01.11.2012 Aufrufe

Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...

Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...

Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Hans Georg Lehmann<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> <strong>lebenslanges</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong><br />

Begleitbuch zur <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation<br />

1945 - 2004 (D-Dok.)<br />

Bonn 2005<br />

1


Hans Georg Lehmann<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> <strong>lebenslanges</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong><br />

Begleitbuch zu Hans Georg Lehmann (Hg.): D-DOK.<br />

<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales (DVD mit Booklet)<br />

Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2004.<br />

ISBN 3-8012-0342-5<br />

Ladenpreis 49,80 Euro<br />

Ich lerne,<br />

<strong>als</strong>o bin ich<br />

(Disco, ergo sum)<br />

2


Typografische Gestaltung: Asiye Öztürk M.A., Tibor Haunit, Miriam Schmidt<br />

Forschungsprojekt "<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales" an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn,<br />

gefördert vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF).<br />

Bonn 2005<br />

© Hans Georg Lehmann<br />

Lehrern <strong>und</strong> Lehrerinnen, Hochschullehrern <strong>und</strong> Hochschullehrerinnen sowie<br />

Dozenten <strong>und</strong> Dozentinnen ist gestattet, dieses Buch unter Quellenangabe für<br />

Zwecke des Unterrichts, der Forschung <strong>und</strong> der Lehre zu nutzen. In der schulischen<br />

<strong>und</strong> außerschulischen politischen Bildung wird dies ausdrücklich gewünscht.<br />

Ausdrucke <strong>und</strong> Vervielfältigung bedürfen der Genehmigung des Autors.<br />

F<strong>und</strong>stelle: www.d-dok.de/e-Book<br />

3


Ad Fontes<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>lebenslanges</strong> <strong>und</strong> <strong>neues</strong><br />

<strong>Lernen</strong> ist während der<br />

Entstehung der „<strong>Deutschland</strong>-<br />

Dokumentation 1945-2004“<br />

(D-Dok.) konzipiert worden<br />

<strong>und</strong> wird deshalb <strong>als</strong><br />

Begleitbuch dazu vorgestellt.<br />

Als Lernkonzept ist<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> eigenständig.<br />

Die D-Dok. liefert <strong>als</strong> größte<br />

historisch-politische <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftliche<br />

digitale Quellenbibliothek zu<br />

<strong>Deutschland</strong> nach 1945 dafür<br />

authentische, mehrsprachige<br />

Dokumente. Ihre subjektive<br />

Auswahl verbürgt je nach<br />

Themen- <strong>und</strong><br />

Fragestellungen quantitative<br />

<strong>und</strong> qualitative Weite, Breite<br />

<strong>und</strong> Multiperspektivität.<br />

Hans Georg Lehmann<br />

4


Inhaltsverzeichnis<br />

Zur Einführung........................................................................................................ 12<br />

Einleitung ................................................................................................................ 15<br />

1. Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Kontext der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.<br />

Informationszeitalter - PISA-Studien I <strong>und</strong> II - Alltäglicher Narzissmus - Schein<br />

<strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens ........................................................... 18<br />

1.1. Die informationelle Revolution: Konturen des globalen Informationszeitalters<br />

<strong>und</strong> der Wissensgesellschaft ................................................................................ 18<br />

1.2. Die PISA-Studien I <strong>und</strong> II der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> Entwicklung (OECD): Konsequenzen für <strong>Deutschland</strong> .................................. 20<br />

1.3. <strong>Deutschland</strong> im Informationszeitalter: Abstieg zu einem bildungspolitischen<br />

Entwicklungsland oder Absturz in ein schwarzes Loch?....................................... 26<br />

1.4. Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch im Informationszeitalter: Fehlfunktionen des<br />

körperlich-emotionalen Selbst <strong>und</strong> die Unfähigkeit, sich selbst zu lieben ............. 29<br />

1.5. Alltäglicher Narzissmus in der Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft:<br />

Massenmedien <strong>als</strong> Spiegelbild <strong>und</strong> intersubjektive Ersatzobjekte ........................ 35<br />

1.6. Die geschlossene Gesellschaft in <strong>Deutschland</strong>: Familie, Bildung, Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Beruf <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg........................................................... 38<br />

