Verbale Angriffe im Schulalltag - Sekundarstufe I - Pädagogische ...
Verbale Angriffe im Schulalltag - Sekundarstufe I - Pädagogische ...
Verbale Angriffe im Schulalltag - Sekundarstufe I - Pädagogische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Pädagogische Hochschule Zentralschweiz<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Wie erleben Lehrpersonen verbale <strong>Angriffe</strong> von<br />
Schüler- oder Elternseite <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>?<br />
Masterarbeit<br />
Studiengang <strong>Sekundarstufe</strong> I<br />
Verfasserin:<br />
Tanja Rothenfluh<br />
Glorihöchi 15<br />
6403 Küssnacht am Rigi<br />
eingereicht am 8. November 2007<br />
bei<br />
Marianne Ludwig-Tauber<br />
Pädagogische Psychologie
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1 EINLEITUNG ......................................................................................................10<br />
2 THEORETISCHER HINTERGRUND .................................................................13<br />
2.1 <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> ............................................................................................13<br />
2.1.1 Wahrnehmung von "verbalen <strong>Angriffe</strong>n" .....................................................14<br />
2.1.2 Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun ..........................................14<br />
2.2 <strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung ......................................17<br />
2.2.1 Definition eines Konflikts .............................................................................17<br />
2.2.2 Unabdingbare Bestandteile eines Konflikts .................................................21<br />
2.2.3 Durch welche Anzeichen kündigt sich ein Konflikt an ..................................22<br />
2.2.4 Vorgehensweisen der Erkennung von Konflikten nach Jung (1978) ...........24<br />
2.2.5 Konfliktparteien............................................................................................28<br />
2.2.6 Schwellen der Eskalation eines Konflikts ....................................................30<br />
2.2.7 Abgrenzung zum verbalen Angriff ...............................................................31<br />
2.3 Kränkungen ...................................................................................................32<br />
2.3.1 Definition nach Wardetzki ............................................................................32<br />
2.3.1.1 Der wunde Punkt ..................................................................................33<br />
2.4 <strong>Verbale</strong>r Angriff als Kränkung .....................................................................34<br />
2.5 Das subjektive Element <strong>im</strong> verbalen Angriff ..............................................34<br />
2.6 Gefühle (Emotionen).....................................................................................36<br />
2.6.1 Ansatz nach Plutchik (1980) und nach Traxel (1963)..................................38<br />
2.6.2 Ansatz von Rosenberg (2005).....................................................................39<br />
2.6.2.1 Entfremdung von unseren Gefühlen ....................................................39<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 2 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2.7 Erzählung und Bericht ..................................................................................41<br />
2.7.1 Critical incident ............................................................................................42<br />
2.7.2 Die Erzählung ..............................................................................................44<br />
2.7.2.1 Was ist Erzählen? ................................................................................44<br />
2.7.2.2 Was ist eine Erzählung? ......................................................................45<br />
2.7.2.3 Wie fängt eine Erzählung an? ..............................................................47<br />
2.7.2.4 Aufgliederung einer Erzählung .............................................................48<br />
2.7.2.5 Sprachgestalt der Erzählung ................................................................48<br />
2.7.2.6 Erzählen alle? ......................................................................................48<br />
2.7.3 Der Bericht ..................................................................................................49<br />
2.7.3.1 Was ist ein Bericht? .............................................................................49<br />
2.7.4 Unterschiede zwischen Erzählung und Bericht ...........................................51<br />
2.8 Die Dynamik einer Erzählung und die Wünsche der erzählenden Person<br />
an schulische Begegnungen ..................................................................................52<br />
2.9 Die Erzählanalyse JAKOB ............................................................................53<br />
2.9.1 Vier Schritte für eine klinische Erzählanalyse nach Boothe .........................54<br />
2.9.2 Für die Arbeit relevante Teile aus der Erzählanalyse JAKOB .....................55<br />
2.9.3 Die Dynamik der Startsituation zum Ergebnis: Wie muss man sich das<br />
Opt<strong>im</strong>um der Geschichte vorstellen? Wie die Katastrophe? ..................................57<br />
2.9.3.1 Die Startdynamik ..................................................................................57<br />
2.9.3.2 SEIN .....................................................................................................59<br />
2.9.4 SOLL und ANTI-SOLL .................................................................................60<br />
2.9.4.1 SOLL ....................................................................................................60<br />
2.9.4.2 ANTI-SOLL...........................................................................................61<br />
2.9.5 Wunscherfüllung und Angstbewältigung .....................................................61<br />
2.9.6 Ressourcen und blinde Flecken ..................................................................63<br />
2.9.6.1 Ressourcen ..........................................................................................63<br />
2.9.6.2 Blinde Flecken ......................................................................................63<br />
2.10 Annahmen für die Ergebnisse .....................................................................64<br />
2.11 Detaillierte Fragestellungen .........................................................................65<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 3 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3 METHODEN .......................................................................................................66<br />
3.1 Einleitung ......................................................................................................66<br />
3.2 Beschreibung der Stichprobe ......................................................................66<br />
3.3 Beschreibung des Instruments ...................................................................67<br />
3.4 Durchführung ................................................................................................69<br />
3.5 Transkription .................................................................................................71<br />
3.6 Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie ................................71<br />
3.6.1 Erzählanalyse in zwei Schritten ...................................................................74<br />
4 ERGEBNISDARSTELLUNG ..............................................................................76<br />
4.1 Befragte Personen ........................................................................................76<br />
4.2 Auswahl der Erzählungen ............................................................................77<br />
4.3 Die Struktur der Erzählungen und Berichte ...............................................78<br />
4.3.1 Kritisches Ereignis, Erzählung, Bericht - Verknüpfung der Begriffe .............79<br />
4.4 Antworten auf die drei Fragestellungen .....................................................81<br />
4.4.1.1 Welche verbalen <strong>Angriffe</strong> erzählten die Lehrpersonen? .......................81<br />
4.4.1.1.1 Beschreibung der neun Fälle von verbalen <strong>Angriffe</strong>n ................... 81<br />
4.4.1.2 Wie erleben Lehrpersonen den verbalen Angriff? ................................83<br />
4.4.1.3 Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen können wir in den<br />
Erzählungen analysieren? ..................................................................................87<br />
5 DISKUSSION .....................................................................................................98<br />
5.1 Auswertung der Untersuchungsergebnisse ..............................................98<br />
5.2 Umgang mit Verletzungen und Kränkungen ............................................109<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 4 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
6 LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................122<br />
7 ABBILDUNGSVERZEICHNIS .........................................................................125<br />
8 TABELLENVERZEICHNIS ..............................................................................126<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 5 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Abstract<br />
Abstract<br />
In dieser Arbeit geht es um verbale <strong>Angriffe</strong>, die offen, mündlich, direkt von Schüler-<br />
oder Elternseite her gegenüber der Lehrperson geäussert werden.<br />
Ein verbaler Angriff wird subjektiv bewertet. Je nach Erwartungen und Zielvorstellungen<br />
der Lehrperson an schulische Beziehungen, hat sie best<strong>im</strong>mte Wünsche und<br />
Hoffnungen, sowie Ängste und Befürchtungen. Sie fühlt sich demnach gekränkt oder<br />
nicht. Konflikte sind ein Thema in der Schule, sowie auch <strong>im</strong> Alltag. In der Arbeit<br />
wurde ein Modell für den Bericht der Lehrpersonen über verbale <strong>Angriffe</strong> entwickelt.<br />
Darin sind verbale <strong>Angriffe</strong> eingebettet in eine Vorgeschichte, in welcher Ereignisse<br />
<strong>im</strong> Vorfeld und situative Bedingungen genannt werden. Im Verlauf werden Figuren,<br />
Aktionen, Kulissen und Requisiten skizziert und Spannung aufgebaut, und es entsteht<br />
ein Konflikt, der dann quasi in Form eines verbalen Angriffs explodiert. Anschliessend<br />
wird der Konflikt entschärft. <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> sind somit oft eingebettet in<br />
ein Konfliktgeschehen und bilden die Eskalations-Spitze. In dieser Arbeit wird dargestellt,<br />
wie Lehrpersonen den verbalen Angriff erleben, wie sie ihre Gefühle äussern<br />
und welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen aus ihren Erzählungen und<br />
Berichten herauskommen. Zudem wird auch untersucht, wie sie den Konflikt entschärfen.<br />
Als Untersuchungsinstrument wurde ein Interview-Leitfaden entwickelt. Aus 19 interviewten<br />
Lehrpersonen wurden 9 Fälle qualitativ analysiert und ausgewertet. Die Analyse<br />
baut auf der JAKOB Erzählanalyse von Boothe (2002) auf, welche mit Elementen<br />
zur Konfliktdiagnose ergänzt wurde. Die Analyse der unbewussten Wünsche und<br />
Ängste wurde von der Psychoanalytikerin Marianne Ludwig-Tauber begleitet.<br />
In den Ergebnissen zeigt sich, dass fünf der neun Fälle verbale <strong>Angriffe</strong> von Elternseite<br />
kamen und vier von Schülerseite. Von den neun verbalen <strong>Angriffe</strong>n waren fünf<br />
eingebettet in eine lang andauernde Konfliktgeschichte, nur vier verbale <strong>Angriffe</strong><br />
stellten ein isoliert und plötzlich auftretendes Ereignis dar. Typisch waren Konflikte <strong>im</strong><br />
Dreieck Eltern- Schüler(in)-Lehrperson. Lehrpersonen wünschen sich von den Eltern<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 6 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Abstract<br />
Unterstützung in Erziehungsfragen, sie möchten in ihnen loyale Partner finden, was<br />
nicht <strong>im</strong>mer gelingt. Ängste gehen in Richtung Kontrollverlust in der Führung der<br />
Klasse und der einzelnen Schüler und Schülerinnen. Alle befragten Lehrpersonen<br />
hatten Ressourcen zur Konfliktbewältigung und konnten diese nutzen. Beispiele sind:<br />
Emotional stabil sein (versus labil sein), ruhig bleiben, Lösung anstreben, Verletzung<br />
überwinden, <strong>im</strong> Kontakt bleiben und offen sein (versus Beziehungsabbruch), Notfallstrategien<br />
zur Verfügung haben, Hilfe anfordern können (anstatt Alleinkämpfer sein<br />
wollen), Interessen für Menschen aufrechterhalten auch nach einer Kränkung (versus<br />
Rückzug in die Isolation), flexibel sein (versus auf eigener Meinung verharren), und<br />
kreativ Lösungen finden (versus in alten Gewohnheiten und Meinungen verharren).<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 7 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Vorwort<br />
Vorwort<br />
Als aller erstes möchte ich mich bei Frau Marianne Ludwig-Tauber ganz herzlich für<br />
die sehr kompetente Betreuung bedanken, von der ich während des Schreibens dieser<br />
Arbeit profitieren durfte. Sie führt eine Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse<br />
und verfügt über eine sehr hohe Fachkenntnis <strong>im</strong> Bereich meiner Masterarbeit.<br />
Einige Aspekte dieser Arbeit reichen weit in das Fachgebiet der Psychoanalyse hinein<br />
und hätten für mich alleine den Rahmen des Möglichen überschritten. Dank der<br />
Mithilfe von Marianne Ludwig-Tauber war es jedoch möglich, die uns vorliegenden<br />
Fälle auf unbewusste Wünsche und Ängste zu untersuchen und die daraus entstanden<br />
Erkenntnisse in die Arbeit einzubauen.<br />
Des weitern unterstützte sie mich auch, als Sabrina Talevi etwas mehr als einen Monat<br />
vor dem Abgabetermin der Masterarbeit krankheitshalber aus der Arbeit aussteigen<br />
musste. Die Entscheidung, die Masterarbeit von Sabrina und mir aufzuteilen,<br />
war für mich sehr bedauerlich, denn die Ideen zu dieser Arbeit stammten von uns<br />
beiden. Gemeinsam formulierten wir das Grobkonzept, entwickelten den Fragebogen<br />
für die Interviews, verfassten den Brief an die Lehrpersonen und auch zu zweit begannen<br />
wir am Theorie- sowie Methodenteil zu schreiben. Auch die Interviews führten<br />
wir gemeinsam durch.<br />
Ein weiterer Dank geht an alle Lehrpersonen, die sich bereit erklärt haben, uns zum<br />
Thema dieser Masterarbeit Interviews zu geben. Es ist nicht selbstverständlich, dass<br />
man sich in diesem heiklen Bereich des Lehrerdaseins einer Drittperson gegenüber<br />
öffnet und über solche, oftmals sehr emotionale Ereignisse spricht.<br />
Ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit ist die Erzählanalyse JAKOB, welche unter<br />
anderem von Frau Brigitte Boothe entwickelt wurde. In einer Supervisionsstunde<br />
lehrte sie Sabrina Talevi, Marianne Ludwig-Tauber und mich die wichtigsten Bestandteile<br />
dieser Methode und lieferte uns viele wertvolle Informationen und Anregungen<br />
welche ich in diese Arbeit einfliessen lassen konnte. Dafür möchte ich mich<br />
ganz herzlich bei ihr bedanken.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 8 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Vorwort<br />
Weiter möchte ich allen anderen Personen danken, die mich in irgendeiner Weise<br />
während dem Entstehen dieser Arbeit unterstützt haben, sei es nun psychisch oder<br />
physisch. Denn vor allem die Fälle und die dazugehörenden Analysen waren für<br />
mich als zukünftige Sekundarlehrperson nicht <strong>im</strong>mer leicht zu verarbeiten und beschäftigten<br />
mich auch <strong>im</strong> Nachhinein oft noch lange.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 9 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Einleitung<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
1 Einleitung<br />
Man stelle sich vor, es herrscht die traditionelle Unterrichtssituation <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer.<br />
Die Lehrperson unterrichtet, die Schülerinnen und Schüler hören zu. Auf einmal<br />
wird die Lehrperson von einem Schüler vor der ganzen Klasse in einen verbalen<br />
Machtkampf verwickelt. Der Schüler widerspricht der Lehrperson und verweigert den<br />
Befehl den Unterrichtsraum zu verlassen. Wie reagiere ich als Lehrperson auf einen<br />
anfallenden Machtkampf, auf provokative Bemerkungen wenn sie beispielsweise beleidigend<br />
oder sexueller Art sind oder wenn der Schüler/die Schülerin versucht die<br />
ganze Klasse gegen mich aufzustacheln, auf Unhöflichkeiten wie absichtliches Duzen,<br />
Fluchwörter gegenüber der Lehrperson, wenn ich nicht ernst genommen werde?<br />
Die Klasse erwartet ohne Zweifel eine Reaktion. Wie begegne ich einer Befehlsverweigerung,<br />
die sich vor einer Klasse abspielt? Wie reagiert die Lehrperson professionell<br />
auf einen solchen Vorfall? Der Machtstatus der Lehrperson wird in einer solchen<br />
Situation angezweifelt. Dies waren Fragen, die mich zu Beginn der Themenwahl<br />
interessierten. Bauer, Kopka und Brindt (1999) weisen in ihrem Buch "Pädagogische<br />
Professionalität und Lehrerarbeit" zwar darauf hin, dass gemeinsam entwickelte<br />
Regeln der Lehrperson bei Disziplinfragen helfen können. Doch diese Antwort<br />
genügte mir nicht. Ich wollte der Thematik auf den Grund gehen.<br />
Disziplinarprobleme, Problemschüler und Eltern als Belastungsquellen der<br />
Lehrperson<br />
Disziplinstörungen haben negative Einflüsse auf die Motivation und die Schulleistung<br />
der Schülerinnen und Schüler sowie auch negative Folgen für das berufliche Wohlbefinden<br />
von Lehrpersonen. Bickhoff (2004) beschäftigt sich mit dem Problemfeld<br />
berufsbedingter Belastungen bei Lehrpersonen. In seinem Buch über "Psychische<br />
und körperliche Belastung bei Lehrkräften" erwähnt er Disziplinarprobleme, Problemschüler,<br />
sowie Eltern als Belastungsquelle der Lehrpersonen in der Schule. "Lehrkräfte<br />
fühlen sich in ihrer pädagogischen Aufgabe oft alleingelassen, ausgenutzt und<br />
überfordert <strong>im</strong> Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die als demotiviert, kaum<br />
belastbar, unkonzentriert, verhaltensauffällig und aggressiv erlebt werden. Den Un-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 10 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Einleitung<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
terricht störendes Schülerverhalten erwies sich als wesentlicher Prädiktor für die subjektiv<br />
empfundene Belastung von Lehrerinnen und Lehrern." (zum Beispiel Coates &<br />
Thoresen, 1976; Borg, Riding & Falzon, 1991; zitiert nach Bickhoff, 2004, S. 21).<br />
Nach Belschner (1976) sind es vor allem Konflikte und Schwierigkeiten <strong>im</strong> Umgang<br />
mit verhaltensauffälligen Schülern, die Lehrer in der Schulpraxis als belastend empfanden.<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Σ<br />
SchülerInnen<br />
Schule<br />
andere<br />
Eltern<br />
Lehrkräfte<br />
n 216 40 22 12 290<br />
% 74,5 13,8 7,6 4,1 100,0<br />
Tabelle 1: Prozentuale Häufigkeiten der Schulprobleme aus der Sicht der Lehrperson bezogen<br />
auf einzelne Kategorien. Zitiert nach Belschner (1976), S. 19.<br />
Warum komme ich auf diese Gedanken? Im Zwischensemester war es für uns Studenten<br />
üblich, Stellvertretungen (Abkürzung: STV) anzunehmen, um das Taschengeld<br />
etwas aufzubessern. Die Schülerinnen und Schüler wissen in dieser Situation<br />
genau, dass eine STV nur kurze Zeit bleibt und sie wird deshalb zum Opfer oder zum<br />
Versuchskaninchen. Da die oben erwähnten Situationen bei mir ein grosses Fragezeichen<br />
aufwarfen, überlegte ich: Wie kann man in solchen Situationen professionell<br />
reagieren? Ich wollte diese Ungewissheiten zum Thema meiner Masterarbeit machen.<br />
Mich interessieren Fälle, welche die Lehrperson <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> in eine schwierige<br />
Situation bringen. Bald wurde mir bewusst, dass die Fragestellung eingegrenzt werden<br />
muss. Es gibt viele Situationen in welchen Lehrpersonen verbalen <strong>Angriffe</strong>n<br />
ausgesetzt sein können: In dieser Arbeit gehe ich lediglich Fällen nach, bei denen die<br />
Lehrperson, sei es vor der ganzen Schulklasse, während dem Elterngespräch oder<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 11 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Einleitung<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
an einem Elternabend, angegriffen wird. Was mich genau interessiert, kristallisierte<br />
sich bald heraus: <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>.<br />
Diese verbalen <strong>Angriffe</strong> können von Schülerinnen- und Schülerseite oder auch von<br />
Elternseite kommen. Ich habe mich darauf beschränkt, weil ich in meinen Praktika oft<br />
von Praxislehrpersonen erfahren habe, wie Elternarbeit viel Zeit einn<strong>im</strong>mt und wie<br />
belastend diese sein kann. <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> von Schülerseite haben mich selber<br />
schon beschäftigt, gerade beispielsweise vor einer STV. Ich überlegte mir, wie ich<br />
reagieren würde, wenn ein solcher Angriff seitens der Schüler mich treffen würde und<br />
keine erfahrene Lehrperson hinten <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer sitzt, die mir beistehen könnte.<br />
Fragestellungen<br />
Die Untersuchung liess sich zu Beginn von folgenden Fragestellungen leiten:<br />
Welche Erfahrungen haben LP mit verbalen <strong>Angriffe</strong>n <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>? Wie erleben<br />
sie diese?<br />
Mit der ersten Fragestellung möchte ich herausfinden, welche verbalen <strong>Angriffe</strong> (seitens<br />
der Schüler oder der Eltern) auf die Lehrperson erfolgen (unmittelbar vor, während<br />
oder unmittelbar nach dem Unterricht) und wie die Lehrpersonen solche <strong>Angriffe</strong><br />
erleben. Unter verbalen <strong>Angriffe</strong>n verstehe ich respektlose/freche Antworten oder<br />
Bemerkungen der Lehrperson gegenüber, die sie persönlich angreifen und/oder verletzen.<br />
Mich interessiert vor allem die Art und Weise, wie die Lehrpersonen diese verbalen<br />
<strong>Angriffe</strong> erzählen. Ich untersuchte, geleitet durch die zweite Fragestellung, wie Lehrpersonen<br />
in ihren Erzählungen oder Berichten ihre Gefühle äussern.<br />
Im Laufe des Theorieteils werde ich die detaillierteren Fragestellungen, die sich herauskristallisiert<br />
haben, herleiten.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 12 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
2 Theoretischer Hintergrund<br />
2.1 <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
Ich interessiere mich für den verbalen Angriff. Er ist zentral in dieser Arbeit. Aus diesem<br />
Grund wird hier nun erläutert, was dieser Begriff genau bedeutet und wie er einzuordnen<br />
ist.<br />
Als verbalen Angriff definiere ich konkrete Fälle, die an einem Tag X stattfinden und<br />
in welchem eine konkrete, <strong>im</strong> Wortlaut vorhandene verbale Äusserung gegenüber<br />
der Lehrperson gemacht wird. Mit einem verbalen Angriff meine ich einen offenen,<br />
mündlichen, direkten Angriff eines Schülers, einer Schülerin oder eines Elternteils<br />
gegenüber der Lehrperson. Darunter verstehe ich respektlose/freche Antworten<br />
oder Bemerkungen der Lehrperson gegenüber, die sie persönlich angreifen und/oder<br />
verletzen.<br />
Nicht gemeint sind hier die Lehrerinnen und Lehrer, Kolleginnen und Kollegen, der<br />
Hauswart. Ich schliesse auch geschilderte Konflikte aus, die allgemein gehalten sind.<br />
Es muss ein verbaler Angriff sein, der am Tag X stattgefunden hat. Auch Gerüchte<br />
sind nicht in meinem Interesse. Vielmehr interessieren mich verbale <strong>Angriffe</strong>, die von<br />
Lehrpersonen anhand eines konkreten, wahren Ereignisses erzählt werden. Die<br />
für mich relevanten <strong>Angriffe</strong> sind verbal, das heisst mündlich geäussert. Es gibt auch<br />
nonverbale <strong>Angriffe</strong>, die ich ebenfalls nicht in meine Arbeit einschliesse. Fälle bei der<br />
die nonverbal ausgeführte Handlung als angreifend und verletzend empfunden wurde<br />
und der verbale Angriff nur nebensächlich ist für die Lehrperson, werden in dieser<br />
Arbeit ausgeschlossen.<br />
Der verbale Angriff kann <strong>im</strong> Schulz<strong>im</strong>mer vor, während oder nach dem Unterricht, in<br />
der Turnhalle, auf dem Gang oder Pausenplatz oder irgendwo auf dem Schulareal<br />
geschehen sein, wenn er von Schülerseite her kommt. Wenn er von Elternseite her<br />
kommt, kann der verbale Angriff übers Telefon her kommen oder an einem Elterngespräch<br />
oder –abend oder allgemein auf dem Schulareal. Durchaus kann sich ein<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 13 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
verbaler Angriff von Elternseite her auch irgendwo in der Öffentlichkeit geäussert<br />
werden, wie beispielsweise auf der Strasse, ereignen.<br />
2.1.1 Wahrnehmung von "verbalen <strong>Angriffe</strong>n"<br />
Menschen nehmen Situationen und demzufolge <strong>Angriffe</strong> unterschiedlich wahr. Die<br />
Bewertung des verbalen Angriffs ist für jede Person wieder anders und wird individuell<br />
aufgenommen. Für die eine Lehrperson ist eine Aussage ein Angriff, für eine andere<br />
nicht. Gefühle und Intuition spielen eine wichtige Rolle. Die einen nehmen<br />
Spannungen, die später zu verbalen <strong>Angriffe</strong>n führen, erst sehr spät wahr, während<br />
andere diese schon früh durch nicht begründbare Intuitionen wittern.<br />
Jung (1986) beschreibt zwei unterschiedliche Vorgehensweisen der Konfliktwahrnehmung,<br />
auch Schulz von Thun (1981) hat ein Kommunikationsmodell aufgeschrieben,<br />
wie Aussagen gesendet werden und wie diese empfangen werden können. Je<br />
nach Empfänger kann diese Aufnahme völlig unterschiedlich sein. Schultz von Thun<br />
spricht vom "Vier-Schnäbel und Vier-Ohren-Modell".<br />
2.1.2 Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun<br />
Abbildung 1: Kommunikationsquadrat von Schultz von Thun<br />
Das Kommunikationsquadrat, auch "Vier-Schnäbel und Vier-Ohren-Modell" genannt,<br />
ist das bekannteste und inzwischen auch weit verbreitete Modell von Friedemann<br />
Schulz von Thun.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 14 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
Für diese Arbeit ist es relevant, weil eine Aussage eines Schülers oder einer Schülerin<br />
auf vierfache Weise wirksam ist. Jede der Äusserungen enthält, ob die Schülerin<br />
oder der Schüler will oder nicht, vier Botschaften gleichzeitig:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
eine Sachinformation (worüber ich informiere) - blau<br />
eine Selbstkundgabe (was ich von mir zu erkennen gebe) - grün,<br />
einen Beziehungshinweis (was ich von dir halte und wie ich zu dir stehe) - gelb,<br />
einen Appell (was ich bei dir erreichen möchte) - rot.<br />
Schulz von Thun (1981) hat daher die vier Seiten einer Äusserung als Quadrat dargestellt<br />
und dementsprechend dem Sender "vier Schnäbel" und dem Empfänger "vier<br />
Ohren" zugeordnet. Psychologisch gesehen, sind also in einem Gespräch zwischen<br />
Schüler oder Schülerin, Eltern und Lehrperson auf beiden Seiten vier Schnäbel und<br />
vier Ohren daran beteiligt, die die Qualität des Gesprächs je nach Zusammenspiel<br />
beeinflussen.<br />
Die Sachebene eines Gesprächs ist von grosser Bedeutung. "Sachlichkeit ist die<br />
Tugend von Menschen, die miteinander zu arbeiten haben, unabhängig davon, ob<br />
sie sich mögen und "miteinander können" (Schulz von Thun, Ruppel und Stratmann,<br />
2000, S. 33). Die sach- und menschengerechten Lösungen stehen und fallen nicht<br />
selten mit der Qualität des Diskurses auf dieser Ebene. Für den Sender gilt es also<br />
den Sachverhalt klar und verständlich zu vermitteln. Der Empfänger, der das Sachohr<br />
aufgesperrt hat, hört auf die Daten, Fakten und Sachverhalte und hat entsprechend<br />
der drei genannten Kriterien viele Möglichkeiten einzuhaken. Für die Lehrperson<br />
eine zweifache Herausforderung: Für einen sachliche Auseinandersetzung, beispielsweise<br />
an einem Übertrittsgespräch zwischen Lehrperson und Eltern, inhaltlich<br />
(Was) und dialogisch (Wie) gut vorbereitet zu sein und dazu noch eine Zusammenarbeit<br />
zu fördern, die sachorientierte Dialoge und Gruppengespräche möglich macht.<br />
Die Selbstkundgabe-Seite: Jede Äusserung enthält auch, ob ich will oder nicht, eine<br />
Selbstkundgabe, einen Hinweis darauf, was in mir vorgeht, wie mir ums Herz ist,<br />
wofür ich stehe und wie ich meine Rolle auffasse. Dies kann explizit ("Ich-Botschaft")<br />
oder <strong>im</strong>plizit geschehen. Dieser Umstand macht jede Nachricht zu einer kleinen<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 15 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong><br />
Kostprobe der Persönlichkeit, was dem Sender nicht nur in Prüfungen und in der Begegnung<br />
mit Psychologen einige Besorgnisse verursachen kann.<br />
Als Lehrperson wäre es ideal, wenn die Authentizität erkennbar, aber je nach Situation<br />
unterschiedlich ausgeprägt wäre.<br />
Die Beziehungsseite. Ob ich will oder nicht: Wenn ich jemanden anspreche, gebe<br />
ich (durch Formulierung, Tonfall, Begleitm<strong>im</strong>ik) auch zu erkennen, wie ich zu ihm<br />
stehe und was ich von ihm halte — jedenfalls bezogen auf den aktuellen Gesprächsgegenstand.<br />
Das Nicht-Sprachliche, der Tonfall in der St<strong>im</strong>me, die M<strong>im</strong>ik <strong>im</strong> Gesicht<br />
spielen hier eine viel grössere Rolle, als der sachorientierte Sender ahnt. Eine Lehrperson<br />
kann beispielsweise an einem Elterngespräch den Diskussionsinhalt besonders<br />
gut abwägen, indem sie sich vorgängig die Worte genau überlegt, wie sie es<br />
den Eltern sagen möchte. Sie wird dann aufgrund dessen mit der Wirkung des Tonfalls<br />
konfrontiert. In diesem Fall könnte es ein "Hauch" in der Formulierung haben,<br />
der "Einschnappen" der Eltern auslösen könnte. Diese Kommunikationsebene ist<br />
besonders störanfällig, wenn die Beziehung überhaupt angespannt (an Übertrittsgesprächen<br />
oder Stufenwechselgesprächen oft der Fall) oder vorbelastet ist. Als Lehrperson<br />
ist man "nolens volens" in die Beziehungsebene verstrickt und steht vor der<br />
Herausforderung, auch auf diesem Parkett zu Hause zu sein. Die soziale Kompetenz,<br />
die auf der Sachebene begann (inhaltlich-dialogische Gesprächsführung) erweitert<br />
sich hier um eine zwischenmenschliche D<strong>im</strong>ension. Auf dieser Ebene gilt<br />
"c'est le ton qui fait la musique".<br />
Appellseite: Wenn jemand das Wort ergreift und es an jemanden richtet, will er in<br />
der Regel auch etwas bewirken, Einfluss nehmen; den Anderen nicht nur erreichen<br />
sondern auch etwas bei ihm erreichen. Es geht um Wünsche, Appelle, Ratschläge,<br />
Handlungsanweisungen, die offen oder verdeckt daher kommen können.<br />
Das Appell-Ohr ist folglich besonders empfangsbereit für die Frage: Was soll ich jetzt<br />
machen, denken oder fühlen? Als Lehrperson sollte dieses Ohr besonders gut ausgebildet<br />
sein. (vgl. Schulz von Thun et al., 2000)<br />
Dieses Modell zeigt, dass ein verbaler Angriff subjektiv empfunden wird.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 16 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2.2 <strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2.2.1 Definition eines Konflikts<br />
Konflikte sind <strong>im</strong> menschlichen Zusammenleben etwas völlig Normales, Alltägliches<br />
und Unvermeidliches. Ein Leben ohne jegliche Spannungsfelder wäre undenkbar,<br />
denn letztlich bedeuten Konflikte auch <strong>im</strong>mer Entwicklung.<br />
"Geboren werden heisst in Konflikte geraten." sagt ein Sprichwort von Marc Oraison.<br />
Es gibt zahlreiche Bemühungen, Typen von Konflikten zu unterscheiden, die für die<br />
Theoriebildung oder für die praktische Konfliktbehandlung nützlich sein sollten.<br />
Es ist schwierig die bestehenden Typologien von Konflikten zu vergleichen und in<br />
eine umfassende Systematik einzuordnen, weil die Autoren von unterschiedlichen<br />
wissenschaftlichen Disziplinen ausgehen. Ökonomen wie Boulding, Politologen wie<br />
Deutsch und Soziologien wie S<strong>im</strong>mel, Psychologen wie Lewin und Psychiater, z.B.<br />
Richter, aber auch Spieltheoretiker wie Schelling oder Rapoport haben ganz wesentliche<br />
Beiträge zur Systematisierung geliefert. Die Systematisierungen gehen von<br />
sehr unterschiedlichen Erkenntnisvoraussetzungen aus, mangels einer von allen als<br />
umfassend anerkannten Wissenschaftstheorie. Hinzu kommt, dass die Blickwinkel<br />
von praktischer Anwendung und Theoriebildung ebenfalls sehr verschieden sind.<br />
Noch unterschiedlicher sind die Gesichtspunkte zur Typenbildung selbst, nach denen<br />
die Autoren ein und denselben Konflikt analysieren, deuten und beeinflussen wollen.<br />
Denn es gibt noch lange keine umfassende Theorie über die gesellschaftlichen D<strong>im</strong>ensionen<br />
und Strukturen, über zwischenmenschliche Verhältnisse und über den<br />
Mensch und seine Natur gibt, die allgemein anerkannt ist. Ein Vergleich bestehender<br />
Typologien wird noch durch den Umstand erschwert, dass verschiedene Autoren<br />
mehrere Kriterien gleichzeitig anwenden, welche sich mit denen anderer Autoren in<br />
vielen Punkten überschneiden. Das Problem, das schlussendlich bestehen bleibt ist,<br />
dass eine Typologie vielleicht den theoretischen Ansprüchen genügen könnte, jedoch<br />
wegen ihres Abstraktionsniveaus für den praxisorientierten Fachmann allenfalls<br />
keine Anknüpfungspunkte mehr liefert. Für meine Arbeit ist die praxisorientierte Seite<br />
sehr wichtig, weil ich die Erzählungen der Lehrpersonen analysieren will.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 17 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Einige der häufigsten Typologien sollen in groben Zügen dargestellt werden. Dazu<br />
werden sie in einem sehr groben Rahmen eingeordnet. Drei Hauptgesichtspunkte<br />
zum Ausgangspunkt der Typenbildung (Glasl, 2002, S. 47):<br />
1. Konflikte lassen sich nach unterschiedlichen Streitgegenständen typologisieren<br />
oder<br />
2. nach unterschiedlichen Erscheinungsformen der Auseinandersetzung typologisieren<br />
und<br />
3. können nach Merkmalen der Konfliktparteien, ihrer Position und wechselseitigen<br />
Beziehung geordnet und klassifiziert werden.<br />
Kreyenberg beschreibt das Handeln in der Institution selber, aus welchem sich zu<br />
unterscheidende Konfliktarten herauskristallisieren. Diese haben nur indirekt zu tun<br />
mit den Hauptgesichtspunkten von Glasl, welche oben beschrieben wurden. Kreyenberg<br />
hat ihren eigenen Ansatz.<br />
Handeln in der Institution Schule heisst:<br />
a) Ziele zu setzen oder zu vereinbaren<br />
(zwei oder mehr Parteien verfolgen unterschiedliche<br />
Ziele)<br />
b) sie auf best<strong>im</strong>mtem Wege zu erreichen<br />
(z.B. unterschiedliche Methoden, weil sie<br />
die Effektivität und Auswirkung dieser<br />
Vorgehensweisen unterschiedlich einschätzen)<br />
c) mit den erforderlichen Ressourcen<br />
(Parteien können sich nicht über die Verteilung<br />
von persönlichen, finanziellen<br />
oder technischen Ressourcen einigen)<br />
Daraus resultierende Konfliktarten:<br />
Zielkonflikte<br />
Bewertungskonflikte<br />
Verteilungskonflikte<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 18 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
d) von und mit unterschiedlichen Menschen,<br />
die nicht <strong>im</strong>mer mit sich selbst <strong>im</strong><br />
reinen sind und die (wenn Menschen in<br />
sich verschiedene Entscheidungs- oder<br />
Verhaltenstendenzen verspüren oder<br />
wenn sie durch ihr persönliches Verhalten<br />
zum Konfliktauslöser werden)<br />
e) miteinander in Kontakt treten, dabei<br />
eine Beziehung aufbauen (oft auch Bedürfniskonflikte<br />
oder Kommunikationskonflikte<br />
genannt, wenn es in der Beziehung<br />
zu unterschwelligen oder offenen Störungen<br />
kommt) und<br />
f) die best<strong>im</strong>mte Funktionen bzw. Rollen<br />
innehaben.<br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Persönliche Konflikte<br />
Beziehungskonflikte<br />
Rollenkonflikte<br />
Tabelle 2: Konfliktarten nach Kreyenberg (2005, 25f)<br />
Beziehungskonflikte kommen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> wahrscheinlich häufiger vor, darum werden<br />
dessen mögliche Ursachen, wie es dazu kommen kann kurz dargestellt (Kreyenberg,<br />
2005, S. 42):<br />
Verletzung von Grundbedürfnissen nach Akzeptanz und Wertschätzung<br />
Kommunikationskonflikte, z.B. Killerphrasen (Kreyenberg (2005, S. 18) definiert<br />
Killerphrasen folgendermassen: "Killerphrasen sind in der Regel verallgemeinernde<br />
Aussagen, oft auch abwertende Du-Botschaften an das Gegenüber.")<br />
Symptomverschiebungen: Verlagerung des Konflikts von der Sach- auf die<br />
Beziehungsebene<br />
Unklare Verantwortungsbereiche<br />
Zu geringe oder zu hohe Kommunikationsdichte<br />
Gegensätzliche Persönlichkeiten<br />
Übertragung früherer Beziehungen auf die aktuelle<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 19 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Symbiotische Abhängigkeit oder die Loslösung daraus<br />
passive Verhaltensweisen (Nichtstun, Überanpassung, Agitation, Gewalt)<br />
Gekreuzte oder verdeckte Transaktionen<br />
"Konflikte sind Spannungssituationen, in der voneinander abhängige Menschen versuchen,<br />
unvereinbarte Ziele zu erreichen oder gegensätzliche Handlungspläne zu<br />
verwirklichen." (Kreyenberg, 2005, S. 25)<br />
Wir sprechen von einem Konflikt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind (Glasl,<br />
2002):<br />
Zwei oder mehrere Parteien (Individuen, Gruppen, Organisationen)<br />
Subjektiv erlebte Unvereinbarkeiten <strong>im</strong> Denken / Vorstellen / Wahrnehmen<br />
und/oder Fühlen und/oder Wollen<br />
Beeinträchtigung der Handlung durch die andere Partei.<br />
Weitere Konfliktdefinitionen sind <strong>im</strong> Anhang zu finden.<br />
Für das Verständnis von Konfliktarten in dieser Arbeit sind aus diesen Definitionen<br />
u.a. folgende Aspekte wichtig:<br />
Menschen sind voneinander abhängig, das heisst die Lehrperson ist auf die<br />
Eltern angewiesen und umgekehrt. Es braucht den Schüler / die Schülerin respektiv<br />
die Tochter / den Sohn dafür, dass Eltern und Lehrperson überhaupt in<br />
Kontakt kommen.<br />
Wir befinden uns <strong>im</strong> Berufsfeld Schule. Die Rollen der Parteien sind somit<br />
vorbest<strong>im</strong>mt.<br />
Es besteht eine länger andauernde Diskrepanz <strong>im</strong> Vorfeld des verbalen Angriffs.<br />
Es kommt nicht direkt zu solch einer verletzenden Aussage gegenüber<br />
der Lehrperson.<br />
Durch die Interviewfrage nach "Situationen die die Lehrperson verletzt oder<br />
angegriffen haben", kommen bei den Lehrpersonen negative Gefühle hoch.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 20 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2.2.2 Unabdingbare Bestandteile eines Konflikts<br />
Es gibt gewisse Bestandteile, die zwingend enthalten sein müssen, wenn ein Konflikt<br />
vorliegt.<br />
Nach Kreyenberg (2005, S. 24f) ist folgendes festzuhalten:<br />
1. Es sind mindestens zwei unterschiedliche Konfliktparteien beteiligt. Diese<br />
Konstellation kann sich innerhalb einer oder zwischen mehreren Personen abspielen.<br />
2. Es besteht eine Abhängigkeit in Form eines gemeinsamen Themas, Ziels, Anliegens<br />
oder Kontextes. Zum Beispiel arbeiten Menschen in der gleichen Abteilung und<br />
sind dort aufeinander angewiesen. Durch Kündigung wäre der Konflikt aufgehoben.<br />
3. Es sind Gefühle <strong>im</strong> Spiel. Die beteiligten Menschen fühlen sich unwohl. Das kann<br />
von einer leichten Anspannung über Ärger, Angst oder ähnlichen starken Gefühlen<br />
bis hin zu körperlichen Symptomen und Krankheit gehen.<br />
4. Es besteht ein Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld kann in verschiedenen<br />
Bereichen liegen. So kann es sein, dass...<br />
beteiligte unterschiedliche Ziele oder Handlungsabsichten haben. Zum Beispiel<br />
empfiehlt die Lehrperson individuelle Lernziele für den Schüler, wobei die<br />
Eltern möchten, dass er die obligatorischen Lernziele der Realschule befolgt,<br />
auch wenn seine Leistungen dabei sehr schlecht sind.<br />
eine unterschiedliche Einschätzung oder Wahrnehmung der Situation vorliegt.<br />
Beispielsweise will die Lehrperson die Schülerin / den Schüler nicht weiter in<br />
der Sekundarschule behalten, weil sein Niveau in den Prüfungen zu tief ist<br />
und die Eltern wollen den Schüler unbedingt in der Sekundarschule lassen,<br />
weil er nachher ins Gymnasium soll und sie finden, dass ihr Sohn schlau genug<br />
ist für die Sekundarschule.<br />
knappe oder vermeintlich knappe Ressourcen vorhanden sind.<br />
die Funktion oder Rollen der Menschen in diesem Geschehen entweder unklar,<br />
zu vielfältig oder zu begrenzt sind. Beispielweise wenn ein Vater selber<br />
auch Lehrer ist, aber <strong>im</strong> Elterngespräch seine Rolle des Vaters wäre.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 21 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
die Beziehung gestört ist und die beteiligten Menschen sich unterschiedlich<br />
erleben oder sich buchstäblich "nicht riechen" können. Ein Konflikt kann in der<br />
Beziehung zwischen Menschen ziemlich unterschiedlich geartet sein. Oft liegt<br />
auch eine Verschiebung vor und ein nicht gelöster Sachkonflikt wird als Beziehungskonflikt<br />
ausgetragen oder umgekehrt. Zum Beispiel wenn eine Mutter<br />
schon selbst bei der Lehrperson ihres Sohnes zur Schule gegangen ist und<br />
dort ein negatives Erlebnis hatte, dann könnte es sein, dass sie diesen Beziehungskonflikt<br />
unterdrückt und dann den Konflikt (scheinbar) um die übermässigen<br />
Hausaufgaben ihres Sohnes steuert.<br />
dass persönliche Konflikte vorliegen. Menschen verspüren in sich Konflikte,<br />
sei es durch anstehende Entscheidungen, unterdrückte bzw. verdrängte Wünsche<br />
oder widersprüchliche Anforderungen. Ausserdem wird durch die eigene<br />
Art, sich in der Welt zu befinden, durch Einstellungen oder Verhaltenstendenzen<br />
das soziale Konfliktgeschehen beeinflusst. Zum Beispiel könnte ein Vater<br />
den unerfüllten Wunsch gehabt haben, selber Sekundarlehrer zu werden. Er<br />
fiel danach durch die Prüfungen und der Wunsch blieb unerfüllt. Dieser persönliche<br />
Konflikt könnte dann gegenüber der unschuldigen Lehrperson ausgetragen<br />
werden.<br />
2.2.3 Durch welche Anzeichen kündigt sich ein Konflikt an<br />
Für Führungskräfte, somit auch für Lehrpersonen, ist es wichtig, Konfliktsymptome<br />
