXXXXXX<br />
XXXXXXXXXX<br />
XXXXXXXX<br />
XXXXXXX<br />
XXXXXX<br />
XXXXX<br />
XXXX<br />
XXX<br />
XX<br />
Hugo beweist damit, daß er das Formrepertoire nicht nur souverän beherrscht,<br />
sondern damit auch um der Form willen zu spielen versteht. Der Inhalt von<br />
Gedichten wie den Djinns ist fast nur noch Vorwand und dient der Zeichnung einer<br />
111 Ebd., S. 580.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
diffus orientalischen Stimmung, während die Beherrschung der Form in den<br />
Vordergrund tritt. Man muß bis in die Barocklyrik zurückgehen oder bis ins<br />
20. Jahrhundert nach vorne schauen, um ähnliche Sprach- und Formspiele in der<br />
Lyrik zu finden.<br />
Auch für die Entwicklung der Lyrik bedeutet die Julirevolution von 1830 einen<br />
Bruch. Mit der zweiten Revolution nach 1789 scheint für viele Zeitgenossen der<br />
Beweis erbracht, daß das Ancien Régime endgültig untergegangen ist und daß man<br />
sich nun auf eine immer strahlendere Zukunft zubewege. Die politische Lyrik und das<br />
politische Lied nach 1830 sind eine eigene, an den Rändern nur schwer<br />
überschaubare Gattung, auf die wir heute aus Zeitgründen nicht mehr eingehen<br />
können. Für eine gründliche Darstellung, die den Zeitraum von 1789 bis 1888<br />
umfaßt, kann ich Ihnen einen neuen <strong>Text</strong> von Heinz Thoma empfehlen, der einer der<br />
besten Kenner des Themas ist:<br />
Heinz Thoma: PATRIE – NATION – RÉPUBLIQUE – HUMANITÉ. Themen und<br />
Formen politischer Dichtung (1789–1888). In: Ders. (Hg.): 19. Jahrhundert. Lyrik.<br />
Tübingen: Stauffenburg 2009 (Französische Literatur. Stauffenburg Interpretation),<br />
S. 131–174.<br />
Wir haben auch keine Zeit mehr für eine gründliche Betrachtung der Entwicklung<br />
der romantischen Lyrik nach 1830. Ich möchte deshalb nur exemplarisch einen<br />
weniger bekannten Autor vorstellen, Aloysius Bertrand, der nicht nur alle<br />
romantischen Klischees vom unglücklichen und verarmten Künstler auf sich vereint,<br />
sondern außerdem eine Form der Poesie eingeführt hat, an die Baudelaire<br />
ausdrücklich angeschlossen hat, nämlich das Prosagedicht. Die Annäherung von<br />
Prosa an lyrisches Sprechen hatten wir schon bei Chateaubriand gesehen, sowohl in<br />
seinen Beschreibungen der wilden Natur der nordamerikanischen Urwälder, als auch<br />
in den Passagen, die er als Prosaübersetzungen von Indianergesängen ausgab. Bei<br />
Bertrand, der seine <strong>Text</strong>e ab 1828 in den Kreisen um Victor Hugo vorträgt, aber bis<br />
zu seinem Tod im Jahr 1841 keinen Verleger findet, ist es umgekehrt: die Lyrik<br />
verzichtet auf den Reim und weitgehend auch auf den Rhythmus. Stattdessen bieten<br />
die <strong>Text</strong>e, die Bertrand unter dem Titel Gaspard de la Nuit versammelt, rätselhafte<br />
kleine Szenen, die an Bilder von Rembrandt oder Callot erinnern sollen. Der<br />
vollständige Titel, Gaspard de la Nuit. Fantaisies à la manière de Rembrandt et de<br />
Callot erinnert deutlich an E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callot’s Manier. Die<br />
Poesie soll sich also mit den ästhetischen Qualitäten der Malerei verbinden,<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
besonders der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Im ersten Stück der<br />
Phantasien Gaspards evoziert in diesem Sinn die holländische Stadt Harlem als<br />
Inbegriff der flämischen Malerschule:<br />
Harlem, cette admirable bambochade qui résume l’école flamande, Harlem peint par<br />
Jean-Breughel, Peeter-Neef, David-Téniers et Paul Rembrandt.<br />
Et le canal où l’eau bleue tremble, et l’église où le vitrage d’or flamboie, et le stoël où sèche<br />
le linge au soleil, et les toits verts de houblon.<br />
Et les cigognes qui battent des ailes autour de l’horloge de la ville, tendant le col du haut<br />
des airs et recevant dans leur bec les gouttes de pluie. […]<br />
Nur durch die Konjunktion „et“ verbunden, reiht der <strong>Text</strong> optische Eindrücke aus<br />
dem Stadtbild von Harlem aneinander im Versuch, dem lyrischen <strong>Text</strong> die visuelle<br />
Kraft und Vielfalt eines Gemäldes zu verleihen. Sainte-Beuve hat für die Ausgabe vo<br />
1842 ein Vorwort geschrieben, in dem er die Einzigartigkeit von Bertrands Poesie zu<br />
fassen versucht, aber erst die produktive Rezeption in Baudelaires Petits poèmes en<br />
prose und bei Rimbaud hat gezeigt, welche Modernität bei Bertrand bereits angelegt<br />
war.<br />
Noch einmal Baudelaire zum Schluß, mit dem „Coucher du soileil romantique“,<br />
hier stellvertretend für die Fleurs du Mal, die sich insgesamt als Abgesang auf die<br />
<strong>Romantik</strong> und als deren produktive Fortsetzng lesen lassen. Der <strong>Text</strong> ist zuerst 1862<br />
erschienen und sollte dann als Epilog für ein Buch eines Freunds von Baudelaire<br />
dienen, das den Titel Mélanges tirés d’une petite bibliothèque romantique tragen<br />
sollte. Der Titel läßt sich bezeichnenderweise als „romantischer Sonnenuntergang“<br />
oder als „Untergang der romantischen Sonne“ übersetzen, und mit dieser<br />
Doppeldeutigkeit des französischen Titels spielt das Sonett:<br />
Que le soleil est beau quand tout frais il se lève,<br />
Comme une explosion nous lançant son bonjour!<br />
– Bienheureux celui-là qui peut avec amour<br />
Saluer son coucher plus glorieux qu’un rêve!<br />
Je me souviens!… J’ai vu tout, fleur, source, sillon,<br />
Se pâmer sous son œil comme un cœur qui palpite…<br />
– Courons vers l’horizon, il est tard, courons vite,<br />
Pour attraper au moins un oblique rayon!<br />
Mais je poursuis en vain le Dieu qui se retire;<br />
L’irrésistible Nuit établit son empire,<br />
Noire, humide, funeste et pleine de frissons;<br />
Une odeur de tombeau dans les ténèbres nage,<br />
Et mon pied peureux froisse, au bord du marécage,<br />
Des crapauds imprévus et de froids limaçons.<br />
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Um nicht ganz so pathetisch zu schließen, empfehle ich Ihnen zu vertiefenden<br />
Lektüre zu Baudelaire als demjenigen, der die <strong>Romantik</strong> beerdigt:<br />
Hartmut Stenzel: Das Ende der romantischen Utopien und die Revolution der<br />
Dichtungssprache: Baudelaire und Rimbaud. In: Heinz Thoma (Hg.):<br />
19. Jahrhundert. Lyrik. Tübingen: Stauffenburg 2009 (Französische Literatur.<br />
Stauffenburg Interpretation), S. 227–302.<br />
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