1.7. Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens: Steht eine<br />

Bildungskatastrophe bevor?.................................................................................. 41<br />

1.8. Das Menetekel von Erfurt: Die Fassade der scheinbar heilen Welt oder die<br />

Singularität des Grauens?..................................................................................... 44<br />

2. Inhalt, Datenerfassung, Formatierung <strong>und</strong> Leitmotiv der D-Dok.<br />

Quellen <strong>als</strong> Spiegel <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der Quellenbibliothek.................. 47<br />

2.1. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> deutsche, vor allem staatliche Politik 1945 - 2004 <strong>als</strong> Inhalt -<br />

Die Sonderrolle des Deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der<br />

Reichstagskuppel.................................................................................................. 47<br />

2.2. Ausgewählte Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen 1945 -<br />

2004: Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen (Repertorium)......... 49<br />

5


2.3. Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung: Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre Rechtschreibung<br />

- Digitalisierung - Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung - manuelle Korrektur -<br />

Haftungsausschluss.............................................................................................. 51<br />

2.4. Formatierung <strong>und</strong> Software der PDF-Dokumente: Dokumentendatum -<br />

Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname <strong>und</strong> Datei-Koeffizient -<br />

Quellennachweis - Volltextsuche .......................................................................... 53<br />

2.5. Die D-Dok. <strong>als</strong> deutschsprachige Datenbank mit eingemischten englisch-,<br />

französisch-, spanisch- <strong>und</strong> türkischsprachigen Dokumenten .............................. 67<br />

2.6. Begriff <strong>und</strong> Authentizität der Quelle <strong>als</strong> Spiegel: Quellen sind der Stoff, aus<br />

dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird ......................................................... 69<br />

2.7. Die Dokumentenauswahl der D-Dok.: Ihr Anspruch, deutsche Geschichte <strong>und</strong><br />

Politik zu spiegeln ................................................................................................. 71<br />

2.8. Die Spiegelfunktion der fördernden Umwelt in der primären Sozialisation: Die<br />

Entstehung des Selbst <strong>und</strong> des denkenden Ichs .................................................. 75<br />

2.9. Sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong> identitätsstiftende Sozialisation: Ergänzende<br />

Spiegelfunktionen durch historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />

Quellen.................................................................................................................. 77<br />

2.10. Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum): Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Leitmotiv<br />

der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. ......................................................................... 80<br />

3. Schranken, Kritik, Voraussetzungen <strong>und</strong> Modelle der <strong>Quellenarbeit</strong> in<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Hürden - Didaktikerstreit - Lehrpläne <strong>und</strong> Frontalunterricht - Drei Vorschläge 83<br />

3.1. Die erste Hürde: <strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong> - ein kritischer Rückblick....... 83<br />

3.2. Die zweite Hürde: Neue Medien <strong>als</strong> Arbeitsinstrumente <strong>und</strong> Hilfsmittel:<br />

Chancen, Abwehrhaltungen, Grenzen <strong>und</strong> Risiken .............................................. 86<br />

3.3. Die dritte Hürde: Interdisziplinär lehren, forschen <strong>und</strong> lernen<br />

Politische Bildung <strong>als</strong> Beispiel............................................................................... 88<br />

3.4. Der Didaktikerstreit: <strong>Quellenarbeit</strong> im Fadenkreuz der Kritik <strong>und</strong> Polemik ..... 89<br />

3.5. Tua res agitur: Die Frau im Didaktikerstreit <strong>und</strong> im "Problem <strong>Quellenarbeit</strong>" -<br />

eine Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder eine Nichtexistenz?............... 94<br />

6


3.6. Voraussetzungen der <strong>Quellenarbeit</strong>: Lehrpläne entrümpeln, Freiräume nutzen<br />

<strong>und</strong> tradierte, frontal-belehrende Unterrichtsmethoden durch alternativ-offene<br />

ergänzen oder ersetzen ........................................................................................ 96<br />

3.7. Drei Modelle zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Vergleich: Rudolf Renz (1971) - Wolfgang<br />

Hug (1977/1980) - Hans-Jürgen Pandel (2000) .................................................... 99<br />

4. Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s mit Quellen<br />

Weitgehend selbstbestimmte, computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der<br />

verfassungsrechtliche Auftrag der Persönlichkeitsentfaltung nach Artikel 2<br />

Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz...........................................................................................105<br />

4.1. Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum)<br />

Weitgehend selbstbestimmtes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> vornehmlich primärer,<br />

aktiver Lernprozess..............................................................................................105<br />

4.2. Wozu <strong>und</strong> warum lernen?<br />

Zwei ausgewählte interdependente Teillernziele: Neue Politische Bildung (NPB)<br />

<strong>und</strong> Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz..................108<br />

4.3. Was recherchieren <strong>und</strong> wie selektieren?<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Teilbereiche technischer <strong>und</strong> mathematischer Kompetenz:<br />

Vorauswahl <strong>und</strong> Auswahl von Informationen durch die <strong>Lernen</strong>den mit den<br />

Lehrenden <strong>als</strong> fördernde <strong>und</strong> fordernde Umwelt..................................................113<br />

4.4. Welche Informationen wie zu Wissen verarbeiten?<br />

Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess: Quellen erklären, quellenkritisch auswerten <strong>und</strong><br />

auf ihre Spiegelfunktion überprüfen .....................................................................120<br />

4.5. Was verstehen <strong>und</strong> wie hermeneutisch deuten zwischen "Fremdheit <strong>und</strong><br />

Vertrautheit"?<br />

Quelleninterpretation <strong>als</strong> hermeneutische Spirale in Auseinandersetzung mit<br />

Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas..............................................128<br />

4.6 Sind Hypothesen <strong>als</strong> Verallgemeinerungen möglich?<br />

Die Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen: Verknüpfungen von binären Variablen nach<br />

ihrem Wahrheitsgehalt .........................................................................................133<br />

4.7. Wie Hypothesen aus dem inhaltlich-subjektiven Quellenverständnis ableiten?<br />

Tendenziell-approximative Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen..................138<br />

7


5. Evaluation der <strong>Quellenarbeit</strong> an Schulen: "Spieglein, Spieglein, an der<br />

Wand..."<br />

Primat der Praxis - Lernprogramm der D-Dok. - Standards, Methoden <strong>und</strong><br />

Indikatoren - Spiegelszene ...................................................................................142<br />

5.1. Der Primat der Praxis in der Evaluation: Kontrolliertes Bewerten <strong>und</strong><br />

Verwerten von Informationen <strong>als</strong> Handlungswissen -<br />

Schule <strong>als</strong> konkretes Beispiel ..............................................................................142<br />

5.2. Evaluation an allgemein bildenden Schulen: Das Schulprogramm in<br />

<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> das Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> ....................145<br />

5.3. Der Spiegel <strong>und</strong> die Unberechenbarkeit der Schulaufsicht: <strong>Quellenarbeit</strong> mit<br />

der D-Dok. <strong>als</strong> "Untergr<strong>und</strong>arbeit" an deutschen Schulen? .................................148<br />

5.4. Gegenstand <strong>und</strong> Zweck der schulinternen Evaluation: Standards, Methoden<br />

<strong>und</strong> "weiche" Indikatoren auswählen ...................................................................150<br />

5.5. Das Kaleidoskop von Antworten, Eindrücken, Meinungen, Empfindungen:<br />

Konkrete Beispiele <strong>als</strong> Bewertungskriterien.........................................................153<br />

5.6. Die Spiegelszene <strong>als</strong> Abschied <strong>und</strong> Neuanfang: Ein Tag der Besinnung? Ein<br />

Tag der Abrechnung? Ein Tag der Freude? Ein Tag der Trauer? Ein Tag der<br />

Rache? Ein Tag des Loslassens?........................................................................156<br />

6. Politische Bildung (PB) <strong>und</strong> Neue Politische Bildung (NPB)<br />

Eine Abgrenzung <strong>und</strong> ein Kurzporträt.................................................................162<br />

6.1. Idealtypische Charakterologie I: Vorrangig Arbeit mit Quellen <strong>als</strong><br />

fachwissenschaftlich-rationales F<strong>und</strong>ament der<br />

Neuen Politischen Bildung (NPB) ........................................................................163<br />