schon früh wahrzunehmen. Als Lehrperson wäre es ideal, wenn man schon "das<br />
Knistern <strong>im</strong> Gebälk" hört, bevor der Dachstuhl in Flammen steht. "Eine aktive Steuerung<br />
heisst auch, die Augen offen zu halten und die Symptome zu erkennen, die<br />
eventuell zu einem Konflikt führen könnten [...] Wenn ein latenter Konflikt manifest<br />
geworden ist, gewinnen <strong>im</strong> Nachhinein viele scheinbar unbedeutende Symptome, die<br />
man zunächst eher wie Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten wahrgenommen hat,<br />
ungeahnte Bedeutung, bekommen Gewicht und fügen sich wie bei einem Puzzle zusammen."<br />
(Kreyenberg, 2005, S. 13f). Oft wird den Menschen erst <strong>im</strong> Nachhinein<br />
bewusst, dass sich ein Konflikt angebahnt hat.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 22 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Ich unterscheide verbale <strong>Angriffe</strong>, die plötzlich eintreten von solchen, die aus einem<br />
laufenden Konflikt ausbrechen. Lehrpersonen erzählen möglicherweise Ereignisse,<br />
die innerhalb eines grösseren, längeren Konfliktes stattgefunden haben, die sie aber<br />
tief verletzt oder angegriffen haben.<br />
Die Symptome einer Konfliktanbahnung können ganz verschieden sein, aber sie finden<br />
auf verschiedenen Ebenen statt: verbal – nonverbal, offen – verdeckt, aktiv –<br />
passiv, bewusst – unbewusst.<br />
<strong>Verbale</strong> oder nonverbale Anzeichen für einen Konflikt:<br />
Es sind nicht nur Drohungen, Besch<strong>im</strong>pfungen, offene Widerstände oder zusammengefasst<br />
gesagt verbale Anzeichen, Kennzeichen für einen Konflikt. Oft sind es<br />
die nonverbalen Gesten, die einen Konflikt deutlich machen. "Der Ton macht die Musik"<br />
sagt der Volksmund. Dies erkennt man anhand der Begleitung der Sprache, insbesondere<br />
Gestik, M<strong>im</strong>ik, Ausdruck, Haltung und die Verhaltensweisen des faktischen<br />
Tuns liefern oft mehr Informationen als der reine Inhalt einer Kommunikation.<br />
So kann man bei Schülerinnen und Schülern beispielsweise die Gesichter, die Gestik<br />
und die Körperhaltung beobachten und daraus schon einiges erkennen.<br />
Offene oder verdeckte Anzeichen für einen Konflikt:<br />
Viele Konflikte sind nicht offensichtlich, sie dokumentieren sich <strong>im</strong> Vorfeld unterschwellig<br />
durch ungute Gefühle, eine gewisse Unruhe und Unzufriedenheit oder das<br />
unspezifische Gefühl "Hier st<strong>im</strong>mt etwas nicht". Offener Widerstand oder Widerspruch<br />
ist für viele Menschen einfacher zu erkennen, als verdeckte Anzeichen, welche<br />
nicht klar angesprochen werden.<br />
Aktive oder passive Anzeichen für einen Konflikt:<br />
Das Verhalten der Menschen in Konflikten ist vorzüglich passiv. Sie schweigen,<br />
beschwichtigen, werden müde oder krank oder ziehen sich zurück. Aktive Anzeichen<br />
für einen Konflikt wären ein Angriff, ein offener Streit oder ein Vorwurf.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 23 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Bewusste oder unbewusste Anzeichen für einen Konflikt:<br />
Die Frage die man sich stellen muss ist: Welche der Konfliktparteien ist sich welcher<br />
Symptome bewusst? Oft wird in Konfliktsituationen "hinter dem Rücken geredet". Die<br />
Schülerinnen und Schüler reden hinter dem Rücken der Lehrperson, aber diese bekommt<br />
nichts mit und ist sich deshalb auch des Konflikts nicht bewusst. Bewusstheit<br />
über Konflikte und das best<strong>im</strong>mten Handlungen innewohnende Konfliktpotential ist<br />
oft eine Frage der Erfahrung, der Aufmerksamkeit und des Trainings in der Beobachtung,<br />
sowie eine Interessensfrage. Nützlich ist es, den eigenen Bewusstheitsraum<br />
und die Sensibilität zu erweitern schreibt Kreyenberg (2005).<br />
Lehrpersonen haben reichlich Eindrücke den ganzen Tag von unterschiedlichen Personen.<br />
Es ereignen sich viele Situationen auf der Beziehungsebene (mit Schülerinnen<br />
und Schüler, Lehrpersonen aus dem Team, Schulleiter, Hauswart, Eltern etc.).<br />
Es gibt möglicherweise Anzeichen für einen Konflikt, die die Lehrperson nicht wahrn<strong>im</strong>mt,<br />
weil sie es sich nicht bewusst ist oder sich nicht explizit darauf achtet. Oft<br />
können so auch Dinge hineininterpretiert werden, die gar nicht da sind. Jung (1978)<br />
beschreibt zwei verschiedene Vorgehensweisen zur Konflikterkennung. Diese werden<br />
<strong>im</strong> folgenden Kapitel aufgezeigt.<br />
2.2.4 Vorgehensweisen der Erkennung von Konflikten nach Jung (1978)<br />
Jung (1978) unterscheidet zwei psychische Funktionen, die Wahrnehmung und Beurteilung,<br />
die Menschen unterschiedlich ausfüllen können. Je nach Ausprägung lassen<br />
sich verschiedene Konfliktstile unterscheiden. Es gibt zwei unterschiedliche oft beobachtete<br />
Vorgehensweisen, die für das Erkennen von Konflikten wichtig sind:<br />
1. Die digitale Vorgehensweise: Bei dieser Vorgehensweise steht die wissenschaftliche<br />
objektive Analyse durch Einsatz von Diagnoseinstrumenten, Checklisten, Fragebögen<br />
etc. <strong>im</strong> Vordergrund. Diese Menschen können gut strukturieren und analysieren,<br />
sehen jedoch manchmal "vor lauter Bäume den Wald nicht mehr". Sie haben<br />
also die Tendenz, übergreifende Sichtweisen, wie Sinn, Prioritäten und Visionen zu<br />
vernachlässigen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 24 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2. Die analoge Vorgehensweise: Hier steht eine gefühlsmässige, intuitive und ganzheitliche<br />
Erfassung von Konflikten <strong>im</strong> Vordergrund. Goleman (1995, 2002 nach Kreyenberg,<br />
2005) beschreibt Fähigkeiten der emotionalen Intelligenz. Hier sind hauptsächlich<br />
emotionale Wahrnehmungsfähigkeiten gefordert wie:<br />
1. Selbstwahrnehmung, wobei die eigenen Emotionen zu erkennen und eigene<br />
Gefühle und Fähigkeiten realistisch einzuschätzen sind, aber auch Selbstvertrauen<br />
und Selbstwertgefühl gehören in diese Sparte.<br />
2. Soziale Wahrnehmung: Begriffe wie Empathie, Einfühlungsvermögen, aber<br />
auch Verbundenheit, das Denken in sozialen Netzwerken sowie die Fähigkeit,<br />
die Wirkung eigener Verhaltensweisen abschätzen zu können gehört zu diesem<br />
Begriff. Menschen, die in diese Richtung tendieren, haben das Ganze <strong>im</strong><br />
Blick und ein "gutes Feeling" für die Dinge, wie Kreyenberg (2005) schreibt.<br />
Sie können jedoch oft ihre Meinung, ihr "Bauchgefühl" nicht mit Fakten, Tatsachen<br />
und konkreten Wahrnehmungen begründen. Im Kapitel Konfliktdiagnose<br />
schreibt Kreyenberg, dass in westlichen Kulturen die rationale, objektive Zugangsweise<br />
bevorzugt wird. Der intuitive, gefühlsmässige Zugangskanal wird<br />
leider oft eher vernachlässigt, abgewertet oder ausgeblendet. Dies ist bedeutsam,<br />
weil für die Früherkennung von Konflikten genau dieser Kanal ausschlaggebend<br />
wäre, da wissenschaftlich belegbare, objektive Kriterien meistens<br />
erst dann nachweisbar sind, wenn der Konflikt schon weit fortgeschritten<br />
ist.<br />
Ideal für eine Lehrperson wäre eine Kombination zwischen intuitiver und rationaler<br />
Zugangsweise. Je nachdem, wozu man neigt, sollte man auf Empfehlung von Kreyenberg,<br />
den vernachlässigten Teil zu stärken versuchen. Das heisst, die Beobachtung<br />
schulen, wenn man intuitiver an die Dinge herangeht. Wenn man hingegen<br />
mehr digital analysiert, empfiehlt es sich, die Intuition zu stärken.<br />
Checkliste der häufigsten Konfliktsymptome:<br />
Aus den vier Symptomd<strong>im</strong>ensionen lassen sich Kombinationen bilden. Kreyenberg<br />
(2005) fasst die häufigsten Konfliktsymptome in einer Checkliste zusammen. Dabei<br />
werden die Kategorien "Offen – Verdeckt" und "Aktiv - Passiv" zusammengenommen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 25 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Verbal<br />
offen und aktiv<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff<br />
Andere Meinung äussern<br />
Kritik<br />
Beleidigungen, Besch<strong>im</strong>pfungen<br />
Vorwürfe<br />
Killerphrasen<br />
"Herunterputzen" einer<br />
Person<br />
Streiten<br />
(Genereller) Widerspruch<br />
"Ich will aber..."<br />
Gegenargumentation<br />
Differenzen lautstark<br />
aufbauschen<br />
Starres Festhalten an<br />
Gewohnheiten und Standpunkten<br />
verdeckt und passiv<br />
Ablenken<br />
Sarkasmus, Ironie, Galgenhumor<br />
Nebenkriegsschauplätze aufmachen<br />
Vom Thema ablenken<br />
Zeitdruck vorschieben<br />
Von "man" und "wir" sprechen,<br />
statt persönlich Stellung<br />
zu beziehen<br />
Verunsicherungstaktik<br />
Herabsetzende Bemerkungen<br />
Subtile Anspielungen<br />
Leugnen<br />
"Ja, aber..." (defensiv)<br />
Anzüglichkeiten<br />
Genereller Zuspruch<br />
Sprüche klopfen<br />
Bagatellisieren<br />
Blödeln, ins Lächerliche ziehen<br />
"Verpfeifen" und Denunzieren<br />
Distanzierte Höflichkeit<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 26 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
nonverbal<br />
Aufregung, Unruhe<br />
Demonstrativ ignorieren,<br />
nicht beachten<br />
Beziehungsabbruch<br />
Ausschluss von Personen<br />
Drohgebärden<br />
Abschätzige, abwertende<br />
Gestik und M<strong>im</strong>ik<br />
Abweisende Haltung<br />
Tätlicher Angriff<br />
Inkongruenz <strong>im</strong> Verhalten<br />
oder zwischen Reden und<br />
Tun<br />
Immer das Gegenteil tun<br />
Gewalt<br />
Sabotage<br />
Auflaufen lassen<br />
Trotzreaktionen, Querschiessen<br />
Streik<br />
Rückzug, Lustlosigkeit<br />
Unwohlsein<br />
Humorlosigkeit<br />
Schweigen<br />
Sturer Formalismus<br />
Nur das Notwendigste tun<br />
Desinteresse<br />
Humorlosigkeit<br />
Verbesserungsvorschläge<br />
einstellen<br />
Zu spät kommen<br />
Nur noch schriftliche Kommunikation<br />
Überformale Regelungen<br />
(Innere) Kündigung<br />
Hohe Fehlzeiten, Krankheit<br />
Hohe Reklamationsquoten<br />
Überstunden / Aktionismus<br />
Gereiztheit<br />
Vorweggenommener Gehorsam<br />
Depression, Niedergeschlagenheit<br />
Tabelle 3: Die häufigsten Konfliktsymptome nach Kreyenberg (2005, S. 16)<br />
Die Checkliste kann genutzt werden für die Analyse eines sich anbahnenden Konflikts<br />
oder auch <strong>im</strong> Nachhinein, um das Zustandekommen eines Konfliktes nachzuvollziehen<br />
und zu verstehen.<br />
In dieser Arbeit interessieren mich verbale, offene, aktive <strong>Angriffe</strong>.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 27 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2.2.5 Konfliktparteien<br />
Da alle interviewten Personen betroffene Lehrpersonen sind, findet der Fall <strong>im</strong>mer<br />
innerhalb eines schulischen Kontextes statt. Schon in der Konfliktdefinition nach<br />
Kreyenberg ist deutlich geworden, dass Konflikte nur auftreten können, wenn voneinander<br />
abhängige Menschen einen Gegensatz, eine Spannung oder einen Unterschied<br />
zwischen einander haben. Eltern sowie Schülerinnen und Schüler sind abhängig<br />
von der Lehrperson, weil die Sekundarschule zur obligatorischen Schulzeit<br />
der Volksschule gehört. Die Lehrperson kann ihren Beruf nur mit den Schülerinnen<br />
und Schülern ausüben und ist auf die Mitarbeit der Eltern angewiesen, da diese für<br />
die Erziehung der Jugendlichen ausserhalb der Schulzeit zuständig sind. Ziel ist es,<br />
zusammenzuarbeiten. Bei Menschen, die sonst überhaupt nichts miteinander zu tun<br />
haben und somit völlig voneinander unabhängig sind, können sich aus dem Wege<br />
gehen, wenn Differenzen auftreten. Dies ist <strong>im</strong> schulischen Kontext nicht der Fall.<br />
Lehrperson, Eltern und SchülerIn sind abhängig voneinander.<br />
Nach Kreyenberg (2005) gibt es prinzipiell zwei Kriterien, nach denen man die Beziehung<br />
zwischen den Konfliktpartnern unterscheiden kann:<br />
Einerseits ist dies der Grad und die Art der Abhängigkeit, wobei man fragt ob hierarchische<br />
Abhängigkeitsverhältnisse (vertikale Abhängigkeit) oder ob eine enge Vernetzung<br />
zwischen Gleichgestellten vorhanden sind, z.B. wenn die Mutter selbst auch<br />
Lehrperson derselben Schule ist (horizontale Abhängigkeit).<br />
Andererseits unterscheidet man ob es eine formelle oder informelle Beziehung ist:<br />
Unter formellen Beziehungen sind Beziehungen gemeint, die durch Organigramme,<br />
Vorschriften oder Ablaufprozeduren geregelt sind. Informelle Beziehungen sind Beziehungen,<br />
die ausserhalb der offiziellen Regelung laufen. Sie können Prozesse<br />
entweder fördern oder behindern und insofern eher Konfliktursache oder auch genauso<br />
gut Konfliktlösung sein. Grundsätzlich ist in schulischen Fällen die Beziehung<br />
formell, das heisst es ist klar best<strong>im</strong>mt, wer die Lehrperson ist und was sie für eine<br />
Funktion hat. Genauso ist dies für den Elternteil und die Schülerinnen und Schüler<br />
festgehalten. Die Rollen und Funktionen sind somit eindeutig. Es kann aber durchaus<br />
vorkommen, dass sich die Lehrperson und der Elternteil schon auf privater Basis<br />
kennen, da die Lehrperson <strong>im</strong> Umkreis vom Schulhaus lebt. Genauso gut kann es<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 28 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
sein, dass die Lehrperson den Schüler oder die Schülerin beispielsweise schon aus<br />
dem Sportverein kennt. Formelle und informelle Beziehung wären hier gemischt, wobei<br />
die Lehrperson einen guten Weg finden muss, wie sie auch auf formeller Basis<br />
ein Gespräch führen kann mit jemandem, zu dem sie sonst eine informelle Beziehung<br />
hat.<br />
In der untenstehenden Tabelle werden Glasls Hauptfragen den Stichworten von<br />
Kreyenberg gegenübergestellt (<strong>im</strong> Anhang findet man bei Unklarheit die genaue Beschreibung<br />
der Begriffe):<br />
Glasl (2002) Kreyenberg (2005)<br />
Wer sind eigentlich die Parteien? Abgrenzungsgrad<br />
Sind die Parteien scharf voneinander abgegrenzt?<br />
Sind die Parteien organisiert oder formlos?<br />
Formalisierungsgrad<br />
Welche sind die Kernpersonen der Konfliktparteien?<br />
Kernpersonen<br />
Welche Beziehung haben die Repräsentanten<br />
zu ihrer eigenen Hintermann-<br />
Kernpersonen, Macht<br />
schaft?<br />
Welche innere Kohäsion weisen die Parteien<br />
auf?<br />
Innere Kohäsion<br />
Wie gross ist tatsächlich die Arena des Anzahl der Beteiligten<br />
Konfliktes?<br />
Tabelle 4: Differenzierung von Konflikten aufgrund unterschiedlicher Fragen zu den<br />
beteiligten Parteien (Glasl vs. Kreyenberg)<br />
In der Tabelle ist ersichtlich, dass Glasl den Abgrenzungsgrad von Kreyenberg mit<br />
zwei Fragen präzisiert. Er fragt dabei nach der Schärfe der Abgrenzung der Parteien<br />
voneinander und wer die Parteien eigentlich sind. Den zweiten Punkt setzt Kreyenberg<br />
möglicherweise schon voraus. Insgesamt st<strong>im</strong>men Kreyenberg und Glasl ziemlich<br />
überein bei der Unterscheidung der Beschreibung der Konfliktparteien.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 29 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
2.2.6 Schwellen der Eskalation eines Konflikts<br />
Nach Glasl (1998) "eskaliert" ein Konflikt. Von ihm stammt das wohl bekannteste Eskalationsmodell,<br />
das die wachsende Zuspitzung von Konflikten zwischen Individuen<br />
und Gruppierungen sehr treffend beschreibt. Das heisst, ein Konflikt entsteht stufenweise.<br />
Es gibt neun Stufen, welche in der Abbildung 2 Seite 30 dargestellt sind. Ein<br />
Konflikt entsteht oben und wandert <strong>im</strong>mer weiter nach unten. Diesen Weg nennt man<br />
"Eskalationsdynamik".<br />
Mit Bedacht stellt Glasl die Eskalation in seinem neunstufigen Modell nicht als einen<br />
Anstieg zu <strong>im</strong>mer höheren Eskalationsstufen dar, sondern als einen Abstieg zu <strong>im</strong>mer<br />
tieferen, pr<strong>im</strong>itiveren und unmenschlicheren Formen der Auseinandersetzung.<br />
Mit der Abwärtsbewegung will er "zum Ausdruck bringen, dass der Weg der Eskalation<br />
mit einer zwingenden Kraft in Regionen führt, die grosse, 'unmenschliche Energien'<br />
aufrufen, die sich jedoch auf die Dauer der menschlichen Steuerung und Beherrschung<br />
entziehen. Denn einerseits bewegen sich die Konfliktparteien auf einem<br />
abschüssigen Gelände, das steiler wird und weniger Halt bietet, andererseits wecken<br />
sie durch ihr Verhalten Energie, die zu einer Verstärkung und Beschleunigung des<br />
Geschehens führt. Durch den gleichsam entstandenen 'Geschwindigkeits- und Bewegungsrausch'<br />
schwindet die Fähigkeit zur Steuerung." (Glasl, 2002, S. 233)<br />
I<br />
» win - win «<br />
II<br />
» win - lose «<br />
III<br />
» lose - lose «<br />
Abbildung 2: Eskalationsdynamik von Konflikten nach Glasl, 1998<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 30 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff und Konflikt – eine Abgrenzung<br />
Die Eskalationstheorie besagt, dass eine Vielzahl von Faktoren und Mechanismen<br />
wirkt, die den Konflikt weiter intensivieren, wenn nicht bewusst diesen Mechanismen<br />
entgegengetreten wird. Konflikte könnten hier in diese Eskalationsstufen eingeordnet<br />
werden, was jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. "Durch Kenntnis der<br />
Eskalationsdynamik und der einzelnen Stufen und Schwellen kann die verhängnisvolle<br />
Tendenz erkannt werden." (Glasl, 2002, S. 283) Daraus ist abzuleiten, dass<br />
Konflikte rechtzeitig <strong>im</strong> kleinstmöglichen Rahmen bearbeitet werden müssen.<br />
2.2.7 Abgrenzung zum verbalen Angriff<br />
Aus diesem Kapitel kann man folgern, dass "verbale <strong>Angriffe</strong>" Bestandteile eines<br />
Konflikts sein können. In den neun Fällen von Erzählungen/Berichten der Lehrpersonen<br />
dieser Arbeit gibt es verbale <strong>Angriffe</strong>, die in neuen Beziehungen entweder als<br />
isoliertes Ereignis oder als Ausbruch eines schon länger schwellenden Konflikts auftauchen.<br />
Der verbale Angriff steht <strong>im</strong> Geschehen nicht ganz isoliert da, sondern ist<br />
<strong>im</strong>mer eingebettet in eine Vorgeschichte die mit Ereignissen <strong>im</strong> Vorfeld und situativen<br />
Bedingungen, die wie ein "Knistern <strong>im</strong> Gebälk" den Konflikt anbahnen. Ein solcher<br />
Verlauf wo zwischen spezifischen Figuren, Aktionen, Kulissen und Requisiten<br />
Spannung aufgebaut wird und dann quasi in Form eines verbalen Angriffs explodiert,<br />
nennt man, wie in den letzten Kapitel ersichtlich wurde, "Konflikt". Folglich ist ein verbaler<br />
Angriff oft eingebettet in ein Konfliktgeschehen. Glasl (2002) nennt dies "Eskalation"<br />
(siehe 2.2.6 Schwellen der Eskalation eines Konflikts).<br />
Da verbale <strong>Angriffe</strong> in der Schule vom Empfänger her als solche definiert werden<br />
(vgl. Schultz von Thun) und aus Sicht der Lehrpersonen "verletzende" oder "kränkende"<br />
Aussagen von Eltern oder Schüler / Schülerinnen, sind, fragte ich mich auch:<br />
Was ist eigentlich eine Kränkung? Im nächsten Abschnitt wende ich mich diesem<br />
Thema zu.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 31 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Kränkungen<br />
2.3 Kränkungen<br />
Der Begriff Kränkung fokussiert die Empfängerseite. Eine Kränkung beschreibt das<br />
Gefühl von "Verletzt-Sein" und Scham in der Öffentlichkeit. Beschämungen wie<br />
Blossstellung finden in der Regel in der Öffentlichkeit statt. Verhängnisvoll werden<br />
sie aus dem Grund, weil jeder Mensch zum Schutz seines Selbstwertgefühls bemüht<br />
ist, nach aussen eine Fassade aufzubauen, um Fehler und Schwächen zu verbergen,<br />
die ihn angreifbar machen.<br />
2.3.1 Definition nach Wardetzki<br />
Wardetzki definiert Kränkungen als mögliche Reaktionen auf Ereignisse, durch die<br />
wir uns seelisch verletzt fühlen. Diese Ereignisse sind nach ihr in der Regel Kritik,<br />
Zurückweisungen, Ablehnung, Ausschluss oder "Ignoriert-Werden", die wir als Entwertung<br />
unserer Person, unserer Handlungen oder unserer Bedeutung für einen anderen<br />
Menschen erleben. Auf Kränkungen, so schreibt Wardetzki weiter, reagieren<br />
wir mit Gefühlen von Ohnmacht, Enttäuschung und Trotz, sowie Wut und Verachtung<br />
gegen den Kränkenden. Dahinter sind Gefühle von Schmerz, Angst und Scham verborgen,<br />
die oft weder gespürt noch ausgedrückt werden. Stattdessen wendet sich die<br />
Kränkung meist in Form von Gewalt gegen den "Täter". Die Wut und Verachtung sind<br />
gleichsam Schutzreaktionen vor dem Schmerz der Verletzung. Ihr Ziel ist es, die<br />
schmerzliche Gekränktheit zu beenden und zu neutralisieren.<br />
Kränkungen sind ein Alltagsphänomen. Ohne zu wollen, passiert es schnell, dass<br />
man vom Gegenüber beschuldigt wird, ihn verletzt zu haben. Auch umgekehrt sind<br />
wir nicht selten jene, die sich gekränkt zurückziehen und mit Wut und Ärger auf das<br />
reagieren, was wir vom anderen erfahren haben. Wir sind nicht nur Kränkende, sondern<br />
auch Gekränkte, sei es als Privatperson in Beziehungen oder als Lehrperson.<br />
"Kränkungen berühren <strong>im</strong>mer das Selbstwertgefühl. [...] Kränkbar ist jeder Mensch,<br />
wenn auch in unterschiedlichem Ausmass." (Wardetzki, 2000, S. 17).<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 32 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Kränkungen<br />
Auf der einen Seite werden wir durch Kränkungen in unserem Selbstwertgefühl geschwächt,<br />
da wir uns nicht respektiert, wertgeschätzt, angenommen und verstanden<br />
fühlen. Dann reagieren wir mit Selbstzweifel, der bis zur Verunsicherung unseres<br />
Identitätsgefühls reichen kann. Auf der anderen Seite ist die Kränkbarkeit abhängig<br />
von der Stabilität des Selbstwertgefühls.<br />
2.3.1.1 Der wunde Punkt<br />
Die Frage ist nun, wie es dazu kommt, dass best<strong>im</strong>mte Ereignisse zu Kränkungen<br />
führen. Wardetzki (2000) vermutet, dass Kritik, Ablehnung oder Zurückweisung dann<br />
eine Kränkungsreaktion auslösen, wenn sie einen "wunden Punkt" be<strong>im</strong> Gekränkten<br />
treffen. Ein wunder Punkt ist nach Wardetzki eine nicht ganz verheilte Wunde, die bei<br />
entsprechendem Anlass aufbricht. Dieser wird durch frühere verletzende Erfahrungen<br />
oder Entbehrungen gebildet, die das Selbstwertgefühl angegriffen haben. Sie<br />
bleiben als sogenannte "offene Gestalten" unabgeschlossen bestehen und bilden<br />
den wunden Punkt, an dem durch Kritik, Zurückweisung, Verlassen- oder Ignoriertwerden<br />
die alten, unverarbeiteten Verletzungen aktiviert werden und Kränkungsreaktionen<br />
auslösen.<br />
Selbstverletzungen<br />
Bilden „offene Gestalt“<br />
„Wunder Punkt“<br />
wird verletzt<br />
nicht <strong>im</strong> Bewusstsein<br />
wahrnehmbar, spürbar<br />
Kränkung<br />
Zurückweisung, Kritik,<br />
Ablehnung, Grenze<br />
Abbildung 3: Kränkungsdynamik nach Wardetzki (2000)<br />
Im folgenden Kapitel wird beschrieben, wie der verbale Angriff mit der Kränkung <strong>im</strong><br />
Zusammenhang steht.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 33 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff als Kränkung<br />
2.4 <strong>Verbale</strong>r Angriff als Kränkung<br />
<strong>Verbale</strong> Attacken sind Kränkungen und wenn sie auf Lehrpersonen gerichtet sind,<br />
ein Paradebeispiel dafür. Fast alle Probleme, die zwischen Menschen entstehen sind<br />
auf Kränkungen zurückzuführen. Lehrpersonen werden oft konfrontiert mit ungerechtfertigter<br />
Kritik, beleidigenden Bemerkungen, abschätzigen Blicken, Lügen und<br />
nicht zuletzt mit verbalen Attacken. Schneller als man denkt, wird der wunde Punkt<br />
einer Lehrperson getroffen.<br />
"Manche Pfeile, die andere Menschen auf uns abschiessen, schmerzen und hinterlassen<br />
oft sogar tiefe Wunden. Kränkungen sind seelische Verletzungen, die unser<br />
Ehrgefühl und Selbstbewusstsein treffen. (...) ." (Döring, 2007, S. 26). Es ist eine<br />
ganze Bandbreite von Kränkungen, die von unbewussten bis zu bewussten <strong>Angriffe</strong>n,<br />
von Beleidigungen, Zurückweisungen, Ignoranz, Blamage, Blossstellung bis hin<br />
zu verbalen Attacken reichen. Ein anderer Mensch kann mit Worten, Gesten, Verhalten<br />
oder Gerüchten gekränkt werden. Abwertende Kritik, beleidigende Worte, häufiger<br />
Tadel, die darauf aus sind, einen anderen Menschen schlecht zu machen, ihn zu<br />
entwürdigen, sein Selbstvertrauen zu zerstören oder ihm Schuldgefühle beizubringen,<br />
können zu einer Kränkung führen.<br />
Man unterscheidet neben mehr oder weniger unbeabsichtigten Kränkungen die vorsätzlichen.<br />
Das Spektrum reicht hier von direkten Kränkungen wie dem Übersehen<br />
oder Übergehen, Blossstellung, Zurückweisung, Beleidigung bis zu den indirekten<br />
wie dem Mobbing und der üblen Nachrede. (vgl. Döring, 2007, S. 26-29)<br />
2.5 Das subjektive Element <strong>im</strong> verbalen Angriff<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> sind nicht objektiv definierbar, denn schon in Schultz von Thuns 4-<br />
Ohren-Modell ersichtlich, ist es individuell wie der Empfänger eine Nachricht empfängt.<br />
Für die einen Lehrpersonen kann eine Aussage, die für andere Lehrpersonen<br />
ein verbaler Angriff ist, kein Grund dafür sein sich verletzt oder angegriffen zu fühlen.<br />
Tücke (2003) beschreibt das subjektive Erleben als die vielleicht wichtigste Komponente<br />
der Emotionen. Die individuelle Interpretation der jeweiligen Situation spielt<br />
dabei eine wichtige Rolle, weil subjektiv erlebte Gefühle sind situationsspezifisch und<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 34 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Das subjektive Element <strong>im</strong> verbalen Angriff<br />
variieren von Person zu Person. Unterschiedliche Reize rufen bei unterschiedlichen<br />
Personen unterschiedliche Reaktionen hervor.<br />
Abbildung 4: <strong>Verbale</strong>r Angriff und Verletzung (Kränkung)<br />
In dem von mir selbst entworfenen Modell ist zu erkennen, wie eine Äusserung eines<br />
Schülers / Schülerin oder eines Elternteils empfunden werden kann. Die Äusserung<br />
wird gesendet (Senderseite), und je nach Erwartungen und Zielvorstellungen an<br />
schulische Beziehungen vom Empfänger (Lehrperson) als verbalen Angriff dekodiert<br />
oder nicht (siehe Kapitel 2.1.2 Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun und<br />
2.5 Das subjektive Element <strong>im</strong> verbalen Angriff). Je nach dem was <strong>im</strong> Kopf der Lehrperson<br />
abläuft, ob sie die Äusserung als verbalen Angriff empfindet oder nicht, fühlt<br />
sie sich gekränkt oder nicht.<br />
Wie auch <strong>im</strong> Kapitel 2.5 schon angedeutet, gibt es auch ein subjektives Element,<br />
beziehungsweise interindividuelle Unterschiede bei der Wahrnehmung eines Konflikts.<br />
Jung (1978) beschreibt zwei Vorgehensweisen bei der Erkennung von Konflikten;<br />
einerseits die digitale und andererseits die analoge Vorgehensweise. Nach Jung<br />
soll man intuitive und rationale Zugangsweisen kombinieren. Je nach individueller<br />
Neigung sollte man mehr die Intuition stärken, wenn man sonst mehr digital analy-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 35 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Gefühle (Emotionen)<br />
siert und andersrum sollte man die Beobachtung schulen, wenn man mehr intuitiv an<br />
die Dinge heran geht.<br />
Aus diesem Kapitel geht hervor, dass verbale <strong>Angriffe</strong> in einen schon länger schwelenden<br />
Konflikt eingebettet sind. Dieser verbale Angriff wurde durch den schon länger<br />
schwelenden Konflikt oder dem vorgängigen "Knistern <strong>im</strong> Gebälk" provoziert und<br />
ausgelöst. Das subjektive Element ist nun entscheidend, ob ein Konflikt daraus gedeutet<br />
wird oder nicht. Dementsprechend kommt es je nach Wirkung der Gefühle der<br />
Lehrperson, je nach Empfangsart der Nachricht und je nach Wahrnehmung des vorgängigen<br />
"Knistern <strong>im</strong> Gebälk" zu einer Konflikteskalation oder nicht.<br />
Daraus ist abzuleiten, dass nun die Art und Weise der Antworten auf unsere Interviewfrage<br />
beschrieben werden muss, wenn die Lehrpersonen erzählen bzw. berichten<br />
warum und wie sie sich angegriffen oder verletzt fühlten. Es ist bei den Lehrpersonen<br />
allenfalls nicht klar zu deuten, ob sie uns die Ereignisse erzählen oder berichten.<br />
Dazu ist es für diese Arbeit relevant zwischen einer Erzählung und einem Bericht<br />
zu unterscheiden.<br />
Ebenfalls wird <strong>im</strong> Kapitel 2.7.1 die "Critical Incidence Technique" erläutert, welche<br />
uns hilft die Subjektivität der "kritischen Ereignisse" festzuhalten. In diesem Kapitel<br />
wird auch erklärt, was damit gemeint ist und welche Brücke zu den verbalen <strong>Angriffe</strong>n<br />
besteht.<br />
2.6 Gefühle (Emotionen)<br />
"Wir können von nichts in der Welt etwas eigentlich erkennen, als uns selbst, und die<br />
Veränderungen, die in uns vorgehen. Eben so können wir unmöglich für andere fühlen,<br />
wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns."<br />
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)<br />
Gefühle, oder in der Fachsprache Emotionen genannt, sind manchmal intensiv,<br />
überwältigend, ein anderes Mal unangenehm oder beschleichend. Gefühle sind subjektiv.<br />
Manche Gefühle sind bei unserer Lebensbewältigung subjektiv sehr hinderlich<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 36 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Gefühle (Emotionen)<br />
(z.B. der Schmerz, wenn die Hauskatze von einem Auto überfahren wurde, oder die<br />
Wut über einen Computerabsturz, nachdem man eine wichtige Arbeit geschrieben<br />
hat ohne eine Sicherheitskopie anzulegen), andere sind ein Quell steter Freude und<br />
gestalten unser Leben abwechslungsreich.<br />
Gefühle sind ein fester Bestandteil unseres Lebens und somit unserer Persönlichkeit.<br />
Somit haben sie einen grossen Einfluss auf verschiedene Aspekte des Lebens, wie<br />
auf unser Lernen, unser Gedächtnis und unser Sozialverhalten. Sie sind mitverantwortlich<br />
für alle Entscheidungen, die wir <strong>im</strong> Leben treffen.<br />
Rohracher (1946, zitiert nach Tücke, 2003, S. 298f) schrieb in "Einführung in die<br />
Psychologie":<br />
"Der Reichtum an Arten und die unübersehbare individuelle Variation der Gefühle<br />
sind die Ursachen dafür, dass die Psychologie des Gefühlslebens noch ganz in ihren<br />
Anfängen steckt." Einige Absätze später charakterisiert Rohracher Gefühle wie folgt:<br />
Gefühle sind Zustände. Sie sind nicht einzelne, vom übrigen gleichzeitigen Erleben<br />
abgesonderte Vorgänge ...; sie sind auch nicht an das Vorhandensein<br />
eines äusseren Einflusses gebunden. ... Sie breiten sich durch das ganze bewusste<br />
Geschehen aus.<br />
Gefühle treten ohne Mitwirkung des Bewusstseins auf. Sie kommen ungewollt<br />
ohne jedes bewusste Zutun.<br />
Gefühle sind seelische Reaktionen auf äussere oder innere Ereignisse. Ihr Anlass<br />
ist meistens bewusst.<br />
Die meisten Gefühle werden als angenehm oder unangenehm erlebt.<br />
Emotionen (Gefühle) sind also zusammengefasst gesagt relativ unkontrollierbare<br />
psychische Zustände, die von physiologischen Veränderungen begleitet, meist als<br />
angenehm oder unangenehm erlebt werden und oft unser Verhalten beeinflussen.<br />
Lehrpersonen müssen mit durchmischten Emotionen auskommen. Sie müssen täglich<br />
Situationen meistern, bei denen ihre Gefühlswelt reagiert. Aktionen von Schülerinnen<br />
und Schüler, Eltern an Elterngesprächen, Gespräche mit Berufskollegen und<br />
noch vieles mehr bewegen die Lehrperson in ihrem <strong>Schulalltag</strong>. <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> lö-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 37 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Gefühle (Emotionen)<br />
sen unterschiedliche Emotionen aus. Mehr dazu wird <strong>im</strong> Kapitel 2.5 Das subjektive<br />
Element in verbalen <strong>Angriffe</strong>n und 2.4 <strong>Verbale</strong>r Angriff als Kränkung erläutert.<br />
Welche Gefühle können wir wie klassifizieren? Die Beantwortung dieser Frage ist<br />
kulturabhängig. Es werden nun zwei Klassifikationsmöglichkeiten beschrieben, die<br />
für unsere Kultur zutreffend sein könnten.<br />
2.6.1 Ansatz nach Plutchik (1980) und nach Traxel (1963)<br />
Die Arbeitsgruppe um Robert Plutchik ist besonders in den USA verbreitet (Plutchik<br />
& Kellerman, 1980, aus Tücke, 2003). Plutchik geht davon aus, dass verschiedene<br />
grundlegende Emotionen praktisch beliebig miteinander kombiniert werden können.<br />
Das Resultat ist das gesamte differenzierte Spektrum "sekundärer Emotionen". Plutchik<br />
ordnet die Emotionen in einer "Emotionspalette" an, welche an das Mischen der<br />
Grundfarben erinnert aus denen man das gesamte Farbenspektrum erstellen kann.<br />
So ergeben beispielsweise Freude und Akzeptanz die abgeleitete Emotion "Liebe",<br />
die Kombination von Ärger und Abscheu ergibt "Verachtung". Die "Emotionsanteile"<br />
können (wie die Farben) in einer sekundären Emotion zu unterschiedlichen Teilen<br />
enthalten sein; das resultiert dann wiederum in subjektiv unterschiedlichen Gefühlen.<br />
Ein anderer Ausgangspunkt zur Klassifikation der Emotionen stammt von Traxel<br />
(1963, aus Tücke, 2003). Traxel liess verschiedene Gefühlsbegriffe nach ihrer Ähnlichkeit<br />
bzw. Unähnlichkeit einschätzen. Als Ergebnis zeigte sich eine kreisförmige<br />
Anordnung der Emotionen. In weiteren Untersuchungen wurden die Konnotationen<br />
von Gefühlsbegriffen mit Hilfe von "Polaritätsprofilen" weit er aufbereitet und statistisch<br />
analysiert.<br />
Bei diesen beiden Ansätzen muss "zwischen den Zeilen gelesen" werden, um die<br />
Emotionen nach diesen Schemata einzuteilen. Weil ich mich in dieser Arbeit auf Rosenbergs<br />
Ansatz konzentriere, der sich auf den wörtlichen Ausdruck der Gefühle begrenzt,<br />
werden die Modelle von Traxel und Plutchik hier nicht weiter ausgefühlt. Mehr<br />
zu diesen beiden Emotionstheorien sind <strong>im</strong> Anhang zu finden.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 38 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Gefühle (Emotionen)<br />
2.6.2 Ansatz von Rosenberg (2005)<br />
Rosenberg (2005) baut in seiner gewaltfreien Kommunikation (GFK) auf einem anderen<br />
Fundament auf. Er beschreibt Gefühle als Schlüssel zur Menschlichkeit. Die andere<br />
Person kann unsere Worte eher mit einfühlsamem Verständnis hören, wenn<br />
dieser menschliche Kontakt hergestellt ist. Gefühle machen es leichter, hinter den<br />
Konflikten die Menschen zu sehen.<br />
Nach ihm unterscheiden sich Gefühle von "Nicht"-Gefühlen. Mit "Nicht"-Gefühlen bezeichnet<br />
er beispielsweise die Gedanken. Die GFK unterscheidet den tatsächlichen,<br />
wörtlichen Ausdruck von Gefühlen von Aussagen, Gedanken, Einschätzungen und<br />
Interpretationen.<br />
2.6.2.1 Entfremdung von unseren Gefühlen<br />
Wir werden dazu trainiert, aussenorientiert zu denken und sind uns gar nicht gewohnt,<br />
über unsere Gefühle zu sprechen, geschweige denn sie überhaupt wahrzunehmen.<br />
So haben wir auch gelegentlich gar keine Sprache, um Gefühle auszudrücken.<br />
Das Wort "fühlen" sprechen wir oft aus, ohne von Gefühlen zu reden. Vielmehr<br />
sind es unsere Gedanken oder die eigene Meinung, die man dann ausdrückt. „Ich<br />
habe das Gefühl, dass …― als Aussage drückt eigentlich kein Gefühl aus, sondern<br />
eine Meinung. Der Satz kann ersetzt werden durch den Satz: „Ich denke, dass …―.<br />
In unserer rationalen Welt sind wir eher gewohnt, zu sagen, was wir denken, als zu<br />
merken wie wir uns fühlen. "... ich habe oft Leute sagen hören, dass sie sich nicht<br />
vorstellen können, an ihrem Arbeitsplatz jemals Gefühle zu zeigen." (Rosenberg,<br />
2005, S. 59)<br />
Doch Gefühle lassen uns unsere Lebendigkeit spüren. Und sie haben eine wichtige<br />
Funktion als Signal. Sie signalisieren uns, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder<br />
nicht. Je früher Sie ein Gefühl spüren, das Ihnen anzeigt, ein Bedürfnis kommt gerade<br />
zu kurz, desto eher können Sie auch handeln und z.B. ein Problem ansprechen.<br />
Dann braucht man nicht zu warten, bis die Situation eskaliert, bis man explodiert<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 39 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Gefühle (Emotionen)<br />
oder <strong>im</strong>plodiert. Das kann in Konflikten viel Nerven, Zeit und Arbeit sparen. Aus diesem<br />
Grund ist es nach Rosenberg wichtig, Gefühle von Gedanken zu unterscheiden.<br />
Die Schwierigkeiten, Gefühle auszudrücken, kommen auch daher, dass wir – wenn<br />
wir es tun – unsere Verletzlichkeit preisgeben. Gerade in Konflikten ist es aber umso<br />
wichtiger, sich als Mensch in seiner ganzen Verletzlichkeit zu zeigen, denn dann öffnen<br />
sich auch die Konfliktpartner und zeigen auch etwas von sich selbst. Und das ist<br />
die Voraussetzung für die Kooperation.<br />
Wie wir uns wahrscheinlich fühlen werden, wenn sich unsere Bedürfnisse nicht erfüllen<br />
ängstlich<br />
ärgerlich<br />
alarmiert<br />
angeekelt<br />
angespannt<br />
voller Angst<br />
ärgerlich<br />
apathisch<br />
aufgeregt<br />
ausgelaugt<br />
bedrückt<br />
beklommen<br />
besorgt<br />
bestürzt<br />
betroffen<br />
bitter<br />
depr<strong>im</strong>iert<br />
dumpf<br />
durcheinander<br />
einsam<br />
elend<br />
empört<br />
erschüttert<br />
erstarrt<br />
frustriert<br />
furchtsam<br />
gehemmt<br />
geladen<br />
gelähmt<br />
gelangweilt<br />
genervt<br />
hasserfüllt<br />
hilflos<br />
in Panik<br />
irritiert<br />
kalt<br />
kribbelig<br />
lasch<br />
leblos<br />
lethargisch<br />
lustlos<br />
miserabel<br />
müde<br />
mutlos<br />
schüchtern<br />
schockiert<br />
schwer<br />
sorgenvoll<br />
streitlustig<br />
teilnahmslos<br />
todtraurig<br />
tot<br />
überwältigt<br />
voller Sorgen<br />
unglücklich<br />
unter Druck<br />
unbehaglich<br />
ungeduldig<br />
unruhig<br />
unwohl<br />
unzufrieden<br />
verärgert<br />
verbittert<br />
verletzt<br />
verspannt<br />
verstört<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 40 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
enttäuscht<br />
entrüstet<br />
ermüdet<br />
ernüchtert<br />
erschlagen<br />
erschöpft<br />
erschreckt<br />
erschrocken<br />
nervös<br />
niedergeschlagen<br />
perplex<br />
ruhelos<br />
traurig<br />
sauer<br />
scheu<br />
schlapp<br />
verzweifelt<br />
verwirrt<br />
widerwillig<br />
wütend<br />
zappelig<br />
zitternd<br />
zögerlich<br />
zornig<br />
Tabelle 5: Gefühlsäusserungen nach Rosenberg (2005, S. 64)<br />
Der Wortschatz ist entscheidend, um uns mitzuteilen über die Gefühle. So können<br />
wir leichter miteinander in Kontakt treten und bei einer Konfliktlösung ist es hilfreich,<br />
wenn wir auch unsere Verletzlichkeit eingestehen.<br />
2.7 Erzählung und Bericht<br />
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf verbalen <strong>Angriffe</strong>n, welche Lehrpersonen in<br />
der Schule erleben. Der Begriff "erleben" weist schon darauf hin, dass ein subjektives<br />
Moment mitspielt bei der Frage, ob eine Lehrperson eine verbale Äusserung eines<br />
Schülers oder eines Elternteils als Angriff erlebt oder nicht. Dieser Gesichtspunkt des<br />
subjektiven Elements habe ich <strong>im</strong> vorherigen Kapitel über "Das subjektive Element<br />
<strong>im</strong> verbalen Angriff" auch theoretisch untermauert.<br />
Weil das subjektive Moment eine derart grosse Rolle spielt bei der Frage, ob das<br />
Gehörte als "verbaler Angriff" interpretiert wird oder nicht, liegt es nahe, diesen Gegenstand<br />
mit einer qualitativen Forschungsmethode zu erkunden, die das subjektiv<br />
Erlebte be<strong>im</strong> verbalen Angriff möglichst präzis erfassen kann.<br />
Die Methode der kritischen Ereignisse (critical incident) erwies sich dafür als geeignet.<br />
Dabei geht es um das Erzählen von Episoden in welchen der verbale Angriff sich<br />
ereignete oder um das Berichten eines Konflikts bis zum verbalen Angriff und danach.<br />
Die Lehrpersonen erzählen beziehungsweise berichten, was sie angegriffen oder<br />
verletzt hat. Ich vermute, dass sie eine Mischform verwenden. Je nach Lehrperson<br />
reagieren manche in Berichtform und "informieren" uns vielleicht über das Ereignis<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 41 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
und andere lassen das Emotionale mitspielen, indem sie eine dramatische Story erzählen.<br />
Eine Erzählung ist etwas Spontanes und enthält das persönlich Betroffene,<br />
die Emotionen. Die Situationen, von welchen die Lehrpersonen erzählen bzw. berichten<br />
in der die verbalen <strong>Angriffe</strong> stattfinden, sind "kritische Situationen". Im folgenden<br />
Teil wird erklärt, was damit gemeint ist und welche Verbindung zu den verbalen <strong>Angriffe</strong>n<br />
besteht. Aus diesem Grund wird hier beschrieben, was ein "kritisches Ereignis<br />
(critical incident)", "Erzählen", "eine Erzählung" und "ein Bericht (report)" ist.<br />
2.7.1 Critical incident<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> finden in kritischen Situationen, sogenannten "kritischen Ereignissen"<br />
innerhalb des <strong>Schulalltag</strong>s statt.<br />
Was sind "critical incidents"?<br />
Die Technik der „Kritischen Ereignisse― geht auf Flanagan (1954) zurück. Das<br />
Verfahren ist ursprünglich als Beobachtungsmethode entwickelt worden, um<br />
kritische Vorkommnisse, auch Inzidentien genannt, hinsichtlich der situativen Bedingungen<br />
und der beteiligten oder folgenden Reaktionen aufzudecken.<br />
Unter einem incident wird eine Situation verstanden, die eine zu beobachtende<br />
menschliche Aktion ist, welche ausreichend komplett in sich selbst geschlossen ist<br />
(zitiert nach Boness, 2002, S.157 und Flanagan, 1954, S. 327).<br />
In den Interviews mit den Lehrpersonen, die wir nach verletzend oder angreifend<br />
empfundenen Ereignissen befragten, wurden sie darauf hingewiesen uns eine Episode<br />
von Anfang bis zum Schluss zu erzählen. Die Fragestellung war ebenfalls<br />
dementsprechend offen gestellt. Die Erzählung soll ausreichend komplett in sich<br />
selbst geschlossen erzählt werden. Wie bei Flanagans Definition geht es um eine<br />
menschliche Situation, um ein kritisches Ereignis, das <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> stattgefunden<br />
hat. Die Aktion wurde von der Lehrperson beobachtet und miterlebt.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 42 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
Flanagans "Critical Incident Technique" (CIT) wird für zwei verschiedene Arten von<br />
Fällen angewandt. Einerseits (A) steht bei den konkreten Verhaltensweisen die auslösende<br />
Situation <strong>im</strong> Mittelpunkt oder andererseits (B) die Eigenschaft, Rolle oder<br />
Eignung der Person. Im ersten Falle wurde beispielsweise erforscht, welche Anforderungen<br />
Piloten zu Betriebsfehlern führen. Im zweiten Falle wird nach einer Antwort<br />
zur Frage der notwendigen besonderen Fähigkeiten für die Meisterung der kritischen<br />
Situation gesucht.<br />
Im ersten Fall (A) würden die Ergebnisse beispielsweise die Umgestaltung der situativen<br />
Gegebenheit veranlassen (z.B. eine Verbesserung der Ergonomie), <strong>im</strong> zweiten<br />
Fall (B) könnten die identifizierten kritischen Ereignisse in der Personalauswahl, in<br />
der Personalbeurteilung oder in Voruntersuchung zur Ermittlung des Trainingsbedarfs<br />
eine Rolle spielen.<br />
Fall (A): Beispiele für die Analyse eher situationaler Faktoren:<br />
Bei Untersuchungen der US-Army in der 40er Jahren wurden mit dieser Technik<br />
Situationen <strong>im</strong> Flugverhalten von Piloten aufgedeckt, die zu besonders kritischen<br />
Folgen führten. Hierdurch konnten technische Mängel in den Flugzeugen aufgedeckt<br />
werden (z.B. Fehlplazierung von Anzeigegeräten) und damit letztlich eine Vielzahl<br />
von "Pilotenfehlern" den Umgebungsbedingungen zugeschrieben werden.<br />
Fall (B): Beispiele für die Analyse von personalen Faktoren:<br />
Bei der Verwendung der Technik <strong>im</strong> Bereich der Personalauswahl sollen Situationen<br />
identifiziert werden, in denen sich das Verhalten von geeigneten und ungeeigneten<br />
Personen ausreichend scharf (also mit hoher Validität und Reliabilität) unterscheidet.<br />
Die Abbildung solcher Situationen, beispielsweise in Assessment-Centern oder<br />
situationalen Interviews dient dann zur Bewertung oder Auswahl der Bewerber. Die<br />
Auswahlkriterien entstammen so nicht mehr den vagen Ideen der<br />
Personalverantwortlichen, sondern beruhen auf konkreten und realistischen<br />
Vorkommnissen, die mit den Anforderungen der späteren Arbeitswelt identisch sind:<br />
"One of the most <strong>im</strong>portant requirements for developing a system of job analysis that<br />
will facilitate a relatively accurate identification of the <strong>im</strong>portant job elements for a<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 43 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
specific task is to establish a clear and specific set of definitions for these job elements<br />
in behavioural terms"1<br />
(Flanagan, 1954, S. 351)<br />
Aufgrund der bisherigen Informationen zur Critical Incident Technique wissen wir,<br />
dass "kritische Ereignisse" (teilweise als komplexe Fälle) auch als Kristallisationspunkte,<br />
an denen uns Kontraste bewusst werden, aufgefasst werden können. Dabei<br />
kommt der Subjektzentriertheit dieser Methode eine wichtige Rolle zu. In der praktischen<br />
Durchführung <strong>im</strong> Rahmen der Datenerhebung mittels CIT werden verschiedene<br />
Vorgehensweisen beschrieben, dazu gehörten u.a. Interview, Beobachtung,<br />
Fragebogen.<br />
Lehrpersonen sind meiner Meinung nach auch eine Art Piloten, aber nicht eines<br />
Flugzeugs sondern Piloten des Klassenz<strong>im</strong>mers. Piloten tragen die Verantwortung<br />
für die Passagiere und die Lehrperson die der Schülerinnen und Schüler.<br />
Geprägt durch Flanagans Theorie der "critical incidences" interviewten wir Lehrpersonen<br />
auf ihre personalen Faktoren hin. Sie erzählen und berichten uns von negativen<br />
"kritischen Ereignissen".<br />
2.7.2 Die Erzählung<br />
2.7.2.1 Was ist Erzählen?<br />
Aus alltäglicher Praxis weiss jeder, was Erzählen ist. Erzählen gehört zum Alltag, es<br />
ist ein vertrautes Alltagsvergnügen und eine Form der Entlastung. Erzählen – das ist<br />
eine Mitteilung von Begebenheiten als Geschichte. Geschichten sind abgeschlossene<br />
Sprachsequenzen. In Geschichten entfaltet sich Spannung. Sie berühren uns<br />
emotional, reizen zum Lachen, Weinen, Gruseln, Zürnen. Man denke an das Kind,<br />
das der Mutter erzählt, wie es von den anderen Klassenkameraden vom Spiel ausgeschlossen<br />
wurde in der Pause, an die Freundin, die der anderen anvertraut, wie<br />
1 Die obenstehenden Informationen sind nach der webpage,<br />
http://www.pflegewissenschaft.org/cit_methode.pdf besucht am 5. September 2007 um 19.35Uhr.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 44 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
enttäuschend eine bedeutsame Begegnung verlaufen ist. Erzählen verschafft uns die<br />
Chance, auf dem Wege der sprachlichen Wiederholung einen Schrecken zu mildern<br />
oder etwas Beglückendes in der Phantasie wiedererleben zu dürfen. Erzählende<br />
Kommunikation durchzieht unser Alltagsleben. Wir vermitteln einander erzählend<br />
Persönliches. Erzählend vertrauen wir uns an. Ebenso fordern wir das Gegenüber<br />
erzählend auf, unsere Freuden und Leiden zu teilen. In Geschichten entsteht eine<br />
Episode und interaktive Dynamik. Sie kommen zu einem Schlusspunkt, einem<br />
Schlusseffekt, einer Pointe. (Boothe & von Wyl (Hrsg.),1999)<br />
Nach Boothe (2002) ist Erzählen narrative Rede, die in privaten informellen Gesprächen<br />
in vielen Varianten vorkommt, wie in Witzen, Klatsch und Tratsch, Erlebnisse<br />
mitteilen usw. Sie definiert Erzählen als eine emotional engagierte sprachliche Gestaltung<br />
eines episodischen Ablaufs als Story mit einem Anfang, einer Mitte und einem<br />
Ende (Start, Entwicklung und Ergebnis).<br />
2.7.2.2 Was ist eine Erzählung?<br />
Wie bereits oben angedeutet ist laut Boothe eine Erzählung ein episodischer Bewegungs-,<br />
Geschehens- und Handlungs-Ablauf mit Start, Entwicklung und Ergebnis.<br />
Der Erzähler macht dem Zuhörer klar, dass er eine Geschichte bzw. eine Story mitteilen<br />
will und kündigt diese mit einem Einleitungssatz (Startdynamik) an. Somit wird<br />
ein Erzählraum eröffnet, als Versetzung in ein Dort und Damals mit Raum-Zeit-<br />
Markierung. Auch werden in der Erzählung Figuren, Requisiten, Kulissen und Aktionen<br />
plaziert. Durch diese Startdynamik fragt sich der Zuhörer: „Wie geht es los? Wie<br />
geht es weiter? Wie geht es aus?― Die Erzählung erzeugt also somit Spannung. Zusammengehalten<br />
wird die Erzählung folglich durch die Erwartungen, die sie anfangs<br />
weckt und die als roter Faden durch die Geschichte gehen.<br />
Der Erzähler veranlasst seine Story möglichst effektvoll zu präsentieren. Es geht<br />
darum, Interesse für die eigene Darbietung zu gewinnen. "Diese Leistung der Erzählung<br />
können wir als Modellierung <strong>im</strong> Dienste der Konturierung sozialer Identität bezeichnen.<br />
Soziale Wünschbarkeit fordert ein bestätigendes Echo vom bedeutsamen<br />
sozialen Gegenüber für die eigene Story. Es existieren stereotype Erzählmuster wie<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 45 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
zum Beispiel Schauer-, Wunder-, Erfolgs-, Opfer-, Rechtfertigungsstories [...] Der<br />
Erzähler versucht, sein Publikum durch seine spezifische Dramaturgie zu gewinnen,<br />
zum Beispiel durch die Gestaltungseffekte des Lustigen, Schauerlichen, Unhe<strong>im</strong>lichen<br />
und Schlüpfrigen. Die darstellende Person präsentiert etwas, das auf eine partizipierende<br />
Hörergemeinschaft gerichtet ist und deren Anerkennung finden soll."<br />
(Boothe et al.,1999, S. 35f)<br />
Boothe gibt fünf Muster der Selbstpräsentation zur Auswertung vor:<br />
1. Selbstpräsentation als Opfer<br />
2. Selbstpräsentation als Kooperator<br />
3. Selbstpräsentation als Selbstprofilierung<br />
4. Selbstpräsentation als Selbstauflösung<br />
5. Selbstpräsentation als Konfliktträger<br />
Eine Erzählung ist nach Wikipedia eine Form der Darstellung. Man versteht darunter<br />
eine Geschichte in mündlicher oder schriftlicher Form, aber auch den Akt des Erzählens,<br />
die Narrativität. […]<br />
Aufbau einer Erzählung:<br />
1. Einleitung:<br />
- nicht unbedingt nötig<br />
- kurze Vorstellung der Situation<br />
- rückblickend wird erzählt<br />
2. Hauptteil:<br />
- Handlung, Aktion<br />
- Personen, die etwas tun bzw. erleben, Dialoge führen<br />
- Handlung spitzt sich zu, erreicht ihren Höhepunkt, es passiert was<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 46 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
3. Abschluss:<br />
- der Konflikt löst sich<br />
- es kommt zu einem Ergebnis<br />
- ev. überraschender Schluss<br />
(http://de.wikipedia.org/wiki/Erzählung besucht am 3. August 2007)<br />
2.7.2.3 Wie fängt eine Erzählung an?<br />
Wie auch oben bei Wikipedia erwähnt wird zu Beginn der Erzählung ein Szenario<br />
geschaffen, mit Figuren, Requisiten, Kulissen und Aktionen. Wer eine Geschichte<br />
erzählen möchte, kündigt das an. Er oder sie sagt: "Neulich ist mir doch folgendes<br />
passiert: ..." oder "Mein schl<strong>im</strong>mstes Erlebnis in den Ferien war, da gingen wir ganz<br />
nichtsahnend ins Z<strong>im</strong>mer... " oder "Ich weiss noch, wie ich einmal..." Es wird jenes<br />
Personal und jene Welt des Geschehens und der Objekte plaziert, welche für den<br />
Verlauf des Ganzen verbindlich sein werden und diesem konsequent Spannung und<br />
Zusammenhalt verleihen, als Erwartung an Entwicklung und Abschluss. Dies wird als<br />
Dynamik der Startsituation, also Startdynamik gekennzeichnet. Die Startdynamik<br />
versetzt den Zuhörer in eine Erwartungshaltung. Die Erwartungen verpflichten den<br />
Erzähler, darauf einzugehen und das dynamische Potential zu realisieren. Erzählende<br />
stellen zu ihren Zuhörern eine Beziehung her, in der beide, sowohl Erzähler, wie<br />
auch Zuhörer, zu aktiv und emotional engagierten Beteiligten <strong>im</strong> Ausloten und Ausgestalten<br />
des dramaturgischen Potentials werden. Wenn jemand seine Erzählung<br />
abschliesst, so tut er dies ebenso in erkennbarer Weise, wie er sie auch schon angekündigt<br />
hat. Er kommt zur Pointe, zum Ergebnis. Das Publikum registriert diese Pointe<br />
oder das Ergebnis, weil es der Entwicklung des dargestellten Geschehens folgte<br />
und derart orientiert wurde, dass es eine Lösung, einen Ausgang oder ein Resultat<br />
erwartet. Es werden Bewertungen oder Résumés vorgenommen oder Abschlussformulierungen,<br />
wie "So war das" oder "So ist das gelaufen". (Boothe et al., 1999, S. 8)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 47 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
2.7.2.4 Aufgliederung einer Erzählung<br />
Oft, aber nicht <strong>im</strong>mer, sind Erzählungen wohlstrukturiert, dass man sie in ein Erzählschemata<br />
fassen kann, wie z.B.: Erzählankündigung – Orientierung – Komplikation –<br />
Lösung – Evaluation.<br />
Wenn man das Schema festlegt, ermöglicht dies die Identifikation der narrativen<br />
Formen <strong>im</strong> Sprachgebrauch und die Ermittlung narrativer Varianten. So kann man<br />
auch herausfinden ob <strong>im</strong> Alltag bevorzugte Erzählstrategien und Erzählinhalte existieren.<br />
Beliebt sind beispielsweise Geschichten, in denen die Ich-Figur zum unschuldigen<br />
Opfer wird. Bekannt sind auch die Glücks- oder Siegesgeschichten, sowie<br />
Strategien der Dramatisierung durch wörtliche Rede und emphatische Steigerung.<br />
(Boothe et al., 1999)<br />
2.7.2.5 Sprachgestalt der Erzählung<br />
Die Sprachgestalt einer Erzählung ist nicht einheitlich, sondern kann in vielen Passagen<br />
episodisch sein, das heisst, sie stellt einen Ablauf von Geschehen und Handeln<br />
dar. Die Sprache ist dramatisch und oft auch szenisch. Wenn wörtliche oder indirekte<br />
Rede auftaucht ist die Sprache szenisch. Daneben gibt es auch die kommentierende<br />
Sprache, die der Information, der Beschreibung, der Bewertung dient oder wenn sich<br />
der Erzähler direkt ans Gegenüber wendet.<br />
Szenisch: „…ich traf sie also und sie meinte ‚na du, was hast du denn so lange gemacht?’―<br />
Beschreibende Information: „Hanna ist diejenige, die ich vor zwei Wochen an diesem<br />
Kochkurs kennen gelernt hatte…―<br />
Wendung an den Zuhörer: „und was glaubst du, wen ich da getroffen habe? Die Tina…―<br />
2.7.2.6 Erzählen alle?<br />
Erzählen ist nach Boothe (et al., 1999, S. 9) "...eine gebräuchliche Form der Selbstmitteilung,<br />
aber keine, die individuell kollektiv und interkulturell gleichmässig verteilt<br />
wäre. Die persönliche Sozialisation verläuft erzählfreundlich oder erzählfeindlich. Die<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 48 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
persönlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen können dem Erzählen entgegenkommen<br />
oder nicht. Beziehungskontexte nehmen Einfluss auf das Erzählen. Beispielsweise<br />
erlaubt Statusgefälle kein oder nur einseitiges Erzählen. Im professionellen<br />
Kontakt ist Erzählen, als das Medium des Persönlichen, häufig obsolet." Aus diesem<br />
Grund des professionellen Kontaktes, könnten Lehrpersonen Studentinnen<br />
möglicherweise nicht erzählen wollen, wie ein der Arzt dem Patienten nichts erzählt.<br />
2.7.3 Der Bericht<br />
2.7.3.1 Was ist ein Bericht?<br />
Ein Bericht ist ein Text, der einen Sachverhalt oder eine Handlung objektiv schildert,<br />
ohne Wertungen des Autors zu enthalten. Im Journalismus ist der Bericht eine sehr<br />
häufig gewählte Textform mit vielfältigen Ausprägungen.<br />
Aufbau eines Berichts:<br />
Damit der journalistische Bericht seinem Ziel, über einen Sachverhalt oder ein Ereignis<br />
zu informieren, gerecht wird, müssen die so genannten "W-Fragen" beantwortet<br />
werden:<br />
· Wer? z.B. Max Mustermann<br />
· Wo? z.B. in Hamburg<br />
· Wann? z.B. um 14 Uhr<br />
· Was? z.B. ein Autounfall<br />
· Wie? z.B. durch Glatteis<br />
· Warum? z.B. durch Unaufmerksamkeit<br />
· Welche Folgen? z.B. ein gebrochenes Bein<br />
Die Zeitform des Berichts ist das Präteritum (Imperfekt).<br />
Es dürfen in Berichten keine Zeitsprünge vorgenommen werden, und es darf keine<br />
Spannung aufgebaut werden. Es muss <strong>im</strong>mer sachlich geschrieben werden und die<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 49 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
Reihenfolge muss auch eingehalten werden. Ausserdem sollte die wörtliche Rede <strong>im</strong><br />
Bericht vermieden werden. (http://de.wikipedia.org/wiki/Bericht)<br />
Berichte informieren und legen in der Regel Rechenschaft darüber ab, wer was mit<br />
welchem Ziel in welchem Zeitraum mit welchem Ergebnis gemacht hat. Typische<br />
Elemente eines Berichts sind Situationsanalyse, Chronologie der Tätigkeit, Darstellung<br />
der Ergebnisse, Dokumentation (Geschäftsbericht, Forschungsbericht, Werkstattbericht,<br />
Laborbericht). (http://www.ph-freiburg.de/deutsch/vademec/glossar.htm)<br />
Der Bericht ist eine sachbezogene, manchmal auch erlebnisbetonte Mitteilungsform,<br />
die in Zeitungskreisen auch als Meldung oder Nachricht bezeichnet wird.<br />
Die Ursprungsform des Berichts ist der Augenzeugenbericht, der seine Glaubwürdigkeit<br />
durch die persönliche Anschauung desjenigen gewinnt, der dabei gewesen ist.<br />
Der Betreffende kann zufällig Augenzeuge sein, er kann auf ein vorher angekündigtes<br />
Ereignis gewartet haben oder sich, wie bei einem Reiseberichterstatter, das Ereignis,<br />
nämlich die Reise selbst geschaffen haben. Gerade ein Reisebericht zeigt.<br />
dass auch persönliche Eindrücke wie bei einer Erlebniserzählung oder einer Schilderung,<br />
in den Bericht mit eingehen können.<br />
In seiner Grundstruktur ist der Bericht:<br />
• eine rein sachliche Mitteilung<br />
• wird <strong>im</strong> Präteritum geschrieben: Ich kam von der Schule...<br />
• und gibt Antwort auf folgende Fragen:<br />
Was? Wer? Mit wessen Hilfe? Wo? Wie lange? Warum? Auf welche Weise?<br />
Solche Angaben benötigt man <strong>im</strong> Unfallbericht, bei einer Zeugenaussage vor Gericht<br />
bei Schadensmeldungen an Versicherungen, bei einem Bericht über das Betriebspraktikum.<br />
(http://www.zum.de/Faecher/Materialien/dittrich/Berichten/Theorie_Berichten.htm )<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 50 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Erzählung und Bericht<br />
2.7.4 Unterschiede zwischen Erzählung und Bericht<br />
Erzählung<br />
Bericht<br />
Thema Erlebnis Unfall, Diebstahl etc.<br />
Handlungen<br />
Ereignisse<br />
Inhalt<br />
Gefühle<br />
keine Gefühle<br />
Gedanken<br />
keine Gedanken<br />
wörtliche Reden<br />
keine wörtlichen Reden<br />
Einleitung (knapp)<br />
vollständige Beantwortung der W-<br />
Fragen<br />
Aufbau Hinführung zu Höhepunkt<br />
ausführlicher Höhepunkt<br />
genaue Einhaltung der zeitlichen<br />
Reihenfolge<br />
Schluss (knapp)<br />
Beschränkung auf das Wesentliche<br />
Sprache<br />
lebhaft und anschaulich klar und<br />
klar und sachlich<br />
sachlich<br />
(keine Vergleiche, Ausrufe etc.)<br />
(Vergleiche, Ausrufe etc.)<br />
Absicht Unterhaltung des Lesers Information des Lesers<br />
Tabelle 6: Vergleich Erzählung – Bericht<br />
(http://www.zum.de/Faecher/Materialien/dittrich/Berichten/Theorie_Berichten.htm)<br />
Bezüglich unserer Fragestellung und Analyse gilt es zu hinterfragen, was dieser Unterschied<br />
für uns bedeutet.<br />
Im ersten Teil der Frage <strong>im</strong> Interview möchten wir Ereignisse geschildert bekommen,<br />
die die von uns befragten Lehrpersonen emotional berührt haben (angegriffen oder<br />
verletzt haben). Dadurch, dass hier diese emotionale Komponente mit einfliesst, gehört<br />
ihre Schilderung in die Spalte der Erzählung. Die Sprache wird dadurch lebhaft<br />
und anschaulich, weil die Lehrpersonen selber in diese Ereignisse eingewickelt und<br />
daran beteiligt waren. In zweiten Teil der Fragestellung machen wir die Interviewpersonen<br />
darauf aufmerksam, dass sie uns diese Ereignisse der Reihe nach, also chronologisch,<br />
vom Anfang bis zum Schluss erzählen sollen, was nun den Aspekt des<br />
Berichts mit einfliessen lässt.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 51 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Dynamik einer Erzählung und die Wünsche der erzählenden Person an schulische Begegnungen<br />
Daraus lässt sich folgern, dass wir durch unsere Fragestellung eine Erzählung in Berichtform<br />
erfragen. Die Interviewpersonen werden angeleitet, eine emotionale Situation<br />
berichtend und vor allem geordnet wiederzugeben.<br />
2.8 Die Dynamik einer Erzählung und die Wünsche der erzählenden<br />
Person an schulische Begegnungen<br />
Für die Analyse von Erzählungen hat Boothe ein Instrument, die JAKOB Erzählanalyse,<br />
entwickelt.<br />
Ich möchte nochmals in Erinnerung zu rufen, was ich beabsichtige herauszufinden in<br />
dieser Masterarbeit: Ich möchte aufzeigen, welche verbalen <strong>Angriffe</strong> (seitens der<br />
Schüler oder der Eltern) auf die Lehrperson erfolgen (unmittelbar vor, während oder<br />
unmittelbar nach dem Unterricht) und wie die Lehrpersonen solche <strong>Angriffe</strong> erleben.<br />
Mich interessiert vor allem die Art und Weise, wie die Lehrpersonen diese verbalen<br />
<strong>Angriffe</strong> erzählen. Um Erzählungen zu analysieren haben wir ein eigenes Analyseraster<br />
kreiert, der <strong>im</strong> Methodenteil genauer beschrieben ist. Ein schwergewichtiger<br />
Teil ist derjenige aus der Erzählanalyse JAKOB, welche ich deshalb genauer erläutere.<br />
Denn aus der Erzählung der interviewten Lehrpersonen wollen wir ihre Wünsche,<br />
ihre Befürchtungen, ihre Erwartungen und ihre Zielvorstellungen in Bezug auf hilfreiche<br />
und in Bezug auf konflikthafte Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> extrahieren. Dazu<br />
dient uns diese best<strong>im</strong>mte Art von Erzählanalyse, welche sich diesen verborgenen<br />
Aspekten in einer Erzählung widmet (Jakob-Analyse von Boothe). Bei dieser Erzählanalyse<br />
geht es nicht um quantifizierbare und interindividuell gültige Aspekte, sondern<br />
um die spezifischen Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen und Zielvorstellungen<br />
des Individuums, das erzählt.<br />
Die dritte Fragestellung lautet: Welche Wünsche, Befürchtungen, Hoffnungen und<br />
Zielvorstellungen haben die Lehrpersonen in Bezug auf harmonische und konfliktreiche<br />
Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>?<br />
Um diese Frage zu beantworten hilft mir die Erzählanalyse JAKOB, auf welche <strong>im</strong><br />
folgenden Kapitel eingegangen wird, weiter.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 52 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
2.9 Die Erzählanalyse JAKOB<br />
Die Erzählanalyse JAKOB ist ein systematisches Verfahren der Dokumentation, Rekonstruktion<br />
und Interpretation von Alltagsnarrativen und literarischen Erzählungen,<br />
das Ansätze strukturaler, dramaturgischer und psychodynamischer Textanalyse aufgreift<br />
und einen innovativen plotorientierten Zugang bietet. Entwickelt wurde JAKOB<br />
an der Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse der Universität<br />
Zürich entworfen von Brigitte Boothe (Lehrstuhl Prof. Brigitte Boothe), weiterentwickelt<br />
an der Universität Zürich gemeinsam mit Vera Luif, Agnes von Wyl, Bernhard<br />
Gr<strong>im</strong>mer, Marius Neukom, Urs Spiegel, Res Wepfer. Die Erzählanalyse JAKOB<br />
ist ein Instrument zur qualitativen Inhaltsanalyse.<br />
Untersucht werden kleine Texteinheiten - sogenannte Alltagserzählungen - die als in<br />
sich geschlossene Sprachsequenzen eine klar erkennbare Struktur besitzen und sich<br />
als Untersuchungseinheit besonders gut eignen.<br />
Die Datenbasis ist der schriftlich fixierte Text; nonverbale Gesprächsanteile sowie<br />
Eigenschaften der Gesprächssituation und der Interaktion werden nicht berücksichtigt.<br />
Programmatisch seien vier Schritte für eine klinische Erzählanalyse in der Behandlungsstunde<br />
genannt (diese werden in den nächsten Seiten noch beschrieben).<br />
Das Ziel der Analyse ist die Erschliessung von Bausteinen einer psychosozialen Notlage<br />
und des psychischen Anliegens. Diese kann gemeinsam mit dem Patienten<br />
formuliert und besprochen werden. Die Erzählanalyse JAKOB, kurz, ist ein psychoanalytisch<br />
orientiertes Analyseinstrument für Alltagserzählungen aus Therapiegesprächen.<br />
Die erzählanalytische Auswertung wird unterstützt durch das Computerprogramm<br />
AutoJAKOB. Dieses Programm erlaubt es, die vorbereiteten Erzählungen zu erfassen,<br />
eine partielle linguistische Morphologie- und Syntaxanalyse durchzuführen und<br />
aufbauend auf diese Schritte die lexikalische Kodierung vorzunehmen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 53 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
Die Erzählanalyse JAKOB vollzieht sich grundsätzlich in neun Bearbeitungsschritten,<br />
welche <strong>im</strong> Anhang genauer beschrieben sind. Die systematische interpretative Analyse<br />
einer Erzählung erfolgt mit den Bearbeitungsschritten 4 bis 9.<br />
2.9.1 Vier Schritte für eine klinische Erzählanalyse nach Boothe<br />
Programmatisch sind vier Schritte für eine klinische Erzählanalyse in der Behandlungsstunde<br />
vorgesehen. Das Ziel der Analyse ist die Erschliessung von Bausteinen<br />
einer psychosozialen Notlage und des psychischen Anliegens.<br />
1. Wer tut was wie?<br />
Bestandsaufnahme des Erzählanfangs.<br />
2. Wie ist die Konstellation von Figuren, Aktionen, Kulissen, Requisiten am Anfang<br />
der Erzählung, in der Erzählentwicklung, am Abschluss der Erzählung?<br />
Rekonstruktion des Ablaufs.<br />
3. Die Dynamik von Startsituation zum Ergebnis: Wie muss man sich das Opt<strong>im</strong>um<br />
der Geschichte vorstellen? Wie die Katastrophe?<br />
Hypothesen über den positiven und den negativen Erfüllungsgipfel.<br />
4. Was sind die psychische und psychosoziale Notlage und das psychische Anliegen<br />
des Erzählers?<br />
Erschliessung der Konfliktsituation <strong>im</strong> Blick auf die damit verbundene Herausforderung<br />
zur Mobilisierung von Bewältigungsressourcen. (Boothe, Gr<strong>im</strong>mer, Luder, Luif,<br />
Neukom & Spiegel, 2002)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 54 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
2.9.2 Für die Arbeit relevante Teile aus der Erzählanalyse JAKOB<br />
In dieser Masterarbeit wird nur ein Teil der JAKOB Erzählanalyse verwendet. In dem<br />
von mir und Frau Marianne Ludwig-Tauber entwickelten Analyseraster werden Teile<br />
aus dem Transkript extrahiert, welche analysiert werden. AutoJAKOB wird nicht verwendet<br />
in dieser Arbeit.<br />
Die Erzählanalyse JAKOB wird in der Therapie verwendet, sie ist ein psychoanalytisch<br />
orientiertes Analyseinstrument für Alltagserzählungen aus Therapiegesprächen.<br />
Hier ziehe ich eine klare Grenze. In dieser Arbeit geht es um die Art und Weise, wie<br />
Lehrpersonen kritische Ereignisse erzählen mit darin enthaltenem verbalen Angriff.<br />
Aus ihrer Erzählung bzw. Bericht möchte ich ihre Wünsche, ihre Befürchtungen, Erwartungen,<br />
Zielvorstellungen in Bezug auf konfliktreiche Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
herausfiltern.<br />
Es geht somit ausschliesslich um die Analyse der Erzählungen/Berichte der Lehrpersonen.<br />
Das Erzählereignis wird in unserem Analyseraster, wie bei Boothe, klar nach<br />
Ereignisanfang und –schluss identifiziert. Wir bleiben bei der Dynamik der Startsituation<br />
und leiten darauf zwei Hypothesen ab. Mit dieser Analyse können individuelle<br />
Wunschvorstellungen der Lehrpersonen, wie sich schulische Beziehungen idealerweise<br />
entwickeln (SOLL), wie auch individuelle Befürchtungen von Lehrpersonen,<br />
wie Beziehungen sich konfliktreich, spannungsgeladen oder unglücklich entwickeln<br />
(ANTI-SOLL), extrahieren. Ich werde individuelle Erwartungshorizonte von Lehrpersonen<br />
skizzieren, auf welchen sich konfliktreiche schulische Beziehungen abzeichnen.<br />
Das heisst, ich versuche die psychodynamische Voraussetzung jeweils einer<br />
Lehrpersonen zu beschrieben und wie diese sich <strong>im</strong> Konflikt dieser Lehrperson (während<br />
dem verbalen Angriff und der Reaktion darauf abzeichnet und auswirkt.<br />
Daraus zeichnet sich meine dritte Fragestellung dieser Arbeit ab: Welche Wünsche,<br />
Befürchtungen, Hoffnungen und Zielvorstellungen haben die Lehrpersonen in Bezug<br />
auf harmonische und konfliktreiche Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>?<br />
Aus ihren Erzählungen will ich bei der Beantwortung der dritten Fragestellung ihre<br />
Wünsche, ihre Befürchtungen, ihre Erwartungen und ihre Zielvorstellungen in Bezug<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 55 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
auf hilfreiche und in Bezug auf konflikthafte Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> erschöpfen.<br />
Dazu dient uns eine best<strong>im</strong>mte Art von Erzählanalyse, welche sich diesen verborgenen<br />
Aspekten in einer Erzählung widmet (Jakob-Analyse von Boothe). Bei dieser Erzählanalyse<br />
geht es weniger darum allgemeingültige Muster herauszufiltern, sondern<br />
vielmehr um das erzählende Individuum und seine spezifischen Erwartungen, Wünsche,<br />
Befürchtungen und Zielvorstellungen des Individuums, das erzählt.<br />
Es wird keine Kodierung durchgeführt, wie dies bei Boothe durch AutoJAKOB gemacht<br />
wird. In dieser Arbeit wird von den Transkriptionen aus den Interviews ausgegangen.<br />
Die Interviews werde ich mit der Erzählanalyse von Boothe (2002) analysieren.<br />
Mit dieser Analyse kann ich<br />
a) individuelle Wunschvorstellungen der Lehrpersonen, wie sich schulische<br />
Beziehungen idealerweise entwickeln, wie auch<br />
b) individuelle Befürchtungen von Lehrpersonen, wie Beziehungen sich konfliktreich,<br />
spannungsgeladen oder unglücklich entwickeln, extrahieren. Wir<br />
werden<br />
c) individuelle Erwartungshorizonte von Lehrpersonen skizzieren können, auf<br />
welchen sich konfliktreiche schulische Beziehungen abzeichnen. Das heisst,<br />
ich werde die psychodynamische Voraussetzung jeweils einer Lehrpersonen<br />
beschreiben können, und<br />
d) wie diese sich <strong>im</strong> Konflikt dieser Lehrperson (während dem verbalen Angriff<br />
und der Reaktion darauf abzeichnet und auswirkt. Wir hoffen, dass wir<br />
e) zudem am Schluss aus meinen Resultaten, die auf Individuen abzielen,<br />
auch einige allgemeine Schlussfolgerungen darüber ziehen können, wie Lehrpersonen<br />
ihre Beziehungen zu Schülern, Schülerinnen und Eltern gestalten<br />
können um Konflikte vermeiden und opt<strong>im</strong>al mit verbalen <strong>Angriffe</strong>n umgehen<br />
zu können.<br />
Die für diese Arbeit relevanten Teile, die aus der Erzählanalyse JAKOB kommen,<br />
werden in den folgenden Kapiteln beschrieben.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 56 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
2.9.3 Die Dynamik der Startsituation zum Ergebnis: Wie muss man sich<br />
das Opt<strong>im</strong>um der Geschichte vorstellen? Wie die Katastrophe?<br />
2.9.3.1 Die Startdynamik<br />
Zuerst wird <strong>im</strong> Analyseraster der Einleitungssatz aus dem Bericht/Erzählung rausgenommen,<br />
welcher in der Startdynamik analysiert wird.<br />
Die Startdynamik situiert sich ganz am Anfang, der Initialphase, einer Erzählung und<br />
versetzt den Zuhörer in eine Erwartungshaltung. Die expliziten oder <strong>im</strong>pliziten Erwartungen,<br />
die sich aus der Startdynamik ergeben haben, verpflichten den Erzähler,<br />
darauf einzugehen und das dynamische Potential zu realisieren. Er geht über zur<br />
episodischen Entwicklung und kommt schliesslich um episodischen Abschluss als<br />
finaler Handlungssequenz. Beispiel: "... Da gehe ich so in Gedanken über die Strasse,<br />
und, was glaubst du, da steht doch der Karl, und wirklich, er sieht mich, ich kann<br />
nicht mehr ausweichen..." Das ist eine denkbare episodische Entwicklung. Sie operiert<br />
genau mit den Setzungen, die wir in unseren Analysen als "Schlüsselwörter"<br />
bezeichnen: Strasse als öffentlicher Ort des Verkehrs, Begegnung, Gefahr, Überraschung.<br />
Mit Karl verbindet sich für die Ich-Figur ein Gefahrenmoment, dem konnte<br />
sie nicht ausweichen, weil sie so in Gedanken versunken war, daher ist sie jetzt der<br />
Gefahrensituation ohne Gegenwehr ausgesetzt. Der Hörer fragt sich: Was nun? Was<br />
macht die Begegnung so schrecklich? Was muss die Ich-Figur fürchten?<br />
Nach Boothe stellen wir uns die Erzählung als ein spannendes Spiel vor. Denken wir<br />
an ihre gehe<strong>im</strong>e Logik: die dynamische Konstellation, die sich in der Initialphase der<br />
Erzählung vermittelt (Startdynamik) und auf Darstellung und Abarbeitung drängt<br />
(Entwicklung und Abschluss). Dann kann man sagen: Ein Alltagserzähler etabliert für<br />
sich selbst und seine Hörerschaft eine Versetzungsregie, einen Schauplatz des Geschehens<br />
und einen Ausgangspunkt, die ihn sowie die Hörer auf eine Reihe von<br />
Startbedingungen (Erwartungshorizont, Ziel-Erfüllung, Ziel-Verfehlung) hin verpflichtet.<br />
Stellen wir uns die Erzählung als Spiel vor und formulieren folgende Aufgabe als<br />
Spielregel: Gegeben spezifische Figuren, Aktionen, Kulissen, Requisiten als spezifische<br />
Startbedingungen, die auf ein Erfüllungsziel drängen. Wie lässt sich dieses Erfüllungsziel<br />
einerseits als Opt<strong>im</strong>um und andererseits als Katastrophe hypothetisch<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 57 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
formulieren? Um auf systematische Weise zu solchen Aussagen Hypothesen zu gelangen,<br />
müssen wir kombinieren. Wir fragen: Was ist das dynamische Potential dieser<br />
Aktion oder Handlung, dieser Kulisse, dieses Requisits, etc.?<br />
Wir regulieren erzählend psychische Spannung. Wir betrachten den Erzählprozess<br />
somit als psychophysischer Verarbeitungsvorgang, das heisst es ist also für uns ein<br />
psychischer Verarbeitungsprozess. Diese Regulierung oder Verarbeitung erfolgt in<br />
zweierlei Hinsicht: in der Perspektive der Wunscherfüllung und derjenigen der Angstbewältigung.<br />
Wunscherfüllende Perspektive: SOLL<br />
Perspektive der Angstbewältigung: ANTI-SOLL<br />
Was sich ereignen und entfalten soll, ist auf der Basis der Startbedingung in eine<br />
Richtung gelenkt. Die Startbedingung eröffnet einen Spielraum. Insofern hat sie Aufforderungscharakter.<br />
Ausgehend von diesem Spielraum trifft der Erzähler <strong>im</strong> Gang<br />
der Erzählung eine Entscheidung. Er lässt, <strong>im</strong> Rahmen der gegebenen Möglichkeiten,<br />
Erzähldynamik zu erzeugen, eine unter mehreren Möglichkeiten wirksam werden.<br />
Wir ermitteln, welche das ist, und damit suchen wir das "Moment handlungsbezogener<br />
Spannung". Hier konkretisiert sich der Aufforderungscharakter als spezifische<br />
Zielorientierung. Als Spielregel der Erzählung hat die Startbedingung für die<br />
Ablaufstruktur in Kombination mit dem dynamischen Spannungsmoment zu gelten.<br />
Sie zielt auf eine Erfüllung (ein SOLL). Als Startbedingung werden ausschliesslich<br />
jene Elemente (Figuren, Aktionen, Requisiten, Kulissen) der Erzählung (aus dem Anfang<br />
der Story, bei Bedarf aus dem Gesamtverlauf) best<strong>im</strong>mt, welche den Ablauf<br />
thematisch tragen. (Boothe et al., 1999, S. 34)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 58 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
Kommen wir zur Erläuterung auf unser Beispiel zurück:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Eine Strasse ist <strong>im</strong> gegebenen Kontext eine fachmännisch konstruierte Bahn<br />
für geregelten Fahrzeugverkehr <strong>im</strong> öffentlichen Kommunikations- oder Begegnungsraum.<br />
Wer auf ihr geht, muss auf Regeln achten und aufmerksam sein,<br />
um Gefahren des Fahrzeugverkehrs zu entgehen.<br />
Wer sich auf öffentlicher Strasse bewegt, muss mit ungeplanten Begegnungen<br />
rechnen.<br />
Wer sich den Gefahren des Strassenverkehrs und ungeplanten Begegnungen<br />
<strong>im</strong> öffentlichen Raum mit reduzierter Aufmerksamkeit aussetzt, setzt sich Konfrontationen<br />
aus, die physische, psychische und soziale Beeinträchtigung bedeuten<br />
können.<br />
Schreckliches kombiniert Schreck und Negatives.<br />
So lässt sich die Ausgangslage in Bezug auf ihr dynamisches Potential genau ausformulieren.<br />
(Boothe et al., 2002)<br />
2.9.3.2 SEIN<br />
"Schliesslich konkretisiert der Erzähler selbst den Ausgang seiner Geschichte. Wenn<br />
wir das SEIN der Erzählung formulieren, stellen wir das realisierte Ergebnis der dynamischen<br />
Entwicklung dar. Um den Ergebnischarakter explizit zum Ausdruck zu<br />
bringen und den Vergleich mit SOLL und ANTI-SOLL herstellen zu können, zitieren<br />
wir den Ausgang der Geschichte nicht nur in den Worten, die der Erzähler konkret<br />
gewählt hat, sondern wir verdeutlichen explizit die Anknüpfung an die Zielorientierung<br />
und stellen die Verbindung zur Ausgangslage her." (Boothe et al., 1999, S. 35)<br />
"Karl", so mag der Erzähler uns später, um be<strong>im</strong> Beispiel von oben zu bleiben, aufklären,<br />
"ist doch der, dem ich die Gerda ausgespannt habe, und er war halt wirklich<br />
mal ein enger Freund gewesen...". So informiert uns der Erzähler über die Person<br />
des Karl und die Beziehungsstörung, die zwischen Karl und dem Erzähler besteht.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 59 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
Die Verarbeitungsfunktion realisiert sich <strong>im</strong> Handlungsablauf und in der Rollenstruktur<br />
der Erzählung. Erzählen ist eine elementare Kommunikationsform, die Aufgehobensein<br />
in der sozialen Gesellschaft herstellt und zugleich persönliche Individualität<br />
sichtbar macht und bestätigt. Das SEIN ist eine Orientierung zwischen SOLL und<br />
ANTI-SOLL.<br />
2.9.4 SOLL und ANTI-SOLL<br />
Die Startdynamik wurde bereits in psychoanalytischer Perspektive verdeutlicht, nun<br />
ergänzen wir diese dynamische Orientierung um ihren Erfüllungsgipfel und ihren Katastrophenabgrund,<br />
um die SOLL-Hypothese und die ANTI-SOLL-Hypothese.<br />
2.9.4.1 SOLL<br />
Aus der dynamischen Basis der Startbedingungen (Startdynamik) kann man nun eine<br />
Hypothese über das hypothetische Opt<strong>im</strong>um, das Erfüllungsmoment oder SOLL<br />
ableiten. Unter dem SOLL versteht man ein Ergebnisopt<strong>im</strong>um, nicht <strong>im</strong> Sinne eines<br />
Happyends sondern als strikte Konsequenz, erschlossen aus den spezifischen Startbedingungen<br />
in Verknüpfung mit dem Moment handlungsbezogener Spannung.<br />
In unserem Beispiel von oben wäre dies: Rückgewinn voller Aufmerksamkeit und<br />
Handlungsfähigkeit – Konfrontation mit dem Moment des Desintegrativen mit dem<br />
Ergebnis eines Entwicklungsprozesses – freie, spontane und gefahrlose Bewegung<br />
<strong>im</strong> öffentlichen Raum. Dies wäre das radikale Opt<strong>im</strong>um auf der SEIN-Basis und der<br />
Best-case von der Startbedingung aus (auch unerfüllte, gehe<strong>im</strong>e Wunsche).<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 60 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
2.9.4.2 ANTI-SOLL<br />
Die Startdynamik erlaubt es eine kontrastierende Hypothese zu formulieren, das<br />
heisst eine negative Konsequenz, ein hypothetisches Desaster, die sich aus dem<br />
max<strong>im</strong>alen Verfehlen der konkreten Zielorientierung der Erzählung ergibt.<br />
Auf unser Beispiel bezogen wäre dies: Totaler Verlust von Aufmerksamkeit und<br />
Handlungsfähigkeit – Erfasstsein vom Desintegrativen als Zerstörung der Existenz –<br />
Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Dies wäre das Worst-case-Szenario, die ganz<br />
negative Entwicklung.<br />
2.9.5 Wunscherfüllung und Angstbewältigung<br />
Wie schon in der Einleitung erwähnt geht es bei der Erzählanalyse nicht um quantifizierbare<br />
und interindividuell gültige Aspekte, sondern um die spezifischen Erwartungen,<br />
Wünsche, Befürchtungen und Zielvorstellungen des Individuums, das erzählt.<br />
Der Erzähler verlangt nach psychischer Restitution, das heisst der Korrektur des<br />
Gewesenen in Richtung auf das Wünschbare. "Das Erzählen dient nachträglicher<br />
wunschorientierter Erfüllung. Die Erzählung versucht Vergangenes <strong>im</strong> Sinne einer<br />
Wunscherfüllung umzumodeln. In welche Richtung geht die in der Erzählung erschliessbare<br />
Korrektur des Gewesenen in Richtung auf das Wünschbare?" (Boothe<br />
et al.,1999, S. 36)<br />
Der Erzählvorgang selbst mobilisiert, entfesselt Emotionalität als Beteiligung an einem<br />
präsentierten Geschehen. Die Motive der Wunscherfüllung und Sicherheitsgewinnung<br />
sind für Sprecher und Hörer eingebettet in eine Szenerie, die Realgeschehen<br />
nachstellt, denn die sequentielle Organisation als dramatische Szene verlangt<br />
Berücksichtigung konventioneller Darstellungstechniken und "realistischen" Materials,<br />
um vor mitvollziehenden Hörern erfolgreich zu sein (Boothe, 1994, S. 50). Wie<br />
erwähnt handelt es sich bei den Fällen der Lehrpersonen nicht nur um Erzählungen,<br />
sondern wir vermuten eine Mischform von Bericht und Erzählung. Es sollte sich möglichst<br />
ausschliesslich um "realistisches" Material handeln.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 61 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, wie individuelle Wunschvorstellungen der<br />
Lehrpersonen sind und wie sich schulische Beziehungen idealerweise entwickeln.<br />
Ebenso werden die individuelle Befürchtungen von Lehrpersonen versucht aufzuklären<br />
und wie Beziehungen sich konfliktreich, spannungsgeladen oder unglücklich<br />
entwickeln.<br />
Erzählungen sind Wunsch- und Angstgeschichten. Manchmal steht der Wunsch<br />
deutlich <strong>im</strong> Vordergrund, manchmal die Angst. Boothe (et al., 2002) haben in Erzählanalysen<br />
prototypische Wunsch- und Angstkonfigurationen gefunden. Diese sind <strong>im</strong><br />
Anhang aufgeführt.<br />
Boothe (et al., S. 37) schreibt von der Angstbewältigung: "Als reorganisierende Leistung<br />
wird die Bewältigungsstrategie bezeichnet, erlittene Erschütterung, psychische<br />
Destabilisierung in negativer, traumatisierender oder in positiver, euphorisierender<br />
Richtung <strong>im</strong> nachhinein durch wiederholtes Erzählen zu integrieren. Erzählen als<br />
Technik der Selbstvergewisserung verhilft zu psychischer Reorganisation durch Zuhilfenahme<br />
der Bewältigungsform der Verwandlung von Passivität in Aktivität. Die<br />
aktive Gestaltungsleistung, die in der erzählenden Rekonstruktion eines traumatisierenden<br />
oder euphorisierenden Geschehens liegt, trägt zur Erregungssenkung und<br />
Stabilisierung bei, so dass nachträglich die Situation als dargestellter Geschehenszusammenhang<br />
kontrollierbar erscheint."<br />
Entlang der Phasen der psychosexuellen Entwicklung lassen sich Wunsch- und<br />
Angstthemen ausmachen, welche auch <strong>im</strong> Anhang dargestellt sind.<br />
Ich möchte aus den Transkriptionen der Interviews mit den Lehrpersonen herausfinden,<br />
welche Wünsche, Befürchtungen, Hoffnungen und Zielvorstellungen die Lehrpersonen<br />
haben in Bezug auf harmonische und konfliktreiche Beziehungen <strong>im</strong><br />
<strong>Schulalltag</strong>. In der dritten Fragestellung (Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen<br />
können wir in den Erzählungen analysieren?) versuche ich mit Hilfe von<br />
Marianne Ludwig-Tauber (Psychoanalytikerin) die unbewussten Wünsche und Ängste<br />
der Lehrpersonen zu eruieren.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 62 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Die Erzählanalyse JAKOB<br />
2.9.6 Ressourcen und blinde Flecken<br />
Aus den Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen, Ängsten versuche ich Ressourcen<br />
und blinde Flecken aufzudecken.<br />
2.9.6.1 Ressourcen<br />
Den Begriff "Ressource" führte Bandura (1981, zitiert nach Storch & Krause, 2002) in<br />
den Sozialwissenschaften ein. Bandura plädierte damals für eine Abkehr von der<br />
Belastungsforschung und forderte statt dessen eine Ressourcenforschung. Es ist<br />
wertvoll das Augenmerk von der Pathogenese abzuwenden und zur Salutogenese<br />
überzugehen. Statt nur Defizite der Lehrperson <strong>im</strong> entsprechenden Fall zu beschreiben,<br />
versuche ich Ressourcen zu extrahieren. Ressourcenorientierung fand auch in<br />
der Psychotherapie begeisterte Aufnahme. Man geht in der Psychotherapie nach<br />
Ressourcenorientierung davon aus, dass der Mensch die meisten Ressourcen in<br />
sich trägt, die er zur Lösung seiner Probleme braucht. Ich werde sehen, wie viel sich<br />
aus der Extraktion der Ressourcen der Fälle ergeben wird. (Storch et al., 2002)<br />
2.9.6.2 Blinde Flecken<br />
Auf der anderen Seite möchte ich aufklären, was den Lehrpersonen vermutlich nicht<br />
bewusst war <strong>im</strong> erzählten Fall, was jedoch den Eltern oder Schülerin, Schüler durchaus<br />
bewusst war. Luft (1972) beschreibt blinde Flecken <strong>im</strong> Johari-Fenster als "mir<br />
unbekannt" und "anderen bekannt". Es ist der blinde Fleck der Selbstwahrnehmung.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 63 von 126
Anderen unbekannt<br />
Ich gebe Preis<br />
Anderen bekannt<br />
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Annahmen für die Ergebnisse<br />
Es ist der Bereich des Verhaltens, den man selbst wenig, aber andere als sehr deutlich<br />
wahrnehmen. Das Johari-Fenster ist ein Schema zur Darstellung bewusster und<br />
unbewusster Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale zwischen Selbst und Anderen<br />