6.2. Idealtypische Charakterologie II: Vorzugsweise Arbeit an den Quellen <strong>als</strong><br />

psychologisch-emotionales F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen Bildung (NPB) ...164<br />

6.3. Idealtypische Charakterologie III: Vornehmlich computergestütztes Suchen,<br />

Finden <strong>und</strong> Problemlösen <strong>als</strong> technologisch-mathematisches F<strong>und</strong>ament der<br />

Neuen Politischen Bildung (NPB) ........................................................................167<br />

6.4. Idealtypische Charakterologie IV: Persönlichkeitsbildung nach Artikel 2 Absatz<br />

1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>als</strong> verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament der Neuen<br />

Politischen Bildung (NPB) ....................................................................................170<br />

8


6.5. Individuum est ineffabile: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong> politischideologische<br />

Instrumentalisierung von Geschichts- <strong>und</strong> Politikdidaktik................173<br />

6.6. Veränderung in der demokratischen Ordnung: Ideologische oder utopische<br />

Elemente in der Neuen Politischen Bildung (NPB)? ............................................176<br />

7. Adressen für die Praxis I: Schulische <strong>und</strong> außerschulische politische<br />

Bildung<br />

Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, Sek<strong>und</strong>arbereiche I <strong>und</strong> II sowie<br />

Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung........................................................................182<br />

7.1. Zielgruppe <strong>als</strong> Schwerpunkt: Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer an allgemein bildenden<br />

Schulen................................................................................................................182<br />

7.2. Aufruf an Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland: Deutsch - Englisch -<br />

Französisch - Spanisch - Türkisch .......................................................................185<br />

7.3. Zwei Wege zur <strong>Quellenarbeit</strong>: Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong> schulische<br />

Voraussetzungen .................................................................................................188<br />

7.4. Ausstieg <strong>und</strong> Neueinstieg: Ein Alptraum oder ein archaischer Traum von<br />

großer Magie?......................................................................................................191<br />

7.5. Primarbereich: Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, insbesondere Theorie <strong>und</strong><br />

Praxis des Peschel-Unterrichts <strong>und</strong> der Ganztagsgr<strong>und</strong>schule nach<br />

B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn ..................................................................................195<br />

7.6. Elektronische Medien <strong>und</strong> Computer Literacy:<br />

Zielkonzepte <strong>und</strong> Beispiele in der Gr<strong>und</strong>schule (1. - 4. Klasse)...........................199<br />

7.7. <strong>Quellenarbeit</strong> im Sachunterricht der Gr<strong>und</strong>schule: Selbstbestimmtes Suchen<br />

<strong>und</strong> Finden, handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Problemlösen.............................205<br />

7.8. Diagnostik I im Primarbereich: Individuelle Fähigkeiten oder Retardierungen<br />

<strong>und</strong> familiäre Umwelt ...........................................................................................214<br />

7.9. Diagnostik II im Primarbereich: Geschlechtsspezifische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

Rollenerwartungen...............................................................................................215<br />

7.10. Diagnostik III im Primarbereich: Migrantenbezogene, vor allem deutschtürkische<br />

Schul- <strong>und</strong> Integrationsprobleme..........................................................215<br />

7.11. Die erste Lernprobe: Die Vorstellung der D-Dok. in einer 4. Klasse der<br />

Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid..............................................................219<br />

9


7.12. Durchsicht <strong>und</strong> "Überprüfung": Die Gr<strong>und</strong>schulteile 7.5. - 7.10. im Urteil der<br />

Fachleiterin Gisela Arnold....................................................................................223<br />

7.13. Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II, insbesondere Gymnasien: Idealtypische<br />

Fragestellungen, Aufzählungen <strong>und</strong> Vorschläge..................................................225<br />

7.14. Außerschulische politische Bildung in der Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung:<br />

Neue Politische Bildung (NPB) <strong>als</strong> Alternative .....................................................239<br />

8. Adressen für die Praxis II<br />

Forschung <strong>und</strong> Lehre - Politik <strong>und</strong> Medien - Behörden <strong>und</strong> Gerichte -<br />

Bibliotheken <strong>und</strong> Archive - Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen ...........................243<br />

8.1. Hochschullehre auf dem Prüfstand: Nicht-direkte Lehrmethoden anstelle<br />

direkter an Universitäten ......................................................................................243<br />

8.2. Digitalisierung <strong>als</strong> Mehrwert: Die D-Dok. <strong>als</strong> Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Hilfsmittel<br />

für Recherchen in Lehre <strong>und</strong> Forschung..............................................................245<br />

8.3. Politiker/innen <strong>und</strong> Journalist/innen: Akteure <strong>und</strong> Vermittler von Politik im<br />

Informationszeitalter?...........................................................................................246<br />

8.4. Politikvermittlung <strong>und</strong> Politainment: Medien inszenieren Politik, Quellen<br />

spiegeln sie ..........................................................................................................247<br />

8.5. Digitale Angebote: Behörden <strong>und</strong> Gerichte, Bibliotheken <strong>und</strong> Archive,<br />

Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen ..........................................................................249<br />

9. Dank <strong>und</strong> Kritik ..................................................................................................252<br />

10. Der Autor ..........................................................................................................253<br />

10


Verzeichnis der Abbildungen<br />

Abbildung 1: Prozentualer Anteil von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern unter<br />

Kompetenzstufe I <strong>und</strong> auf Kompetenzstufe V: Gesamtskala<br />

Lesen der PISA-Studie<br />

Abbildung 2: Mittelwerte <strong>und</strong> Streuungen der Testwerte in den<br />

Teilnehmerstaaten: Gesamtskala Lesen der PISA-Studie<br />

Abbildung 3: Reichstagskuppel <strong>als</strong> Titelbild (Fotografiert von Joachim Liebe,<br />

Berlin; in einer bearbeiteten Fassung von Jens Vogelsang,<br />

Aachen)<br />

Abbildung 4: Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext -<br />

Dateiname - Quellennachweis<br />

Abbildung 5: Dokumentendaten - Dokumentendatum<br />

Abbildung 6: Dokumententitel<br />

Abbildung 7: Dokumentenuntertitel<br />

Abbildung 8: Dokumentenvortitel<br />

Abbildung 9.1. Leerzeile im Dokumententext<br />

Abbildung 9.2. Leerzeile im Dokumententext<br />

Abbildung 10: Leerzeilen im Dokumententext<br />

Abbildung 11: Hervorhebungen im Dokumententext<br />

Abbildung 12: Aufzählungen mit Tabstopps im Dokumententext<br />

Abbildung 13: Fußnoten im Dokumententext<br />

Abbildung 14: Seitenzahlen der PDF-Dokumente<br />

Abbildung 15: Dateiname <strong>und</strong> Quellennachweis<br />

Abbildung 16: Datei mit Datum, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname<br />

Abbildung 17: Liste der Datei-Koeffizienten<br />

Abbildung 18: Dateiname <strong>und</strong> Betreff<br />

Abbildung 19: Quellennachweis <strong>als</strong> F<strong>und</strong>stellenangabe<br />

Abbildung 20: Interpretationsregeln <strong>und</strong> Interpretationsschritte für Quellen<br />

nach Hans-Jürgen Pandel (Quelleninterpretation. Die<br />

schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts.<br />

2000. Seite 180)<br />

Abbildung 21: Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen<br />

Abbildung 22: Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> elektronische Schaltungen nach<br />

DIN<br />

Abbildung 23: Gebietsdarstellungen (Schnittmengen) der Booleschen<br />

Gr<strong>und</strong>funktionen<br />

11


Zur Einführung<br />

Mitte Juli 2004 ist im Verlag J. H. W. Dietz Nachf. in Bonn die von mir<br />

herausgegebene "D-DOK. <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales" (fortan D-Dok.) <strong>als</strong> digitale Quellenbibliothek (DVD mit<br />

Booklet) erschienen. Dieses Begleitbuch ist Bestandteil des vom B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) geförderten Projekts <strong>und</strong> bereits im Booklet<br />