bzw. einer Gruppe. Es stellt die Veränderung von Selbst- und Fremdwahrnehmung<br />
dar. Entwickelt wurde es von den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph<br />
Luft und Harry Ingham.<br />
Mir bekannt<br />
Mir unbekannt<br />
Öffentliche<br />
Person<br />
Andere teilen mir über mich mit<br />
Blinder Fleck<br />
Mein<br />
Gehe<strong>im</strong>nis<br />
Das unbewusste<br />
Wissen<br />
Abbildung 5: Johari-Fenster<br />
2.10 Annahmen für die Ergebnisse<br />
Ich nehme an, dass die Lehrpersonen in den Interviews eine Mischform von Bericht<br />
und Erzählung verwenden. Weiter nehme ich an, dass verbale <strong>Angriffe</strong> für jede Lehrperson<br />
etwas anderes bedeuten, wie dies <strong>im</strong> Kapitel 2.5 Das subjektive Element <strong>im</strong><br />
verbalen Angriff dargelegt wird. Das heisst, es ist von den individuellen Vorstellungen<br />
über harmonische und konfliktreiche Beziehungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> abhängig, ob eine<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 64 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Theoretischer Hintergrund<br />
Detaillierte Fragestellungen<br />
Aussage von Schülern oder Eltern für die Lehrperson ein Angriff ist oder nicht. Ausserdem<br />
nehme ich an, dass Lehrpersonen, wenn sie ihre Beziehungen zu Schülern,<br />
Schülerinnen und Eltern aufnehmen und pflegen, ganz best<strong>im</strong>mte Wünsche und<br />
ganz best<strong>im</strong>mte Befürchtungen haben, und dass die Erfüllung oder Enttäuschung<br />
von solchen Erwartungen dann zum Erleben eines <strong>Angriffe</strong>s führt. Diese Annahmen<br />
erlauben es mir, die Erzählungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n auf diese Aspekte hin zu<br />
analysieren.<br />
2.11 Detaillierte Fragestellungen<br />
Die in der Einleitung formulierte Fragestellung gliedert sich nach den theoretischen<br />
Vorarbeiten in folgende detaillierte Fragestellungen auf:<br />
1. Welche verbalen <strong>Angriffe</strong> erzählten die Lehrpersonen?<br />
2. Wie erleben Lehrpersonen den verbalen Angriff?<br />
3. Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen können wir in den Erzählungen<br />
analysieren?<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 65 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Einleitung<br />
3 Methoden<br />
3.1 Einleitung<br />
Meine Masterarbeit ist eine empirische Untersuchung und situiert sich <strong>im</strong> Bereich der<br />
Kasuistik (Tiefe der Analyse ist wichtiger als die Breite).<br />
Ich interviewte 19 Lehrpersonen, die ich bereits aus Praktika oder privat kannte und<br />
fragte sie nach verbalen <strong>Angriffe</strong>n (negative Ereignisse, welche sie verletzte oder<br />
angriff), die sie in ihrer Laufbahn erlebt hatten. Wenn bei der Interviewdurchführung<br />
"wir" steht, dann ist dies mit Sabrina Talevi zusammen. Die Lehrpersonen schilderten<br />
verschiedene Episoden, die sie als verbale <strong>Angriffe</strong> empfanden, ziemlich detailliert,<br />
sodass ich diese mit einer angepassten Form der JAKOB-Erzählanalyse und der Hilfe<br />
der Psychoanalytikerin Marianne Ludwig-Tauber analysieren konnte.<br />
Ich habe aus 19 Befragungen neun Fälle, die mich besonders interessierten und<br />
meiner Definition von verbalen <strong>Angriffe</strong>n (Kapitel 2.1) entsprachen herausgegriffen,<br />
um diese genauer zu untersuchen und analysieren.<br />
3.2 Beschreibung der Stichprobe<br />
Die ursprüngliche Idee war möglichst viele Lehrpersonen (sowohl bereits bekannte<br />
wie auch fremde) zu kontaktieren und um ein Interview zu bitten.<br />
Jedoch wurde mir bewusst, dass ich nicht einfach wahllos Lehrpersonen interviewen<br />
kann, um die Befragungen zielgerichtet durchführen zu können. Ich musste sie gezielt<br />
auswählen und mich auf mir bereits bekannte Lehrpersonen beschränken. Dies<br />
aus folgendem Grunde:<br />
Bei den Interviews ging ich auf das Erleben von verbalen <strong>Angriffe</strong>n ein. Ich wollte bei<br />
diesen Erlebnissen in die Tiefe gehen. Die befragten Personen sollten ein einschneidendes,<br />
für sie mit Emotionen verbundenes und sehr persönliches Erlebnis schildern.<br />
Es erschien unvermeidlich, Lehrpersonen aus dem Bekanntenkreis um ein Interview<br />
zu bitten, weil bereits eine gewisse Nähe und Verbundenheit bestand, die ein<br />
losgelösteres Erzählen ermöglichen sollte. Ich hoffte dabei, dass diese Lehrpersonen<br />
nicht zu viel Abwehr mobilisieren würden, wenn ich sie auf kritische oder negative<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 66 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Beschreibung des Instruments<br />
Ereignisse hin befragte, welche sie verletzte oder angegriffen hatten. Für den gleichen<br />
Zweck, auch um Vertrauen herzustellen, Nähe und Verbundenheit spüren zu<br />
lassen, stellte ich der Frage zuerst eine Frage nach einem Bestätigungserlebnis voraus,<br />
das heisst ich befragte die Lehrpersonen zuerst nach einer positiv erlebten Interaktion<br />
mit einer Schülerin oder einem Schüler oder Eltern. So konnten die Lehrpersonen<br />
in einen Redefluss gebracht werden und das Gefühl von Vertrautheit konnte<br />
hergestellt werden, da die jeweils interviewte Lehrperson mir ein Ereignis schilderte,<br />
welches sie besonders bestätigte oder mit Stolz erfüllte.<br />
Alter, Geschlecht, Ausbildung, Anzahl Unterrichtsjahre, unterrichtete Fächer wurden<br />
notiert, sind jedoch bei dieser Arbeit nicht von Bedeutung. Ich fragte Lehrpersonen,<br />
die ich bereits kannte und interviewte diejenigen, die sich für ein Interview bereit erklärten.<br />
Auf ihre Zusage hin schickte ich ihnen einen Brief mit genaueren Informationen.<br />
3.3 Beschreibung des Instruments<br />
Ich interviewte 19 Lehrpersonen anhand eines Interviewleitfadens. So befragte ich<br />
sie einerseits nach ihrem Erleben von Ereignissen, die sie bestätigten und andererseits<br />
– was mich eigentlich interessierte - nach verbalen <strong>Angriffe</strong>n in der Schule, von<br />
den Schülern selbst oder seitens der Eltern. Ihre Geschichten und Berichte hielt ich<br />
<strong>im</strong> Interview fest.<br />
Der Interviewleitfaden entwickelten wir so, damit die erzählten Geschichten der Lehrpersonen<br />
anschliessend mit der Erzählanalyse JAKOB ausgewertet werden konnten.<br />
Das heisst, die von den Lehrpersonen erlebten Geschichten sollten an einem best<strong>im</strong>mten<br />
Punkt beginnen, chronologisch fortlaufen und wieder an einem best<strong>im</strong>mten<br />
Punkt enden.<br />
Dazu brauchte es einen Interviewanstoss, der bewirkte, die Lehrpersonen in einen<br />
Sprechfluss zu bringen, um <strong>im</strong> Interview die Episoden möglichst ausführlich zu schildern.<br />
Wir achteten darauf, die Lehrperson möglichst nicht ständig zu unterbrechen<br />
und möglichst nur wenig Zwischenfragen zu stellen, wenn es Verständlichkeitsprob-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 67 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Beschreibung des Instruments<br />
leme gab. Dennoch mussten die gestellten Fragen so formuliert sein, dass die Lehrpersonen<br />
vor allem verbale <strong>Angriffe</strong> schilderten.<br />
Wir stellten die Fragen möglichst so offen, um die Lehrpersonen frei eine Episode<br />
von Anfang bis zum Schluss erzählen lassen. Gleichzeitig aber formulierten wir die<br />
Fragen so, um den Lehrpersonen gezielt auf die für sie als positiv empfundenen Ereignisse<br />
in Zusammenhang mit einer verbalen Äusserung eingehen zu können, wie<br />
auch solche, die sie als negativ (verletzend, angreifend) empfanden. Boothe erklärte<br />
uns in einer Supervisionsstunde, dass jedes geäusserte Wort die interviewte Lehrperson<br />
schon psychisch beeinflusste. Aus diesem Grund wählten wir die Wortwahl<br />
bei der Fragestellung sorgfältig mit Hilfe eines Brainstormings. Den Begriff "verbaler<br />
Angriff" wollten wir nicht verwenden, weil damit die Lehrpersonen gleich beeinflussen<br />
würden. Ein Angriff wird je nach Individuum anders empfunden. Nicht jede Person<br />
empfindet eine verbale Äusserung gleich als Angriff. Jedes Individuum empfindet<br />
dies anders. Erläuterungen dazu wurden <strong>im</strong> Theorieteil ausgeführt. (2.5 Das subjektive<br />
Element <strong>im</strong> verbalen Angriff).<br />
Deshalb stellten wir be<strong>im</strong> Interview nicht die Frage nach verbalen <strong>Angriffe</strong>n, sondern<br />
nach Situationen, in denen etwas gesagt wurde, das ganz besonders angriff oder<br />
verletzte.<br />
Der komplette Interviewleitfaden ist <strong>im</strong> Anhang zu finden. Die gestellten Fragen sind<br />
gelb markiert. Unterhalb der gestellten Frage befindet sich ein Beispiel, das <strong>im</strong> Falle<br />
einer Unklarheit als Erzählstrukturhilfe dient.<br />
Unter bb. Präzisierung des Falls sind Fragen vorgängig aufgelistet worden, welche<br />
ich bei Unklarheiten stellte, so dass die geplante Analyse des Falls möglich wurde.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 68 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Durchführung<br />
3.4 Durchführung<br />
Bevor wir jeweils die Lehrpersonen für das Interview getroffen haben, schickten wir<br />
ihnen einen Brief, welcher <strong>im</strong> Anhang zu finden ist. In diesem Brief erläuterten wir,<br />
dass wir gemeinsam eine Masterarbeit an der PHZ schreiben und dass uns dabei<br />
interessiert, was sie als Lehrpersonen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> hören müssen oder dürfen. In<br />
diesem Zusammenhang stellten wir ihnen auch schon die zwei Fragen, die wir ihnen<br />
be<strong>im</strong> Interview stellten, damit sie sich bereits <strong>im</strong> Voraus einige Gedanken machen<br />
konnten und sich nochmals überlegen konnten, wie das alles genau vor sich gegangen<br />
war. Ausserdem vereinbarten wir dann per Mail oder telefonisch ein Interviewtermin.<br />
Dadurch, dass die Lehrpersonen vorgängig diesen Brief erhielten war die Interviewsituation<br />
noch entspannter. Sie wussten, was be<strong>im</strong> Interview auf sie zukommen<br />
würde. Es war in diesem Sinne nicht mehr die typische Interviewsituation, sondern<br />
die Lehrpersonen wussten, dass sie uns erlebte Geschichten erzählen durften.<br />
Sie sagten uns zum Teil schon <strong>im</strong> Voraus mit verschmitztem Lächeln: "Ja, ich habe<br />
euch schon ein paar Geschichten zu erzählen...". Die Interviews wurden hauptsächlich<br />
<strong>im</strong> Schulhaus der Lehrperson in einem leeren Schulz<strong>im</strong>mer (meistens <strong>im</strong> eigenen)<br />
oder in zwei Fällen auch in einem öffentlichen Restaurant (an einem Tisch, wo<br />
wir ungestört und unbelauscht waren) durchgeführt.<br />
Diese zwei Interviewfragen stellten wir (auch so <strong>im</strong> Brief vorausgeschickt) konkret<br />
folgendermassen:<br />
<br />
„Hat dir ein Schüler oder ein Elternteil schon mal etwas gesagt, das dich ganz<br />
besonders bestätigt oder glücklich gemacht hat? Bitte erzähl mir von Anfang<br />
bis Schluss der Reihe nach wie es dazu gekommen und was passiert ist.―<br />
<br />
„Hat dir schon mal ein Schüler oder ein Elternteil etwas gesagt, das dich ganz<br />
besonders angegriffen, provoziert oder verletzt hat? Bitte erzähl mir von Anfang<br />
bis Schluss der Reihe nach wie es dazu gekommen und was passiert<br />
ist.―<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 69 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Durchführung<br />
Die Interviews führten wir alle in Mundart durch, das heisst wir stellten die Fragen in<br />
Mundart und die Lehrperson erzählte ihre Erlebnisse ebenfalls in Mundart. Dies erschien<br />
uns natürlicher für eine Erzählung.<br />
Bedeutend für unsere Interviews war, dass wir die Lehrpersonen nicht explizit nach<br />
verbalen <strong>Angriffe</strong>n fragten. Unser Interviewleitfaden weist durch die Fragestellung auf<br />
Kränkungen hin. Die Frage stellten wir so, dass es der befragten Lehrperson klar<br />
werden sollte, dass nach einem verbalen Angriff gefragt wird, der sie gekränkt hat.<br />
Die Wortwahl der Fragestellung wirft jedoch nicht mit solchen Begriffen um sich. Wir<br />
fragen nach etwas, das vorgefallen ist was ein Schüler oder Elternteil gesagt hat, das<br />
die Lehrperson verletzt oder verletzt hat.<br />
Wir fragten einleitend nach einem positiven Ereignis, das die Lehrperson ganz besonders<br />
bestätigt oder glücklich gemacht hat. Die Frage wurde tatsächlich wie siehe<br />
oben gestellt. Darauf wurde angefügt "Bitte erzähl mir von Anfang bis Schluss der<br />
Reihe nach wie es dazu gekommen und was passiert ist", um auf die Erzähl- beziehungsweise<br />
Berichtform hinzuweisen.<br />
Damit eine passende, nicht beeinflussende Fragestellung gefunden wurde, um nach<br />
dem kritischen Ereignis zu fragen, wurde vorgängig ein detailliertes Brainstorming<br />
durchgeführt. Es ergab sich schlussendlich folgende Fragestellung daraus, die nach<br />
dem kritischen oder negativen Ereignis fragt: "Hat die ein Schüler oder Elternteil<br />
schon mal etwas gesagt, das dich angegriffen oder verletzt hat?". Ebenso wurde hier<br />
wieder angefügt, dass von Anfang bis Schluss der Reihe nach erzählt werden soll<br />
wie es dazu gekommen und was passiert ist. Die Lehrperson kennt die Erzählstruktur<br />
schon von der ersten und somit aufwärmenden Frage nach dem positiven Ereignis<br />
und kann somit freier erzählen bzw. berichten.<br />
Bei der Durchführung der Interviews achteten wir ständig darauf, die Lehrperson<br />
während der Erzählung nicht zu unterbrechen. Wir informierten sie auch noch vor der<br />
Frage, dass sie uns von Anfang bis Schluss der Reihe nach möglichst detailliert erzählen<br />
sollen, wie es dazu gekommen und was passiert ist. Dies konnten sie auch<br />
schon dem Brief entnehmen. Falls es trotzdem Unklarheiten gab, stellten wir Zwischenfragen,<br />
welche wir auch transkribiert haben. Die Zwischenfragen oder ergän-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 70 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Transkription<br />
zende Fragen sollten uns dabei helfen, die Episoden als Ganzes und komplett zu<br />
erfassen, sodass der ganze Ablauf und die Hintergründe für uns klar wurden.<br />
3.5 Transkription<br />
Die Transkriptionen übersetzten wir von Mundart in Schriftsprache. Gewisse, schwer<br />
oder unmöglich zu übersetzende Wörter wurden in Gänsefüsschen direkt in der<br />
Transkription übernommen. Die Resultate werteten wir individuell nach Erzählung<br />
und Person aus. Das heisst, zuerst wurde selektiv die auf einem speziellen Aufnahmegerät<br />
EDIROL R-09 aufgenommen MP3-Files der negativen und kritischen Erzählungen/<br />
Ereignissen mit den von uns gestellten Zwischenfragen <strong>im</strong> Wortlaut transkribiert.<br />
Dabei verwendeten wir nur wenige Codes für nonverbale Äusserungen, welche<br />
in Klammern vermerkt sind, wie: „kurze Pause―, „lacht―, „räuspert sich― usw.<br />
Da die Transkriptionen die ganzen Fälle aufzeigen, sind sie persönlich. Trotz Anonymisierung<br />
von Ort, Personen und Fach ist zum Teil noch herzuleiten, was für ein<br />
Fall es war, wenn man aus dem entsprechenden Wohnort kommt und vom Fall Bescheid<br />
wusste. Aus diesem Grund sind lediglich zwei ausgewählte, gut anonymisierbare<br />
Fälle <strong>im</strong> Anhang zu finden. Für eine weitere Arbeit würden alle Transkriptionen<br />
mit Einverständnis bei erneuter Anfrage der Lehrpersonen zur Verfügung stehen.<br />
3.6 Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie<br />
Zur Auswertung der Erzählungen bzw. Berichte verwendeten wir die JAKOB-Erzähl-<br />
Analyse. Wenn <strong>im</strong> Folgenden "wir" geschrieben ist, dann ist Marianne Ludwig-Tauber<br />
(Psychoanalytikerin) gemeint. Diese Analyse wird eigentlich nur in der klinischen<br />
Psychologie, konkret in der Initialerzählung der Psychotherapie verwendet (siehe 2.9<br />
Die Erzählanalyse JAKOB <strong>im</strong> Theorieteil). Aus diesem Grund passte ich den Analyseraster<br />
nach mehreren Testanalysen an. Aus der Transkription wurde anhand der<br />
Erzählanalyse JAKOB den Einleitungssatz des Berichtes oder der Erzählung eruiert.<br />
Danach machten wir die Startdynamik fest, gefolgt von SEIN, SOLL und ANTI-SOLL.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 71 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie<br />
Marianne Ludwig-Tauber und ich analysierten Fälle unabhängig voneinander um herauszufinden,<br />
ob die Analyse von der Art und Weise her, wie wir analysierten, übereinst<strong>im</strong>mten.<br />
Daraufhin extrahierten wir zwei verschiedene Arten von SOLL, ANTI-<br />
SOLL und SEIN. Diese sind <strong>im</strong> Analyseraster mit SEIN 1 und SEIN 2, SOLL 1 und<br />
SOLL 2, ANTI-SOLL 1 und ANTI-SOLL 2 beschriftet. Ich einigte mich mit ihr auf ihre<br />
Analysen, die grösstenteils mit den meinigen übereinst<strong>im</strong>men, aber aufgrund jahrelanger<br />
Erfahrung eindeutig tiefgründiger waren.<br />
Analyseaspekte (das originale Analyseraster befindet sich <strong>im</strong> Anhang):<br />
1. Wo beginnt die Erzählung, bzw. der Bericht? Welches ist der Einleitungssatz?<br />
Als Einleitungssatz zur folgenden Episode verstehen wir denjenigen Satz, der dem<br />
Zuhörer signalisiert, dass ein Ereignis geschildert wird und unmittelbar vor der Startdynamik<br />
(ist in einigen Fällen bereits Teil davon) ist.<br />
Mit dem Einleitungssatz wird dem Hörer klargemacht, dass die Ideen gesammelt<br />
werden, die dann zum Ergebnis (Formulierung der Episode) führen. Die Einleitungssätze<br />
machen den Raum frei für die Positionierung der Grundbausteine der Erzählung<br />
(Startdynamik), wie die beteiligten Personen, den Zeitraum, in der die Episode<br />
stattgefunden hat, den Ort und die Aktionen und Requisiten, die das „Bühnengeschehen―<br />
der zu schildernden Episode gestalten. Die Einleitungssätze wurden meist<br />
als Antwort auf unsere Frage „Hat dir schon mal ein Schüler oder ein Elternteil etwas<br />
gesagt, dass dich angegriffen oder verletzt hat?― formuliert. Meist also ein „Ja…―<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 72 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie<br />
Typische Kennzeichnungswörter für Einleitungssätze, bzw. Worte, die den Hörer<br />
aufmerksam werden lassen sind:<br />
Ich kann mich erinnern...<br />
Ah, ja:<br />
Ein Beispiel ist:<br />
Ah, ja, es ging darum:<br />
Ja, das hat es auch gegeben:<br />
Also:<br />
Ja… Ähm…<br />
Es war mal...<br />
Mhhm (bejahend)...<br />
Meist war die erste, kurze Äusserung zu unserer gestellten Frage die Antwort und<br />
zugleich der Einleitungssatz für die darauf folgende Schilderung der Episode (z.B.:<br />
"Ja, das passiert natürlich häufiger als das Positive." Oder: "Was heisst hier einmal?<br />
Das ist <strong>Schulalltag</strong>, <strong>im</strong> Fall!"), die mit der Beschreibung der Rahmenbedingungen<br />
(Startdynamik) fortgesetzt wurde. Folgend listeten wir Fragen auf, die wir <strong>im</strong> Analyseraster<br />
beantworten mussten.<br />
<br />
<br />
Wie wird die Vorgeschichte erzählt? Welches ist der Einleitungssatz <strong>im</strong> Bericht/Erzählung<br />
(zu extrahieren aus dem Transkript)?<br />
Was ist die Startdynamik des geschilderten Ereignisses? Anhand der Startdynamik<br />
und der sich daraus ergebenden Annahmen über die Erwartungen der<br />
Lehrperson konnten wir den SOLL-Zustand (positiver Erfüllungsgipfel) und<br />
den ANTI-SOLL-Zustand (negativer Erfüllungsgipfel) herausarbeiten.<br />
Auf den verbalen Angriff bezogen (wobei dieser klar durch Ereignis-Anfang und<br />
Ereignis–Ende best<strong>im</strong>mt wurde):<br />
Wie war die Reaktion (in Realität) auf diesen verbalen Angriff? (SEIN 1)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 73 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie<br />
<br />
<br />
Was wäre die opt<strong>im</strong>ale Lösung auf der SEIN-Basis (Wunscherfüllung, „best<br />
case" von der Startdynamik aus, radikales oder hypotetisches Opt<strong>im</strong>um)<br />
(SOLL 1)<br />
Was wäre das „worst-case-Szenario― von der Startdynamik aus (negativste<br />
Entwicklung, hypothetisches Desaster, Angstbewältigung) (ANTI-SOLL 1)<br />
Auf die ganze Erzählung bezogen (wiederum klar durch Erzähl-Anfang und das<br />
Erzähl-Ende best<strong>im</strong>mt):<br />
Wie war die Reaktion (in Realität) auf die ganze Erzählung bezogen? (SEIN 2)<br />
Was wäre die opt<strong>im</strong>ale Lösung auf der SEIN-Basis (Wunscherfüllung, „best<br />
case" von der Startdynamik aus, radikales oder hypotetisches Opt<strong>im</strong>um)<br />
(SOLL 2)<br />
Was wäre das „worst-case-Szenario― von der Startdynamik aus (negativste<br />
Entwicklung, hypothetisches Desaster, Angstbewältigung) (ANTI-SOLL 2)<br />
Wie kann der Konflikt diagnostiziert werden? Wie ist die Eskalationsdynamik?<br />
a. Welche Konfliktparteien kommen vor?<br />
b. Was geht dem verbalen Angriff voraus?<br />
c. Was ist der Streitpunkt <strong>im</strong> Konflikt?<br />
d. Wie ist die Eskalationsdynamik? Welche Anzeichen gibt es <strong>im</strong> Vorfeld?<br />
3.6.1 Erzählanalyse in zwei Schritten<br />
1. Schritt: Best<strong>im</strong>mung von Startdynamik, SEIN, SOLL, ANTI-SOLL, Konfliktdynamik<br />
mit dem Analyseraster<br />
Meine Betreuerin, Frau Marianne Ludwig-Tauber ist Psychologin FSP und führt eine<br />
psychoanalytische Praxis in Luzern. Sie ist daher sehr bewandt in der Psychoanalyse<br />
und kann sich auf ein breites Erfahrungswissen abstützen. Sie hat ebenfalls mit<br />
diesem Analyseraster die auserwählten Fälle anhand der Transkriptionen analysiert<br />
und sie darauf mit mir zusammen mit den meinigen verglichen. Auf diesem Weg bin<br />
ich zu einer qualitativen empirischen Untersuchung mit Induktionsprinzip gekommen.<br />
Ich schliesse von den untersuchten Fällen auf das Allgemeine. Bei der Analyse ist<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 74 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Methoden<br />
Analyseraster mit JAKOB und erweiterter Kategorie<br />
festzuhalten, dass sie <strong>im</strong>mer auch subjektive Elemente der analysierenden Person<br />
mitschwingen. Sie erfolgt nach hermeneutischen Regeln, entsprechend einem kreisförmigen<br />
Prozess, welche das Verstehen anleiten und ins Offene, noch nicht Formulierte,<br />
führen. Deshalb gewinnen wir Hypothesen und nicht gefestigtes Wissen, wenn<br />
wir aus dem manifesten Text seinen latenten, unbewussten Gehalt in Form von<br />
Wünschen und Ängsten der erzählenden Person erschliessen (Boothe et al. (2002),<br />
S. 84). Aus diesem Grund haben wir voneinander unabhängig analysiert mit demselben<br />
Raster, um unsere Sensibilität <strong>im</strong> analysieren der Texte zu üben und uns aufeinander<br />
abzust<strong>im</strong>men. So konnte auch der Analyseraster angepasst werden, damit er<br />
möglichst repräsentativ und aussagekräftig ist. Die endgültige Version des Analyserasters<br />
befindet sich <strong>im</strong> Anhang.<br />
Meine Masterarbeit ist eine kasuistische, das heisst Kasuistik (v. lat. casus: Fall) bezeichnet<br />
allgemein die Betrachtung von Einzelfällen in einem best<strong>im</strong>mten Fachgebiet.<br />
Die 19 interviewten Lehrpersonen erzählten uns Fälle, die ich anhand meiner<br />
Definition von verbalen <strong>Angriffe</strong>n (2.1<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong>) filterte. Schlussendlich wurden<br />
neun Fälle als auf meine Definition passend erklärt, welche dann analysiert werden<br />
konnten.<br />
2. Schritt: Herauskristallisieren von Hypothesen über Wünsche und Befürchtungen<br />
Wie auch die Transkription, ist die Analyse anonym und datengeschützt. So haben<br />
wir das den Lehrpersonen bei den Interviews gesagt. Die Analyse geht auch ins Unbewusste<br />
hinein. Es werden aus dem 1. Schritt (mit dem SOLL und ANTI-SOLL)<br />
Wünsche und Ängste der Lehrpersonen erschlossen, die ihnen zum Teil auch unbewusst<br />
sein können. Es sind zwei anonymisierte Analysen <strong>im</strong> Anhang, von denen<br />
ebenfalls die Transkriptionen <strong>im</strong> Anhang vorzufinden sind. Die weiteren Analysen<br />
wurden aus Privatsphäre und Datenschutzgründen nicht in den Anhang genommen<br />
(auch <strong>im</strong> Kapitel 3.5 Transkription erläutert).<br />
Die (komplett) unbewussten Wünsche und Ängste wurden psychoanalytisch von Marianne<br />
Ludwig-Tauber (Psychoanalytikerin) analysiert, die diese Kompetenz besitzt.<br />
Dies masse ich mir nicht an selbst zu tun.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 75 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Befragte Personen<br />
4 Ergebnisdarstellung<br />
Das Kapitel ist folgendermassen aufgebaut: Am Anfang beschreibe ich, welche Personen<br />
wir befragt haben (Kapitel: Befragte Personen), um anschliessend die Auswahl<br />
der Erzählungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n zu dokumentieren (Kapitel: Auswahl<br />
der Erzählungen). Dann folgt die Ergebnisdarstellung: Zuerst stelle ich mein Modell<br />
der Erzählungen und Berichte dar (Kapitel: Die Struktur der Erzählungen und Berichte)<br />
und anschliessend sind die Resultate gegliedert nach diesen drei Fragestellungen<br />
(Kapitel: Antworten auf die drei Fragestellungen):<br />
1. Welche verbalen <strong>Angriffe</strong> erzählten die Lehrpersonen?<br />
2. Wie erleben Lehrpersonen den verbalen Angriff?<br />
3. Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen können wir in den Erzählungen<br />
analysieren?<br />
Am Schluss wende ich mich noch der Konfliktdynamik zu, da mehr als die Hälfte der<br />
verbalen <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> Rahmen eines bereits über Jahre andauernden Konfliktes, in<br />
welchen die Lehrperson involviert war stattgefunden hatten.<br />
4.1 Befragte Personen<br />
Für die Entwicklung unserer Interviewtechnik befragten wir <strong>im</strong> Vorfeld der Hauptstudie<br />
vier Personen (drei Lehrpersonen und eine Lehrerberaterin), und für die Hauptstudie<br />
befragten wir fünfzehn Lehrpersonen. Einige der Lehrpersonen erzählten uns<br />
Fälle, die nach unserer Definition (2.1 <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong>) keine verbalen <strong>Angriffe</strong> beinhalteten,<br />
sodass wir schliesslich die Erzählungen von insgesamt neun Lehrpersonen<br />
für die weitere Analyse der Erzählungen auswählten. Diese neun Lehrpersonen sind<br />
zwischen 29 und 54 Jahre alt, vier davon sind Frauen, fünf Männer. Eine Lehrperson<br />
hat zwei Jahre und die erfahrenste Lehrperson hat 32 Jahre Berufserfahrung. Der<br />
Durchschnitt liegt bei den befragen Lehrpersonen bei knapp 16 unterrichteten Schuljahren.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 76 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Auswahl der Erzählungen<br />
4.2 Auswahl der Erzählungen<br />
Im Laufe der Voranalysen wurde klar, dass wir die Definition eines „verbalen Angriffs―<br />
(2.1 <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong>) nochmals verfeinern mussten (Tabelle 7: Definition und Eingrenzung<br />
des Begriffs „verbaler Angriff―), denn für meine dritte Fragestellung war es<br />
wichtig, dass wir Daten in Form von Erzählungen von konkreten Ereignissen am Tag<br />
X und nicht nur allgemeine Beschreibungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n zur Verfügung<br />
hatten. Es wurde uns auch klar, dass einige Verletzungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> nonverbal<br />
stattfanden, das heisst durch das Verhalten von Eltern oder Schülern und Schülerinnen<br />
ausgelöst wurden. Doch wir konzentrierten uns auf die, an die Lehrperson gerichtete<br />
verbalen Äusserungen mit explizitem Wortlaut.<br />
Als verbalen Angriff definierten wir konkrete Fälle, die an einem Tag X stattfanden<br />
und in welchen eine konkrete, <strong>im</strong> Wortlaut vorhandene verbale Äusserung gegenüber<br />
der Lehrperson gemacht wurde. Mit einem verbalen Angriff meinte ich eine offener,<br />
mündlicher, direkter Angriff eines Schülers, einer Schülerin oder auch vom<br />
Elternteil gegenüber der Lehrperson der an einem Tag X stattfand. Ich konzentrierte<br />
mich ausschliesslich auf verbale <strong>Angriffe</strong>, die entweder von Schülerinnen und<br />
Schülern oder dann von Eltern kamen. Unter verbalen <strong>Angriffe</strong>n verstand ich respektlose/freche<br />
Antworten oder Bemerkungen der Lehrperson gegenüber, die sie<br />
persönlich angriffen und/oder verletzen.<br />
Ausgeschlossen wurden u.a. Fallbeispiele, in welchen der genaue Wortlaut des Angriffs<br />
nicht vorhanden war, sowie Fallbeispiele, in welchen die verletzende Handlung<br />
nonverbal war.<br />
Tabelle 7: Definition und Eingrenzung des Begriffs „verbaler Angriff―<br />
Die neun Lehrpersonen berichteten uns von insgesamt 20 verbalen <strong>Angriffe</strong>n<br />
(Tabelle 8: Transkribierte Erzählungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n in der Schule), <strong>im</strong> Mittel<br />
waren es zwei Fälle pro Person (Median).<br />
Da eine Person oft Fallbeispiele vom gleichen Typus erzählte beschränkte ich mich<br />
aus Kapazitätsgründen auf ein Fallbeispiel pro Person. Wenn eine Lehrperson meh-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 77 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Die Struktur der Erzählungen und Berichte<br />
rere Fallbeispiele erzählt hatte (max<strong>im</strong>al vier pro Person), wählten wir das prägnanteste<br />
Beispiel für die weitere Analyse aus.<br />
Interviewpersonbezeichnung<br />
P 6 P 7 P 8 P 9 P 10 P 12 P 13 P 15 P 18 Total<br />
Erzählte Fälle 2 2 1 2 4 3 2 2 2 20<br />
Von uns analysierte<br />
Fälle<br />
1 1 1 1 1 1 1 1 1 9<br />
Tabelle 8: Transkribierte Erzählungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n in der Schule<br />
Die folgenden Auswertungen beziehen sich dementsprechend auf neun Fallbeispiele<br />
von verbalen <strong>Angriffe</strong>n, wobei jedes dieser Fallbeispiele eine andere Lehrperson erzählt<br />
hat.<br />
4.3 Die Struktur der Erzählungen und Berichte<br />
Schon in meiner Fragestellung dieser Arbeit war erkennbar, dass ich von den Lehrpersonen<br />
eine Mischform von Erzählung und Bericht erwartete, denn ich interessierte<br />
mich für verbale <strong>Angriffe</strong>. Auch die Frage, wie es dazu kam, wie die Lehrperson gefühlsmässig<br />
darauf reagierte (was der verbale Angriff bei ihr ausgelöst hatte) und wie<br />
die Lehrperson nachher reagiert hatte.<br />
Tatsächlich erhielt ich von den neun Lehrpersonen eine Mischform von Erzählung<br />
und Bericht. Die Erzählung des verbalen Angriffs selbst wurde oft von Gefühlen begleitet.<br />
Der Erzähler versuchte sein Publikum durch seine spezifische Dramaturgie zu<br />
gewinnen. Die darstellende Lehrperson präsentierte etwas, mit Gefühlen, Gedanken<br />
und wörtlichen Reden lebhaft und anschaulich, das auf die partizipierende Hörergemeinschaft<br />
gerichtet war und deren Anerkennung finden sollte. Sie wussten vom<br />
Brief her, was für die Arbeit verlangt war und was wir hören wollten. Während dem<br />
auf der anderen Seite die begleitenden Umstände, d.h. wie es dazu gekommen war<br />
und wie es nachher weiterging, meist der Form eines Berichts rapportiert wurde. Der<br />
Bericht gilt als eine rein sachliche Mitteilung, welcher ohne Gefühle, Gedanken oder<br />
wörtliche Reden Antwort auf Fragen gibt.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 78 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Die Struktur der Erzählungen und Berichte<br />
In fünf der neun Erzählungen war das Ereignis mit dem verbalen Angriff eingebettet<br />
in eine längere Vorgeschichte und hatte auch eine längere Nachgeschichte zur Folge.<br />
Das Ganze könnte man als eine Kurve beschreiben, in welcher eine Spannung<br />
oder ein Konflikt eskalierte und dann entschärft wurde. Der verbale Angriff bildete in<br />
dieser Kurve quasi den Höhepunkt der Konflikteskalation. Da wir Personen befragten,<br />
die sich <strong>im</strong> Lehrberuf bewährt hatten, hatten wir es meistens mit Konfliktgeschichten<br />
zu tun, die von der Lehrperson zu einem befriedigenden Ende geführt wurden<br />
oder von ihr seelisch erfolgreich verarbeitet wurden.<br />
Als erstes Resultat zeige ich die Struktur für die spezielle Mischform von Erzählung<br />
und Bericht, welche ich selbst erarbeitet habe (Abbildung 6 und Abbildung 7).<br />
4.3.1 Kritisches Ereignis, Erzählung, Bericht - Verknüpfung der Begriffe<br />
Abbildung 6: Kritisches Ereignis, Mischform "Erzählung/Bericht" und Verknüpfung der Begriffe<br />
In der Abbildung 6 ist erkennbar, dass das kritische Ereignis, in welchem der verbale<br />
Angriff stattgefunden hat, eher in der Form einer "Erzählung", während die Vor- und<br />
Nachgeschichte eher in der Form des "Berichts" rapportiert wird.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 79 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Die Struktur der Erzählungen und Berichte<br />
Was mir die Lehrpersonen erzählten bzw. berichteten unterteilte ich in drei Phasen.<br />
Phase 1 ist die Vorgeschichte, Phase zwei das Ereignis am Tag X und in Phase 3<br />
kommt dann die Nachgeschichte mit einer eventuellen Konfliktentschärfung.<br />
Im ersten Teil der Geschichte kommen Spannungen, das "Knistern <strong>im</strong> Gebälk" zum<br />
Vorschein. Lehrpersonen beschreiben dort auch die situativen Bedingungen (den<br />
sogenannten "Kontext" und Aussagen, die die Situation begründen und die Lehrperson<br />
entlasten. In dieser Phase beginnt die eigentliche Erzählung, in Abbildung 7 als<br />
"Anfang Bericht/Erzählung" bezeichnet.<br />
Im zweiten Teil geht es um das Ereignis am Tag X, das sie erzählen wollen. Ich definiere<br />
dort klar den Anfang und den Schluss des Ereignisses, welches in den Ablauf<br />
der Mischform "Erzählung/Bericht" eingebettet ist. Darin enthalten ist der verbale Angriff,<br />
der <strong>im</strong> Zentrum des ganzen Konfliktgeschehens steht und den Höhepunkt der<br />
dramaturgischen Darstellung bildet. Möglicherweise gibt es mehrere verbale <strong>Angriffe</strong>,<br />
aber die Lehrperson erzählt von demjenigen, das für sie besonders angreifend und<br />
verletzend ist.<br />
Im dritten Teil oder in Phase 3 steht die Nachgeschichte. Möglicherweise gibt es eine<br />
Nachgeschichte oder auch nicht, je nach dem ob es Andeutungen der Lehrperson<br />
auf weitere Geschehnisse nach diesem Tag X gibt. Der Konflikt kann in Phase 3<br />
entschärft werden oder auch nicht. Es ist jedoch nicht <strong>im</strong>mer so, dass ich dies <strong>im</strong><br />
Rahmen des Interviews erfahren habe.<br />
Diese drei Phasen sind nicht unbedingt in dieser Reihenfolge erzählt worden. Vielmehr<br />
handelt es sich um eine Struktur, die ich den Darstellungen der Lehrpersonen<br />
<strong>im</strong> Nachhinein unterlegt habe. Wichtig ist diese Struktur vor allem für die dritte Fragestellung,<br />
in welcher Hypothesen über mögliche alternative Ereignis- und Konfliktverläufe<br />
formuliert werden (Kapitel: Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen<br />
können wir in den Erzählungen analysieren?).<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 80 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
4.4 Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
4.4.1.1 Welche verbalen <strong>Angriffe</strong> erzählten die Lehrpersonen?<br />
Im folgenden geht es um den verbalen Angriff, wie er in der Abbildung 6 als blaues<br />
Kästchen dargestellt ist. Zuerst gebe ich Einblick in die Häufigkeit der verbalen <strong>Angriffe</strong>,<br />
als zweites beschreibe ich die Art der verbalen <strong>Angriffe</strong> und als drittes werden<br />
die Hypothesen über unbewusste Wünsche und Ängste der Lehrpersonen und über<br />
ihre Ressource zur Konfliktentschärfung beschrieben.<br />
4.4.1.1.1 Beschreibung der neun Fälle von verbalen <strong>Angriffe</strong>n<br />
Im Anhang ist die Tabelle 12 "Liste der verbalen <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> ungefähren Wortlaut und<br />
Klassifikation" zu finden. Darin ist eine Zusammenfassung der neun Fälle, der verbale<br />
Angriff <strong>im</strong> Wortlaut (aus dem Transkript), die Zuordnung des verbalen Angriffs zu<br />
Klassen (Typen) und die Unterteilung, ob der verbale Angriff in einen Konflikt eingebettet<br />
ist oder als isoliertes Ereignis dasteht, aufgelistet.<br />
Aus dieser Tabelle <strong>im</strong> Anhang ist folgendes ersichtlich:<br />
<br />
<br />
Von den neun Fällen betreffen fünf verbale Angriff von Elternseite (vier von<br />
Väter, einer von einer Mutter) und vier verbale <strong>Angriffe</strong> von Schülerseite (drei<br />
von einem Schüler und einer von einer Schülerin). Die fünf Elternangriffe waren<br />
auf die Berufskompetenz der Lehrperson gerichtet: Sie enthielten <strong>im</strong> gelinden<br />
Fall eine Kritik an der Kompetenz der Lehrperson (P 8), in den extremen<br />
Fällen wurde ihre Berufseignung angezweifelt oder gar abgesprochen.<br />
Fünf der neun erzählten verbalen <strong>Angriffe</strong> fanden vor Publikum statt, die anderen<br />
unter vier Augen. Vor Publikum heisst, dass der Angriff von Elternseite her<br />
vor anderen erwachsenen Zuhörern stattfanden, von Schülerseite her vor der<br />
ganzen Klasse. Bei den <strong>Angriffe</strong>n von Elternseite betraf dies zwei der fünf<br />
Fallbeispiele: Be<strong>im</strong> einen waren neben der Lehrperson auch noch der Schul-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 81 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
leiter und die Klassenlehrperson anwesend, und das andere spielte sich in einer<br />
Dorfkneipe vor den Kollegen des betreffenden Vaters am Stammtisch ab.<br />
Drei der fünf Elternbeispiele hatten ohne Publikum stattgefunden, nämlich <strong>im</strong><br />
Rahmen eines Elterngesprächs oder eines Telefonats.<br />
Drei von vier Schülerbeispielen fanden vor der Klasse und eines in einem Einzelgespräch<br />
statt.<br />
Von den neun verbalen <strong>Angriffe</strong> waren fünf eingebettet in eine lang andauernde<br />
Konfliktgeschichte, in welcher sich eine Spannung in der Beziehung zwischen<br />
den Konfliktparteien über Jahre hinweg aufgebaut hatte. Nur vier verbale<br />
<strong>Angriffe</strong> stellten ein isoliert und plötzlich auftretendes Ereignis dar.<br />
Fünf der neun Fälle verbaler <strong>Angriffe</strong> waren die Folge von Spannungen oder<br />
<strong>im</strong> Dreieck zwischen SchülerIn, Lehrperson und Eltern. Die restlichen Erzählungen<br />
waren entweder nur zwischen Lehrperson und SchülerIn oder zwischen<br />
Lehrperson und Elternteil, oder dann ein Dreieckskonflikt, welcher mit<br />
weiteren Konfliktparteien verbunden war (Schulleiter, Klasse, Schulpsychologe<br />
etc.).<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 82 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
In der Tabelle 9 sieht man eine Häufigkeitsliste der Klassen bzw. Typen. Die Klassifikation<br />
habe ich in Anlehnung an Kreyenberg (2005, S. 16) entwickelt und ergänzt,<br />
wobei mein System Mehrfachzuordnungen erlaubt (Tabelle 3: Die häufigsten Konfliktsymptome<br />
nach Kreyenberg (2005, S. 16)).<br />
Klasse<br />
Häufigkeit<br />
Vorwürfe machen 6<br />
Kritisieren 5<br />
Besch<strong>im</strong>pfen / Beleidigen 5<br />
"Herunterputzen" einer Person 2<br />
Unterstellen (z.B. bösartige Motive unterstellen) 2<br />
Killerphrasen äussern 1<br />
Widersprechen 1<br />
Starres Festhalten an Standpunkten 1<br />
Drohen 1<br />
Belügen 1<br />
Provozieren 1<br />
Tabelle 9: Häufigkeit der Klassen 2<br />
Aus Tabelle 9: Häufigkeit der Klassen geht hervor, dass die meisten verbalen <strong>Angriffe</strong><br />
unter die Klassen „Vorwürfe machen―, „Kritisieren―, und „Besch<strong>im</strong>pfen/Beleidigen―<br />
fallen.<br />
4.4.1.2 Wie erleben Lehrpersonen den verbalen Angriff?<br />
Die Lehrpersonen erzählten <strong>im</strong> Interview von den verbalen <strong>Angriffe</strong>n, die sie erlebt<br />
hatten, auf ihre ganz eigene Art und wir unterbrachen sie möglichst nicht mit Zusatzfragen.<br />
Nur bei Unklarheiten in der Erzählung fragten wir aus Verständnisgründen<br />
nach. Natürlich interessierte uns die Frage, welche Gefühle die verbalen <strong>Angriffe</strong> bei<br />
2 Die neun Fallbeispiele wurden zum Teil mehreren Klassen zugeordnet (Mehrfachzuordnung)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 83 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
den Lehrpersonen ausgelöst hatten, aber ich erkundigte mich nicht direkt danach.<br />
Wir überliessen es der Lehrperson, ob sie davon erzählen wollte oder nicht. In vielen<br />
Fällen sprachen die Lehrpersonen nicht direkt davon, wie sich der verbale Angriff auf<br />
sie auswirkte und welche Gefühle er in ihnen weckte. Oft kann man aber viel davon<br />
„zwischen den Zeilen lesen― in der Erzählung. Die Innenwelt der Lehrperson<br />
schwang <strong>im</strong>mer mit, wenn sie vom erinnerten kritischen Ereignis sprach.<br />
Für die Beantwortung der zweiten Fragestellung habe ich nicht „zwischen den Zeilen―<br />
gelesen, sondern ich habe mich auf die explizit geäusserten Gefühle der Lehrpersonen<br />
beschränkt. In Tabelle 10: Gefühlsbeschreibung und Einordnung in Gefühlsklassen<br />
liste ich diese auf. Als Gefühlsäusserung definiere ich wörtliche Aussagen, wenn<br />
sie die Bedingungen von Rosenberg (2000) erfüllen. Wenn in der Erzählung keine<br />
Gefühlsausdrücke vorkommen, habe ich dies in der Tabelle als „keine explizite Beschreibung<br />
des Gefühls― vermerkt.<br />
Das Modell der Gefühlsäusserungen nach Rosenberg hat <strong>im</strong> Unterschied zu demjenigen<br />
von Traxel und Plutchik den Vorteil, dass es sich bei der Definition von Gefühlen<br />
am expliziten Wortlaut orientiert. Ich konnte mich also in diesem Teil der Auswertung<br />
auf die Transkription beziehen und musste nicht „zwischen den Zeilen lesen―<br />
oder deuten, um die Frage zu beantworten, um welches Gefühl es sich handelte. Es<br />
gab zwei Probleme: Verschlüsselte Botschaften dekodieren (Gordon) & Problem der<br />
Auswahl der Textstellen, wo man die Emotionen zu entschlüsseln beginnt. Häufig ist<br />
die ganze Erzählung emotional. Es bräuchte eine Systematik, wie die Textstellen definiert<br />
werden, welche für diese Analyse verwendet wurden.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 84 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Ein Beispiel für eine mögliche Analyse mit Traxels und Plutchiks Klassen ist <strong>im</strong> Anhang<br />
zu finden.<br />
Befragte Wörtliche Passagen der Gefühlsäusserungen Klassen<br />
Person der Lehrpersonen 3<br />
P 6 Keine explizite Beschreibung des Gefühls Keine explizite Beschreibung<br />
des Gefühls<br />
P 7 Keine explizite Beschreibung des Gefühls Keine explizite Beschreibung<br />
des Gefühls<br />
P 8 "Das hat mich verletzt, weil...<br />
verletzt (2 mal: Z. 90,94)<br />
... dass der Vater das so negativ aufgefasst<br />
hat, hat mich recht verletzt... "<br />
P 9 "Sie wollen ja, dass ich mich aufrege." aufgeregt (Z.146)<br />
P 10 "... dann wurde ich sehr wütend.<br />
Wütend (3 mal: Z. 184,<br />
188, 193)<br />
Also wirklich, da habe ich wirklich gezeigt,<br />
was das eigentlich ist, jemanden anzulügen.<br />
Ich war wirklich sehr wütend.<br />
P12<br />