(Seite 6) der DVD (ISBN 3-8012-0342-5; Ladenpreis Euro 49,80) angekündigt.<br />

Weit über die Möglichkeiten, die der Umfang des Booklets ( 32 Seiten) geboten hat,<br />

will <strong>und</strong> soll dieses Begleitbuch<br />

– die D-Dok. <strong>und</strong> die <strong>Quellenarbeit</strong> in das Informationszeitalter <strong>und</strong> die in ihm<br />

entstehende Wissensgesellschaft einordnen;<br />

– die gegenwärtige Krise <strong>und</strong> den Umbruch von Bildung <strong>und</strong> politischer Bildung in<br />

<strong>Deutschland</strong> offen legen;<br />

– die Editionsgr<strong>und</strong>sätze der Dokumentenauswahl, ihrer Datenerfassung,<br />

Formatierung <strong>und</strong> Spiegelfunktion darlegen <strong>und</strong> dokumentieren;<br />

– über das Leitmotiv des lebenslangen <strong>und</strong> die Ziele des neuen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong><br />

an Quellen (<strong>Quellenarbeit</strong>) informieren <strong>und</strong> sie begründen;<br />

– Hürden, Voraussetzungen <strong>und</strong> didaktische Modelle des neuen <strong>Lernen</strong>s <strong>als</strong><br />

weitgehend selbstbestimmte computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> vorstellen <strong>und</strong><br />

Möglichkeiten, sie an Schulen zu evaluieren;<br />

– das Konzept der "Neuen Politischen Bildung" (NPL) idealtypisch<br />

charakterisieren <strong>und</strong> sie von der bisherigen politischen Bildung (PB) abgrenzen;<br />

– Zielgruppen aufführen, an die sich die D-Dok. wendet: in der schulischen <strong>und</strong><br />

außerschulischen politischen Bildung (Praxis I), aber auch in Forschung, Lehre,<br />

Politik, Medien, Behörden, Archiven, Bibliotheken u.a. (Praxis II);<br />

– in den Anmerkungen ergänzende Informationen liefern, F<strong>und</strong>stellen belegen<br />

<strong>und</strong> weiterführende wissenschaftliche Literatur nennen.<br />

Geschichte <strong>und</strong> Politik der Staaten hängen hauptsächlich von ihrem geistigen<br />

Potenzial, ihren materiellen Ressourcen, ihrer geografischen Lage, ihrer Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> vom Kulturkreis ab, dem sie angehören. Die individuelle Lebensgeschichte der<br />

Menschen wird von genetisch-vorgeburtlichen Dispositionen <strong>und</strong> dem damit<br />

zusammenhängenden familiären "Erbe" bestimmt, aber wesentlich auch von den<br />

durch Sozialisation verinnerlichten Objektbeziehungen geprägt - den gespeicherten<br />

intrapsychischen Selbst- <strong>und</strong> den interpsychischen Objekt-Repräsentanzen.<br />

In der I. Stufe beginnt das hier vertretene Konzept des lebenslangen <strong>Lernen</strong>s mit der<br />

vornehmlich rational-fachwissenschaftlich orientierten <strong>Quellenarbeit</strong>: nach<br />

selbstbestimmten ausgewählten Fragestellungen mit staatlichen <strong>und</strong><br />

gesellschaftlichen Quellen, in denen sich die Vergangenheit in der Gegenwart


spiegelt. Dieser Lernprozess unterscheidet sich bereits wesentlich vom "fertigen"<br />

Wissen <strong>und</strong> von "vorgefertigten" Interpretationen <strong>und</strong> Meinungen, wie sie in der<br />

Regel Schul- <strong>und</strong> Sachbücher sowie die wissenschaftliche Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />

anbieten <strong>und</strong> vermitteln wollen.<br />

In der II. Stufe geht es darum, die rational-fachwissenschaftliche mit der internemotionalen<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> zu verknüpfen ("verlinken") <strong>und</strong> so einen<br />

lebensgeschichtlichen Bezug zwischen ihnen - zwischen außen <strong>und</strong> innen -<br />

herzustellen: an den Quellen des lernenden Individuums. So können Geschichte <strong>und</strong><br />

Politik in uns verinnerlicht werden, sei es <strong>als</strong> positive, sei es <strong>als</strong> negative Bilanz.<br />

Diese Quellen- <strong>und</strong> Spurensuche ist mühselig, beschwerlich, zeitaufwändig, steinig,<br />

oft schmerzlich, sehr oft durch Vorurteile, Verdrängungen, Ängste, Tabus, Zwänge<br />

<strong>und</strong> andere Schranken blockiert.<br />

Die III. <strong>und</strong> letzte Stufe ist eine produktive Utopie <strong>und</strong> ein Grenzfall, deshalb<br />

außergewöhnlich selten: Die lebenslange <strong>Quellenarbeit</strong> mündet <strong>und</strong> gründet in den<br />

Wurzeln des existenziellen Selbst, auf dem Narzissmus, Triebe, Ich <strong>und</strong> Über-Ich<br />

aufbauen. Dies gelingt nur, wenn die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben<br />

<strong>und</strong> das lernende Individuum befähigt wird, Verstrickungen <strong>und</strong> Fesseln seiner<br />

äußeren <strong>und</strong> inneren Lebensgeschichte rational zu erkennen <strong>und</strong> sie emotional<br />

aufzuarbeiten. Es ist eine neue, aber schwere Geburt.<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>, wie sie hier vertreten wird, ist das Gegenteil von Historytainment, das<br />

Geschichte mit Unterhaltung vermarktet, das Gegenteil von Politainment, das Politik<br />

multimedial inszeniert, <strong>und</strong> die D-Dok. ist das Gegenteil jener aufwändigen populären<br />

„Dokumentationen“, die über die deutschen Bildschirme flimmern.<br />

Die Anregungen, die ich zur <strong>Quellenarbeit</strong> unterbreite, sind erstens unverbindlich,<br />

zweitens oft subjektiv <strong>und</strong> drittens bewusst idealtypisch. Sie bieten so einen zwar nur<br />

theoretisch-abstrakten <strong>und</strong> assoziativen Bezugsrahmen, aber zugleich auch einen<br />

breiten Frei- <strong>und</strong> Spielraum. Um sie zu konkretisieren <strong>und</strong> in der Praxis zu erproben,<br />

ist deshalb erforderlich, sie je für den Zweck, dem sie dienen sollen, didaktisch<br />

aufzubereiten.<br />

In <strong>Deutschland</strong> befinden sich Bildung, Bildungspolitik <strong>und</strong> Bildungswesen,<br />

insbesondere Schulen <strong>und</strong> Hochschulen, derzeit in einer schweren Krise <strong>und</strong> in<br />

einem Umbruch. Lehrer/innen <strong>und</strong> Hochschullehrer/innen stehen unter Zeit-, Arbeits-<br />

<strong>und</strong> Erfolgsdruck, den Staat <strong>und</strong> Gesellschaft auf sie ausüben, um Bildungs- <strong>und</strong><br />

Unterrichtsreformen einzufordern; doch fehlen oft die dafür erforderlichen<br />

personellen, organisatorischen, fachlich-didaktischen, rechtlichen, zeitlichen <strong>und</strong><br />

nicht zuletzt auch finanziellen Voraussetzungen, unter denen sie gedeihen könnten.<br />

Ich hoffe dennoch, es finden sich allen widrigen Zeit- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen zum<br />

Trotz engagierte Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen sowie Hochschullehrer <strong>und</strong><br />

13


Hochschullehrerinnen, die sich den Herausforderungen der <strong>Quellenarbeit</strong> stellen <strong>und</strong><br />

die D-Dok. in der Praxis erproben werden. Impulse dazu erhoffe ich auch aus dem<br />

Ausland, das von der für <strong>Deutschland</strong> charakteristischen staatlich-bürokratischen<br />

Reglementierung des Bildungswesens größtenteils verschont geblieben ist.<br />

Als Autor ermuntere ich dazu, dieses Buch, über dessen Urheberrechte ich verfüge,<br />

unter Quellenangabe für Zwecke des Unterrichts, der Forschung <strong>und</strong> der Lehre zu<br />

nutzen <strong>und</strong> weiter zu entwickeln, es aber auch kritisch zu prüfen, zu bemängeln <strong>und</strong><br />

in Frage zu stellen.<br />

Der Verlag J. H. W. Dietz Nachf. wird künftig allen Käuferinnen <strong>und</strong> Käufern der D-<br />