Aber nicht, dass ich jetzt weiss nicht wie lange<br />
wütend bin auf dich, das nicht."<br />
"Denn das ist so massiv, da musst du, da<br />
wirst du in deinen Grundsätzen erschüttert,<br />
als Person."<br />
Erschüttert (Z. 280)<br />
3 Die Beschreibung wurde <strong>im</strong> Wortlaut dem Transkript entnommen<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 85 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
P13<br />
P 15<br />
"In dem Moment, indem so etwas passiert, ist<br />
man <strong>im</strong>mer, gibt es innerlich einen Adrenalinschub,<br />
weil dann bist du so dermassen<br />
schockiert als Lehrer, dass du dich nicht<br />
mehr genau erinnern kannst, was du gemacht<br />
hast. Du bist so wie in einer Art Trancezustand,<br />
weil du weisst, jetzt bist du ganz,<br />
ganz... an einem Punkt, ich meine er ist ja<br />
bekannt gewesen dafür, dass er gewalttätig<br />
war, oder."<br />
"... alles solche Sachen versuchte man zu<br />
verhindern, also eben, unter der Androhung<br />
auch, natürlich denn aus Angst ja wenn ich<br />
denn das machen würde, ich will ja das nicht<br />
riskieren (LP spricht hier von der Suizidandrohung<br />
der Schülerin wenn man sie abstufe)<br />
Schockiert (Z. 378)<br />
voller Angst (R)<br />
Frustriert (Z. 426)<br />
... ich war dann völlig frustriert und habe<br />
sogar geweint dort..."<br />
P 15 Keine explizite Beschreibung des Gefühls Keine explizite Beschreibung<br />
des Gefühls<br />
P 18 Keine explizite Beschreibung des Gefühls Keine explizite Beschreibung<br />
des Gefühls<br />
Tabelle 10: Gefühlsbeschreibung und Einordnung in Gefühlsklassen<br />
In der Tabelle fällt auf dass wenige Gefühlswörter nach Rosenberg benützt worden<br />
sind. Und von neun Lehrpersonen haben vier Personen in ihrer Darstellung gar keine<br />
Gefühlswörter nach Rosenberg benützt.<br />
Bei den anderen fünf Personen zeigen sich folgende Schwerpunkte in dieser Tabelle:<br />
Die Emotionen gehen zum Teil hoch bei verbalen <strong>Angriffe</strong>n. Die fünf Personen haben<br />
ihre Innenwelt mit den Wörtern "verletzt, aufgeregt, wütend, erschüttert, schockiert,<br />
frustriert, voller Angst" beschrieben. Dabei kommen die Gefühlswörter "wütend"<br />
(dre<strong>im</strong>al) und "verletzt" (zwe<strong>im</strong>al) bei mehreren Personen vor.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 86 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
4.4.1.3 Welche (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen können wir in den<br />
Erzählungen analysieren?<br />
Für die Erzählanalyse musste ich das Ereignis in der ganzen Konfliktgeschichte verorten.<br />
In Abbildung 7 stellte ich dar, wie der verbale Angriff in ein Konfliktgeschehen<br />
eingebettet war. Ich entschied mich, Hypothesen über den opt<strong>im</strong>alen und schl<strong>im</strong>msten<br />
Verlauf (Wünsche und Befürchtungen), sowohl für das Ereignis mit dem verbalen<br />
Angriff, als auch für die ganze Konfliktgeschichte bis zur Konfliktentschärfung zu bilden.<br />
In der Abbildung ist das dargestellt mit dem SEIN 1, SOLL 1, ANTI-SOLL 1 und<br />
dem SEIN 2, SOLL 2, ANTI-SOLL 2.<br />
Abbildung 7: Einbettung des verbalen Angriffs in ein Konfliktgeschehen und meine Hypothesen<br />
über opt<strong>im</strong>ale Verläufe (SOLL) und "worst-case-Verläufe (ANTI-SOLL)<br />
Man könnte sagen, dass das Konfliktgeschehen in Form eines Reportings (Berichts)<br />
erzählt wird während dem das Ereignis am Tag X die Form einer "Erzählung" hat.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 87 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
In Phase 2 starte ich mit der Extraktion des Einleitungssatzes vom Bericht / der Erzählung,<br />
der durch die Startdynamik analysiert wird. Diese ist in der Abbildung nicht<br />
aufgeführt.<br />
Danach werden zwei Perspektiven oder Hypothesen aufgestellt. Dies ist einerseits<br />
die wunscherfüllende Perspektive (SOLL) und die Perspektive der Angstbewältigung<br />
(ANTI-SOLL). Hier unterscheide ich einerseits SOLL, ANTI-SOLL und SEIN vom Erzähl-Anfang<br />
bis zum Erzähl-Ende und andererseits SOLL, ANTI-SOLL und SEIN<br />
vom Ereignisanfang bis ganz zum Ereignisschluss. Im Zwischenteil vom Ereignis-<br />
Ende bis zum Erzähl-Ende kann (muss aber nicht) noch etwas Ablaufen, was die<br />
Hypothesen daraufhin komplett verändern könnte, das die Lehrperson <strong>im</strong> Interview<br />
darstellt. Daher können zwei Arten der Hypothesen aufgestellt werden. Diese sind <strong>im</strong><br />
Analyseraster, wie auch <strong>im</strong> Schema mit SEIN 1, SOLL 1, ANTI-SOLL 1 von SEIN 2,<br />
SOLL 2, ANTI-SOLL 2 unterschieden und sind aus diesem Grund nicht zu verwechseln.<br />
In Phase 3 wird das Konfliktreporting durch eine Konfliktdiagnose analysiert. Diese<br />
Analysephase ist, wie auch <strong>im</strong> Schema vermerkt, nebensächlich in dieser Arbeit.<br />
Hier werden Konfliktparteien, "was dem verbalen Angriff voraus geht" Streitpunkte<br />
und die Eskalationsdynamik (und Anzeichen <strong>im</strong> Vorfeld) geschildert.<br />
In erster Linie wende ich mich den Hypothesen über unbewusste Wünsche in Bezug<br />
auf das sich zuspitzende Ereignis zu, in welches der verbale Angriff eingebettet ist.<br />
Weil ich bei dieser Analyse nach einer ganz anderen wissenschaftlichen Methode<br />
vorgehe bei der Analyse der Erzählungen als in den vorherigen beiden Fragestellungen,<br />
möchte ich erinnern, worauf sich die Hypothesen über den opt<strong>im</strong>alen Verlauf<br />
einer Erzählung stützen und möchte nochmals erklären was (unbewusste) Wünsche<br />
sind:<br />
Unbewusste Wünsche, wie sie sich <strong>im</strong> sogenannten SOLL der Erzählanalyse<br />
kristallisieren, sind Formen des Genusses in Beziehungen und der "Bestätigung<br />
nazistischer Zufuhr in Interaktion mit einem hochgeschätzten Objekt"<br />
(Boothe et al. (2002), S. 111). Das heisst, dass das Ereignis so umgeformt<br />
wird, dass in der Analyse die fantasievolle Lehrperson in der Beziehung mit<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 88 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
dem Schüler oder den Eltern eine Bestätigung ihres Selbstwertes, Zufriedenheit<br />
und Glück erfahren könnte. Umgekehrt bedeuten Befürchtungen und<br />
Ängste wie sie sich <strong>im</strong> ANTI-SOLL kristallisieren, Erfahrungen und Vorstellungen<br />
"mit hohem Erregungspotential" (Boothe et al. (2002), S. 104), in welchen<br />
sich das Individuum in seinem Genuss bedroht fühlt und unter einer "narzisstischen<br />
Beeinträchtigung in Interaktion mit befürchteten Objekten" (Boothe et al.<br />
(2002), S. 104) leidet. Das heisst, dass in der Erzählanalyse das Ereignis so<br />
umformuliert wird, dass das erzählende Individuum (das erzählende Ich) in<br />
seiner Fantasie max<strong>im</strong>al bedroht würde, in einen unangenehmen Erregungszustand<br />
geriete und in seinem Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt würde.<br />
Diese Analyse n<strong>im</strong>mt quasi die unbewusste Phantasietätigkeit des erzählenden<br />
Individuums in Bezug auf mögliche Erzählausgänge vorweg. Die hypothetische<br />
Erschliessung von Wunschthemen erfolgt aus der Analyse der Startdynamik<br />
und des SOLLs, währenddem die hypothetische Erschliessung von<br />
Angstthemen aus der Analyse der Startdynamik und des ANTI-SOLLs erfolgt<br />
(Boothe et al., 2002, S. 94). Auch das SEIN wird in Bezug gesetzt zu den anderen<br />
Polen und bringt Hinweise für die dynamische Organisation der Erzählung<br />
(Boothe et al., 2002, S. 84). Bei der ganzen Analyse ist aber festzuhalten,<br />
dass <strong>im</strong>mer auch subjektive Elemente der analysierenden Person mitschwingen.<br />
Sie erfolgt, entsprechend einem kreisförmigen Prozess nach hermeneutischen<br />
Regeln, welche das Verstehen anleiten und ins Offene, noch nicht Formulierte,<br />
führen. Wenn wir aus dem manifesten Text seinen latenten, unbewussten<br />
Gehalt in Form von Wünschen und Ängsten der erzählenden Person<br />
erschliessen gewinnen wir Hypothesen und nicht gefestigtes Wissen<br />
(Boothe et al., 2002, S. 84).<br />
Hypothesen über unbewusste Wünsche und Ängste der Lehrpersonen und<br />
über ihre Ressource zur Konfliktentschärfung:<br />
Im Folgenden stelle ich als Erstes die Analyse dreier Fallbeispiele <strong>im</strong> Detail vor, um<br />
den Leserinnen und Lesern zu zeigen, wie ich die Fälle analysiert habe. Anschliessend<br />
fasse ich die Hypothesen zu den unbewussten Wünschen und Ängsten aller<br />
neun Lehrpersonen zusammen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 89 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Die drei einzelnen Fälle beschreibe ich <strong>im</strong> Detail, indem ich zuerst den Ablauf des<br />
Ereignisses, in welchem der verbale Angriff aufgetreten ist, beschreibe, anschliessend<br />
die Hypothesen zu den unbewussten Wünschen und Ängsten der Lehrperson<br />
darstelle und schliesslich die Ressource (Stärke) der Lehrperson zur Konfliktentschärfung<br />
herausarbeite.<br />
Für die drei Beispiele stelle ich also folgende drei Punkte dar:<br />
Ablauf des verbalen Angriffs und erste Interpretation<br />
Hypothesen über unbewusste Wünsche und Ängste der Lehrperson<br />
Hypothesen über die Ressource der Lehrperson zur Konfliktentschärfung<br />
Fallbeschreibung P10: Lehrperson wird in Klasse von einem Schüler mehrmals angelogen.<br />
Es geht um Absenzen vom Unterricht wegen Arztterminen.<br />
Ablauf des verbalen Angriffs und erste Interpretation: Die Lehrperson ist in diesem<br />
Beispiel verletzt, weil sie von einem Schüler angelogen wird. Dieser zeigt ihr<br />
einen Zettel mit einem Arzttermin, und lügt sie auch nachdem die Lehrperson aufgezeigt<br />
hat, dass der Zettel kaum von einem Arzt stammt, nochmals direkt an.<br />
Hypothesen über unbewusste Wünsche und Ängste der Lehrperson:<br />
Aus der Analyse stellen sich hier folgende Wünsche der Lehrpersonen dar: Die<br />
Lehrperson wünscht sich, dass Schüler ehrlich zu ihr sind, sie wünscht sich gegenseitigen<br />
Respekt und Vertrauen und sie wünscht sich, dass sie den Schülerinnen und<br />
Schülern diese Werte erfolgreich vermitteln kann. Konkret wünscht sich die Lehrperson,<br />
dass der Schüler seine Lüge zugeben und sich entschuldigen kann. Hingegen<br />
werden erfüllt der Schülerin in diesem Ereignis seine Erwartungen und Wünsche<br />
nicht. Und es werden in der Lehrperson Ängste geweckt, welche tiefe Persönlichkeitsschichten<br />
betreffen. Zu diesen gehört Angst vor Vertrauensverlust, Angst vor<br />
Verlust der Sicherheit, Angst vor dem schrecklichen Zustand, dass man niemandem<br />
(nicht einmal den nächsten) trauen kann.<br />
Hypothesen über die Ressource der Lehrperson zur Konfliktentschärfung:<br />
Interessant an diesem Fall ist, wie die Lehrperson mit ihren Gefühlen umgeht und<br />
diese in die Beziehung hineinträgt und wie sie die Krise in der Beziehung zum Schüler<br />
löst. Diese Lehrperson kann offen mit ihren Gefühlen umgehen, und das zeigt<br />
sich auch darin, dass sie ihre Gefühle in der Erzählung benennt (vgl. Tabelle 10: Ge-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 90 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
fühlsbeschreibung und Einordnung in Gefühlsklassen). Sie teilt dem Schüler ihre Wut<br />
mit, und kann dann einen Strich darunter ziehen und neu beginnen. Dadurch bewältigt<br />
sie ihre Verletzung ganz ohne äussere Hilfe. Sie bietet dem Schüler hier eine<br />
Chance, um sich zu entwickeln. Einerseits indem sie ein Modell ist, wie man mit Enttäuschungen,<br />
Verletzungen und Wut umgeht, andererseits indem sie der Verletzung<br />
nicht mit Rache begegnet, sondern verzeihen und neu beginnen kann. Zitat: "Ich habe<br />
ihm dann auch gesagt: ‚schau’, ich habe ihn dann aber so sein lassen und gesagt:<br />
‚du hast einen Scheissdreck gemacht, wir fangen jetzt schon wieder neu an, aber<br />
das bleibt in meinem Hinterkopf, bei dir bin ich von nun an wirklich kritisch. Wenn du<br />
irgendetwas hast, das schwingt mit, das musst du einfach wissen. Aber nicht, dass<br />
ich jetzt weiss nicht wie lange wütend bin auf dich, das nicht.’ Ich glaube das muss<br />
man dann auch können, irgendwann mal einen Strich ziehen und sagen, gut, Mist,<br />
aber es geht weiter.―<br />
Fallbeschreibung P13: Schüler spricht vor versammelter Klasse gegenüber der<br />
Lehrperson eine Gewaltdrohung aus, nachdem er von der Lehrperson wegen Störung<br />
des Unterrichts mehrmals verwarnt worden ist.<br />
Analyse des Ablaufs des verbalen Angriffs und erste Interpretation des Ereignisses:<br />
Der verbale Angriff in dieser Erzählung ist Teil von bereits länger andauernden<br />
Spannungen, in welchen ein schwieriger Schüler, der offenbar wegen Gewaltproblemen<br />
schon bekannt ist, der Lehrperson Sorgen bereitet, denn auch die Klasse<br />
ist schwierig zu führen. Der verbale Angriff des Schülers gegenüber der Lehrperson<br />
bildet die Spitze der Eskalation <strong>im</strong> Konfliktablauf. Der Schüler spricht eine Gewaltandrohung<br />
gegenüber der Lehrperson aus: „Hau der öppe mal eis ad Schnöre!―, und<br />
dies als Antwort auf die mehrmalige mündliche Warnung der Lehrperson wegen Störung<br />
des Unterrichts. Die Lehrperson reagiert in diesem kritischen Moment ruhig und<br />
fragt den Schüler nur: „Was hast du eben gesagt?― Der Schüler geht jetzt wortlos<br />
hinaus.<br />
Vor versammelter Klasse gewinnt die Lehrperson an diesem Punkt den Machtkampf:<br />
Sie schafft es, die Eskalation zu stoppen, indem sie dem Schüler, der offenbar innerlich<br />
kocht, mit ruhiger St<strong>im</strong>me eine Frage stellt. Dieser Moment ist für die Zuschau-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 91 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
enden entscheidend, zeigt doch die Lehrperson hier Überlegenheit <strong>im</strong> emotionalen<br />
Bereich: Sie beherrscht sich und bleibt ruhig. Damit n<strong>im</strong>mt sie eine erwachsene Rolle<br />
ein und lässt sich nicht provozieren (Containment nach Bion).<br />
Die Lehrperson n<strong>im</strong>mt anschliessend Kontakt mit den Eltern des Schülers auf, erreicht<br />
am Telefon aber nur den älteren Bruder. Die Lehrperson kann ihm am Telefon<br />
erklären, dass sein kleinerer Bruder sich ein solches Verhalten in der Schule nicht<br />
mehr leisten kann, und dass es für ihn schl<strong>im</strong>me Konsequenzen habe wenn er so<br />
weitermachen würde. Für die Lehrperson ist es jetzt in Ordnung. Auch der Schüler<br />
fügt sich von diesem Zeitpunkt an, wie wir von der Lehrperson vernehmen.<br />
Der Machtkampf ist für die Lehrperson nach der Szene <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer noch nicht<br />
entschieden. Sie braucht die Kooperation der Eltern. Der ältere Bruder eignet sich<br />
offenbar als Elternvertreter, denn die Lehrperson kann ihr Anliegen bei ihm deponieren<br />
und findet Gehör. Der Bruder n<strong>im</strong>mt die Drohung der Lehrperson entgegen, die<br />
Lehrperson stösst auf Verständnis und Kooperation. Sie hat mit Hilfe des ältern Bruders<br />
als Elterninstanz die Machtverhältnisse wieder ordnen können. Die Hierarchie<br />
st<strong>im</strong>mt wieder und der Konflikt mit dem Schüler ist in diesem Moment für die Lehrperson<br />
gelöst.<br />
Meine Hypothesen über unbewusste Ängste der Lehrperson bewegen sich nach<br />
der Klassifikation unbewusster Ängste nach Boothe (2002, siehe Kapitel Wunscherfüllung<br />
und Angstbewältigung <strong>im</strong> Theorieteil dieser Arbeit) auf den Polen: „Kontrolle<br />
versus Kontrollverlust―, denn die Lehrperson muss vor der versammelten Klasse ihre<br />
Führungsposition behaupten. Wenn ihr das nicht gelingt, droht Chaos und Anarchie<br />
in der Klasse, weil die Hierarchie nicht mehr gewahrt ist. Mit der überlegenen, emotional<br />
ruhigen Reaktion vor der Klasse und der Möglichkeit, dem älteren Bruder in der<br />
Elternrolle das zu sagen, was sie dem Schüler nicht sagen kann, versichert sich die<br />
Lehrperson ihrer Führungsrolle. Die Ordnung (Führungshierarchie) ist auf diese Art<br />
wieder hergestellt.<br />
Meine Hypothesen über unbewusste Wünsche der Lehrperson sind nach der<br />
Wunsch-Klassifikation von Boothe (2002, vgl. Kapitel 2.9.5 Wunscherfüllung und<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 92 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Angstbewältigung <strong>im</strong> Theorieteil dieser Arbeit) „der Wunsch nach Selbstwirksamkeit―<br />
und „der Wunsch nach Objektverfügung―: Die Lehrperson wünscht sich, dass - falls<br />
es Störungen <strong>im</strong> Unterricht gibt - ihre Strafen und Verwarnungen sofort wirksam sind,<br />
und sie wünscht sich, dass alle Schüler und Schülerinnen ihren Anweisungen Gehorsam<br />
leisten, dass keine Störungen <strong>im</strong> Unterricht auftreten und dass sie ungestört<br />
unterrichten kann. Ein verständlicher Wunsch für eine Lehrperson, welche die Aufgabe<br />
und Verantwortung hat, eine Klasse zu führen und den Lernenden Wissen und<br />
Kenntnisse zu vermitteln.<br />
Meine Hypothese über die persönlichen Ressourcen zur Konfliktentschärfung:<br />
Der Lehrperson gelingt es, den Konflikt zu entschärfen, indem sie ihre Führungsposition<br />
in doppelter Hinsicht sichert: Einerseits zeigt sie emotionale Überlegenheit vor<br />
dem Publikum der Klasse, denn sie kann sich beherrschen und steigt nicht in die Spirale<br />
der Gewalt ein. Andererseits versichert sie sich später am Telefon mithilfe der<br />
elterlichen Instanz (Bruder) ihres Führungsanspruchs. Dass es sich um einen Machtkampf<br />
handelt, zeigt die Tatsache, dass zuerst der Schüler droht und nachher die<br />
Lehrperson auch droht (am Telefon und gegenüber dem älteren Bruder). Der Konflikt<br />
ist entschärft, denn es bleibt bei der Drohung und der Schüler fügt sich der Autorität<br />
der Lehrperson. Ähnlich wie in der Tierwelt scheint hier eine Ausmarchung zwischen<br />
einem informellen und einem formellen Führer in der Gruppe stattzufinden, und die<br />
Lehrperson als formelle Führungsperson setzt ihre „Alpha―-Rolle durch. Sie hat dadurch<br />
noch ein weiteres Lernziel in emotionaler Hinsicht erreicht: Sie hat den Mitschülerinnen<br />
und Mitschülern am Modell gezeigt, wie man der Gewaltspirale entrinnen<br />
und einen Konflikt entschärfen kann.<br />
Fallbeschreibung P18: Die Lehrperson wird in Dorfbeiz von einem Vater beschuldigt,<br />
den Sohn nicht genug gefördert zu haben sodass dieser jetzt schlechte Berufschancen<br />
hat. Dies erfolgt, nachdem Lehrperson sich jahrelang für den behinderten<br />
Schüler eingesetzt hat und Eltern nicht mit der Lehrperson. kooperiert haben.<br />
Ablauf des verbalen Angriffs und erste Interpretation des Ereignisses: Diese<br />
Erzählung wird von der Lehrperson als eine „lange Geschichte, die bald drei Jahre<br />
andauert― angekündigt. Von Anfang an verhe<strong>im</strong>lichen die Eltern gegenüber der Lehr-<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 93 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
person die Behinderung des Schülers, und die Lehrperson kann nicht auf ihre Hilfe<br />
zählen, weil diese die Behinderung ihres Sohnes herunterspielen. Dem Sohn fehlt<br />
das von der IV bezahlte Hörgerät oft in der Schule, und die Eltern sagen, es sei in<br />
der Reparatur. Auch in Bezug auf die Lehre versuchen sie zu vertuschen, dass ihr<br />
Sohn noch keine Lehrstelle gefunden hat, sodass die Lehrperson es überprüft. Der<br />
Schüler hat noch keine Lehrstelle und die Lehrperson findet knapp noch eine Lehrstelle<br />
für den Schüler. Wieder verhe<strong>im</strong>lichen die Eltern gegenüber dem Lehrmeister<br />
die Behinderung. Schliesslich kehrt der Vater den Spiess um und beschuldigt die<br />
Lehrperson, den Sohn nicht genügend gefördert zu haben. Die Lehrperson selber ist<br />
verletzt und entschliesst sich, die Beschuldigungen des Vaters richtig zu stellen - um<br />
den Kloss in ihrem Hals zu lösen muss sie es tun - und sie geht in die Dorfbeiz, wo<br />
der Vater unter seinen Stammkollegen diese Gerüchte verbreitet. Dort findet der verbale<br />
Angriff statt. Denn der Vater will die Sache nicht – wie die Lehrperson vorschlägt<br />
– unter vier Augen klären, sondern vor Publikum in der Beiz. Der Vater besch<strong>im</strong>pft<br />
und beschuldigt die Lehrperson, diese bleibt ruhig und legt ihre Seite dar, sodass die<br />
Stammtischkollegen des Vaters auf die Seite der Lehrperson kippen.<br />
Hypothesen über unbewusste Wünsche und Ängste der Lehrperson: Für die<br />
Lehrperson wäre es schl<strong>im</strong>m, wenn die ganze Dorfgemeinschaft mit dem Vater des<br />
Schülers sich gegen sie zusammenschliessen würde und den Vorwürfen des Vaters<br />
glauben würde, sie hätte den Schüler nicht genug gefördert. Dies umso mehr als sie<br />
sich besonders für diesen Schüler eingesetzt hat. Der Angriff des Vaters trifft sie, er<br />
greift ihre berufliche Kompetenz an. Befürchtungen und Ängste gehen also in die<br />
Richtung, dass die Lehrperson ihre berufliche Integrität verlieren würde (Angst vor<br />
Beschämung, Verlust der phallischen Integrität in der Liste von Boothe vgl. Kapitel<br />
Wunscherfüllung und Angstbewältigung in dieser Arbeit). Die unbewussten Wünsche<br />
nach „phallischer Integrität― spielen mit, denn der Ruf der Lehrperson ist in Gefahr<br />
und sie möchte in ihrer Berufsrolle glaubhaft sein und die Vorwürfe zurückweisen.<br />
Sie möchte als Lehrperson ihre Schüler und Schülerinnen opt<strong>im</strong>al fördern, und sie<br />
möchte, dass die Eltern und die Dorfgemeinschaft ihre Wirkung und ihren Erfolg als<br />
Lehrperson anerkennen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 94 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Hypothesen über die Ressource der Lehrperson zur Konfliktentschärfung: Die<br />
Lehrperson muss die Vorwürfe des Vaters zurückweisen, seine Darstellung richtig<br />
stellen und die Öffentlichkeit <strong>im</strong> Dorf auf ihre Seite ziehen, sonst verliert sie die<br />
Glaubhaftigkeit in der Dorfgemeinschaft. Die Ressource der Lehrerperson ist es,<br />
dass sie sich die Vorwürfe und Anschuldigungen nicht gefallen lässt und sich nicht<br />
schmollend zurückzieht, sondern den Mut hat, sich der Auseinandersetzung zu stellen.<br />
Dazu wird sie aktiv: Sie sucht den Vater in der Dorfbeiz, wo er diese verungl<strong>im</strong>pfenden<br />
Gerüchte verbreitet, auf. Der Vater ist es schliesslich, welcher das vor der<br />
Öffentlichkeit tun will. Die Lehrperson hat ihm vorgeschlagen, unter vier Augen zu<br />
reden, doch der Vater bleibt am Dorfbeizentisch sitzen und will die Auseinandersetzung<br />
vor seinen Stammkollegen führen. Er besch<strong>im</strong>pft und beschuldigt die Lehrperson<br />
vor den Augen des Publikums. Die Ehre der Lehrperson ist angegriffen und sie<br />
muss sich jetzt den Vorwürfen stellen. Es gelingt ihr, diese zurückzuweisen und das<br />
Publikum für sich zu gewinnen. Sie n<strong>im</strong>mt den Kampf auf, stellt sich der Auseinandersetzung<br />
und gewinnt den Machtkampf. Sie verteidigt sich erfolgreich. Sie hat auf<br />
mehreren Fronten gewonnen: Sie hat dem Schüler eine Lehrstelle gefunden, hat den<br />
Kampf gegen Verleumdung gewonnen und den Lehrmeister vor weiteren Anschwärzungen<br />
durch den Vater geschützt.<br />
Lehrreich aus diesem Beispiel ist, wie folgenreich eine Verleugnung der Behinderung<br />
des Kindes durch seine Eltern sein kann. Wenn sich Eltern vor der Gefahr der Stigmatisierung<br />
(Abstempelung) durch die Behinderung des Kindes fürchten, und wenn<br />
sie deshalb die Behinderung zu verstecken versuchen, wirken sie der schulischen<br />
Förderung ihres Kindes entgegen. Der unbewusst ablaufende Abwehrmechanismus<br />
der Verleugnung gründet meistens darin, dass es zu schmerzlich wäre, die Realität<br />
anzuerkennen (hier die Realität der Behinderung des Sohnes). Lehrpersonen erwarten<br />
eine solche unglückliche Kettenreaktion, die aus der Abwehr der Verleugnung<br />
entsteht, <strong>im</strong> Allgemeinen nicht. Sie sind auch nicht eingeführt worden in die Kenntnisse<br />
unbewusster Abwehrmechanismen und wissen nicht, wie solche die Realitätswahrnehmung<br />
verzerren.<br />
Nach der Darstellung dreier Einzelfälle zähle ich die Schwerpunkte auf, welche sich<br />
in Bezug auf die Hypothesen über die vorherrschenden unbewussten Wünsche und<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 95 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Ängste und die Ressourcen zur Konfliktentschärfung aus der Analyse aller neun Fälle<br />
ergeben haben.<br />
Lehrpersonen wünschen sich - wie meine Hypothesen lauten - Eltern, die am gleichen<br />
Strick ziehen. Die Eltern sollen für sie Ansprechpersonen sein, wenn sie Probleme<br />
mit Schülern oder Schülerinnen haben. Die Lehrpersonen wünschen sich in<br />
schwierigen Situationen loyale Partner.<br />
Vorherrschende Ängste sind - wie meine Hypothesen lauten - alleine, ohne Hilfe<br />
und Unterstützung dazustehen. Für Lehrperson wäre es beängstigend, mit ihrer<br />
Erziehungsaufgabe alleine dazustehen und von den Eltern keine Unterstützung zu<br />
bekommen. Dass sich die Eltern auf die Seite ihres Sohnes oder ihrer Tochter schlagen<br />
und gegen die Lehrperson Stellung beziehen können, ängstigt die Lehrpersonen.<br />
Dazu gehört auch die Konsequenz, dass die Lehrperson die Macht über den<br />
Schüler oder die Schülerin sowie ihren Führungsanspruch in der Klasse verlieren<br />
könnte.<br />
Der Wunsch, in ihrer Berufsausübung anerkannt zu werden, als Lehrperson wirksam<br />
zu sein, und von der Umgebung anerkannt zu sein, ist ein weiterer Schwerpunkt. Der<br />
entsprechende Wunsch ist der Wunsch nach beruflicher Integrität und Anerkennung<br />
<strong>im</strong> Beruf. Lehrpersonen wünschen sich diese von der Umgebung, von der<br />
Schulleitung, von den Eltern, von den Behörden, von der ganzen Dorfgemeinschaft.<br />
Sie möchten einen guten Ruf haben. Entsprechend liegt ein Schwerpunkt in unseren<br />
Hypothesen bei Ängsten vor <strong>Angriffe</strong>n auf die berufliche Kompetenz, vor Vorwürfen<br />
und Kritik, auch vor berechtigter Kritik. Denn dahinter liegt die Angst, bei der Förderung<br />
ihrer Schüler und Schülerinnen nicht erfolgreich zu sein: Die Angst, beruflich<br />
zu versagen.<br />
In vielen analysierten Fallbeispielen habe ich die Hypothese aufgestellt, dass die<br />
Lehrperson sich wünscht, über Schülerinnen und Schüler und somit die ganze Klasse<br />
verfügen zu können. Es schient mir ein klares Kontrollbedürfnis zum Ausdruck.<br />
Dazu gehört auch die Angst vor einem Chaos, das mit dem Verlust von Kontrolle<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer einhergeht.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 96 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergebnisdarstellung<br />
Antworten auf die drei Fragestellungen<br />
Bei den Hypothesen zur den Ressourcen einer Lehrperson zur Konfliktentschärfung<br />
zeichnen sich folgende Kompetenzen ab:<br />
Emotional stabil sein: Die Fähigkeit emotional stabil bleiben zu können, selbst<br />
wenn man als Lehrperson massiv angegriffen wird, das heisst sich in der Hitze eines<br />
Angriffs ruhig zu verhalten und den eigenen Führungsanspruch vor der Klasse oder<br />
vor den Eltern geltend zu machen, bei den letztern oft mit der Unterstützung der<br />
Schulleitung und von Fachpersonen (Schulpsychologie, Heilpädagoge). Dazu gehört<br />
auch die Fähigkeit, die Verletzung überwinden zu können ohne eine dauerhafte<br />
Kränkung mit- und nachzutragen.<br />
Im Kontakt bleiben und Beziehung wenn <strong>im</strong>mer möglich nicht abbrechen: Im<br />
Konflikt und nach dem Angriff mit dem Schüler, der Schülerin oder den Eltern <strong>im</strong><br />
Kontakt zu bleiben und sich nicht zurückzuziehen oder den Kontakt abzubrechen.<br />
Interesse für die andere Seite zeigen: Für die Perspektive des Schülers, der Schülerin<br />
oder des Elternteil offen und interessiert zu bleiben, sogar dann wenn man angegriffen<br />
worden ist und sich verletzt fühlt.<br />
Sich ernst nehmen und für sich einstehen können. Auch wenn man –Verständnis<br />
für die andere Seite hat, braucht es Mut für sich selbst einzustehen und sich abzugrenzen.<br />
Kreativität: Im weiteren Vorgehen für kreative Lösungen bereit zu sein.<br />
Hilfe in Anspruch nehmen: Die Fähigkeit und innere Grösse aufbringen zu können,<br />
in einer Auseinandersetzung mit dem Schüler die Eltern anzusprechen, und in einer<br />
Auseinandersetzung die Schulleitung und allfällige Fachpersonen beizuziehen<br />
Notfallstrategien zur Verfügung haben: Zum Beispiel Schüler, der die Lehrperson<br />
reizt, vorübergehend in den Unterricht eines Kollegen zu schicken bevor man explodiert.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 97 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
5 Diskussion<br />
Im folgenden Teil dieser Arbeit werden die Ergebnisse interpretiert. Er gliedert sich in<br />
zwei Teile, wobei der erste die Untersuchungsergebnisse interpretiert, Übereinst<strong>im</strong>mungen<br />
und Widersprüche zu bisherigen Befunden mit Ausblick auf zukünftige Forschungen<br />
darstellt, und der zweite eine persönliche Reflexion beinhaltet.<br />
5.1 Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Ich interessierte mich für verbale <strong>Angriffe</strong>, welche Lehrpersonen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> erleben,<br />
dazu habe ich zusammen mit Sabrina Talevi ein Interview entwickelt und 19<br />
Personen befragt. Alle befragten Personen erzählten uns von solchen <strong>Angriffe</strong>n, die<br />
sie seitens Eltern oder Schüler und Schülerinnen erlebt hatten.<br />
Die Lehrpersonen sprachen in den Interviews offen über ihre Erlebnisse verbaler <strong>Angriffe</strong>,<br />
und sie gaben uns grosszügig ihre persönlichen Erfahrungen preis. Die Interviews<br />
dauerten <strong>im</strong> Durchschnitt etwa eine Halbestunde. Ich schliesse daraus, dass<br />
die Entscheidung, bekannte Lp zu befragen (und nicht fremde Lp) richtig war, und<br />
dass sich das von uns entwickelte Interviewverfahren und das Setting, in welchem<br />
wir der Frage nach dem verbalen Angriff eine Frage nach positiven Erfahrungen in<br />
der Schule voranstellten, bewährt hat. So konnten wir das Vertrauen der Lehrpersonen<br />
gewinnen, und ich konnte mich in der Auswertung schliesslich auf Daten in der<br />
Form von episodischen Darstellungen verbaler <strong>Angriffe</strong> in der Schule stützen. Auch<br />
wenn ich in dieser Arbeit die positiven Erfahrungen und Glückserlebnisse der Lehrpersonen<br />
nicht ausgewertet habe, sind sie ein wichtiges Datenmaterial. Ja, es<br />
scheint mir gerade aufgrund meiner Resultate besonders wichtig zu sein, dass Lehrpersonen<br />
positive Erlebnisse und Glücksmomente in ihrem Beruf erleben, denn verletzende<br />
und kränkende Erfahrungen würden sonst unweigerlich in einen Burnout<br />
oder zur Berufsaufgabe führen. Meine Kollegin wird in ihrer Masterarbeit die bedeutsamen<br />
positiven Erfahrungen und Momente des Glücks, von welchen uns die Lehrpersonen<br />
auch erzählt haben, auswerten.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 98 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Unter den erzählten <strong>Angriffe</strong>n und verletzenden Erfahrungen waren etliche nonverbaler<br />
Art und aus diesem Grund schon weggelassen wurden. Aus Kapazitätsgründen<br />
beschränkte ich mich dann auf die Analyse von neun Erzählungen und Berichte über<br />
verbale <strong>Angriffe</strong> in der Schule. Die untersuchten neun verbalen <strong>Angriffe</strong> waren massiv<br />
und haben mich erschreckt. „Vorwürfe machen―, „Kritisieren―, und „Besch<strong>im</strong>pfen/Beleidigen―<br />
waren die häufigsten genannten Klassen, weiter kamen in der von<br />
mir angepassten Klassifikation verbaler <strong>Angriffe</strong> (ausgehend vom Schema „Die häufigsten<br />
Konfliktsymptome― von Kreyenberg, 2005) einzelne Fälle von Killersätzen 4 ,<br />
Provokation, Vorwürfe machen, Kritisieren, Besch<strong>im</strong>pfen / Beleidigen, „Herunterputzen―<br />
einer Person vor, Unterstellen, Widersprechen, starres Festhalten an Standpunkten,<br />
Drohen, Belügen. Von neun Fällen betreffen fünf verbale <strong>Angriffe</strong> von Elternseite.<br />
Diese enthielten <strong>im</strong> gelinden Fall eine Kritik an der Kompetenz der Lehrperson,<br />
in den krassen Fällen Zweifel an ihrer Berufseignung. Die meisten der geschilderten<br />
<strong>Angriffe</strong> waren so massiv, dass sie jede Person getroffen und verletzt<br />
hätten. Ich kann nicht sagen, dass hier eine subjektive Komponente dabei gewesen<br />
wäre, wie ich in meinem Modell zur subjektiven Komponente bei der Kränkung<br />
(Abbildung 4) postuliert habe. Man könnte interpretieren, dass der Konflikt in den fünf<br />
Fällen, in welchen der verbale Angriff in eine langandauernde Konfliktgeschichte eingebettet<br />
war, bereits derart eskaliert war und die Gefühle derart kochten, dass <strong>im</strong><br />
Moment des Angriffs die Selbstkontrolle versagte und verbale Gewalt durchbrach<br />
(Glasl, 2002). Individuelle Unterschiede könnte man bei den Lehrpersonen höchstens<br />
dort postulieren, wo es um die Frage geht, wie andere Lehrpersonen vor der<br />
Eskalation mit dem schwelenden Konflikt umgegangen wären, nicht aber be<strong>im</strong> Erleben<br />
des verbalen Angriffs: Jedermann und jede Frau wäre in den meisten Fällen, die<br />
wir analysiert haben, vom verbalen Angriff verletzt und betroffen gewesen. Dass wir<br />
derart massive Fälle zu hören bekamen, ist vermutlich auch der Auswahl unserer<br />
Lehrpersonen zuzuschreiben. Wir haben erfahrene und kompetente Lehrpersonen<br />
befragt, die sich seit durchschnittlich 16 Jahren <strong>im</strong> Beruf bewährt haben. Diese Personen<br />
können vermutlich kleinere <strong>Angriffe</strong> und Verletzungen <strong>im</strong> Alltag gut verarbei-<br />
4 Killerphrasen sind in der Regel verallgemeinernde Aussagen, oft auch abwertende Du-Botschaften<br />
an das Gegenüber. Sie blockieren kreatives Denken, wirken demotivierend, beeinflussen das Kl<strong>im</strong>a<br />
negativ und sind nach Charles Clark (1973) inhaltlich nahezu leere Argumente, also Scheinargumente<br />
oder Vorurteile.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 99 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
ten und wieder vergessen, und sie erzählten uns <strong>im</strong> Rückblick nur die massivsten<br />
Fälle, diejenigen die sie kaum vergessen oder verdrängen konnten.<br />
Dass die meisten der neun von uns analysierten <strong>Angriffe</strong> derart massiv sind, st<strong>im</strong>mt<br />
mit der Feststellung von Schmidbauer (2007) überein, dass in der modernen Gesellschaft<br />
– <strong>im</strong> Unterschied zu früher - unmittelbar ausgelebt wird, was gefühlt wird. Früher<br />
wurden hochgehende Emotionen in der Kommunikation mit anderen mit Hilfe von<br />
Vernunft, Disziplin, Höflichkeit, Ironie und Humor so „gebrochen―, dass sie für den<br />
andern erträglich wurden. Heute hingegen wird sofort ausgesprochen was gefühlt<br />
wird, ohne Selbstkontrolle und –disziplin, was die Kränkbarkeit der Menschen heute<br />
stark erhöht. Dies ist die These von Wolfgang Schmidbauer. Entsprechend wurden<br />
uns isolierte Ereignisse von unerwartet plötzlichen verbalen <strong>Angriffe</strong>n geschildert, in<br />
welchen beispielsweise eine Mutter die Lehrperson am Telefon massiv besch<strong>im</strong>pfte<br />
und beleidigte, weil ihre Tochter den Raum, in welchem der freiwillige Kurs über Mittag<br />
hätte stattfinden sollen, nicht gefunden hatte. Oder ein Oberstufenschüler rastete<br />
nach mehrmaliger Verwarnung derart aus, dass er gegenüber der Lehrperson eine<br />
verbale Gewaltandrohung äusserte. Solche massiven plötzlichen verbalen Ausbrüche<br />
mit ehrverletzendem oder drohendem Inhalt sind offenbar in jedem Beruf, in welchen<br />
man es mit Menschen zu tun hat, heute keine Ausnahme mehr. Nicht nur Lehrpersonen<br />
müssen damit zurechtkommen, auch für Schalterbeamte, Verkaufsangestellte,<br />
Buschauffeure sind solche Ereignisse leider Teil ihres Alltags geworden, wie<br />
einschlägige Artikel in den Tageszeitungen demonstrieren.<br />
In meinen Resultaten ist das Kränkende an den <strong>Angriffe</strong>n von Elternseite her, dass<br />
die Berufsidentität und die Berufsehre der Lehrperson angegriffen wird. Dieser Befund<br />
st<strong>im</strong>mt mit Wardetzkis Aussage überein: "Kränkungen berühren <strong>im</strong>mer das<br />
Selbstwertgefühl.― Fünf der neun verbalen <strong>Angriffe</strong> fanden zudem vor Publikum statt.<br />
Vor Publikum ist man gewissermassen <strong>im</strong> offenen Schussfeld. <strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> können<br />
die Lehrperson entwürdigen und ihr Selbstvertrauen zerstören. Solche seelische<br />
Verletzungen hinterlassen Wunden. Ich interpretiere dieses Ergebnis übereinst<strong>im</strong>mend<br />
mit der Theorie von Wardetzki zum "wunden Punkt" (Wardetzki, 2000, Kapitel:<br />
Der wunde Punkt). Der wunde Punkt ist eine nicht ganz verheilte Wunde, die bei entsprechendem<br />
Anlass aufbricht. Es sind frühere verletzende Erfahrungen, die das<br />
Selbstwertgefühl angegriffen haben und dann den wunden Punkt bilden. Der wunde<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 100 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Punkt besteht somit aus alten, unverarbeiteten Verletzungen und löst eine Kränkungsreaktion<br />
hervor, wenn er getroffen wird. In der Abbildung 3: Kränkungsdynamik<br />
nach Wardetzki (2000) habe ich diesen Mechanismus dargestellt. Ich vermute, dass<br />
eine Anhäufung von solchen seelischen Verletzungen, die das Ehrgefühl und Selbstbewusstsein<br />
der Lehrperson treffen, ins Burnout führen kann. Eine weiterführende<br />
Arbeit könnte sich mit seelischen Verletzungen beschäftigen und untersuchen, ob<br />
eine Anhäufung solcher seelischer Verletzungen auch ein Faktor für Burnout ist. Dieses<br />
Thema hat mich in dieser Arbeit <strong>im</strong>mer wieder beschäftigt, und ich habe das letzte<br />
Kapitel der Arbeit der Frage gewidmet: Wie können Lehrpersonen mit verbalen<br />
<strong>Angriffe</strong>n und Verletzungen sowie Kränkungen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> umgehen, damit sie<br />
weiterhin mit Freude und voller Kraft – ohne Burnout – unterrichten können? Welche<br />
Strategien bietet uns angehenden Lehrpersonen die Literatur zum Thema der Kränkungsverarbeitung<br />
an?<br />
Wie haben die Lehrpersonen ihre Gefühle beschrieben? Wie haben sie die Wirkung<br />
des Angriffs auf ihr Erleben dargestellt? Von neun Lehrpersonen verwendeten vier<br />
keine explizite Wörter für ihre Gefühle nach Rosenberg (2005), doch waren die Berichte<br />
„zwischen den Zeilen― von Emotionen geladen. Dass vier Lehrpersonen keine<br />
expliziten Wörter für ihre Gefühle in der Erzählung benützten, heisst noch nicht, dass<br />
sie keine Gefühle hatten. Vielmehr ist einerseits zu bedenken, dass die Lehrpersonen<br />
mit unserer Intervieweröffnung aufgefordert waren, das Erlebte sachlich und objektiv<br />
zu berichten oder aber auch emotional gefärbt zu erzählen. Es stand ihnen offen,<br />
ob sie die die Form der emotional gefärbten Erzählung oder die sachliche Berichtform<br />
wählten. Oft erhielten wir auch eine Mischform von Erzählung und Bericht.<br />
Man könnte auch spekulieren, dass einige Personen Mühe haben, ihre Gefühle am<br />
Arbeitsplatz - hier in der Schule - zu zeigen, und deshalb auch in ihrer Darstellung<br />
einer emotional bewegenden Erfahrung wenige Gefühlswörter benützen. So sagt<br />
Rosenberg (2005, S. 59) "... ich habe oft Leute sagen hören, dass sie sich nicht vorstellen<br />
können, an ihrem Arbeitsplatz jemals Gefühle zu zeigen." Diese These Rosenbergs<br />
könnte vielleicht auch erklären, warum einige Lehrpersonen eher in Berichtform<br />
erzählten, als in Erzählform und ihren Auftrag <strong>im</strong> Interview eher als eine<br />
sachliche, objektive Information über verbale <strong>Angriffe</strong> auffassten und weniger als eine<br />
Schilderung ihrer Innenwelt. Doch diese Interpretation bleibt auf der Ebene der<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 101 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Spekulation. Eine andere eher spekulative Interpretation wäre, dass die Verletzung<br />
bei diesen Personen so gross war, dass sie ihre Gefühle auch <strong>im</strong> Bericht noch unterdrückten.<br />
Wenn ich jetzt die anderen fünf Lehrpersonen, welche be<strong>im</strong> Erzählen ihren<br />
Gefühlen explizit Ausdruck verliehen, betrachte, könnte man bei ihnen sagen, dass<br />
sie sich während des Erzählens in ihrer Verletzlichkeit gezeigt haben. Diese Personen<br />
haben ihr Erleben nach dem verbalen Angriff explizit mit "verletzt, aufgeregt, wütend,<br />
erschüttert, schockiert, frustriert, voller Angst" beschrieben. Diese expliziten<br />
Gefühlsausdrücke sind hier in einer Reihe aufgelistet, stammen aber von verschiedenen<br />
Personen und Ereignissen. Diese Art des Erzählens (mit expliziter Benennung<br />
der eigenen Gefühle) könnte ein Hinweis darauf sein, dass die erzählende Person<br />
auch dem Konfliktpartner gegenüber ihre Gefühle eröffnen kann. Diese Fähigkeit ist<br />
nach Rosenberg für den konstruktiven Umgang mit Konflikten höchst bedeutsam. Die<br />
eigenen Gefühle offen darlegen heisst, sich dem Konfliktpartner zu öffnen und sich<br />
als Mensch in seiner ganzen Verletzlichkeit zu zeigen, denn dann öffnet sich auch<br />
die Konfliktpartner und zeigen etwas von sich selbst. Für diese Hypothese sprechen<br />
auch einige punktuelle Hinweise in meinen Daten. In meinen Ergebnissen zeigt sich,<br />
dass die drei Lehrpersonen, die ihre Gefühle verbalisieren können, eine fortgeschrittene<br />
Konfliktlösestrategie angewendet haben (P10, P13, P15). Die Lehrperson (P 10)<br />
beispielsweise wendete eine fortgeschrittene Konfliktlösestrategie an und sie hat <strong>im</strong><br />
Interview in ihrer Erzählung dre<strong>im</strong>al die Gefühlsäusserung (Rosenberg, 2005) "wütend"<br />
ausgesprochen. Auch gegenüber dem Schüler äusserte sie – wie sie erzählte -<br />
ihre Gefühle, sie sagte nämlich dem Schüler, wie wütend sie sei. Am Schluss kooperierte<br />
sie mit dem Schüler, indem sie einen "Strich darunter zog" und ihm eine neue<br />
Chance gab. Die These über den Zusammenhang zwischen Gefühlsäusserungen<br />
be<strong>im</strong> Erzählen und der emotionalen Kompetenz einer Person be<strong>im</strong> Kommunizieren<br />
<strong>im</strong> Konflikt bleibt hier noch hypothesenhaft und müsste in einer Folgearbeit untersucht<br />
werden.<br />
Wenn ich meine Resultate zu den Konfliktparteien überblicke, sind fünf der neun Fälle<br />
verbaler <strong>Angriffe</strong> die Folge von Spannungen <strong>im</strong> Dreieck zwischen Schüler(-in),<br />
Eltern und Lehrperson. (Die restlichen Fälle beziehen sich entweder nur auf die<br />
Parteien Lehrperson und SchülerIn oder Lehrperson und Elternteil. Es gab jedoch<br />
auch Spannungen, in welche noch weitere Konfliktparteien einbezogen waren wie<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 102 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Schulhausleiter, Klasse, Schulpsychologe etc.). Der Dreieckskonflikt ist somit die am<br />
häufigsten vorgekommene Arena des Konfliktes. Die Lehrperson ist in der Arbeit mit<br />
Schülerinnen und Schüler auf die Mitarbeit der Eltern angewiesen. Denn die Lehrperson<br />
ist während der Schulzeiten für das Unterrichten und Erziehen der SchülerInnen<br />
verantwortlich, und für den Rest der Zeit sind die Eltern verantwortlich. In der<br />
Pubertät sind Jugendliche mitten in der Identitätsfindung und testen die Grenzen,<br />
welche Erziehungspersonen (hauptsächlich Eltern und Lehrperson) ihnen setzen<br />
müssen. Daher ist eine gute Zusammenarbeit, Koordination und Absprache zwischen<br />
den Erziehungspersonen von grosser Wichtigkeit. Alle sind voneinander abhängig<br />
und müssen zusammenarbeiten. Diese Konstellation ist typisch für das Vorkommen<br />
von Konflikten: Wenn Parteien voneinander abhängig sind, geraten sie eher<br />
in Konflikte, meint Kreyenberg (2005), denn sie können sich nicht einfach aus dem<br />
Weg gehen und die Nichtkooperation eines Partners ist für die Parteien folgenschwer.<br />
Nach Belschners (1976) Studie sind es vor allem Konflikte und Schwierigkeiten <strong>im</strong><br />
Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern, die Lehrer in der Schulpraxis als belastend<br />
empfanden. Vor allem Schülerinnen und Schüler (74,5%) bereiten den Lehrpersonen<br />
Schulprobleme und weniger die Eltern (4,1%). In meinen Ergebnissen zeigt<br />
sich hier das Gegenteil. Fünf von neun Fällen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n, die uns von<br />
den Lehrpersonen erzählt worden sind, stammen von Elternseite her und nur vier<br />
von Schülerseite. Natürlich habe ich keine quantitative Studie gemacht, und auch<br />
meine Fragestellung nach verbalen <strong>Angriffe</strong>n ist eine andere als die von Belschner,<br />
welcher nach Belastungen in der Schule fragte. Doch haben uns die befragten Lehrpersonen<br />
vor, während oder nach dem Interview erklärt, dass ihnen heutzutage vor<br />
allem Eltern das Leben schwer machen. Am Abend gäbe es oft noch Telefonate von<br />
den Eltern, die auch wegen Kleinigkeiten sofort anrufen würden. Aus unseren Resultaten<br />
interpretiere ich, dass Schülerinnen und Schüler häufiger als früher wagen, sich<br />
gegen die Lehrperson aufzulehnen und dass die Fälle zunehmen, in denen die Eltern<br />
bei Regelverstoss durch ihren Sohn oder ihre Tochter sich mit ihrem Kind solidarisieren<br />
und gegen die Lehrperson Stellung beziehen, zunehmen. Der von uns <strong>im</strong> nächsten<br />
Abschnitt dargestellte Wunsch von Lehrpersonen, bei Erziehungsfragen in den<br />
Eltern loyale Partner zu finden und mit ihnen „am gleichen Strick zu ziehen―, wird in<br />
diesen (Ausnahme-) Fällen leider nicht erfüllt.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 103 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Fünf der neun erzählten verbalen <strong>Angriffe</strong> waren in eine langandauernde Konfliktgeschichte<br />
eingebettet. In diesen Fällen hatte sich eine Spannung in der Beziehung<br />
zwischen den Konfliktparteien über Jahre hinweg aufgebaut. Nach Glasls Eskalationsdynamik<br />
(1998, Kapitel: Schwellen der Eskalation eines Konflikts) steigt ein Konflikt<br />
<strong>im</strong>mer tiefer ab, wenn er nicht rechtzeitig erkannt und <strong>im</strong> kleinstmöglichen Rahmen<br />
bearbeitet wird. Wenn man die wichtigsten Merkmale der unterschiedlichen Intensitätsstufen<br />
eines Konfliktes (2.3.4 Schwellen der Eskalation) erkennen kann, so<br />
kann man rechtzeitig etwas unternehmen. Man kann weitere Eskalationsschritte verhindern<br />
oder den Konflikt bewusst weiter eskalieren lassen. Man kann für die bestehenden<br />
Differenzen selbst eine konstruktive Lösung finden oder die Erkenntnis fassen,<br />
dass man auf der aktuellen Eskalationsstufe die Probleme nicht mehr selbst in<br />
den Griff bekommen kann und dann Hilfe von aussen suchen. Ich fragte mich, warum<br />
die betreffenden Lehrpersonen nicht vorher Hilfe in Anspruch nahmen, bevor der<br />
Konflikt derart eskalierte. Nahm die Lehrperson die Zeichen der Konfliktdynamik gar<br />
nicht wahr? Oder verdrängte sie diese? Oder wagte sie nicht, hinzuschauen, dass<br />
sie bei diesem Schüler mit ihrem pädagogischen Wirken erfolglos blieb? Oder wollte<br />
sie keine Hilfe in Anspruch nehmen? Im Nachhinein ist man natürlich <strong>im</strong>mer weise,<br />
und ich könnte mir vorstellen, dass alle diese Interpretationen vielleicht zutreffend<br />
sind. Aus der Kasuistik schliesse ich, dass gewisse pädagogische Aufgaben unmöglich<br />
sind: Zum Beispiel kann man einen Schüler, der nichts hört und kein Hörgerät<br />
trägt, <strong>im</strong> Normalunterricht nicht genügend fördern, oder man kann als Sportlehrer<br />
einen Schüler, der motorisch behindert ist, nur begrenzt und <strong>im</strong>mer mit einem gewissen<br />
Verletzungsrisiko verbunden, gemeinsam mit den andern Schülern unterrichten.<br />
Man müsste als Lehrperson dazu stehen können, dass man das nicht kann. Zur eigenen<br />
Begrenztheit stehen ist die Voraussetzung dafür, dass man Hilfe in Anspruch<br />
n<strong>im</strong>mt. Erst wenn die Lehrperson zu ihrer Begrenztheit steht und sagen kann: „Ich<br />
kann unter diesen Umständen meine pädagogische Aufgabe nicht erfüllen―, könnte<br />
sie Massnahmen ergreifen, wie zum Beispiel die Nichtkooperation der Eltern eines<br />
behinderten Kindes be<strong>im</strong> Schulleiter ansprechen und ihn auffordern, mit einer heilpädagogischen<br />
Fachperson und den Eltern zusammenzusitzen und zu besprechen,<br />
wie man mit dem Problem umgehen und es lösen kann. Vielleicht ist es schwierig,<br />
mit dem eigenen Versagen in gewissen Situationen umzugehen und die eigene Begrenztheit<br />
zu stehen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 104 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
Ich verwendete in dieser Arbeit die Erzählanalyse JAKOB von Boothe (2002). Sie<br />
hat sich für die Eruierung der opt<strong>im</strong>alen und negativsten Entwicklung des Ereignisses<br />
in unseren Erzählungen/Berichten gut geeignet, und sie war die Basis für die Gewinnung<br />
der Hypothesen über Wünsche und Befürchtungen von Lehrpersonen. Die JA-<br />
KOB Erzählanalyse wurde noch nie zuvor in einem schulischen Kontext <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit Lehrpersonen angewendet. Ursprünglich ist sie als psychoanalytisch<br />
orientiertes Analyseinstrument für Alltagerzählungen aus Therapiegesprächen geschaffen<br />
worden. In den Wünschen und Befürchtungen unserer befragten neun<br />
Lehrpersonen brachte sie ähnliche Angst- und Wunsch-Themen zum Vorschein. Ich<br />
vermute, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass wir erstens Personen einer best<strong>im</strong>mten<br />
Berufsgruppe befragt haben, zweitens einen Fokus vorgaben (verbale <strong>Angriffe</strong>)<br />
und drittens in unserem Interview-Setting eine Mischform von Erzählung und<br />
Bericht provozierten. Ich nehme an, dass die Erzählanalyse in freien Alltagserzählungen<br />
und <strong>im</strong> therapeutischen Setting tiefere Schlüsse und differenzierendere Aussagen<br />
über die Psychodynamik einer Einzelperson zulässt als in unserem Fall.<br />
Es ist mein Beitrag, dass ich für die Anpassung der Erzählanalyse an meine Fragestellung<br />
die Struktur der Interview-Darstellungen zuerst erschaffen musste. Ich entwickelte<br />
ein Modell der erzählenden Darstellung für die spezielle Mischform von Erzählung<br />
und Bericht, in welchem der verbale Angriff eingebettet ist in ein kritisches<br />
Ereignis am Tag X sowie die dazugehörende Vor- und Nachgeschichte. Die Struktur<br />
erlaubte mir, den opt<strong>im</strong>alsten und den schl<strong>im</strong>msten Verlauf einerseits für das Ereignis<br />
mit dem verbalen Angriff, und andererseits für die ganze Geschichte mit Ausgang<br />
bzw. Konfliktentschärfung zu entwickeln. Zudem konnte ich mit dieser Struktur auch<br />
Aspekte der Konfliktentstehung und Strategien der Konfliktentschärfung analysieren.<br />
Ich gehe davon aus, dass diese Struktur in zukünftigen Arbeiten, die sich mit kritischen<br />
Ereignissen <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> befassen und die mit Erzählungen aus offenen Interviews<br />
arbeiten, verwendet werden kann.<br />
Die Resultate zu den Hypothesen über unbewusste Wünschen und Ängste der<br />
befragten Lehrpersonen in Bezug auf ihre Beziehungen in der Schule gehen in<br />
die Richtung, dass sich Lehrpersonen wünschen, dass Schüler, Schülerinnen und<br />
Eltern für sie loyale Partner sind und sie bei den Eltern in schwierigen Situationen<br />
Unterstützung finden. Ebenso hat meine Analyse Kontrollbedürfnisse und Wünsche<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 105 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
nach beruflichem Erfolg und Anerkennung erbracht. Ängste sind: <strong>im</strong> Notfall ganz alleine<br />
und ohne Unterstützung dazustehen, die Macht und Kontrolle über den Schüler<br />
/ die Schülerin oder gar die ganze Klasse zu verlieren, <strong>im</strong> Chaos zu enden, <strong>im</strong> Beruf<br />
zu versagen, einen schlechten Ruf bei Eltern, Dorfgemeinschaft, Schulgemeinde zu<br />
bekommen. Vielleicht habe ich in diesen Schwerpunkten berufsspezifische Ängste<br />
und Wünsche getroffen. Lehrpersonen haben die Aufgabe, für Pflicht und Ordnung<br />
zu sorgen, nur so gelingt ihnen die Förderung der Schüler und Schülerinnen. Lehrpersonen<br />
haben eine Führungsaufgabe, und Führen heisst auch, hin und wieder alleine<br />
dazustehen. Ich habe auch individuelle Verschiedenheiten analysiert, vor allem<br />
in den Strategien zum Umgang mit der Spannung und dem verbalen Angriff. Weil ich<br />
erfahrene und bestandene Lehrpersonen befragt habe, ist als Resultat meiner Analyse<br />
eine ganze Palette von individuellen Ressourcen für die Konfliktentschärfung zusammengekommen:<br />
Emotional stabil sein (versus labil sein), dazu gehört: Ruhig bleiben, Lösung<br />
anstreben, Verletzung überwinden<br />
Im Kontakt bleiben und offen sein (versus Beziehungsabbruch)<br />
Notfallstrategien zur Verfügung haben<br />
Hilfe anfordern können (anstatt Alleinkämpfer sein wollen)<br />
Interessen für Menschen aufrechterhalten auch nach Kränkung (versus Rückzug<br />
in die Isolation)<br />
Flexibel sein (versus auf eigener Meinung verharren)<br />
Kreative Lösungen finden (versus in alten Gewohnheiten und Meinungen verharren)<br />
Diese Strategien haben sich in meiner Analyse der neun Einzelfälle bewährt.<br />
Zum Schluss möchte ich noch einige kasuistische Bemerkungen zur Frage, wie die<br />
Lehrpersonen den verbalen Angriff verarbeitet und wie sie den Konflikt entschärft<br />
haben, anfügen. Es ist zu bewundern, wie gut Lehrpersonen die <strong>Angriffe</strong><br />
verarbeitet haben. Die Theorie besagt, dass wir mit Selbstzweifeln, die bis zur Verunsicherung<br />
unseres Identitätsgefühls reichen können, reagieren, wenn wir durch<br />
Kränkungen in unserem Selbstwertgefühl geschwächt sind und uns nicht respektiert,<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 106 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
wertgeschätzt, angenommen und verstanden fühlen. Doch Oraisons Sprichwort sagt:<br />
"Geboren werden heisst, in Konflikte geraten." Es ist nicht zu umgehen, dass man als<br />
Lehrperson in Konflikte gerät, die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Alle interviewten<br />
Lehrpersonen stehen mit einem Durchschnitt von 16 unterrichteten Unterrichtsjahren<br />
<strong>im</strong> Beruf. Alle erzählten Fälle wurden von den Lehrpersonen mehr oder<br />
weniger gut verarbeitet. Es scheint, dass ihre Kränkungs- und Ihre Konfliktverarbeitungsstrategie<br />
so weit fortgeschritten, dass ihnen die erfolgreiche Verarbeitung möglich<br />
war. Nach Wardetzki (2000) hilft ein stabiles Selbstwertgefühl für die erfolgreiche<br />
Kränkungsverarbeitung. Ich nehme an, dass alle unseren erfahrenen Lehrpersonen<br />
über ein solches stabiles Selbstwertgefühl verfügten. Im Folgenden möchte ich einige<br />
Beispiele für Strategien des Umgangs mit verbalen <strong>Angriffe</strong>n kasuistisch aufgreifen<br />
und beschreiben. Ich nehme dabei eine ressourcenorientierte Haltung ein, indem<br />
ich die Strategien nicht vergleiche oder bewerte, sondern ihren je eigenen Vorteil<br />
herausgreife.<br />
Im Fall P 9, indem die Lehrperson <strong>im</strong> Unterricht provoziert wird als Schülerinnen ihr<br />
vorgaukeln, sie könnten den Computer nicht bedienen, nachdem sie schon lange am<br />
Computer gearbeitet haben, hat die Lehrperson nach wenigen Versuchen den Fall<br />
der Klassenlehrperson abgegeben und die Schülerinnen und Schüler mit einem<br />
schriftlichen Verweis bestraft. Sie hat sich nicht lange selbst mit dem Konflikt auseinandergesetzt,<br />
sondern sie hat die für sie <strong>im</strong> Moment unerträgliche Aufgabe an eine<br />
Kollegin bzw. einen Lehrerkollegen abgegeben. Dadurch ist es ihr gelungen, sich<br />
nicht provozieren zu lassen. Vielleicht hat sie einen Wutausbruch, der ja für die Person,<br />
welche die Selbstbeherrschung verliert, beschämend ist, erfolgreich abgewehrt.<br />
Ich erachte das als eine erfolgreiche Notfallstrategie.<br />
In Fall P 15 hatte es die Lehrperson mit einer depressiven Schülerin zu tun, welche<br />
ihr <strong>im</strong> Schlussgespräch eine vernichtende Kritik in Form einer Killerphrase gibt. Die<br />
gemeinsame Zusammenarbeit der letzten Jahre wird von der Schülerin ausnahmslos<br />
entwertet. Die Lehrperson zeigt darauf ihre Gefühle, sie bekommt Tränen, und sie<br />
hält der pess<strong>im</strong>istischen Sichtweise der depressiven Schülerin ihre eigene, opt<strong>im</strong>istische<br />
entgegen. Sie kann damit zwar die Schülerin nur teilweise umst<strong>im</strong>men, hat aber<br />
ihre eigene Sichtweise dargestellt und der Schülerin gezeigt, dass man verletzt sein<br />
kann und die Verletzung überstehen kann. Damit war sie der Schülerin ein Modell für<br />
emotionales Lernen. Später tröstete sich die Lehrperson indem sie an die Aussagen<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 107 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Auswertung der Untersuchungsergebnisse<br />
der Mutter dieser Schülerin zurückdachte, welche ihr dankte und ihren Einsatz über<br />
die Jahre würdigte. Sie konnte sich selbst tröstend beeinflussen, indem sie gezielt<br />
an positive Erfahrungen dachte.<br />
Die Lehrperson <strong>im</strong> Fall P6 wird am Telefon von einer Mutter massiv angegriffen und<br />
beleidigt, weil die Tochter den Raum zum Mittagskurs nicht gefunden hat. Es gelingt<br />
ihr am Telefon, den sachlich richtigen Aspekt der Anschuldigung entgegenzunehmen<br />
und sich dafür zu entschuldigen, sie kann aber die Anschuldigung dort, wo es zu viel<br />
ist, zurückweisen. Sie hört zu, entschuldigt sich für eigenes Vergessen und grenzt<br />
sich gleichzeitig erfolgreich ab. Dies scheint mir eine erfolgreiche Strategie zur<br />
Selbstbehauptung bei gleichzeitiger Offenheit <strong>im</strong> Kontakt zu sein.<br />
Die Lehrperson P 10 wird in der Klasse von einem Schüler mehrmals angelogen. Es<br />
geht um Absenzen vom Unterricht wegen Arztterminen. Konkret wünscht sich die<br />
Lehrperson, dass der Schüler seine Lüge zugeben und sich entschuldigen kann.<br />
Hingegen erfüllt der Schüler in diesem Ereignis seine Erwartungen und Wünsche<br />
nicht. Es werden in der Lehrperson Ängste geweckt, welche tiefe Persönlichkeitsschichten<br />
betreffen. Zu diesen gehört u.a. die Angst vor dem schrecklichen Zustand,<br />
dass man niemandem (nicht einmal den nächsten) trauen kann. Hier zeigt sich, dass<br />
die Lehrperson selbst massiv verletzt ist, dem Schüler ihre Wut mitteilen kann, und<br />
schon nach kurzer Zeit einen Strich darunter ziehen kann. Sie bewältigt ihre Verletzung<br />
ohne äussere Hilfe. Sie bietet dem Schüler auch eine Chance, um sich zu entwickeln.<br />
Einerseits indem sie ein Modell ist, wie man mit Enttäuschungen, Verletzungen<br />
und Wut umgeht, andererseits indem sie der Verletzung nicht mit Rache begegnet,<br />
sondern verzeihen und neu beginnen kann.<br />
Die Lehrperson P8 erfährt vom Vater in einem Elterngespräch, dass die Tochter wütend<br />
nach Hause kommt, auch kritisiert der Vater ihren Stil und meint, sie könne die<br />
Klasse mit weniger Strafen führen. Die Lehrperson ist in diesem Moment verletzt,<br />
doch hört sie dem Vater <strong>im</strong>mer noch zu. Und zwar so gut, dass sie mit der Klasse,<br />
die ihr tatsächlich schon seit Monaten Disziplinschwierigkeiten bietet, einen neuen<br />
Weg geht. Sie bespricht mit der Klasse die Disziplinprobleme und bezieht die Schülerinnen<br />
und Schüler bei der Lösung dieser Probleme mit ein, sie zieht sie somit in die<br />
Verantwortung. Zwar gelingt es nicht, die Disziplinprobleme ganz zu lösen, aber die<br />
Lehrperson kommt mit der Klasse auf eine neue Ebene der Problemlösung. Dieser<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 108 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Fall beeindruckt, weil die Lehrperson die Verletzung nicht zum Anlass n<strong>im</strong>mt, sich<br />
aus dem Kontakt zurückzuziehen und zu schmollen. Vielmehr zeigt sie Offenheit <strong>im</strong><br />
Kontakt, Kreativität in der Problemlösung und die persönliche Stärke, eine verletzende<br />
Erfahrung als Chance für einen Neubeginn zu verwerten.<br />
Mein Fazit aus dieser kasuistischen Betrachtung ist, dass viele Wege nach Rom führen.<br />
Es gibt verschiedene "richtige" Konfliktlösestrategien. So wie jede Lehrperson<br />
ein Individuum ist, so hat auch jede ihre individuelle Konfliktlösestrategie und dementsprechend<br />
gibt es unterschiedliche Reaktionen auf die gleiche Ausgangslage eines<br />
Konfliktes. Es stellte sich in den Ergebnissen heraus, dass alle neun Lehrpersonen<br />
Ressourcen für die Lösung des Konflikts oder die Verarbeitung des Angriffs besitzen.<br />
Andererseits gab es Aspekte, die mich nachdenklich st<strong>im</strong>mten. Zum Beispiel erzählte<br />
uns eine Lehrperson ihre Geschichte eines Angriffs von Elternseite in einem kämpferischen<br />
Ton. Es kommt mir vor, wie wenn diese Lehrperson die Aggressionen, welche<br />
ihr von den Eltern entgegenkam, jetzt selbst übernommen hätte. Ich stelle mir da<br />
folgende Fragen: Muss man sich nach verletzenden Erfahrungen mit Eltern von diesen<br />
bedroht fühlen oder geht es auch anders? Und wie viele Kräfte zieht eine defensive<br />
Position gegenüber Eltern vom eigentlichen Lehrberuf ab?<br />
Im letzten Abschnitt widme ich mich der Frage, wie wir Lehrpersonen mit <strong>Angriffe</strong>n,<br />
Verletzungen oder Kränkungen umgehen können, damit wir die Freude an unserem<br />
Beruf erhalten können, und welche Hinweise uns die Fachliteratur zu dieser Frage<br />
gibt.<br />
5.2 Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Um die Freude am Beruf nicht zu verlieren ist es als Lehrperson von grosser Wichtigkeit,<br />
ein gewisses Wissen über den Umgang mit Verletzungen und Kränkungen zu<br />
haben. Ein wichtiger Vorgang be<strong>im</strong> Umgang mit Verletzungen und Kränkungen ist<br />
der Verdrängungsprozess. Alle Lehrpersonen wussten etwas zu erzählen oder zu<br />
berichten, das heisst, verbale <strong>Angriffe</strong> gehören offenbar zum Alltag eines Lehrberufs.<br />
Die Fälle die sie uns erzählten sind die Fälle, die ihnen am meisten in Erinnerung<br />
geblieben sind. Die Lehrpersonen sagten häufig, dass es ganz viele Fälle gäbe, die<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 109 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
sie erzählen könnten, sie sich aber auf die extremsten beschränken. Der Mensch<br />
vergisst auch möglichst schnell die negativen Erlebnisse, damit er überleben kann.<br />
Man nennt diese Art von Vergessen "Verdrängung". Sigmund Freud stellte vor mehr<br />
als hundert Jahren das erste mal die These auf, dass wir Dinge aus unserem Bewusstsein<br />
schieben können, die dann <strong>im</strong> Untergrund lauern und womöglich in anderer<br />
Form wieder an die Oberfläche kriechen (Stöcker, 2007). Ein Forscherteam aus<br />
den USA will gezeigt haben, dass <strong>im</strong> Gehirn Verdrängung stattfindet. "These results<br />
indicate that memory suppression does occur and, at least in nonpsychiatric populations,<br />
is under the control of prefrontal regions." (Depue et al., 2007)<br />
Depue hat eine evolutionäre Theorie darüber, warum der Mensch das Verdrängen<br />
gelernt haben könnte. Er behauptet, es sei um Steinzeit-Jäger vor ständigen traumatischen<br />
Erinnerungen an fürchterliche Ereignisse zu bewahren. Ein Jäger, der ständig<br />
daran denken musste, dass er kürzlich nur knapp einem Raubtier entronnen ist,<br />
hätte unter diesen Erinnerungen so leiden können, dass er aufgehört hätte zu jagen,<br />
und dann wäre er verhungert (Depue et al., 2007). Verdrängen statt verhungern.<br />
Ebenso, so vermute ich zumindest, geht es auch den Lehrpersonen. Sie verdrängen<br />
negative Erlebnisse, um weiterhin unterrichten zu können. Wenn sie ständig an Negativerlebnisse<br />
denken würden, kämen sie schneller an den Anschlag, was sie zum<br />
Burnout führen könnte. Es ist also von grosser Wichtigkeit, Negativerlebnisse verdrängen<br />
zu können. Depue und seine Kollegen sehen generell den beschriebenen<br />
Prozess des Verdrängens durchaus positiv - vielleicht könnte man die neuen Erkenntnisse<br />
eines Tages einsetzen, um Menschen zu helfen, die sich ständig an Dinge<br />
erinnern müssen, die sie allzu gern vergessen möchten. Patienten, die an posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen leiden - etwa Soldaten nach Kriegseinsätzen<br />
oder auch Unfallopfer - werden oft von Flashback-artigen, äusserst unangenehmen<br />
Erinnerungen an ihre Erlebnisse he<strong>im</strong>gesucht. Genauso kann es Lehrpersonen gehen,<br />
die nicht mehr Schlafen können nach Negativerlebnissen in der Schule. Vielleicht,<br />
hofft Depue, könnte solchen Menschen mit Therapieansätzen oder Medikamenten<br />
geholfen werden, die direkt den Verdrängungsweg angehen. Diese sei nun<br />
erstmals so konkret beschrieben worden. (Stöcker, 2007)<br />
Ein anderer Weg, mit Verletzungen und Kränkungen umzugehen ist die Möglichkeit<br />
der Beratung, die genutzt werden kann und soll, sei es ausserhalb oder innerhalb<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 110 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
des schulischen Kontextes: Denner (2000) schreibt, dass Lehrpersonen in Baden-<br />
Württemberg ausserhalb der bisher skizzierten Formen institutioneller Beratung eigene<br />
Möglichkeiten gefunden haben, ihren Beratungsbedarf zu decken. Sie skizzieren<br />
selbstorganisierte Versuche, für die eigene berufliche und persönliche Weiterentwicklung<br />
zu sorgen: Ausserschulische Beratung <strong>im</strong> privaten Raum durch Möglichkeiten<br />
des Rückzugs und der Psychohygiene, einer Selbsterfahrungsgruppe, einer<br />
Therapie oder einer Heilbehandlung in einer psychosomatischen Klinik. Wieder andere<br />
suchen über einen Ferienkursus oder eine Zusatzqualifikation (z.B. in Gestaltpädagogik,<br />
Themenzentrierter Interaktion (TZI), Neurolinguistischem Programmieren<br />
(NLP) oder in Systemischer Beratung) das, was ihnen hilft, gesund, beruflich engagiert,<br />
kompetent und zufrieden zu bleiben oder zu werden. Den Kolleginnen und Kollegen<br />
bleiben diese Aktivitäten verborgen, falls sich nicht Gleichgesinnte einer Schule<br />
zusammentun. Mit "Supervision", "Pädagogischer Fallbesprechung" und "Kollegialer<br />
Beratung" kommen drei neuere Konzepte der Lehrerberatung in den Blick. Diese<br />
können als individuelle Angelegenheit organisiert sein oder auch zur gemeinsamen<br />
Sache von Kollegen und Kolleginnen einer Schule werden. Im Buch „Supervision―<br />
schreibt Schneider (2000, S. 12):<br />
Wissen und Können tragen letztendlich nur dann zu beruflichem, privatem,<br />
gesellschaftlichem, geistigem und seelischem Wohlergehen bei, wenn es von<br />
sich entwickelnden Persönlichkeiten gelebt wird. Insofern n<strong>im</strong>mt für mich als<br />
Lehrer und Supervisor hinter aller Wissensvermittlung und aller Schulung von<br />
Fertigkeiten und Kompetenzen die Entwicklung und Förderung der Persönlichkeit<br />
<strong>im</strong> Sinne einer reifen professionellen und privaten Rollenidentität eine<br />
Schlüsselposition ein.<br />
Auch jede Mitarbeiterbeurteilung sollte die Förderung der Persönlichkeit und somit<br />
des Selbstvertrauens der Lehrpersonen <strong>im</strong> oben zitierten Sinn zum Ziel haben, wobei<br />
wir wieder bei Wardetzkis Zitat angelangt wären. An der Pädagogische Hochschule<br />
Zentralschweiz Luzern wird ausdrücklich gelehrt, dass man sich als Lehrperson abgrenzen<br />
muss, weil ungenügende Abgrenzung zu Burnout führen kann, was eine<br />
Übereinst<strong>im</strong>mung zu bisherigen Untersuchungen u.a. von Schaarschmidt (2007)<br />
darstellt. Burnout war <strong>im</strong> 8. Semester ein halbes Jahr lang Thema eines Seminars,<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 111 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
um präventiv darauf vorbereitet zu werden und zu wissen, welche Symptome Anzeichen<br />
für Burnout sind, um diese frühzeitig zu erkennen. Der Lehrberuf gehört bekanntlich<br />
zu den gefährdetsten Berufen für Burnout. Diese Tatsache ist nichts Neues.<br />
Es gibt es schon genügend Untersuchungen und Literatur zum Thema Burnout. Uns<br />
Studenten wurde auch die "Fachstelle für Schulberatung des Kanton Luzern" (fsb)<br />
vorgestellt und zur Nutzung empfohlen.<br />
Bei den verwendeten Gefühlswörtern nach Rosenberg kommen "wütend" und "verletzt"<br />
am häufigsten vor bei den Lehrpersonen. Wut, Ärger und Zorn beschreiben<br />
viele Beteiligte als die unangenehmen Gefühle bei Konflikten. Diese werden von den<br />
Empfängern häufig als <strong>Angriffe</strong> erlebt. Dabei kommen Fragen auf wie: Welcher Umgang<br />
ist mit wütenden Personen angebracht? Wie kann ich am besten mit meiner<br />
eigenen Wut umgehen? Wut ist in solchen Situationen unvermeidlich. In der Einleitung<br />
fragte ich mich, wie sich eine Lehrperson professionell verhalten kann, wenn<br />
solche Emotionen in ihr hochkommen. Im Kapitel 2.4 wurde beschrieben, dass verbale<br />
<strong>Angriffe</strong> nicht objektiv definierbar sind, denn wie wir in Schultz von Thuns 4-<br />
Ohren-Modell gesehen haben ist es individuell, wie der Empfänger eine Nachricht<br />
empfängt. Auch Tücke (2003) beschreibt das subjektive Erleben als die vielleicht<br />
wichtigste Komponente der Emotionen. Die individuelle Interpretation der jeweiligen<br />
Situation spielt nach Tücke dabei eine wichtige Rolle, weil subjektiv erlebte Gefühle<br />
sind situationsspezifisch und variieren von Person zu Person. Unterschiedliche Reize<br />
rufen bei unterschiedlichen Personen unterschiedliche Reaktionen hervor. Ich frage<br />
mich nun was die Fachliteratur sagt, wie man mit den subjektiv empfundenen Gefühlen<br />
umgehen kann, damit die Reaktion als Lehrperson professionell ist. Nach Bauer<br />
(et al. ,1999, S. 15):<br />
Pädagogisch professionell handelt eine Person, die gezielt ein berufliches<br />
Selbst aufbaut, das sich an berufstypischen Werten orientiert, sich eines umfassenden<br />
pädagogischen Handlungsrepertoires zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben<br />
sicher ist, sich mit sich und anderen Angehörigen der Berufsgruppe<br />
Pädagogen in einer nicht-alltäglichen Berufssprache verständigt, ihre<br />
Handlungen unter Bezug auf eine Berufswissenschaft begründen kann und<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 112 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
persönlich die Verantwortung für Handlungsfolgen in ihrem Einflussbereich<br />
übern<strong>im</strong>mt.<br />
Was braucht eine Lehrperson, wenn sie wütend ist, um professionell handeln zu<br />
können? Aus der Wut heraus brechen wir die Beziehung zum Kränkenden ab und<br />
wollen mit ihm nichts mehr zu tun haben. In unserem Trotz sinnen wir häufig auf Rache<br />
und Vergeltung. In der Kränkung drücken wir aus: "So will ich das nicht haben,<br />
da mach´ ich nicht mehr mit" (Wardetzki, 2000). Beschwichtigungen oder Nichtbeachtung<br />
sind meist fehl am Platz, da sie die wütende Person grösstenteils nur noch<br />
mehr erzürnen. Viel hilfreicher ist es, den Ärger ernst zu nehmen. Wut drückt eine<br />
Unzufriedenheit mit dem momentanen Zustand aus, der verändert werden soll. Hier<br />
ist das Verhalten auf die eigene Wut, die man als Lehrperson hat, zu verstehen und<br />
auf der anderen Seite die Wut der Schülerinnen oder Schüler, beziehungsweise der<br />
Eltern, die sich gegenüber der Lehrperson äussert, ernst zu nehmen, um am besten<br />
damit umgehen zu können. Wie kann man aber am besten mit der eigenen Wut umgehen?<br />
Frey (2000) nennt in "Gelassenheit siegt" folgende Punkte, die zum Überwinden der<br />
eigenen Wut zu befolgen sind:<br />
<br />
<br />
<br />
Bewusstheit: Zuerst ist es wichtig Klarheit darüber zu erlangen, was einem<br />
verärgert. Dabei ist es wichtig die inneren und äusseren Faktoren, die ein Ärgernis<br />
auslösen, zu erkennen. Die Gefühle, die ausgelöst werden, widerspiegeln<br />
dabei die Bedürfnisse. Die äusseren Faktoren sind nur der Auslöser der<br />
Gefühle, nicht aber die Ursache.<br />
Bedürfnisse ausdrücken: Sobald die Bedürfnisse identifiziert werden konnten,<br />
die hinter dem Ärger liegen, sollte man versuchen diese in Form von Bitten<br />
auszudrücken. (Dabei ist es wichtig die Bitten nicht wie Forderungen zu formulieren,<br />
da solche konfliktfördernd wären.) Ich-Botschaften, wie sie in der<br />
gewaltfreien Kommunikation (GFK) gebraucht werden, sind hier empfehlenswert.<br />
St<strong>im</strong>mungen beeinflussen: Falls man eine zu Ärger neigende Person ist, soll<br />
man versuchen gezielt über einen gesetzten Zeitraum, beispielsweise eine<br />
Minute, zu lächeln. Man kann dabei feststellen, wie lang eine Minute ist und<br />
wie wenig man es sich gewöhnt ist zu lächeln.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 113 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
<br />
<br />
<br />
Sich Gutes tun: Viele Menschen sind sehr streng mit sich selbst, wenn sie sich<br />
ärgern oder einen Fehler machen. Belohnungen sind jedoch sehr wichtig und<br />
so sollte man sich selbst jeden Tag drei Dinge vornehmen, die einem Freude<br />
bereiten.<br />
Adrenalin abbauen: Wutausbrüche, Herumtoben und Gewalttätigkeiten helfen<br />
dem Abbau von Wut nicht. Solche Verhaltensweisen können die Ursache der<br />
Wut nicht aus der Welt schaffen, sie richten nur Schäden an und lassen das<br />
Beziehungsumfeld gespannter werden, was zu weiteren Konflikten führen<br />
kann. Zum Abbau von Adrenalin ist es jedoch empfehlenswert Sport zu machen.<br />
So kann man die überschüssige Energie sinnvoll verarbeiten.<br />
Entspannung: Stille, Ruhe und Einsamkeit fördern die Entspannung und ermöglichen<br />
die eigene Gelassenheit wieder zu finden. Auch Lachen hilft hier,<br />
denn es dies ist ja bekanntlich die beste Medizin.<br />
Wie gehe ich damit um, wenn jemand (Schülerin/Schüler oder Elternteil) wütend ist?<br />
Frey (2000) nennt folgende Punkte, um mit der Wut einer anderen Person umzugehen:<br />
<br />
<br />
<br />
Pausentechnik: Zuerst sollte man einfach nur zuhören, den Blickkontakt halten<br />
und schweigen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Wutausbrüche<br />
nach durchschnittlich etwa sieben Minuten vorbei sind, da den Wütenden<br />
dann die Argumente ausgehen.<br />
Aktiv zuhören: Durch ein inhaltliche Zusammenfassung der Punkte, die das<br />
Ärgernis verursachen und eine Formulierung der dahinter liegenden Bedürfnisse,<br />
kann man das Gehörte besser wahrnehmen. Man kann dabei zwischen<br />
der inhaltlichen Ebene und der eigenen emotionalen Reaktion unterscheiden.<br />
Entschuldigen: Dort wo die Kritik berechtigt ist, sollte man sich entschuldigen<br />
und nach einer sachlichen Lösung des Problems suchen. Wichtig ist es, nie<br />
direkt zu widersprechen, da dies die negative St<strong>im</strong>mung nur anheizen würde.<br />
Viel mehr sollte man sich jetzt auf die Punkte konzentrieren, bei denen man<br />
eine ähnliche Ansicht vertritt. Die Punkte, bei denen man nicht einverstanden<br />
ist, verschiebt man zur Besprechung besser auf später, da das Gegenüber<br />
dann viel eher sachlich reagieren wird.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 114 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
<br />
<br />
Ziel <strong>im</strong> Auge behalten: Man muss sich fragen, ob es in dieser jeweiligen Situation<br />
mehr Vorteile hat sich einen Wutanfall zu leisten oder das Problem sachlich<br />
anzugehen und so auch das eigenen Ziel zu erreichen.<br />
Energiepotenzial sehen: Um die grundlegenden Bedürfnisse des Anderen zu<br />
sehen, muss man ihn ernst nehmen und das Energiepotenzial erkennen, das<br />
hinter der jeweiligen Aggression liegt.<br />
Diese Art von Wutmanagement kann hilfreich sein. Es ist sicherlich von Vorteil, wenn<br />
man sich dessen bewusst ist. Die Situation der Wut kommt erwartet oder unerwartet,<br />
aber reagieren muss man sofort. Wenn Zeit bleibt, nachzudenken über die Handlung<br />
(Reaktion) einer kritischen Situation, dann öffnen sich weitere Möglichkeiten, welche<br />
<strong>im</strong> ersten Teil der Diskussion schon erwähnt wurden.<br />
Die (unbewussten) Wünsche und Befürchtungen, die sich in dieser Arbeit ergeben<br />
haben, sind also von grosser Relevanz. "Menschliches Verhalten ist zu einem überwiegenden<br />
Teil nicht vernunftorientiert ("kopfgesteuert"), sondern wird überwiegend<br />
durch Gefühle, St<strong>im</strong>mungen und unbewusste Impulse getrieben ("bauchgesteuert")."<br />
(Kreyenberg, 2005, S. 296)<br />
Das bekannte Eisbergmodell veranschaulicht dies ebenfalls. Das Eisberg-Modell des<br />
Bewusstseins geht auf den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856 -<br />
1939) zurück und ist Teil seiner allgemeinen Theorie der Persönlichkeit. Das<br />
menschliche Bewusstsein ist danach gut zu verstehen, wenn man es mit einem <strong>im</strong><br />
Meer treibenden Eisberg vergleicht. Be<strong>im</strong> Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
ist es Verständnis fördernd, wenn man weiss dass die Spitze des Eisbergs die<br />
rationalen sichtbaren Äusserungen auf der Sachebene sind, die getragen werden<br />
von einem verdeckten Berg von Gefühlen auf der Beziehungsebene. Der Konflikt ist<br />
also zum grössten Teil nicht sichtbar aussen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 115 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Der sichtbare Konflikt ist nur die Spitze des Eisbergs; unter der Oberfläche gibt es<br />
alle denkbaren Gründe für den betreffenden Konflikt.<br />
Abbildung 8: Das Eisbergmodell<br />
(http://www.mediation.peterrosenkranz.de/Der_Konflikt/Der_Eisberg/der_eisberg.html<br />
besucht am 24. Oktober 2007)<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 116 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Kommunikation beinhaltet auch nach Watzlawick (1990) <strong>im</strong>mer einen rationalen und<br />
eine emotionalen Inhalt. Der emotionale Anteil besitzt ein sehr grosses Gewicht, ist<br />
aber nicht sichtbar! Er wirkt wie ein Eisberg, der nur den Inhalt, die Spitze des Eisberges<br />
zeigt. Emotionale Ungere<strong>im</strong>theiten werden durch rationale Argumente verdeckt.<br />
Abbildung 9: Eisbergmodell nach Schultz von Thun und Watzlawick<br />
(http://www.buchwiss.uni-erlangen.de/Materialien/JanssenEisberg.pdf abgerufen am<br />
24. Oktober 2007)<br />
Je nachdem wie die Lehrpersonen die Äusserungen der Schülerinnen und Schüler<br />
oder der Elternteile "gehört" haben, fühlten sie sich angegriffen oder verletzt.<br />
Für manche Lehrpersonen kann eine Aussage schon ein Angriff darstellen, für andere<br />
noch überhaupt nicht (Schultz von Thuns Modell). Dies war in den Interviews den<br />
befragten Lehrpersonen meist gut anzumerken. Es gab einige, die sich noch nie verbal<br />
angegriffen fühlten. Auf der Selbstkundgabe- sowie auf der Beziehungsebene<br />
läuft hier ein entscheidender Prozess ab.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 117 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Auch die eigenen Wünsche und Befürchtungen, die eigenen "wunden Punkte" sollte<br />
man sich bewusst werden. Berckhan schreibt ebenfalls vom "wunden Punkt", der uns<br />
durch andere unabsichtlich verletzen kann, wenn er von ihnen getroffen wird. Dies<br />
sind, wie auch durch Wardetzki (2000) <strong>im</strong> Theorieteil beschrieben "alte seelische<br />
Verletzungen, die noch nicht richtig verheilt sind" (Berckhan, 2003, S. 222). Das kann<br />
nach Berckhan verhindert werden, wenn die Betroffenen darüber reden, was sie verletzt<br />
oder gekränkt hat, statt gleich zurückzuschlagen oder den anderen (z.B. nach<br />
dem Motto "Wie du mir, so ich dir.") zu bestrafen. Allerdings wird hier vorausgesetzt,<br />
dass einem die eigenen wunden Punkte bewusst sind und sich der oder die Betreffende<br />
in der eigenen Seele auskennt, also ein gewisses "Selbstbewusstsein" hat.<br />
Berckhan (2003, S. 18) schreibt, dass "Gefühle und Einstellungen, die wir anderen<br />
Menschen oder best<strong>im</strong>mten Situationen gegenüber haben, von uns selbst verursacht<br />
werden." Es geht darum, wie unsere Selbstsicherheit und Gelassenheit von innen<br />
her entstehen kann. Das "seelische Fundament unserer Selbstbehauptung", schreibt<br />
Berckhan weiter hänge damit zusammen, welches Selbst über unser inneres "Betriebskl<strong>im</strong>a"<br />
best<strong>im</strong>mt. Berckhan nennt das kritisierende Selbst den inneren Kritiker,<br />
das antreibende Selbst den inneren Antreiber. "Bei den meisten Menschen, Frauen<br />
wie auch Männern, beherrschen der innere Kritiker und der innere Antreiber das seelische<br />
Betriebskl<strong>im</strong>a." (Berckhan, 2003, S. 19) Das heisst, das "kritisierende Selbst"<br />
erteilt uns Befehle, es macht uns Vorschriften, droht mit Katastrophen, wenn wir gegen<br />
seine Vorschriften verstossen, vergleicht uns mit anderen und lässt uns dabei<br />
schlechter abschneiden, reibt uns Fehler, Versagen und Misserfolge unter die Nase,<br />
kritisiert unsere Leistung, unsere Art und Weise mit anderen umzugehen, verurteilt<br />
unsere Gefühle und Bedürfnisse und entmutigt uns. Der "innere Antreiber" arbeitet<br />
Hand in Hand mit dem inneren Kritiker zusammen, verlangt von uns Perfektion und<br />
Vollkommenheit, gönnt uns keine Pause, sagt uns, dass wir uns zusammenreissen<br />
sollen und uns anstrengen müssen, sagt uns ständig, was wir noch alles tun müssen<br />
und duldet keine mittelmässigen Leistungen. Berckhan betont, dass es wichtig zu<br />
verstehen ist, dass sowohl der innere Kritiker als auch der innere Antreiber keine bösen<br />
oder verrückten Teile unserer Persönlichkeit sind. "Beide Seelenteile sind in ihrer<br />
positiven Funktion durchaus dienlich und produktiv." (Berckhan, 2003, S. 29). Gefährlich<br />
werden diese Teile der Seele erst, wenn sie übermächtig werden, das heisst<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 118 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
wenn man ihnen zu viel Macht gibt und gleichzeitig andere Teile unterdrückt. Dies ist<br />
eine Form von Selbstunterdrückung. Berckhan rät, diese unterdrückten Teile der<br />
Seele hervorzuholen und aufleben zu lassen. Dies sei ein Akt von Selbstbehauptung<br />
sich selbst gegenüber. Berckhan schreibt "wenn wir selbst von der Berechtigung unserer<br />
Wünsche und Forderungen überzeugt sind, können wir auch andere davon<br />
leichter überzeugen." Als Lehrperson sollte man sich der eigenen Wünsche und Forderungen<br />
an die Eltern oder Schülerinnen und Schüler bewusst und überzeugt sein,<br />
um sich selbst vor ihnen zu behaupten. Dabei ist wichtig, dass man sich über den<br />
Streit stellen kann, also eine Distanz zum Konfliktgeschehen entwickelt. So kann<br />
man den Streit von aussen sehen und ihn so besser durchschauen. Berckhan nennt<br />
diese Selbstbehauptungsstrategie "inneres Schutzschild".<br />
Nicht für alle Menschen und Interessengruppen in der Schule sind alle Ziele gleich<br />
oder gleich wichtig. Neben schulischen Interessen sind ausserdem auch persönliche<br />
Interessen vorhanden. Für eine Erreichung dieser Ziele nehmen Menschen jeweils<br />
aus ihrem Blickwinkel unterschiedliche Wege und Strategien wahr, wollen möglicherweise<br />
unterschiedliche Handlungswege realisieren (Schütz, 2003). Dabei werden<br />
unterschiedliche Ressourcen genutzt und verschiedene Rollen eingenommen –<br />
private und berufliche Rollen. Möglicherweise widersprechen sich diese Rollen. So<br />
können Lehrpersonen in ihren Ansichten, Überzeugungen, Richtungen, Vorlieben<br />
überein oder nicht übereinst<strong>im</strong>men. Elternteile massen sich zum Teil an, vor allem<br />
wenn sie beruflich selber auch in einer Führungsrolle stehen, der Lehrperson reinzureden<br />
wie sie unterrichten sollten. Letztlich beeinflussen Personen mit ihrer Persönlichkeit<br />
das Geschehen, insbesondere wenn es sich eben um Führungspersonen<br />
handelt.<br />
Grundsätzlich hat in der heutigen Zeit zuerst der Sohn oder die Tochter recht, egal<br />
was passiert ist. Früher haben die Eltern grundsätzlich der Lehrperson geglaubt und<br />
die Tochter oder der Sohn wurde bestraft. Diese Haltung der Eltern gibt den Schülerinnen<br />
und Schülern Selbstvertrauen und sie getrauen sich eine Lehrperson zu testen.<br />
Sie wissen und nutzen dies vielleicht zu einem gewissen Grad auch aus, dass<br />
ihre Eltern grundsätzlich hinter ihnen stehen. Dies führt meiner Meinung nach auch<br />
zu Provokationen. Eine Lehrperson drückte dies mit "Kritisieren" aus, was auch ein<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 119 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
wenig in diesen Bereich hinein geht. Diese Schülerin wagte sich die Lehrperson unter<br />
vier Augen zu kritisieren und machte ihr Vorwürfe. Dies könnte ein ähnlicher<br />
Grund haben. Dazu kommt in diesem Fall vielleicht, dass die Schülerin wusste, dass<br />
die Lehrperson sie in der Klasse behalten hatte, weil sie eine Drohung aussprach,<br />
welche Wirkung zeigte. In einem gewissen Mass hatte diese Schülerin die Lehrperson<br />
<strong>im</strong> Griff. Wie könnte sie sich dagegen wehren? Die Lehrperson hat nicht nur mit<br />
dieser Schülerin eine sozialpädagogische Aufgabe, sonder vielmehr braucht sie in<br />
dieser Situation eine psychologische Hilfskraft. Bei der Beantwortung der zweiten<br />
Fragestellung zeigte sich in diesem Fall, dass die Schülerin unter einer Depression<br />
leidet. Die Lehrperson hätte durch eine Supervision bei einer psychologischen Beraterin<br />
(zum Beispiel der fsb) diese Depression vorausgesehen und sich so schützen<br />
können.<br />
Früher hatte man in der Sekundarlehrerausbildung keine Veranstaltung über Konfliktmanagement.<br />
In der heutigen Zeit ist es als Lehrperson wichtig, vorbereitet zu<br />
sein auf "kritische Ereignisse <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong>". Möglichkeiten wie man ein Konfliktgespräch<br />
führen kann und Grundregeln der Kommunikation in der Gesprächsführung<br />
lernt man in der heutigen Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule <strong>im</strong> Modul<br />
Kommunikationstraining. Es ist nicht zu erwarten, dass zukünftige Lehrpersonen nur<br />
durch ein Modul wissen wie man reagieren kann in kritischen Situationen, aber sie<br />
haben zumindest Möglichkeiten aus der Gesprächsführung kennengelernt. Dazu wäre<br />
es von Vorteil, wenn man vor allem als junge, unerfahrene Lehrperson regelmässig<br />
eine Supervision oder ein Coaching besuchen müsste. Auch wenn man selbst<br />
nichts merkt, das sich anbahnen könnte, merkt die Supervisorin früher, wenn sich<br />
etwas anbahnt oder kann unerklärliche Situationen verständlich machen. Sie kann<br />
einer jungen Lehrperson Konfliktlösestrategien aufzeigen, die ihr hilfreich sein könnten.<br />
Nur ein Bruchteil ist wahrnehmbar.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 120 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Diskussion<br />
Umgang mit Verletzungen und Kränkungen<br />
Fazit: In dieser Arbeit glaube ich gezeigt zu haben, dass es <strong>im</strong> emotionalen Bereich<br />
ganz best<strong>im</strong>mte Anforderungen an die Beziehungskompetenz der Lehrperson gibt,<br />
wenn sie <strong>im</strong> Lehrberuf ohne Burnout bestehen will. Dazu gehört die Fähigkeit, die<br />
Aufgabe für Kontrolle und Ordnung <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer zu sorgen, mit der Aufgabe <strong>im</strong><br />
Kontakt offen zu sein, trotz Verletzungen neugierig zu bleiben und für kreative Lösungen<br />
flexibel zu sein, zu vereinbaren. Vor allem gehört ein gutes Selbstwertgefühl<br />
dazu, damit Kränkungen welche durch spontane emotionale Ausbrüche, sowohl auf<br />
Schüler, wie auch auf Elternseite vorkommen zu verarbeiten und zu überwinden und<br />
sich nicht zurückzuziehen oder Beziehungen nicht abzubrechen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 121 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Literaturverzeichnis<br />
6 Literaturverzeichnis<br />
Belschner, W. (1976). Schulprobleme: Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen<br />
Lehrer und Schüler. In W. Belschner, M. Hoffmann, F. Schott, & C. Schulze (Hrsg.),<br />
Verhaltenstherapie in Erziehung und Unterricht (Bd. I Grundlagen, S. 13-35). Stuttgart:<br />
Klett.<br />
Berckhan, B. (2003). Die etwas gelassenere Art, sich durchzusetzen. München:<br />
Wilhelm Heyne Verlag.<br />
Bickhoff, M. (2004). Psychische und körperliche Belastung bei Lehrkräften. Eichstätt:<br />
BPB-Verlag.<br />
Boothe, B. (1994). Der Patient als Erzähler in der Psychotherapie. Göttingen:<br />
Vandenhoeck & Ruprecht.<br />
Boothe, B. (2007). Klinische Erzählanalyse - JAKOB. Skript aus der<br />
Supervisionsstunde, 26. April 2007.<br />
Boothe, B. (1999). Psychoanalyse <strong>im</strong> Dialog - Im psychotherapeutischen Alltag und<br />
<strong>im</strong> literarischen Kontext. (A. von Wyl, Hrsg.) Bern: Peter Lang AG, Europäischer<br />
Verlag der Wissenschaften.<br />
Boothe, B., Gr<strong>im</strong>mer, B., Luder, M., Luif, V., Neukom, M., & Spiegel, U. (Oktober<br />
2002). Manual der Erzähanalyse JAKOB. Berichte aus der Abteilung Klinische<br />
Psychologie .<br />
Bütting, K.-D. (2002). Praktische Stilistik: Schreibaufgaben. Abgerufen am 21.<br />
November 2003 von<br />
http://www.uni-essen.de/linguistik.buenting/Stilaufgaben_2002.pdf<br />
Clark, C. (1973). Brainstorming. Methoden der Zusammenarbeit und Ideenfindung.<br />
München: Verlag Moderne Industrie.<br />
Definition Bericht. (Juni 2007). Abgerufen am 07. Juni 2007 von<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Bericht<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 122 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Literaturverzeichnis<br />
Definition Erzählung. (Mai 2007). Abgerufen am 07. Juni 2007 von<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Erzählung<br />
Denner, L. (2000). Gruppenberatung für Lehrer und Lehrerinnen - eine empirische<br />
Untersuchung zur Wirkung schulinterner Supervision und Fallbesprechung. Bal<br />
Heilbrunn: Klinkhard.<br />
Depue, B. E., Curran, T., & Banich, M. T. (Juli 2007). Prefrontal Regions Orchestrate<br />
Suppression of Emotional Memories via a Two-Phase Process. Abgerufen am 18.<br />
Oktober 2007 von http://www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/317/5835/215<br />
Der Bericht. (kein Datum). Abgerufen am 7. Juni 2007 von<br />
http://www.zum.de/Faecher/Materialien/dittrich/Berichten/Theorie_Berichten.htm<br />
Die neun Eskalationsstufen nach F. Glasl. (2006). Abgerufen am 15. Oktober 2007<br />
von http://www.humanfocus.at/de/downloads/Eskalationsstufen.pdf<br />
Döring, D. (Juni 2007). Tief getroffen - Wie Sie auf Kränkungen richtig reagieren.<br />
Psychologie Heute , S. 26-29.<br />
Fölling-Albers, M. (1995). Schulkinder aus Lehrersicht - Unterricht und Schulleben<br />
unter veränderten Sozialisationsbedingungen. In H. Eberwein, & J. Mand (Hrsg.),<br />
Forschen für die Schulpraxis (S. 88-102). Weinhe<strong>im</strong>: Deutscher Studien-Verlag.<br />
Glasl, F. (2002). Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte,<br />
Beraterinnen und Berater. Bern, Stuttgart: Verl. Freies Geistesleben.<br />
Glasl, F. (1998). Selbsthilfe in Konflikten. Stuttgart: Verl. Freies Geistesleben.<br />
Glossar wissenschaftlicher Texsorten. (kein Datum). Abgerufen am 7. Juni 2007 von<br />
http://www.ph-freiburg.de/deutsch/vademec/glossar.htm<br />
Jung, C. G. (1978). Psychologische Typen, Gesammelte Werke (Bd. VI). Olffen:<br />
Walter.<br />
Kopka, A., & Brindt, S. (1999). Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit. (K.-<br />
O. Bauer, Hrsg.) Weinhe<strong>im</strong> und München: Juventa.<br />
Kreyenberg, J. (2005). Handbuch Konfliktmanagement. Berlin: Cornelsen.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 123 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Literaturverzeichnis<br />
Luft, J. (1972). Einführung in die Gruppendynamik. Stuttgart: Klett Verlag.<br />
Rosenberg, M. (2005). Gewaltfreie Kommunikation - eine Sprache des Lebens.<br />
Paderborn: Junfermann Verlag.<br />
Schaarschmidt, U. (2007). Gerüstet für den <strong>Schulalltag</strong>. Weinhe<strong>im</strong>: Belz.<br />
Schneider, J. (2000). Supervision, Supervidieren & beraten lernen. Paderborn:<br />
Junfermannsche Verlagsbuchhandlung.<br />
Schütz, P. (2003). Grabenkriege <strong>im</strong> Management. Frankfurt: Ueberreuter.<br />
Schulz von Thun, F. (1981). Miteinander reden 1 - Störungen und Klärungen.<br />
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.<br />
Schulz von Thun, F. (1989). Miteinander reden 2 - Stile, Werte und<br />
Persönlichkeitsentwicklung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.<br />
Schulz von Thun, F., Ruppel, J., & Stratmann, R. (2000). Miteinander reden für<br />
Führungskräfte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.<br />
Stöcker, C. (Juli 2007). Negative Erinnerungen - Hirn be<strong>im</strong> Verdrängen beobachtet.<br />
Abgerufen am 18. Oktober 2007 von<br />
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,494236,00.html<br />
Storch, M., & Krause, F. (2002). Selbstmanagement - ressourcenorientiert.<br />
Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell.<br />
Bern: Huber.<br />
Tücke, M. (2003). Grundlagen der Psychologie für (zukünftige) Lehrer. Münster: LIT<br />
Verlag.<br />
Wardetzki, B. (2000). Ohrfeigen für die Seele - Wie wir mit Kränkung und<br />
Zurückweisung besser umgehen können. München: Kösel Verlag.<br />
Watzlawick, P., & Beavin, J. H. (1990). Menschliche Kommunkation - Formen,<br />
Störungen, Paradoxien. Bern: Huber.<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 124 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Abbildungsverzeichnis<br />
7 Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1: Kommunikationsquadrat von Schultz von Thun ................................... 14<br />
Abbildung 2: Eskalationsdynamik von Konflikten nach Glasl, 1998 .......................... 30<br />
Abbildung 3: Kränkungsdynamik nach Wardetzki (2000) ......................................... 33<br />
Abbildung 4: <strong>Verbale</strong>r Angriff und Verletzung (Kränkung) ........................................ 35<br />
Abbildung 5: Johari-Fenster ...................................................................................... 64<br />
Abbildung 6: Kritisches Ereignis, Mischform "Erzählung/Bericht" und Verknüpfung der<br />
Begriffe ..................................................................................................................... 79<br />
Abbildung 7: Einbettung des verbalen Angriffs in ein Konfliktgeschehen und meine<br />
Hypothesen über opt<strong>im</strong>ale Verläufe (SOLL) und "worst-case-Verläufe (ANTI-SOLL)<br />
................................................................................................................................. 87<br />
Abbildung 8: Das Eisbergmodell ............................................................................. 116<br />
Abbildung 9: Eisbergmodell nach Schultz von Thun und Watzlawick ..................... 117<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 125 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Tabellenverzeichnis<br />
8 Tabellenverzeichnis<br />
Tabelle 1: Prozentuale Häufigkeiten der Schulprobleme aus der Sicht der Lehrperson<br />
bezogen auf einzelne Kategorien. Zitiert nach Belschner (1976), S. 19. .................. 11<br />
Tabelle 2: Konfliktarten nach Kreyenberg (2005, 25f) .............................................. 19<br />
Tabelle 3: Die häufigsten Konfliktsymptome nach Kreyenberg (2005, S. 16) ........... 27<br />
Tabelle 4: Differenzierung von Konflikten aufgrund unterschiedlicher Fragen zu den<br />
beteiligten Parteien (Glasl vs. Kreyenberg) .............................................................. 29<br />
Tabelle 5: Gefühlsäusserungen nach Rosenberg (2005, S. 64) ............................... 41<br />
Tabelle 6: Vergleich Erzählung – Bericht .................................................................. 51<br />
Tabelle 7: Definition und Eingrenzung des Begriffs „verbaler Angriff― ...................... 77<br />
Tabelle 8: Transkribierte Erzählungen von verbalen <strong>Angriffe</strong>n in der Schule ........... 78<br />
Tabelle 9: Häufigkeit der Klassen ............................................................................. 83<br />
Tabelle 10: Gefühlsbeschreibung und Einordnung in Gefühlsklassen ...................... 86<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Seite 126 von 126
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Anhang<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
A. INTERVIEWLEITFADEN<br />
B. BRIEF<br />
C. TRANSKRIPTIONEN<br />
D. ANALYSERASTER - LEER<br />
E. ANALYSERASTER – ZWEI ANONYMISIERTE FÄLLE<br />
F. ERGÄNZENDE THEORIE<br />
F.1 Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun<br />
F.2 Konfliktparteien<br />
F.3 Ergänzung zu den Emotionstheorien von Plutchik und Traxel<br />
F.3.1 Ansatz nach Plutchik (1980)<br />
F.3.2 Ansatz nach Traxel (1963)<br />
F.4 Ergänzungen zur Erzählanalyse JAKOB<br />
F.5 Prototypische Wunsch- und Angstthemen der Erzählanalyse JAKOB<br />
G. ANHANG ZU DEN ERGEBNISSEN<br />
H. IDEEN FÜR WEITERFÜHRENDE ARBEITEN<br />
H.1 Gefühlsdeutungen Emotionsschemen<br />
Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007 Anhang
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Interviewleitfaden<br />
A. Interviewleitfaden<br />
Fragebogen an die Lehrpersonen<br />
1. Informationen zur LP (anfangs Interview abzuklären)<br />
Fallnummer:<br />
Alter:<br />
Geschlecht:<br />
Anzahl unterrichtete Schuljahre und Klasse/Stufe:<br />
Aktuelle Tätigkeit (Klasse, Stufe?):<br />
Vorbildung der LP:<br />
2. Mündliche (neutrale) Einleitung für die Interviews<br />
(bei jedem Interview gleich):<br />
„Wie du dem Brief bereits entnehmen konntest, machen wir eine Masterarbeit an der<br />
PHZ.<br />
Bei dieser Arbeit interessiert mich was du als Lehrperson <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> alles hören<br />
darfst oder musst.“<br />
3. Interview<br />
a. Schilderung eines positiven Ereignisses<br />
„Hat dir ein Schüler oder ein Elternteil schon mal etwas gesagt, dass dich bestätigt<br />
oder glücklich gemacht hat?<br />
Bitte erzähl mir vom Anfang bis zum Schluss der Reihe nach wie es dazu gekommen<br />
und was passiert ist.“<br />
Zum Beispiel: Es war Montagnachmittag, als Schülerin X auf mich zukam, mir Y erzählte<br />
und ich mich Z fühlte, weil ... "<br />
Beispiel = Erzählstrukturhilfe<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Interviewleitfaden<br />
b. Schilderung eines kritischen oder negativen Ereignisses<br />
„Hat dir schon mal ein Schüler oder ein Elternteil etwas gesagt, das dich angegriffen<br />
oder verletzt hat?<br />
Bitte erzähl mir vom Anfang bis zum Schluss der Reihe nach wie es dazu gekommen<br />
und was passiert ist.“<br />
Zum Beispiel: Es war Montagnachmittag, als Schülerin X auf mich zukam, mir Y erzählte<br />
und ich mich Z fühlte, weil ... "<br />
Beispiel = Erzählstrukturhilfe<br />
bb. Präzisierung des Falls<br />
Sollte das Ereignis nicht komplett ausformuliert sein, dann werden weitere Fragen<br />
gestellt, um den Fall vollständig festzuhalten. Dabei müssen sich<br />
SEIN (tatsächliche Entwicklung, tatsächlicher Ablauf)<br />
SOLL (opt<strong>im</strong>ale Zielerreichung unter Berücksichtigung der gegebenen Ausgangsbedingungen)<br />
ANTI-SOLL (max<strong>im</strong>ale Zielverfehlung unter Berücksichtigung der gegebenen<br />
Ausgangsbedingungen)<br />
rauskristallisieren.<br />
Mögliche Fragen:<br />
Aus welchen Gründen entstand dieser Angriff?<br />
(Hintergrundinfo, Vermutung der LP, evt. Vorgeschichte)<br />
Relevanz dieser Frage? Wichtig für Erzählanalyse?<br />
Wie haben sie direkt und wie später darauf reagiert?<br />
(SEIN)<br />
Was wurde daraus gelernt? Würden sie <strong>im</strong> Nachhinein anders reagieren? Wie?<br />
(SOLL)<br />
Was empfehlen sie jungen LP, wie uns? Was möchten sie uns auf den Weg mitgeben?<br />
(Empfehlung best<strong>im</strong>mter Techniken der Gesprächsführung / Konfliktmanagement?<br />
Prävention?)<br />
Gehört nicht zur Erzählanalyse. Es interessiert uns und ist evt. hilfreich.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Brief<br />
B. Brief<br />
Adresse Studentin 1<br />
XXX<br />
XXX<br />
Luzern, Datum<br />
Schulhaus XY<br />
XXX<br />
XXX<br />
Lieber (Name der Lehrperson)<br />
Wie ich Dir bereits erzählt habe schreibe ich mit (Name der Studentin 2) der die Masterarbeit.<br />
In diesem Zusammenhang machen wir Interviews und wollten dich anfragen, ob du bereit<br />
bist ein solches Interview mit uns durchzuführen.<br />
In unserer Masterarbeit geht es um Aussagen, die eine Lehrperson <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong> hört und<br />
womit sie konfrontiert ist.<br />
Wir werden dir folgende Fragen stellen:<br />
<br />
<br />
„Hat dir ein Schüler oder ein Elternteil schon mal etwas gesagt, dass dich bestätigt<br />
oder glücklich gemacht hat? Bitte erzähl mir vom Anfang bis zum Schluss der Reihe<br />
nach wie es dazu gekommen und was passiert ist.“<br />
„Hat dir schon mal ein Schüler oder ein Elternteil etwas gesagt, dass dich angegriffen<br />
oder verletzt hat? Bitte erzähl mir vom Anfang bis zum Schluss der Reihe nach wie<br />
es dazu gekommen und was passiert ist.“<br />
Wir würden uns freuen mit dir ein solches Interview durchzuführen.<br />
Bei unseren Interviews wird Deine Anonymität gewährt. Die Dauer eines Interviews beläuft<br />
sich auf etwa 20 Minuten.<br />
Falls Du gerade noch eine Berufskollegin oder -kollegen hättest, der/die auch bereit wäre mit<br />
uns ein solches Interview durchzuführen, würde uns dies freuen. Die Interviews werden natürlich<br />
separat in Einzelinterviews durchgeführt.<br />
Wann würde es Dir zeitlich gehen?<br />
Bitte schick mir oder (Name der Studentin 2) eine E-Mail.<br />
(Mailadresse Studentin 1) oder (Mailadresse Studentin 2)<br />
Vielen Dank und liebe Grüsse<br />
(Name der Studentin 1)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Transkriptionen<br />
C. Transkriptionen<br />
Fallnummer 6.1 (Basteln – LP vergass explizit abzusagen und Schülerin stand<br />
vor der Tür – Mutter wurde verbal ausfällig)<br />
TRANSKRIPTION<br />
"Ähm ja (atmet tief ein und aus)... das gibt’s häufiger, ehrlich gesagt, diese Variante...<br />
ähhm... ein Beispiel, das gerade vor kurzem passiert ist, ist ähhm... das hat indirekt<br />
damit zu tun, weil ich freiwilligen Bastelunterricht gebe über den Mittag, das ist<br />
eine Schülerin aus der Pr<strong>im</strong>arschule, die hätte am Bastelunterricht teilnehmen sollen.<br />
Be<strong>im</strong> ersten Training ist sie aus Versehen in die verkehrte (=falsche) Halle und ging<br />
danach nach Hause und sagte es sei kein Tanzen gewesen. Danach hat mich die<br />
Mutter angerufen und war relativ empört, dass ich Basteln ausschreibe und nicht da<br />
sei. Dies konnte ich dann erklären, weil ich am richtigen Ort war und die Tocher<br />
falsch (= am falschen Ort) und die Woche darauf hatten wir Skilager und ich hatte<br />
vergessen explizit abzusagen, mit Anschlägen usw. und die Tochter war wieder vor<br />
der Tür gestanden. Und diese Mutter hat... ähh... mich auch relativ fest angefahren,<br />
das sei keine Art und Weise... es sei eine Frage wo ich mein Diplom her haben,<br />
wenn es mir nicht einmal gelinge Sachen zu organisieren... äähhh... dann sollte es<br />
mir eigentlich verboten sein mit Schülern zu arbeiten, wenn ich solche Sachen nicht<br />
<strong>im</strong> Griff habe und Schüler dürfen sich so was wohl nie erlauben und ich nähme mir<br />
solche Sachen raus und ähh... sie wurde relativ emotional."<br />
Notiz der Interviewerin: Wie es raus kam:<br />
"Ich habe ihr relativ lange diskutiert und habe mich bei ihr entschuldige und habe<br />
damals die Sachen nicht von mir gewiesen, sondern die Sachen mit ihr angeschaut...<br />
und mich gar nicht gross auf Diskussionen eingelassen ... aber ihr dann auch gesagt,<br />
sie schaue nur einen Fall an, dass sie über alle Sachen gar nicht den Überblick habe<br />
und dass es mir Leid täte und dass ich das mit den Schülern wieder in Ordnung bringen<br />
werde, weil die Schüler haben ja irgendwie darunter gelitten haben und nicht die<br />
Eltern."<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Transkriptionen<br />
Fallnummer 10.4 (Sch fälscht Zettel von Arzt und belügt LP mehrmals)<br />
TRANSKRIPTION<br />
„Oder, das ist wieder eine ähnliche Situation gewesen…Es ist ein Schüler gekommen,<br />
mit einem Zettel, dritte Oberstufe, Werken gebe ich ja noch als Fachlehrer, er<br />
müsse zum Arzt. Den Zettel, mit Bleistift geschrieben, Schülerschrift. (kurze Pause)<br />
Habe ich gesagt. ‚komm, glaube ich dir nicht. Das st<strong>im</strong>mt doch nicht.’, ‚doch, das<br />
st<strong>im</strong>mt.’, ‚hat das der Arzt geschrieben?’, ‚ja, das hat der Arzt geschrieben.’ Wirklich,<br />
so… also.. habe ich gesagt: ‚schau jetzt, ich gehe in diese Praxis runter-das ist in<br />
Immensee 1 - und frage, ob das so ist.’, ‚ja, sie können gehen, es st<strong>im</strong>mt.’ Habe ich<br />
gesagt: ‚gut, also gehe ich’ bin ich gegangen, prompt hat es nicht gest<strong>im</strong>mt. Also<br />
wirklich, so extrem, oder.“<br />
Interviewerin: "Und der hat dich sogar gehen lassen, zum Arzt?"<br />
„Ja. Und um halb vier ist er dann ins Werken gekommen, am Nachmittag und hat mir<br />
noch gesagt: ‚ouh, sorry, ich habe ja den Termin morgen.’ Aber er hatte auch morgen<br />
keinen Termin. Also von dem her… Am Anfang war ich…Das ist vielleicht etwas, das<br />
man auch noch mitnehmen könnte. Am Anfang war ich schon noch etwas naiv. Ich<br />
hatte wirklich das Gefühl, die lügen mich nicht an, die Schüler. Auch in der fünften,<br />
sechsten, die machen ihre Sachen, die Husi sind gemacht und alles, aber… kontrollieren…<br />
Man muss die Dinge kontrollieren, es ist wirklich so. Weil scheinbar ist der<br />
Mensch so ein Bisschen… probiert zu schlüpfen, wenn es irgendwie geht.“<br />
Interviewerin: "Wie hast du dann reagiert, als er mit dem Spruch kam, er hätte den<br />
Termin erst morgen?"<br />
„dann würde ich sehr wütend. Ich habe ihm gesagt:’ schau, es ist…’ dort habe ich ihn<br />
wirklich zusammengeschissen, das kann ich sagen. ‚jetzt hast du mich am Morgen<br />
angelogen und jetzt schon wieder genau dasselbe, hey, was meinst du eigentlich wer<br />
ich bin.’ Also wirklich, da habe ich wirklich gezeigt, was das eigentlich ist, jemanden<br />
anlügen. Ich war wirklich sehr wütend. Und seither ist er wirklich wie ein Lämmchen.<br />
Ich habe ihm dann auch gesagt: ‚schau’, ich habe ihn dann aber so sein lassen und<br />
gesagt: ‚du hast einen Scheissdreck gemacht, wir fangen jetzt schon wieder neu an,<br />
aber das bleibt in meinem Hinterkopf, bei dir bin ich von nun an wirklich kritisch.<br />
Wenn du irgend etwas hast, das schwingt mit, das musst du einfach wissen. Aber<br />
nicht, dass ich jetzt weiss nicht wie lange wütend bin auf dich, das nicht.’ Ich glaube<br />
das muss man dann auch können, irgendwann mal einen Strich ziehen und sagen,<br />
gut, Mist, aber es geht weiter.“<br />
Interviewerin: "Und seither ist gut?"<br />
„Ja, ja. Gut eben, weisst du, es war vor zwei, drei Wochen und der hat jetzt noch<br />
sechs, sieben Wochen Schule. Aber trotzdem, es liegt einfach nicht drin. Also, das<br />
beleidigt einen dann schon sehr, oder, so knallhart belogen zu werden.“<br />
1 Ort geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Transkriptionen<br />
Fallnummer 13.1 (Schüler sagt: „Hau der eis ad Schnöre“)<br />
TRANSKRIPTION:<br />
„Und in der gleichen Klasse hatte es auch einen…der ging früher ins Wesmelin-<br />
Quartier 2 in die Schule und hatte schon seit der vierten Klasse Probleme wegen Gewalt,<br />
oder… Und der hatte schon dort irgendwie… musste er zum Teil eingeschickt,<br />
also zu diesen einschlägigen Stellen geschickt werden, weisst du, wegen Gewaltprävention<br />
und Zeugs und Sachen, und der war nachher auch in dieser Klasse. Und in<br />
dieser Klasse dann musste ich wirklich permanent jemanden bestrafen und ich habe<br />
zum Beispiel angefangen mit der Zeit, dass ich gesagt habe: ’hört zu, ich verwarne<br />
euch noch einmal, be<strong>im</strong> zweiten Mal geht ihr nach hinten abschreiben’, also einfach<br />
so ein Bisschen… Es hatte so eine Art, du musst dir vorstellen so wie eine Art zweiten<br />
Raum, so ein Bisschen eine Vertiefung. Und dort waren sie so wie ein Bisschen<br />
für sich selber, ich konnte sie beobachten und zur gleichen Zeit konnten sie aber die<br />
Klasse nicht stören. Ich sagte: ’hör zu, du bist verwarnt worden, du gehst dort nach<br />
hinten schreiben.’ Und so einer… eben, diesen Typ da hab ich mal so verwiesen,<br />
dann musste er nach hinten schreiben gehen, und dann musste ich zur gleichen Zeit<br />
noch vier andere nach hinten schicken. Dann waren die zu fünft dort hinten und dann<br />
hat er irgendwie angefangen, die anderen zu stören, die auch noch schreiben mussten.<br />
Und die mussten mindestens drei Seiten schreiben, also vorne, hinten und<br />
nochmals vorne, oder. Weil ich hatte ihnen gesagt: ‚ich will nicht, dass ihr dort hinten<br />
den Globi macht, ihr müsst drei Seiten schreiben und sonst macht ihr es zu Hause<br />
fertig. Und dann waren die wirklich… die sind 45 Minuten am Schreiben und können<br />
niemanden stören, oder. Und ehm… dann hat er irgendwie blöd getan und dann ging<br />
ich ihn zurechtweisen und so, und irgendwie hatte er dann „rüüdig en Frächi“ und<br />
dann habe ich gesagt: ‚du, jetzt kannst du aber gehen, he. Jetzt gehst du gleich nach<br />
Hause.’ Also, er ist wirklich relativ frech geworden, also… ich weiss nicht mehr ganz<br />
genau was er gesagt hatte, aber einfach enorm frech. Und dann habe ich gesagt:<br />
‚jetzt kannst du deine Sachen gleich zusammenpacken und gehen, und die drei Seiten<br />
bringst du mir morgen, ich will dich nicht mehr sehen.’ Und dann nachher lief er<br />
raus und sagte:’ Hau dir öppe mol eis ad Schnöre’. Gut, dann habe ich nachher mal<br />
angerufen zuhause, da waren auch wieder keine Eltern erreichbar, oder. Keine Eltern<br />
zuhause. Und dann habe ich.. ehm (kurze Pause) den grösseren Bruder am Telefon,<br />
am Abend und…. Der war einer… recht ein vernünftiger, er macht die Kanti,<br />
der hat die Kanti jetzt vermutlich schon abgeschlossen, oder, das war ja schon vor<br />
vielen Jahren. Und dann habe ich mit ihm gesprochen und gesagt… ich müsste eigentlich<br />
mit den Eltern reden, aber ich sehe, dass hier der ältere, verantwortungsvolle<br />
Bruder am Apparat ist, und dann habe ich die ganze Situation erklärt und habe ihm<br />
gesagt, er solle mit seinem Bruder reden und das käme einfach nicht mehr vor. Es<br />
darf absolut keine Gewaltandrohungen geben gegen Lehrpersonen, weder verbal<br />
noch schriftlich oder so, das ist… das können wir einfach nicht akzeptieren, und er<br />
sowieso… Bei ihm ist sowieso der Bogen gespannt, oder, weil er ja früher schon viel<br />
so… Bei Kameraden oder in der Schule mit anderen Schülern einfach Schlägereien<br />
gehabt hat. Dann habe ich das mit dem Bruder einfach so abgeklärt, dass er mit ihm<br />
reden soll und ihm klar machen, dass ich so etwas in Zukunft absolut null Toleranz<br />
mehr dulde, dass er irgend eine Bemerkung oder so etwas macht gegenüber mir,<br />
weil so etwas... sonst werde ich mit ganz schwerem Geschütz gegen ihn und gegen<br />
2 Name geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Transkriptionen<br />
die ganze Familie einfahren, oder. Also einfach wirklich, dass er merkt, und die haben<br />
ja gewusst wie ich bin. Die wussten, wenn ich etwas sage, dann mache ich es<br />
auch. Weil das musst du natürlich bei solchen sehr schwierigen Klassen, musst du<br />
einfach ganz klar sein. Du musst das machen, was du sagst. Ihnen kannst du nicht<br />
sagen, wenn ihr irgendwie nicht… dann gibt’s das. Das kannst du vielleicht bei ganz<br />
lieben Sekschülern machen, dann sind die nachher brav, aber ein Realschüler will<br />
dann <strong>im</strong>mer wissen, ob du es wirklich auch machst, oder. Wenn du etwas androhst.<br />
Darum, hat er nachher… das ist dann wieder das Positive, es wurde dann nachher<br />
gut. Und das war das Eine.“<br />
Interviewerin; "Wie hast du dann direkt reagiert, als er dir das gesagt hatte?"<br />
„Also…er war etwa sieben Meter von mir entfernt. Und ich habe einfach… eh… ich<br />
habe glaubs gesagt: ‚was hast du jetzt gesagt?’ oder…., weisst du, ich habe so<br />
nachgefragt und dann hat er, dann ist er einfach gegangen. Ich habe glaube ich gesagt:<br />
‚was hast du gesagt? Habe ich dich jetzt richtig verstanden?’ und dann ist er<br />
gegangen. Und dann habe ich ihm gesagt:’du bekommst dann noch ein Telefon von<br />
mir’ oder ‚ihr bekommt dann noch ein Telefon von mir’ so, irgend so habe ich reagiert.<br />
Aber ich bin nicht mehr ganz sicher, weil ehm… In dem Moment, indem so etwas<br />
passiert, ist man <strong>im</strong>mer, gibt es innerlich einen Adrenalinschub, weil dann bist<br />
du so dermassen schockiert als Lehrer, dass du dich nicht mehr genau erinnern<br />
kannst, was du gemacht hast. Du bist so wie in einer Art Trancezustand, weil du<br />
weisst, jetzt bist du ganz, ganz… an einem Punkt, ich meine er ist ja bekannt gewesen<br />
dafür, dass er gewalttätig war, oder. Von der Pr<strong>im</strong>arschule her schon. Wenn er<br />
so etwas sagt, dann ist das nicht einfach eine harmlose Bemerkung, oder. Und dort<br />
war für mich ein Bisschen bedauerlich, dass dieser Klassenlehrer schon ein Bisschen<br />
in einem Semi-Burnout-Syndrom drinnen war, der konnte wirklich nicht mehr<br />
viel machen….“.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster - leer<br />
D. Analyseraster - leer<br />
Fallnummer XY (kurz, um was es geht <strong>im</strong> vorliegenden Fall)<br />
Analyse von ......<br />
Aus dem Transkript<br />
1. Einleitungssatz <strong>im</strong> Bericht/Erzählung<br />
ANALYSE<br />
STARTDYNAMIK<br />
"..."<br />
2. <strong>Verbale</strong>r Angriff<br />
SOLL 1<br />
"..."<br />
Ereignis-Anfang:<br />
ANTI-SOLL 1<br />
Ereignis-Ende:<br />
SEIN 1<br />
3. Erzählanfang und -ende<br />
SOLL 2<br />
Erzähl-Anfang:<br />
Erzähl-Ende:<br />
ANTI-SOLL 2<br />
SEIN 2<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster - leer<br />
4. KONFLIKTREPORTING KONFLIKTDIAGNOSE:<br />
Verfremdungsvorschlag<br />
(Anonymität)<br />
Parteien:<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff<br />
Dem Angriff voraus geht<br />
Streitpunkt:<br />
Eskalationsdynamik und Ablauf / Anzeichen <strong>im</strong> Vorfeld:<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
E. Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
Fallnummer 6.1 (Tanzen – LP vergass explizit abzusagen und Schülerin stand<br />
vor der Tür – Mutter wurde verbal ausfällig)<br />
Analyse von Marianne<br />
Aus dem Transkript<br />
1. Einleitungssatz <strong>im</strong> Bericht/Erzählung<br />
Ähm ja (atmet tief ein und<br />
aus)... das gibt’s häufiger,<br />
ehrlich gesagt, diese Variante...<br />
ähhm... ein Beispiel,<br />
das gerade vor kurzem<br />
passiert ist, ist ähhm... das<br />
hat indirekt damit zu tun,<br />
weil ich freiwilligen Bastelunterricht<br />
3 gebe über den<br />
Mittag, das ist eine Schülerin<br />
aus der Pr<strong>im</strong>arschule,<br />
die hätte am Tanzen teilnehmen<br />
sollen.<br />
ANALYSE<br />
STARTDYNAMIK<br />
Die Lehrerin stellt an den Anfang, dass die folgende Erzählung<br />
nicht <strong>im</strong> obligatorischen Schulunterricht stattfindet, sondern in einem<br />
ausserunterrichtlichen Kontext, dem freiwilligen Bastelunterricht<br />
1 . Dieser Kontext ist weniger verpflichtend für eine Lehrerin<br />
aber auch für eine Schülerin, es gibt in diesem Kontext Wahlmöglichkeiten<br />
für die Schüler und Schülerinnen, sie dürfen sich für<br />
einen Kurs anmelden, welcher über den Mittag stattfindet. Dies<br />
hat zur Konsequenz, dass der Schüler oder die Schülerin mehr<br />
Verantwortung trägt als <strong>im</strong> obligatorischen Unterricht und auch<br />
mehr Eigeninitiative entwickeln muss. Diese Vorbemerkung könnte<br />
die Lehrerin von Schuld oder Verantwortung entlasten, weil für<br />
diese ausserunterrichtlichen Anlässe <strong>im</strong> Vergleich zum obligatorischen<br />
Unterricht mehr Freiheitsgrade bestehen und vom Schüler,<br />
von der Schülerin mehr Eigeninitiative und Verantwortung verlangt<br />
wird. Die Lehrerin betont anschliessend, dass die Schülerin am<br />
Basteln hätte teilnehmen sollen, das <strong>im</strong>pliziert, dass die Schülerin<br />
sich selbst für diese Variante angemeldet und somit verpflichtet<br />
hat, zu kommen. Zusätzlich erwähnt die Sekundarlehrerin, dass es<br />
sich um eine Schülerin aus der Pr<strong>im</strong>arschule handelt. Damit<br />
stellt sie dar, dass diese Schülerin nicht zu ihrem regulären Zielpublikum<br />
gehört, sondern ihr über das Wahlangebot „Basteln“ zugeteilt<br />
worden ist. Es handelt sich also nicht um eine Schülerin für<br />
welche die Lehrperson täglich Verantwortung <strong>im</strong> regulären Bastelunterricht<br />
trägt, vielmehr ist die Beziehung lockerer und somit weniger<br />
verpflichtend. Die Aussage <strong>im</strong>pliziert auch, dass einer Pr<strong>im</strong>arschülerin<br />
(<strong>im</strong> Vergleich zur Oberstufenschülerin) auch eher<br />
Fehler unterlaufen können. Die Formulierung „sie hätte am Basteln<br />
teilnehmen sollen“ drückt eine Erwartungshaltung der Lehrerin<br />
gegenüber der Schülerin aus, eine Forderung an die Schülerin,<br />
die sich ja selbst angemeldet hat und von welcher jetzt auch erwartet<br />
wird, dass sie <strong>im</strong> Bastelkurs erscheint und den Ort findet.<br />
3 Kursivgestelltes wurde geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
2. <strong>Verbale</strong>r Angriff<br />
"Und diese Mutter hat...<br />
ähh... mich auch relativ fest<br />
angefahren, das sei keine<br />
Art und Weise... es sei eine<br />
Frage wo ich mein Diplom<br />
her habe, wenn es mir nicht<br />
einmal gelinge Sachen zu<br />
organisieren... äähhh...<br />
dann sollte es mir eigentlich<br />
verboten sein mit Schülern<br />
zu arbeiten, wenn ich solche<br />
Sachen nicht <strong>im</strong> Griff<br />
habe und Schüler dürfen<br />
sich so was wohl nie erlauben<br />
und ich nähme mir solche<br />
Sachen raus und ähh...<br />
sie wurde relativ emotional."<br />
SOLL 1<br />
Die Mutter ist am Anfang des Telefons aufgebracht und lässt sich<br />
dann durch die Erklärungen der Lehrperson beruhigen. Die Mutter<br />
hört der Lehrerin zu und zeigt Verständnis für ihre Seite.<br />
Oder: Die Mutter verhält sich schon von Anfang an neutral am<br />
Telefon, spricht von ihren Gefühlen höchstens in Ich-Form, klagt<br />
die Lp nicht an, sondern fragt, wieso die Tochter vor verschlossener<br />
Bastelhalle stand.<br />
ANTI-SOLL 1<br />
Siehe SEIN und zusätzlich noch: Die Mutter kündigt an, dass sie<br />
Klage bei Schulleitung und Behörden einreichen und andere Eltern<br />
gegen die Lehrperson mobilisieren wird.<br />
SEIN 1<br />
Die Mutter ruft an, beschuldigt die Lehrperson, unterstellt be<strong>im</strong><br />
ersten Telefon dass es das Versäumnis der Lehrperson war, und<br />
greift sie an, indem sie ihr die berufliche Kompetenz abzuspricht.<br />
Ereignis-Anfang: Anfang<br />
des Telefons<br />
Ereignis-Ende: Ende des<br />
Telefons<br />
3. Erzählanfang und -ende<br />
Erzähl-Anfang:<br />
Schülerin steht das erste<br />
mal vor der verschlossnen<br />
Bastelhalle, in der sie<br />
Tanzunterricht gehabt hätte<br />
über den Mittag (LP vergass<br />
abzusagen).<br />
Erzähl-Ende:<br />
Telefon zwischen Mutter<br />
SOLL 2<br />
Die Schülerin kann sich selbständig über Ort und Zeit des freiwilligen<br />
Bastelkurses 4 orientieren und wartet vor der richtigen Bastelhalle.<br />
Und be<strong>im</strong> zweiten Mal orientiert die Lehrerin die Kinder und<br />
Eltern, dass das Basteln ausfällt wegen Skilager. (Schülerin macht<br />
keinen Fehler, Lehrerin macht keinen Fehler).<br />
Wenn ein Fehler passiert, bleibt die Mutter neutral und klärt am<br />
Telefon, wie das Missgeschick passiert ist.<br />
Wenn die Mutter der Lehrperson anruft und sich beklagt, entschuldigt<br />
sich die Lehrperson für ihren Anteil am Missgeschick. Auch die<br />
Mutter n<strong>im</strong>mt ihre falsche Unterstellung zurück und entschuldigt<br />
sich dafür. Beide Parteien nehmen Verantwortung für ihren Anteil<br />
am Missgeschick. Sie trennen sich in Frieden am Telefon.<br />
4 Kursivgestelltes wurde geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
und LP. LP weist Mutter in<br />
Schranken und entschuldigt<br />
sich.<br />
ANTI-SOLL 2<br />
Der Schülerin passierte ein Fehler, und dann auch noch der Lehrerin.<br />
Es geschehen noch mehr: drei, vier fünf Missgeschicke. (noch<br />
mehr Missgeschicke)<br />
4. KONFLIKTREPORTING KONFLIKTDIAGNOSE:<br />
Die Mutter telefoniert nicht nur der Lehrperson, sondern breitet ihre<br />
Anklage zusätzlich in der Öffentlichkeit (Eltern, Schulleitung, Behörden)<br />
aus. (Weiterziehen in die Öffentlichkeit)<br />
Nicht nur macht die Mutter die Lehrperson für die Missgeschicke<br />
verantwortlich und klagt sie an, sondern auch die Lehrperson<br />
macht die Schülerin und ihre Mutter dafür verantwortlich. Es bricht<br />
ein öffentlicher Streit zwischen den Parteien mit gegenseitigen<br />
Beschuldigungen und Anklagen aus. Man wird laut und der Streit<br />
eskaliert. (nicht nur einseitige sondern gegenseitige Beschuldigungen<br />
/ Unterstellungen und dadurch Eskalation)<br />
SEIN 2<br />
Die Missgeschicke (Fehler) passieren, be<strong>im</strong> ersten liegt der Fehler<br />
bei der Schülerin, be<strong>im</strong> zweiten liegt der Fehler bei der Lehrperson.<br />
Die Mutter klagt die Lehrperson an, indem sie ihr die Berufskompetenz<br />
abspricht. Die Lehrperson klärt das Missgeschick auf,<br />
entschuldigt sich für ihren Fehler und weist einen Teil der Anklagen<br />
der Mutter zurück. Die Lehrperson kann die Eskalation stoppen,<br />
indem sie ruhig bleibt. Gelungene Konfliktentschärfung.<br />
Parteien: Schülerin, Mutter, Lehrperson<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff der Mutter am Telefon, ohne Publikum, der Lehrperson<br />
wird Berufskompetenz abgesprochen.<br />
Dem Angriff voraus geht ein Missgeschick, das die Schülerin frustriert.<br />
Streitpunkt: Die Schülerin wartete vergebens vor der Bastelhalle 5 ,<br />
die verschlossen war, und konnte nicht am freiwilligen Kurs teilnehmen.<br />
Sie war offensichtlich enttäuscht und frustriert.<br />
Eskalationsdynamik und Ablauf / Anzeichen <strong>im</strong> Vorfeld: Es gibt<br />
zwei Missgeschicke nacheinander, also zwei Episoden, die<br />
sich gegenseitig verstärken, die Wut der Mutter wird <strong>im</strong>mer grösser.<br />
Das erste Missgeschick stellt sich nachträglich als ein Fehlverhalten<br />
der Schülerin heraus, das zweite als ein Fehlverhalten<br />
der Lehrerin.<br />
Verfremdungsvorschlag<br />
(Anonymität)<br />
Freiwilliger Bastelkurs statt XY<br />
5 Kursivgestelltes wurde geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
Fallnummer 13.1 (Schüler sagt: „Hau der eis ad Schnöre“)<br />
Analyse von Marianne<br />
Aus dem Transkript<br />
1. Einleitungssatz <strong>im</strong> Bericht/Erzählung<br />
Und in der gleichen Klasse<br />
hatte es auch einen…der<br />
ging früher ins St. Karli-<br />
Quartier in die Schule und<br />
hatte schon seit der vierten<br />
Klasse Probleme wegen Gewalt,<br />
oder…<br />
2. <strong>Verbale</strong>r Angriff<br />
Schüler sagt: „Hau der öppe<br />
mal eis ad Schnöre“<br />
Ereignis-Anfang: LP schickt<br />
fünf Schüler nach hinten in<br />
den "Strafraum" zum Abschreiben.<br />
Ereignis-Ende: Schüler geht<br />
aus dem Z<strong>im</strong>mer.<br />
ANALYSE<br />
STARTDYNAMIK<br />
Es wird ein Schüler erwähnt, es hatte „einen“, nicht ein Junge<br />
oder ein Schüler wird erwähnt, es wird von „einem“ gesprochen.<br />
Einer, der früher ins Wesmelin-Quartier 6 ging, offenbar ein berüchtigtes<br />
Schulhaus. Zudem hatte er schon seit der vierten<br />
Klasse Probleme wegen Gewalt. Die mehrjährige Vorgeschichte<br />
des Schülers wird betont (schon drei Jahre vor der Oberstufe<br />
hatte dieser Schüler Probleme wegen Gewalt). Die Lehrperson<br />
hat mit einem Schüler zu tun, der vorbelastet ist. Gewalt ist genannt,<br />
es geht also nicht nur um Worte sondern auch um Taten,<br />
der Ruf eilt dem Schüler voraus: Achtung, das ist einer, der gewalttätig<br />
werden kann! Wie wird sich dieser Schüler bei der<br />
Lehrperson und in dieser Klasse verhalten? Wie wird die Lehrperson<br />
mit diesem Schüler umgehen? Man könnte ja Angst haben<br />
vor einem solchen Schüler, oder man müsste vielleicht besonders<br />
wachsam sein bei diesem Schüler, damit er nicht gegenüber<br />
MitschülerInnen gewalttägig wird, jedenfalls muss man<br />
ihn <strong>im</strong> Auge behalten, wenn er schon einen solchen Ruf hat. Die<br />
Zuhörerin ist gespannt.<br />
SOLL 1<br />
Wenn der Lehrer diesen Schüler in den hinteren Raum schickt,<br />
weil er zu laut war, n<strong>im</strong>mt der Schüler diese Massnahme an,<br />
geht nach hinten und macht seine Arbeit, ohne zusätzlich noch<br />
Unfug zu machen <strong>im</strong> Strafraum.<br />
Wenn die Lehrperson ihn ermahnt, wird der Schüler ruhig und<br />
arbeitet still weiter.<br />
ANTI-SOLL 1<br />
Der Schüler widersetzt sich der Zurechtweisung der Lehrperson.<br />
Sie widerspricht und wird dann gewalttätig. Der Schüler schlägt<br />
die Lehrperson. (Die Angst der Lehrperson ist zwischen den<br />
Zeilen spürbar).<br />
SEIN 1<br />
Der Schüler geht zwar mit den anderen vier in den Strafraum,<br />
macht aber dort Unfug, sodass der Lehrer zu ihm nach hinten<br />
geht, um ihn zurechtzuweisen. Der Schüler widerspricht dem<br />
Lehrer, es gibt einen Wortwechsel, und am Schluss sagt der<br />
Schüler zum Lehrer: „Hau der eis ad Schnöre!“ Die Lehrperson<br />
fragt zurück, der Schüler geht wortlos hinaus.<br />
6 Kursivgestelltes wurde geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
3. Erzählanfang & -ende<br />
Erzähl-Anfang:<br />
LP erzählt von einer schwierigen<br />
Klasse und einem<br />
Schüler der schon früher<br />
Gewaltprobleme hatte.<br />
Erzähl-Ende:<br />
LP einigt sich mit Bruder des<br />
Schülers am Telefon und<br />
sagt dem älteren Bruder wie<br />
der Schüler sich in der Schule<br />
zu herhalten hat und darauf<br />
besserte sich die Situation.<br />
SOLL 2<br />
Der Schüler befolgt die Regeln in der Klasse und wenn er das<br />
nicht tut, n<strong>im</strong>mt die Klasse Einfluss auf ihn, denn es ist eine ruhige<br />
und disziplinierte Klasse, die sich nicht von einem neuen<br />
Schüler mit regelbrechendem Verhalten anstecken lässt.<br />
Schüler oder Klasse sind zwar schwierig, doch die Lehrperson<br />
kann sie <strong>im</strong> Zaun halten, der Schüler wird folgsam und die Klasse<br />
wird eine einfache Klasse.<br />
Wenn der Schüler Schwierigkeiten macht, und wenn die Lehrperson<br />
ihn nicht bändigen kann, sind Eltern da, welchen die<br />
Lehrperson anrufen kann. Die Eltern ziehen am gleichen Strick<br />
wie er. Die Lehrperson hat in den Eltern Ansprechpersonen,<br />
gemeinsam mit ihnen bringt er den Schüler zur Vernunft. Die<br />
Kooperation zwischen Schule und Elternhaus gelingt mit dem<br />
Erfolg, dass der Schüler gehorsam und fleissig wird.<br />
ANTI-SOLL 2<br />
Der Schüler macht in der Schule was er will. Die Lehrperson hat<br />
Angst vor ihm und wagt nicht, ihn in Schranken zu weisen. Der<br />
Schüler steckt alle anderen in der Klasse an. Es herrscht ein<br />
Kl<strong>im</strong>a von Chaos, Anarchie und Gewalt in der ganzen Klasse.<br />
Die Lehrperson kann sich nicht an die Eltern wenden, es ist niemand<br />
zuhause, der sich für die Erziehung und das Benehmen<br />
des Schülers einsetzt und Verantwortung übern<strong>im</strong>mt. Die Lehrperson<br />
steht alleine da und bekommt keine Unterstützung.<br />
SEIN 2<br />
Der Schüler kommt in die Klasse der Lehrperson und die ganze<br />
Klasse ist eine schwierige, die Lehrperson muss einige Schüler<br />
in einen Strafraum setzen und sie Strafaufgaben machen lassen.<br />
Dort gibt es einen Wortwechsel weil der Schüler der Lehrperson<br />
widerspricht. Der Schüler spricht eine Drohung aus und geht<br />
wortlos hinaus und nach Hause, die Lehrperson ruft zuhause an<br />
und erreicht am Telefon den älteren und vernünftigeren Bruder<br />
des Schülers. Diesem erklärt er, dass dies eine Warnung sei, er<br />
droht dem Schüler mit stärkeren Massnahmen wenn das so<br />
weiter gehe. Der Bruder n<strong>im</strong>mt das entgegen. Der Bruder ist<br />
eine Ansprechperson, auf welche die Lehrperson offenbar zählen<br />
kann, die ihn unterstützt. Die Drohung hat ihre Wirkung und<br />
die Sache beruhigt sich. Die Lehrperson kann auf ihren Ruf (sie<br />
sei konsequent, sie mache ihre Drohungen wahr) zählen.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Analyseraster – zwei anonymisierte Fälle<br />
5. KONFLIKTREPORTING KONFLIKTDIAGNOSE:<br />
Parteien: Schüler, Mitschüler und –schülerinnen, Lehrperson<br />
(es ist Publikum da: Die Klasse)<br />
Streitpunkte: Disziplin und Ordnung in der Klasse, Regelverstoss<br />
oder Gehorsam des Schülers (es geht um die Führung und<br />
Hierarchie: Wer ist in der Gruppe das Alphatier, wer ist stärker,<br />
Lehrperson oder Schüler? Dabei spielt die Klasse als Publikum<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Eskalationsdynamik und Ablauf / Anzeichen <strong>im</strong> Vorfeld:<br />
Die Lehrperson muss zu Strafen greifen weil die Klasse<br />
auch schwierig ist. Die Lehrperson greift zu Strafen, doch auch<br />
während der Strafaufgabe geht der Unfug weiter. Der Schüler<br />
wird frech, verbal ungehorsam, widerspricht, die Lehrperson geht<br />
zum Schüler und versucht ihn zu mässigen, doch der Schüler<br />
droht der Lehrperson er würde sie einmal schlagen. Die Lehrperson<br />
ruft zuhause an und spricht eine Verwarnung aus. Er<br />
droht stärkere Massnahmen an. Er findet be<strong>im</strong> älteren verantwortungsvollen<br />
Bruder Gehör. Erst danach kann er seine Autorität<br />
durchsetzen, der Schüler beruhigt sich.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
F. Ergänzende Theorie<br />
F.1 Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun<br />
Der Sachinhalt ist meistens direkt, das heisst "explizit" ausgesprochen. Im professionellen<br />
Kontext spielt er die Hauptrolle oder sollte die Hauptrolle spielen. Auf der<br />
Sachebene des Gesprächs steht die Sachinformation <strong>im</strong> Vordergrund, hier geht es<br />
um Daten, Fakten und Sachverhalte. Dabei gilt zum einen das Wahrheitskriterium<br />
wahr oder unwahr (zutreffend/nicht zutreffend), zum anderen das Kriterium der Relevanz<br />
(sind die aufgeführten Sachverhalte für das anstehende Thema von Belang/nicht<br />
von Belang?) und zum Dritten erscheint das Kriterium der Hinlänglichkeit<br />
(sind die angeführten Sachhinweise für das Thema ausreichend, oder muss vieles<br />
andere auch bedacht sein?).<br />
Wenn jemand etwas von sich gibt, gibt er auch etwas von sich (kund, preis). Während<br />
der Sender also mit dem Selbstkundgabe-Schnabel, <strong>im</strong>plizit oder explizit, Informationen<br />
über sich preis gibt, n<strong>im</strong>mt der Empfänger diese mit dem Selbstkundgabe-Ohr<br />
auf: Was sagt mir das über den Anderen? Was ist der für einer? Wie ist er<br />
gest<strong>im</strong>mt? Wie schon der Sach-Schnabel, kann auch der Selbstkundgabe-Schnabel<br />
unterschiedlich gewachsen sein. Gewisse Menschen nutzen ihn zur (positiven)<br />
Selbstdarstellung ("Sie her, so bin ich!") indem sie <strong>im</strong> Sinne der Authentizität folgendes<br />
aussagen: "Ich zeige mich so, wie ich bin, wie mir innerlich zumute ist."<br />
Beziehungsseite: In jeder Äusserung steckt somit auch ein Beziehungshinweis, für<br />
welchen der Empfänger oft ein besonders sensibles (über)empfindliches Beziehungs-Ohr<br />
besitzt. Aufgrund dieses Ohres wird entschieden: "Wie fühle ich mich behandelt<br />
durch die Art, in der der andere mit mir spricht? Was hält der andere von mir<br />
und wie steht er zu mir?". Beziehungssignale werden meist <strong>im</strong>plizit, "zwischen den<br />
Zeilen" gesendet.<br />
Weitere Konfliktdefinitionen<br />
Ein sozialer Konflikt liegt dann vor, wenn eine Spannungssituation besteht, in der<br />
zwei oder mehrere Parteien, die voneinander abhängig sind, mit Nachdruck versuchen,<br />
unvereinbare Handlungspläne zu verwirklichen und sich dabei ihrer Gegnerschaft<br />
bewusst sind. (Rüttinger)<br />
Konflikt besteht, wenn man sich nicht einig wird und damit negative Gefühle hochkommen.<br />
(Tondeur)<br />
Als Konflikt wird eine berufsfeldspezifische Auseinandersetzung, Belastung und/ oder<br />
Schwierigkeit verstanden, die die betroffenen Personen emotional, kognitiv und/ oder<br />
physisch beeinträchtigt. (Becker)<br />
Konflikte treten dort auf, wo unvereinbare Gegensätze und Verhaltenstendenzen<br />
aufeinander prallen und sich so störend auswirken, dass eine neue Regelung gefunden<br />
werden muss. (Delhees)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
F.2 Konfliktparteien<br />
Ergänzung zur Beschreibung der Konfliktparteien nach Glasl (2002) und Kreyenberg<br />
(2005).<br />
Konfliktparteien werden unterschieden. Es ist nicht <strong>im</strong>mer klar, wer alles zur Konfliktpartei<br />
gehört und mit wem man zusammenarbeiten muss, um den Konflikt zu lösen.<br />
Aus diesem Grund sind Unterscheidungskriterien der Konfliktparteien nach Kreyenberg<br />
(2005, S. 60) folgendermassen best<strong>im</strong>mt:<br />
Abgrenzungsgrad: Konfliktparteien können klar oder unscharf abgegrenzt<br />
sein. Wer sind eigentlich die Parteien? Manchmal sind es einzelne Individuen,<br />
die sich nicht verstehen. Oder die Personen agieren einen Gruppenkonflikt<br />
aus oder sehen sich als Sprecher einer best<strong>im</strong>mten Gruppe, wie das z.B.<br />
Rechtsanwälte genauso wie Lehrpersonen tun.<br />
Formalisierungsgrad: Sind die Konfliktparteien formell oder unorganisiert?<br />
Wenn beide Parteien eine formelle anerkannte Struktur aufweisen, verlaufen<br />
Konflikte häufig eher in geregelten Bahnen, als wenn beide oder eine der Parteien<br />
z.B. einen spontanen Aufstand beschliesst. Genau das ist z.B. oft das<br />
Problem bei Bürgerkriegen oder Rebellenaufständen.<br />
Macht: Wie stark oder schwach sind die Konfliktparteien? Mit welche3n<br />
Machtmitteln sind sie ausgerüstet? Stehen die Parteien gleichrangig nebeneinander<br />
oder in einem Herrschaftsverhältnis? Diese Frage stellt sich, wenn<br />
ein Elternteil sich auch in einer Führungsrolle befindet. Dabei entsteht möglicherweise<br />
ein Rollenkonflikt (vgl. Rollenwelten 2.3.1). Wenn beispielsweise<br />
der Vater Offizier <strong>im</strong> Generalstab ist, dann versucht er vielleicht der Lehrperson<br />
zu sagen, wie so unterrichten soll. Dies kann einen Konflikt auslösen.<br />
Anzahl der Beteiligten: Wie gross sind die Parteien? Wie viele Personen sind<br />
beteiligt? Macht es mehr Sinn, eine Teilgruppe herauszunehmen und hier erst<br />
einmal eine Lösung zu suchen oder sollte das ganze System einbezogen<br />
werden? Wer sind die zentralen Konfliktträger? Im System Schule hat es<br />
schnell viele Beteiligt. Aus Lehrerseite steht beispielsweise das Lehrerteam<br />
und auf Eltern oder Schülerseite die Familie oder sogar weitere Eltern oder<br />
andere Mitschüler. Je nach Konflikt variiert dies eben.<br />
Kernpersonen: Wer hat das Sagen innerhalb der einzelnen Gruppen? Dies<br />
müssen nicht unbedingt die formellen Leiter sein, sondern es können auch<br />
respektierte anerkannte Mitglieder einer Gruppe sein, beispielsweise das Alphatier<br />
einer Gang in der Schule, die Mitschüler unterdrückt und sich nun versucht<br />
gegen die Lehrperson aufzulehnen. Die Frage ist hier: Wen sollte man<br />
auf keinen Fall übergehen? Wer vertritt die Gruppe nach aussen?<br />
Innere Kohäsion: Wie ist er Zusammenhalt der Gruppe? Gibt es klare Rollenverteilungen?<br />
Üben die Mitglieder Druck aufeinander aus? Häufig ist der Grad<br />
der inneren Kohäsion verantwortlich, wie stark die Konfliktpartei sich von anderen<br />
abgrenzt bzw. abgrenzen lässt.<br />
Glasl (2002) lässt sich bei der Art und Beschaffenheit der Konfliktparteien von sieben<br />
Hauptfragen leiten, welche unten aufgeführt werden.<br />
Wer sind eigentlich die Parteien?<br />
Sind die Parteien organisiert oder formlos?<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Welche sind die Kernpersonen der Konfliktparteien?<br />
Welche Beziehung haben die Repräsentanten zu ihrer eigenen Hintermannschaft?<br />
Sind die Parteien scharf voneinander abgegrenzt?<br />
Welche innere Kohäsion weisen die Parteien auf?<br />
Wie gross ist tatsächlich die Arena des Konfliktes?<br />
F.3 Ergänzung zu den Emotionstheorien von Plutchik und Traxel<br />
F.3.1 Ansatz nach Plutchik (1980)<br />
Die Arbeitsgruppe um Robert Plutchik ist besonders in den USA verbreitet (Plutchik<br />
& Kellerman, 1980, aus Tücke (2003)). Plutchik geht davon aus, dass verschiedene<br />
grundlegende Emotionen praktisch beliebig miteinander kombiniert werden können.<br />
Das Resultat ist das gesamte differenzierte Spektrum "sekundärer Emotionen". Plutchik<br />
ordnet die Emotionen in einer "Emotionspalette" an, welche an das Mischen der<br />
Grundfarbein erinnert aus denen man das gesamte Farbenspektrum erstellen kann<br />
(Abbildung). So ergeben beispielsweise Freude und Akzeptanz die abgeleitete Emotion<br />
"Liebe", die Kombination von Ärger und Abscheu ergibt "Verachtung". Die "Emotionsanteile"<br />
können (wie die Farben) in einer sekundären Emotion zu unterschiedlichen<br />
Teilen enthalten sein; das resultiert dann wiederum in subjektiv unterschiedlichen<br />
Gefühlen.<br />
Kritik an Plutchiks Emotionspalette: Wo befindet sich die Emotion Angst?<br />
Liebe<br />
Opt<strong>im</strong>ismus<br />
Freude<br />
Akzeptanz<br />
Unterwerfung<br />
Erwartung<br />
Furcht<br />
Aggression<br />
Ehrfurcht<br />
Ärger<br />
Überraschung<br />
Verachtung<br />
Abscheu<br />
Traurigkeit<br />
Enttäuschung<br />
Reue<br />
Abbildung 1: Plutchiks "Emotionspalette"<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
F.3.2 Ansatz nach Traxel (1963)<br />
Ein anderer Ansatz zur Klassifikation der Emotionen stammt von Traxel (1963, aus<br />
Tücke (2003)). Traxel liess verschiedene Gefühlsbegriffe nach ihrer Ähnlichkeit bzw.<br />
Unähnlichkeit einschätzen. Als Ergebnis kam eine kreisförmige Anordnung der Emotionen<br />
raus. In weiteren Untersuchungen wurden die Konnotationen von Gefühlsbegriffen<br />
mit Hilfe von "Polaritätsprofilen" weit er aufbereitet und statistisch analysiert.<br />
Das Ergebnis war das in Abbildung 2: Das System der Gefühlqualitäten von Traxel<br />
(Bild aus: Tücke (2003, S. 310) dargestellte "System der Gefühlsqualitäten".<br />
Abbildung 2: Das System der Gefühlqualitäten von Traxel (Bild aus: Tücke (2003, S. 310)<br />
Durch dieses System lassen sich Emotionen nach den D<strong>im</strong>ensionen "angenehmunangenehm"<br />
und "Unterwerfung-Überhebung" klassifizieren. Der "Aktivationsgrad",<br />
wie ihn Traxel nennt, besagt, dass jedes Gefühl auch mehr oder weniger intensiv<br />
erlebt werden kann.<br />
So scheint in Traxels System der "Freude" das entgegengesetzte Gefühl am meisten<br />
die "Angst" zu sein.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
F.4 Ergänzungen zur Erzählanalyse JAKOB<br />
Nachdem eine Erzählung <strong>im</strong> mündlichen Dialog identifiziert und transkribiert worden<br />
ist, wird sie nach Subjekt-Prädikat-Verknüpfungen segmentiert. Danach wird das<br />
Personal, die Requisiten, Kulissen und das Bühnengeschehen mittels eines a priori<br />
festgelegten Kodierlexikons kategorisiert.<br />
Auf der Basis dieser Textaufbereitung gelangt man in zunehmend interpretativer<br />
werdenden Analyseschritten zu fundierten Aussagen bezüglich der Konfliktlage und<br />
Beziehungsmuster der Sprechenden. Das Zentrum bildet die interpretative Erschliessung<br />
des dramaturgischen Potentials. Hier geht es darum, auf dem Hintergrund von<br />
Hypothesen zu Wunscherfüllung, Angstspannung, Konflikt, Abwehr und Kompromiss<br />
ein psychodynamisches Konfliktmodell zu erschliessen.<br />
Die erzählanalytische Auswertung wird unterstützt durch das Computerprogramm<br />
AutoJAKOB. Dieses Programm erlaubt es, die vorbereiteten Erzählungen zu erfassen,<br />
eine partielle linguistische Morphologie- und Syntaxanalyse durchzuführen und<br />
aufbauend auf diese Schritte die lexikalische Kodierung vorzunehmen.<br />
Die Erzählanalyse JAKOB vollzieht sich grundsätzlich in neun Bearbeitungsschritten<br />
(nach Boothe, Brigitte / von Wyl, Agnes (Hrsg.), 1999, S. 20ff):<br />
Schritt 1: Identifikation des Erzählereignisses<br />
Schritt 2: Aufgliederung einer Erzählung<br />
Schritt 3: Kodierung<br />
Schritt 4: Rekonstruktion des dramaturgischen Prozesses (Wunscherfüllung, Angstspannung)<br />
Schritt 5: Akteurschicksal<br />
Schritt 6: Beziehungsdefinition<br />
Schritt 7: Spielregel<br />
Schritt 8: Modellierungsleistungen<br />
Schritt 9: Konflikt<br />
Die systematische interpretative Analyse einer Erzählung erfolgt mit den Bearbeitungsschritten<br />
4 bis 9.<br />
(Das vollständige Manual (mit Regeln für die Rekonstruktion, Kodierung und Interpretation)<br />
zur Erzählanalyse JAKOB: nach http://www.jakob.unizh.ch )<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
F.5 Prototypische Wunsch- und Angstthemen der Erzählanalyse<br />
JAKOB<br />
Prototypische Wunschthemen<br />
1. EK: Verewigter Kindstatus<br />
Bedingungslose Akzeptanz durch Elterninstanzen<br />
"Ich bin das Zentrum des elterlichen Lebens, für alle Zeit und finde Applaus für alles,<br />
was ich biete"<br />
2. SU: Verbundenheit und Sicherheit<br />
Der Zustand des Urvertrauens<br />
"Ich bin von einer freundlich bergenden und schützenden Welt umgeben"<br />
3. VO Objektverfügung<br />
Kontrolle und Verfügung über Objekte nach Bedarf, positive Selbstverfügung und<br />
Selbstwirksamkeit<br />
"Ich kontrolliere lustvoll die Welt der Objekte und/oder mich selbst und verfüge nach<br />
Bedarf über sie"<br />
4. AE: Loyales Alter-Ego<br />
Genuss bedingungsloser Solidarität<br />
"Ich verfüge über einen loyalen Begleiter, der alles mit mir teilt, der nichts fordert, für<br />
mich da ist und dem ich blind vertrauen kann"<br />
5. PR: Phallische Integrität<br />
Imponierende, Beifall fordernde Selbstpositionierung<br />
"Ich bin ein intaktes phallisches Lust- und Kraftzentrum"<br />
6. SV: Selbstgenügsamkeit<br />
Genuss der Selbstpositionierung <strong>im</strong> Eigenbezirk<br />
"Ich verfüge über alles, dessen ich bedarf, und kann mich auf eine freundlich bergende<br />
und schützende Welt verlassen"<br />
7. ÖT: Ödipaler Triumph (männlich)<br />
Privilegierte, anerkannte, exklusive öffentliche Dyadenbildung als Ergebnis des Konkurrenz<br />
und Rivalitätskampfes <strong>im</strong> triadischen Raum. Anerkennung des Mannes in<br />
seinem männlichen Potential durch die Frau - Int<strong>im</strong>e Selbstverwandlung der Frau für<br />
den Mann zum Ideal der Weiblichkeit<br />
"Ich kann Mutter dazu bringen, meine Männlichkeit anzuerkennen, und sie verwandelt<br />
sich für mich in die Frau meiner Träume"<br />
8. ÖT: Ödipaler Triumph (weiblich)<br />
Privilegierte, anerkannte, exklusive öffentliche Dyadenbildung als Ergebnis des Konkurrenz-<br />
& Rivalitätskampfes <strong>im</strong> triadischen Raum. Auszeichnung der Frau durch den<br />
Mann – Beschenkung der Frau durch den Mann mit den Ressourcen seiner Phallizität<br />
"Vater zeichnet mich vor allen Konkurrenten und Konkurrentinnen aus, legt mir sein<br />
Herz, seine Macht und seine Schätze zu Füssen"<br />
9. GI: Anerkennung durch die Gewissensinstanz<br />
Selbstverantwortung als Selbstbilligung<br />
"Für mein Denken, Fühlen und Handeln wird mir der ungeteilte Beifall meines Gewissens<br />
zuteil"<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
10. GN Generativität<br />
Prokreativität, Fruchtbarkeit, Kreativität und Selbsttranszendenz<br />
"Ich kann etwas wachsen lassen, zum Gedeihen bringen, etwas Neues schaffen,<br />
innovativ und originell sein"<br />
Tabelle 1: Prototypische Wunschthemen nach dem Manual der Erzählanalyse JAKOB<br />
(Boothe et al. (2002)), Version 10/02 (S. 87f)<br />
Prototypische Angstthemen<br />
1. VA: Vernichtung<br />
Der Zustand des Urmisstrauens<br />
"Ich bin von einer abweisenden bedrohlichen Welt umgeben ohne Versorgung,<br />
Schutz und Sicherheit"<br />
2. AV Verstossung<br />
Bedingungslose Missachtung durch Elterninstanzen<br />
"Die Eltern ignorieren mich, ich bin für sie ohne Bedeutung und finde keinerlei Beachtung,<br />
gleichgültig, was ich tue"<br />
3. AF Fremdverfügung<br />
Auslieferung an Zugriff, Kontrolle und Verfügung der Objekte nach Bedarf<br />
"Ich bin hilflos der Kontrolle und Steuerung durch mächtige Objekte ausgesetzt"<br />
4. AA Soziale Ablehnung<br />
Bedingungslose Verweigerung von Solidarität<br />
"Ich finde in meiner sozialen Umgebung keinen Anklang, keine Unterstützung, kann<br />
mich nicht anvertrauen und niemandem trauen"<br />
5. AP Potenzverlust<br />
Ressourcenschwund und -verlust in den Bereichen Kraft, Attraktivität und Lust<br />
"Ich bin kraftlos, lustlos und unattraktiv"<br />
6. AG Preisgabe<br />
Verhinderte Selbstpositionierung <strong>im</strong> Eigenbezirk<br />
"Mir steht kein eigener innerer Raum zur Verfügung, dessen Integrität geschützt und<br />
respektiert ist und der zu mir gehört"<br />
7. KA Kastration<br />
Sexuelle Avance mit Verlust der Phallizität sanktioniert<br />
"Die körperlich int<strong>im</strong>e Annäherung ans ödipale Objekt wird durch Verlust der Phallizität<br />
bestraft"<br />
8. AB: Beschämung<br />
Selbstenthüllung als Entblössung der Defizienz, Abgelehnte Werbung<br />
"Die körperlich int<strong>im</strong>e Annäherung ans ödipale Objekt macht beschämend deutlich,<br />
dass ich nicht genüge"<br />
9. SG Sanktion der Gewissensinstanz<br />
Selbstverantwortung als Selbstverurteilung<br />
"Das Gewissen verfolgt mich mit Verurteilung für Dinge, die ich gedacht, gefühlt oder<br />
ausgeführt habe"<br />
10. AU Unproduktivität<br />
Stagnation, Burnout, Unfruchtbarkeit, Selbstaufgabe<br />
"Ich bin isoliert und unproduktiv"<br />
Tabelle 2: Prototypische Angstthemen nach dem Manual der Erzählanalyse JAKOB (Boothe<br />
et al. (2002)), Version 10/02 (S. 87f):<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ergänzende Theorie<br />
Zusammengefasst lassen sich entlang der Phasen der psychosexuellen Entwicklung<br />
die folgenden Wunsch- und Angstthemen ausmachen:<br />
Phasen der psychosexuellen<br />
Entwicklung<br />
orale Phase<br />
anale Phase<br />
ödipale Phase<br />
Pubertät, Adoleszenz,<br />
Erwachsenenalter<br />
Phasen der Entwicklung<br />
<strong>im</strong> Beziehungskontext<br />
Vermittlung<br />
Exodus (lat. Auszug,<br />
Ausgang)<br />
Einschluss-<br />
Ausschluss<br />
Fremdwerdung<br />
Wunschthemen<br />
- Verewigter Kindstatus<br />
- Verbundenheit<br />
und Sicherheit<br />
- Objektverfügung<br />
- Loyales Alter Ego<br />
- männlicher ödipaler<br />
Triumph<br />
- weiblicher ödipaler<br />
Triumph<br />
- Anerkennung<br />
durch die Gewissensinstanz<br />
- Generativität<br />
Tabelle 3: Wunsch- und Angstthemen <strong>im</strong> Überblick<br />
(Manual der Erzählanalyse JAKOB,Version 10/02)<br />
Angstthemen<br />
- Verstossung<br />
- Vernichtung<br />
- Potenzverlust<br />
- Preisgabe<br />
- Kastration<br />
- Beschämung<br />
- Sanktion der Gewissensinstanz<br />
- Unproduktivität<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Anhang zu den Ergebnissen<br />
G. Anhang zu den Ergebnissen<br />
Personennummer<br />
P6<br />
Kurzbeschreibung<br />
der Fälle 7<br />
Mutter besch<strong>im</strong>pft und beschuldigt<br />
am Telefon die<br />
Lehrperson, nachdem die<br />
Tochter <strong>im</strong> freiwilligen Mittagskurs<br />
vergeblich vor falschem<br />
Raum gewartet hat.<br />
<strong>Verbale</strong>r Angriff der<br />
Erzählung <strong>im</strong> Wortlaut<br />
der Erzählung<br />
(aus dem Transkript)<br />
Lehrperson spricht von der Mutter:<br />
"Und diese Mutter hat... ähh... mich<br />
auch relativ fest angefahren, das<br />
sei keine Art und Weise... es sei<br />
eine Frage wo ich mein Diplom her<br />
habe, wenn es mir nicht einmal<br />
gelinge Sachen zu organisieren...<br />
äähhh... dann sollte es mir eigentlich<br />
verboten sein mit Schülern zu<br />
arbeiten, wenn ich solche Sachen<br />
nicht <strong>im</strong> Griff habe und Schüler<br />
dürfen sich so was wohl nie erlauben<br />
und ich nähme mir solche<br />
Sachen raus und ähh... sie wurde<br />
relativ emotional."<br />
Zuordnung des verbalen<br />
Angriffs zu Klassen<br />
(Typen)<br />
Vorwürfe machen<br />
Kritisieren<br />
Besch<strong>im</strong>pfen/<br />
Beleidigen<br />
"Herunterputzen" einer Person<br />
Eingebettet in einen<br />
Konflikt oder isoliertes<br />
Ereignis?<br />
isoliertes Ereignis<br />
7 Anmerkung: Bei der Kurzbeschreibung der neun Fälle hielt ich mich an folgende Regeln: Zuerst schildere ich den Akteur des verbalen Angriffs und die Situation.<br />
Das Ganze beschreibe ich <strong>im</strong> Präsens, und die Vorgeschichte fasse ich so zusammen, dass ich der Komplexität der ursächlichen Zusammenhänge Rechnung<br />
trage. Ich verwende also kein "weil", sondern "wenn" oder "nachdem". Alle Details lasse ich weg. Zusätzlich verfremde ich aus Gründen der Vertraulichkeit<br />
gewisse Elemente, damit die Lesenden, welche <strong>im</strong> gleichen geographischen Umfeld in der Schule tätig sind, nicht rekonstruieren können, um welche Personen<br />
es sich handelt.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Anhang zu den Ergebnissen<br />
P7<br />
Vater macht in Gespräch mit<br />
Klassenlehrperson und<br />
Schulleitung der Lehrperson<br />
bittere Vorwürfe, nachdem<br />
sein Sohn sich <strong>im</strong> Sportkurs<br />
von der Lehrperson ungerecht<br />
behandelt fühlte. Eltern<br />
hatten der Lehrperson<br />
zu Beginn des Kurses vorenthalten,<br />
dass Sohn unter<br />
einer Lernbehinderung leidet.<br />
Lehrperson spricht vom Vater:<br />
"...dann kam der Vater und wollte<br />
ein Gespräch mit mir, mit dem<br />
Schulleiter und dem Klassenlehrer<br />
und sagte sein Sohn sei psychisch<br />
so fertig gemacht worden von mir,<br />
dass er in Behandlung müsse zu<br />
einem Psychiater. Und er verlange<br />
von der Schulleitung, dass sie<br />
mich dispensieren würden und<br />
vom Job wegbringen, weil ich nicht<br />
fähig sei Schüler oder Kinder zu<br />
unterrichten.“<br />
Vorwürfe machen<br />
Kritisieren<br />
Besch<strong>im</strong>pfen/<br />
Beleidigen<br />
eingebettet in einen Konflikt<br />
P8<br />
P9<br />
Vater äussert anlässlich eines<br />
Elterngesprächs Kritik<br />
am Unterricht der Lehrperson.<br />
Lehrperson wird <strong>im</strong> Unterricht<br />
provoziert wenn Schülerinnen<br />
ihr vorgaukeln, sie<br />
könnten den Computer nicht<br />
bedienen, nachdem sie<br />
schon lange am Computer<br />
gearbeitet haben.<br />
Lehrperson spricht vom Vater: "...<br />
und der Vater dieser Schülerin<br />
sagte dann 'Ja, das könnte theoretisch<br />
schon sein, aber entweder<br />
liegt es an der Klasse oder es liegt<br />
am Lehrer'...und er hat es dann<br />
irgendwie so ausgesprochen, dass<br />
es irgendwie ja, so getönt hat,<br />
wie… wenn ich nicht so streng<br />
wäre… oder vielleicht wenn ich es<br />
besser organisieren würde, was<br />
auch <strong>im</strong>mer, dann müssten nicht<br />
so viele Schüler nachhocken."<br />
Lehrperson spricht von Schülern:<br />
"Die kamen rein und sagten: (mit<br />
leicht verstellter St<strong>im</strong>me) 'Sie, wir<br />
wissen einfach nicht, wo wir den<br />
PC anstellen müssen.’ "<br />
Vorwürfe machen Kritisieren<br />
Provozieren<br />
eingebettet in einen Konflikt<br />
isoliertes Ereignis<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Anhang zu den Ergebnissen<br />
P10<br />
P12<br />
P13<br />
Lehrperson wird in Klasse<br />
von einem Schüler mehrmals<br />
angelogen. Es geht um Absenzen<br />
vom Unterricht wegen<br />
Arztterminen.<br />
Vater wirft <strong>im</strong> Elterngespräch<br />
der Lehrperson Trunksucht<br />
vor und versucht den Betragens-Eintrag<br />
des Sohnes <strong>im</strong><br />
Zeugnis zu verhindern.<br />
Schüler spricht vor versammelter<br />
Klasse gegenüber der<br />
Lehrperson eine Gewaltdrohung<br />
aus, nachdem er von<br />
ihr wegen Störung des Unterrichts<br />
mehrmals verwarnt<br />
worden ist.<br />
Lehrperson spricht von Schüler:<br />
" ...Den Zettel, mit Bleistift geschrieben,<br />
Schülerschrift. (kurze<br />
Pause) Habe ich gesagt. ‚komm,<br />
glaube ich dir nicht. Das st<strong>im</strong>mt<br />
doch nicht.’, ‚doch, das st<strong>im</strong>mt.’,<br />
‚hat das der Arzt geschrieben?’, ‚ja,<br />
das hat der Arzt geschrieben.’<br />
Wirklich, so… also.. habe ich gesagt:<br />
‚schau jetzt, ich gehe in diese<br />
Praxis runter-das ist in Immensee 8 -<br />
und frage, ob das so ist.’, ‚ja, sie<br />
können gehen, es st<strong>im</strong>mt.’ Habe<br />
ich gesagt: ‚gut, also gehe ich’ bin<br />
ich gegangen, prompt hat es nicht<br />
gest<strong>im</strong>mt. Also wirklich, so extrem,<br />
oder.“<br />
Lehrperson spricht vom Vater: "Ich<br />
sei kein Vorbild für seinen Sohn<br />
gewesen <strong>im</strong> Klassenlager, weil ich<br />
jeden Morgen betrunken gewesen<br />
sei."<br />
Lehrperson spricht vom Schüler:<br />
"Und dann nachher lief er raus und<br />
sagte:’ Hau dir öppe mol eis ad<br />
Schnöre’."<br />
Belügen<br />
Vorwürfe machen<br />
Besch<strong>im</strong>pfen/<br />
Beleidigen<br />
Unterstellen<br />
Besch<strong>im</strong>pfen/<br />
Beleidigen<br />
Drohen<br />
Widersprechen<br />
isoliertes Ereignis<br />
isoliertes Ereignis<br />
eingebettet in einen Konflikt<br />
8 Ort geändert (aus Datenschutzgründen)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Anhang zu den Ergebnissen<br />
P15<br />
P18<br />
Schülerin gibt <strong>im</strong> Schlussgespräch<br />
der Lehrperson eine<br />
ausnahmslos negative Kritik<br />
ab, nachdem diese sich für<br />
die depressiv erkrankte<br />
Schülerin jahrelang und mit<br />
grossem Aufwand eingesetzt<br />
hat.<br />
Lehrperson wird in Dorfbeiz<br />
von Vater beschuldigt, den<br />
Sohn nicht genug gefördert<br />
zu haben sodass dieser jetzt<br />
schlechte Berufschancen<br />
habe. Dies erfolgt nachdem<br />
Lehrperson sich jahrelang für<br />
den behinderten Schüler<br />
eingesetzt hat und Eltern<br />
nicht mit der Lehrperson kooperiert<br />
haben.<br />
Lehrperson spricht von Schülerin:<br />
"... die mir dann so ins Gesicht<br />
hinein sagen musste... ööhhmm...<br />
so quasi (wartet kurz)... sie haben<br />
mich... <strong>im</strong>mer... oder (wartet<br />
kurz)... sie haben mir (wartet<br />
kurz)... mich drei Jahre lang...<br />
schlecht... also nicht so behandelt,<br />
wie sie sich das vorgestellt hat...<br />
oder sie sei... sie sei enttäuscht<br />
und es gäbe Sachen, bei denen<br />
sie fand... ähhh.... das sei völlig<br />
daneben gewesen... Erlebnisse,<br />
die sie gehabt habe... (wartet<br />
kurz)..."<br />
Lehrperson spricht vom Vater: „Ja,<br />
das sind natürlich schon Äusserungen<br />
wie arrogant, ehm… überheblich,<br />
hinterlistig, ehm… berechnend,<br />
das sind so die Anfangsausdrücke<br />
gewesen und danach ist es<br />
sehr vulgär geworden, Schlampe<br />
und dumme Kuh und Zicke und<br />
solche Ausdrücke.“<br />
(in Dorfbeiz)<br />
Vorwürfe machen<br />
Kritisieren<br />
Killerphrasen äussern<br />
Starres Festhalten an Standpunkten<br />
Vorwürfe machen<br />
Kritisieren<br />
Besch<strong>im</strong>pfen/<br />
Beleidigen<br />
"Herunterputzen" einer Person<br />
Unterstellen<br />
eingebettet in einen Konflikt<br />
eingebettet in einen Konflikt<br />
Tabelle 4: Liste der verbalen <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> ungefähren Wortlaut und Klassifikation<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
H. Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
H.1 Gefühlsdeutungen Emotionsschemen<br />
Eine Liste der Gefühlsklassen könnte folgende Klassen enthalten:<br />
Von Traxel übernommene Klassen<br />
Von Plutchik übernommene Klassen<br />
Trauer, Ärger, Gleichgültigkeit, Zorn, Aggressionslust,<br />
Sorge, Angst, Mitleid, Demut,<br />
Schüchternheit, Begehren, Triumphgefühl<br />
Traurigkeit, Ärger, Überraschung, Überraschung,<br />
Enttäuschung, Furcht, Überraschung<br />
ausser sich sein vor Wut (Adrenalinschub),<br />
Selbstberuhigung und -bewältigung der<br />
Eigene zusätzliche Klassen<br />
Verletzung,<br />
(zu ergänzen)<br />
Peinlichkeit,<br />
Klärungsbedürfnis,<br />
Frustration<br />
Tabelle 5: Gefühls-Klassen für die Auswertung<br />
Befragte<br />
Person<br />
P 8<br />
P 9<br />
Wörtliche Passagen der Gefühlsäusserungen<br />
der Lehrpersonen 9<br />
Das hat mich überrascht, weil ... ich hätte es<br />
nicht so erwartet. (LP spricht hier von der<br />
Aussage des Vaters, dass die Tochter<br />
manchmal nach der Schule recht wütend<br />
nach Hause komme)<br />
Das hat mich verletzt, weil...<br />
... dass der Vater das so negativ aufgefasst<br />
hat, hat mich recht verletzt...<br />
Ich habe genau gemerkt, die wollen auf Provokation<br />
raus, oder.<br />
Und dann habe ich gefunden, ich lasse mich<br />
hier nicht provozieren.<br />
Sie wollen ja, dass ich mich aufrege.<br />
Ich gehe <strong>im</strong>mer ein Bisschen nach dem Prinzip<br />
genau nicht das zu tun, was die Schüler<br />
erwarten.<br />
Klassen<br />
Überraschung (P)<br />
Trauer (T), Traurigkeit (P),<br />
Überraschung (P), Ärger<br />
(P, T), Gleichgültigkeit (T),<br />
Zorn (T)<br />
9 Die Beschreibung wurde dem Transkript entnommen<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
P 10 ... dann wurde ich sehr wütend. Ärger (P, T), Zorn (T),<br />
wütend (R)<br />
Also wirklich, da habe ich wirklich gezeigt,<br />
was das eigentlich ist, jemanden anzulügen.<br />
Aggressionslust (T), Ärger<br />
(P, T), Zorn (T),<br />
Ich war wirklich sehr wütend.<br />
Also, das beleidigt einen dann schon sehr, Trauer (T), Traurigkeit (P),<br />
P 13<br />
P 15<br />
P 18<br />
oder, so knallhart belogen zu werden.<br />
In dem Moment, indem so etwas passiert, ist<br />
man <strong>im</strong>mer, gibt es innerlich einen Adrenalinschub,<br />
weil dann bist du so dermassen<br />
schockiert als Lehrer, dass du dich nicht<br />
mehr genau erinnern kannst, was du gemacht<br />
hast. Du bist so wie in einer Art Trancezustand,<br />
weil du weisst, jetzt bist du ganz,<br />
ganz... an einem Punkt, ich meine er ist ja<br />
bekannt gewesen dafür, dass er gewalttätig<br />
war, oder.<br />
... alles solche Sachen versuchte man zu<br />
verhindern, also eben, unter der Androhung<br />
auch, natürlich denn aus Angst ja wenn ich<br />
denn das machen würde, ich will ja das nicht<br />
riskieren (LP spricht hier von der Suizidandrohung<br />
der Schülerin wenn man sie abstufe)<br />
... ich war dann völlig frustriert und habe sogar<br />
geweint dort... also vor ihr eigentlich...<br />
.. und eben... vor allem „hat es mich mögä"...<br />
weil das eine war, die exrem viel Energie und<br />
Zeit von mir brauchte und ich wirklich extrem<br />
das Gefühl hatte... ich habe versucht diese<br />
zu verstehen und alles für sie gemacht und<br />
genau von ihr bekommst du so ein Hammer,<br />
oder...<br />
... <strong>im</strong> ersten Moment hat es mich wahnsinnig<br />
getroffen und....<br />
...nachher musste ich es irgendwie wegstecken<br />
und dann musste ich sagen, ja gut...<br />
wahrscheinlich kann man es denen einfach<br />
nicht recht machen...<br />
Also ich habe ihn dauernd bei so Lügengeschichten<br />
ertappen müssen und es wurde mir<br />
fast ein Bisschen peinlich.<br />
Es ist dann so ein bisschen peinlich, wenn<br />
wir uns sehen sagt er 'hoi' und ich sage 'grüezi'.<br />
(Schmunzeln) und damit hat sich’s.<br />
Aber ich wusste, wenn ich das nicht mache,<br />
dann habe ich diesen Klotz <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Hals,<br />
das belastet mich einfach.<br />
Enttäuschung (P)<br />
Furcht (P), Überraschung<br />
(P), Enttäuschung (P),<br />
Sorge (T), Angst (T), ausser<br />
sich sein vor Wut (Adrenalinschub)<br />
Angst (T), Sorge (T),<br />
Furcht (P),<br />
Ärger (T, P), Trauer (T),<br />
Traurigkeit (P)<br />
Traurigkeit (P), Trauer (T),<br />
Traurigkeit (P), Trauer (T),<br />
Gleichgültigkeit (T),<br />
Selbstberuhigung und<br />
-bewältigung der Verletzung<br />
Enttäuschung (P), Mitleid<br />
(T), Demut, Schüchternheit<br />
(T), Peinlichkeit<br />
Peinlichkeit?, Demut,<br />
Schüchternheit (T)<br />
Begehren (T), Triumphgefühl<br />
(T), Klärungsbedürfnis<br />
Tabelle 6: Gefühlsbeschreibung und Einordnung in Gefühlsklassen<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
Die Auswahl der Textstellen müsste man begründen. In der zweiten Kolonne wurde<br />
die Wirkung des verbalen Angriffs (in der Erzählung) auf die Lehrperson aufgelistet.<br />
Für die Klassen wurden die Begriffe aus Traxels System der Gefühlsqualitäten (T)<br />
und Plutchiks "Emotionspalette" (P) verwendet.<br />
Plutchik hat nur "Ärger" in seiner Emotionspalette. Dieser Begriff könnte meiner Meinung<br />
nach teilweise zu schwach sein. Traxel beschreibt ihn mit "Zorn, Ärger, Abscheu",<br />
was mehr Auswahlmöglichkeit bietet und somit treffender ist.<br />
Bei Plutchik fehlt "Angst" als Begriff. "Enttäuschung" fehlt bei Traxel.<br />
Entschuldigung fehlt bei Traxel und Plutchik. Diese muss gedeutet werden.<br />
Ich habe folgende Emotionsbegriffe ergänzt und somit Traxels System der Gefühlsqualitäten<br />
folgendermassen erweitert:<br />
Empörung, Nichtverstehen (= Verstand und kein Gefühl?), Peinlichkeit, Interesse,<br />
Klärungsbedürfnis, Fairness, Verantwortungsgefühl<br />
Traxels System der Gefühlsqualitäten könnte man erweitern mit den eigenen Gefühlswörtern,<br />
die gefunden wurde und diese in die vier Achsen einteilen von Traxels<br />
System der Gefühlsqualitäten. Diese Abbildung könnte man ergänzen mit den eigenen<br />
Gefühlsklassen.<br />
Abbildung 3: Das System der Gefühlqualitäten von Traxel<br />
(Bild aus: Tücke (2003, S. 310)<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
Typische Reaktionsweisen auf Kränkungen<br />
Stellen wir uns die Situation <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer vor. Manchmal sind wir in der Lage<br />
kontrolliert und sachlich zu überlegen, welches Verhalten in der entsprechenden Situation<br />
der Verletzung sinnvoll wäre, ohne diese Verletzung dem anderen zurückzugeben.<br />
Beispielsweise könnte ein Schüler sagen: "Sie sind eine schlechte Lehrperson,<br />
ich komme nie draus wenn sie etwas erklären." In dieser Lage könnte man dem<br />
Schüler zum Beispiel sagen, dass seine Bemerkung sehr verletzt hat oder dass man<br />
ärgerlich ist oder eine Entschuldigung erwartet. Die Voraussetzung, um so souverän<br />
reagieren zu können ist, dass man weiss was man fühlt. Gerade diese Wahrnehmung<br />
ist bei Kränkungen getrübt, was dazu führt, dass man keine wirkliche Wahlmöglichkeit<br />
mehr zu haben scheint. Statt dessen verhält man sich "reflexartig", je<br />
nach Veranlagung, auf eine der folgenden Weisen:<br />
Man entscheidet sich für den Rückzug<br />
Man geht zum Gegenangriff über<br />
Man bleibt passiv in der Opferrolle<br />
Eine weitere Arbeit könnte untersuchen, ob in den Fällen aus dieser Arbeit auch mit<br />
diesen typischen Mustern auf Kränkungen reagiert wurde. Folgende Fragestellung<br />
könnten sich ergeben: Wie geht eine Lehrperson mit solchen Kränkungen um, ohne<br />
dass sie noch mehr Schaden anrichtet? Heilen emotionale Verletzungen schneller,<br />
wenn man lernt zu Verzeihen? Im Folgenden sind die drei typischen Reaktionsweisen<br />
auf Kränkungen nach Döring (Döring, D.,Juni 2007, S. 26-29) aufgelistet.<br />
Rückzug<br />
Bei Schülern ist der Rückzug nicht in der typischen Art möglich. Es ist obligatorisch,<br />
täglich zur Schule zu gehen. Sie können sich höchstens in Form von "weniger oder<br />
nichts mehr sagen" gegenüber der Lehrperson zurückziehen. Sie könnten sie ihr gegenüber<br />
verschliessen. Bei Eltern ist ein Rückzug viel besser möglich. Ein Rückzug<br />
geschieht durch einen Kontaktabbruch. Dieser zementiert jedoch die negative Einstellung<br />
gegenüber einander und zu sich selbst. Wenn sich die Eltern beispielsweise<br />
an einem Elterngespräch gekränkt fühlen durch die Lehrperson, egal aus welchem<br />
Grunde, dann können sie den Kontakt zur Lehrperson ohne Probleme abbrechen,<br />
indem sie das Telefon nicht abnehmen, Briefe nicht beantworten und insgesamt einfach<br />
nichts mehr von sich hören lassen. Besser wäre es, vielleicht für eine gewisse<br />
Zeit auf Abstand zu gehen, die Tür aber nicht völlig zuzuschlagen, damit einer späteren<br />
Versöhnung nichts <strong>im</strong> Wege steht.<br />
Kontaktabbruch heisst, dem anderen "die kalte Schulter" zu zeigen, ihn "mit Verachtung<br />
zu strafen." Gekränkte sagen: "Ich will nichts mehr mit dem/der zu tun haben.<br />
Der/die ist für mich gestorben." In Familienkreisen würde man mit Schweigen und<br />
Liebesentzug reagieren. Doch die Abwendung vom Kränkenden ist nicht die Lösung<br />
des Problems, denn auch wenn man mit dem Kränkenden nichts mehr zu tun hat, ist<br />
man dennoch mit ihm beschäftigt – und das oft heftiger und länger, als uns lieb ist.<br />
Man wird in belastender Weise an den Kränkenden gebunden und damit hat er weiter<br />
Macht über uns. Be<strong>im</strong> Gekränkten verbindet sich nicht selten Wut mit Verachtung,<br />
die Folgen sind Destruktivität, Gnadenlosigkeit und Trotz. Der Gekränkte wendet sich<br />
ab, "spielt" nicht mehr mit und verweigert sich damit. Die Wut infolge einer Kränkung<br />
löst das Problem, wie schon oben erwähnt, nicht, sondern sie zerstört allenfalls die<br />
Beziehung zum anderen, oft sogar vorsätzlich.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
Gegenangriff<br />
"Rache ist süss." Eine typische Person, die die Veranlagung hat zum Gegenangriff ist<br />
diese von Fall 12. Ihr Motto, das sie den Schülerinnen und Schüler in der ersten<br />
Schulstunde bekannt gibt ist "Auge und Auge, Zahn um Zahn." Be<strong>im</strong> Gegenangriff<br />
will der Gekränkte in seiner Enttäuschung den anderen verletzten, ihn treffen, ihm so<br />
viel Schmerz zufügen, wie er selbst erlitten hat. Dieser Gedanke erfüllt ihn mit Genugtuung.<br />
Rache verschafft der Person die Illusion, die verloren gegangene Kontrolle<br />
zurückzugewinnen. Rache ist aber Aggression nach aussen, wodurch der Gekränkte<br />
sich stärker und selbstbewusster fühlt. Er gibt erlittene Aggressionen und Verletzungen<br />
zurück. Es kann ein einschneidendes Erlebnis gegeben haben, das dem Gekränkten<br />
Rache zur Lebensaufgabe macht. Alles Denken und Fühlen kreist dabei<br />
<strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer wieder um das erlittene Unrecht und denjenigen, der es verursachte.<br />
Bei einer Lehrperson kann dies ein Schüler gewesen sein, worauf sich die Rache<br />
auf Schüler <strong>im</strong> Allgemeinen ausdehnen könnte. In dieser Spirale wird das "Opfer"<br />
zum Gefangenen seiner negativen Gefühle. Der Gekränkte fürchtetet, dass seine<br />
Aufgabe seiner Rachegelüste dem Kränkenden "Oberwasser" verschaffen könnte<br />
und er ohne Strafe davonkommt.<br />
Was kann man in so einer hoffnungslos verfahrenen Situation tun? Vor allem Handeln<br />
muss die Erkenntnis stehen, dass Rache keine Lösung ist das Problem zu lösen<br />
und es muss die Bereitschaft aufgebracht werden können, nach einer besseren Lösung<br />
zu suchen. Darüber hinaus müssen die Konfliktparteien auch bereit sein, ihren<br />
Stolz zu überwinden und über ihren eigenen Schatten zu springen. Gerade das ist so<br />
schwer, weil der Gekränkte, der grosszügig die Hand zur Versöhnung reicht, fürchtet,<br />
am Ende als Verlierer dazustehen – was als Lehrperson nicht nur eine zusätzliche<br />
Kränkung wäre, sondern eine Angst nicht mehr als Autoritätsperson anerkannt zu<br />
sein.<br />
Passives Bleiben in der Opferrolle<br />
Neben Scham und Wut ist Schmerz eine weitere Möglichkeit einer emotionalen Reaktion<br />
auf Kränkungen. Statt eine emotionale Enttäuschung zu betrauern, flüchten<br />
viele Gekränkte in Selbstmitleid. Man gefällt sich in der Opferrolle.<br />
Wer in seiner führen Kindheit Wertschätzung entbehrte, dann besteht eine hohe<br />
Wahrscheinlichkeit, dass er als Erwachsener überhöhte Anforderungen nach Anerkennung,<br />
Akzeptanz und Achtung hat. Wer dagegen früh in seinem Leben positive<br />
Erfahrungen sammeln konnte und das Gefühl bekam, liebevoll angenommen zu sein,<br />
wird <strong>im</strong> Erwachsenenalter weniger auf äussere Zuwendung angewiesen sein, sondern<br />
seine Zuversicht und sein Selbstvertrauen werden ihm die Unterstützung geben,<br />
die andere unbedingt von aussen benötigen und erwarten. Lehrpersonen in so<br />
einer Situation erwarten dann beispielweise von den Schülerinnen und Schüler, den<br />
Eltern oder den Lehrerkollegen diese Anerkennung. Sobald diese Erwartungshaltung<br />
von aussen nicht erfüllt wird, gerät das Leben solcher Menschen oft aus dem Lot.<br />
Das Sprichwort "Zeit heilt alle Wunden" st<strong>im</strong>mt nicht <strong>im</strong>mer. Wer Verletzungen und<br />
Kränkungen verdrängt, statt sie zu verarbeiten, schafft die Grundlage für körperliche<br />
Erkrankungen.<br />
Viele Menschen haben Mühe erlittene Verletzungen zu vergessen oder zu verzeihen.<br />
Sie denken jahrelang verbittert und unversöhnlich an eine erlittene Verletzung, pflegen<br />
die Erinnerung daran und meinen, dies sei ein Zeichen von seelischer Stärke<br />
und Charakterfestigkeit. Wer mit einer so starren, unversöhnlichen Haltung durchs<br />
Leben geht, kann seines Lebens nicht mehr froh werden, denn das Aufrechterhalten<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007
<strong>Verbale</strong> <strong>Angriffe</strong> <strong>im</strong> <strong>Schulalltag</strong><br />
Ideen für weiterführende Arbeiten<br />
eines Feindbildes vergiftet die Gefühle, weil man fühlt, was man denkt. Groll macht<br />
die Seele hart! Viel Zeit und Energie sind an Kränkungen gebunden, gehen an ihnen<br />
verloren und stehen dem übrigen Leben nicht mehr zu Verfügung. Eine Kränkung<br />
heilt nur schwer, solange sie nicht verarbeitet und vergeben ist. "Unerledigt" taucht<br />
sie <strong>im</strong> Seelenleben <strong>im</strong>mer wieder auf und verhindert eine wirkliche Heilung.<br />
Es ist ungesund nachtragend zu sein. Solange man jemandem etwas nachträgt, ist<br />
nicht der andere das wahre Opfer, sondern man selber. Solange man sich auf die<br />
seelischen Verletzungen konzentriert, gibt man dem Menschen, der sie verletzt hat,<br />
erhebliche Macht über sich selber. Dies beweisen Forschungsergebnisse der USamerikanischen<br />
Stanford-Universität. Die Dauerqual, verletzt zu sein, macht Seele<br />
und Körper krank. Verzeihen dagegen, hilft. Dies fanden Forscher heraus.<br />
Kreyenberg's Ansatz zur Deeskalation von Konflikten<br />
Kreyenberg (2005) versteht unter einer Intervention zur Konfliktlösung und Konsensfindung<br />
eine zielgerichtete Kommunikation zur Deeskalation von Konflikten, die die<br />
Beteiligten so beeinflusst, dass eine kooperative Zusammenarbeit wieder möglichst.<br />
Kreyenberg unterteilt diese positive Beeinflussung der Beteiligten in drei Ebenen<br />
(Kreyenberg, 2005, S. 296):<br />
1. Die wichtigste Beeinflussung betrifft die eigene Person. Konfliktmanagement<br />
muss <strong>im</strong>mer daran ansetzen, sich selbst in einen günstigen emotionalen Zustand<br />
zu versetzen und die eigenen Verhaltensweisen bewusst und flexibel<br />
einzusetzen.<br />
2. Andere Menschen sind nicht zwangsläufig durch Fremdeinwirkung veränderbar<br />
– wir können sie jedoch durch eine Veränderung des eigenen Vorgehens<br />
dazu einladen, das Zusammenleben und arbeiten angenehmer zu gestalten.<br />
3. Als unparteiischer, unbeteiligter Dritter stehen uns noch weitere Interventionsmethoden<br />
zur Verfügung. Es ist jedoch auch möglich, diese innere Haltung<br />
des Abstands als Beteiligter einzunehmen.<br />
Anhang Masterarbeit Tanja Rothenfluh 8. November 2007