Dok. kostenlos ein Exemplar dieses Begleitbuches zur Verfügung stellen.<br />

Bonn, Anfang Februar 2005 Hans Georg Lehmann<br />

14


Einleitung<br />

Auf der DVD der D-Dok. (<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales. Bonn 2004. Ladenpreis 49,80 Euro) sind historischpolitische<br />

<strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen <strong>und</strong> Daten mit weit über 100.000<br />

abrufbaren Textseiten sowie sie ergänzenden Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumenten<br />

gespeichert. Diese multimediale Datenbank bietet daher die größte <strong>und</strong><br />

umfassendste digitale Quellenbibliothek über <strong>Deutschland</strong> nach 1945.<br />

Die Dokumentation erstreckt sich über 60 Jahre deutscher Geschichte <strong>und</strong> Politik.<br />

Mit dem letzten Kriegsjahr 1945 beginnend, endet die Datenbank in der Gegenwart<br />

mit dem 31. Januar 2004. Schlussredaktion war am 20. Februar 2004.<br />

Die DVD dokumentiert <strong>und</strong> belegt vornehmlich staatliche Quellen <strong>und</strong> Daten in ihrer<br />

Vielfalt, in ihren zeitbedingten Abhängigkeiten <strong>und</strong> in ihrer chronologischen<br />

Reihenfolge - nach innen <strong>und</strong> nach außen. Berücksichtigt sind die letzten Monate<br />

Hitler-<strong>Deutschland</strong>s 1945 <strong>und</strong> die vier Besatzungszonen (1945 – 1949), die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> (BRD) <strong>und</strong> die Deutsche Demokratische Republik<br />

(DDR) seit 1949 sowie das geeinte <strong>Deutschland</strong> vom 3. Oktober 1990 bis zum 31.<br />

Januar 2004.<br />

Die D-Dok. ist fünfsprachig: Sie enthält digitalisierte Dokumente in deutscher ( ca.<br />

75%), in englischer, in französischer, einige auch in spanischer <strong>und</strong> in türkischer<br />

Sprache. Die Datenbank wird so in den europäischen <strong>und</strong> globalen Bezugsrahmen<br />

eingebettet.<br />

Leitmotiv ist das lebenslange <strong>Lernen</strong>. Darüber gibt es viele Veröffentlichungen,<br />

Konzepte <strong>und</strong> Appelle, aber sehr wenige konkrete für die Praxis. Ein solches<br />

Arbeitsinstrument <strong>und</strong> Hilfsmittel zum lebenslangen <strong>Lernen</strong> will die D-Dok. jungen,<br />

erwachsenen <strong>und</strong> nicht zuletzt auch alten Menschen bereitstellen, damit sie den<br />

Herausforderungen des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen sind.<br />

Die multimediale Datenbank bietet dazu mehrsprachige Informationen erster Hand<br />

<strong>als</strong> authentische Quellen von fast astronomischer Weite <strong>und</strong> Breite an. Lernziel ist,<br />

sie <strong>als</strong> Rohstoff zu eigenem Wissen zu verarbeiten - weitgehend selbstbestimmt mit<br />

<strong>und</strong> an den Quellen (<strong>Quellenarbeit</strong>). In Abänderung <strong>und</strong> Anpassung des<br />

cartesianischen Leitspruchs "Cogito, ergo sum" (Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich) an das<br />

Informationszeitalter lautet daher die Losung der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. "Ich<br />

lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum).<br />

Ursprünglich war beabsichtigt, dieses Begleitbuch zur D-Dok. zusammen mit der<br />

DVD-D-Dok. zu veröffentlichen. Dies hätte jedoch zu dem Fehlschluss verleiten<br />

können, dass es sich hierbei um eine "autorisierte" Interpretation der digitalen<br />

15


Quellenbibliothek handelt, auch den Vorschlägen, die ich unterbreite, einen nicht<br />

beabsichtigten verbindlichen Charakter verleihen können. Deshalb ist zwischen dem<br />

Autor, der ich in diesen Begleitbuch bin, <strong>und</strong> dem Herausgeber, der ich bei der DVD-<br />

D-Dok. bin, zu trennen.<br />

Alle Anregungen, die ich <strong>als</strong> Autor zur Datenbank mache, sind meine Vorschläge <strong>und</strong><br />

Gedanken zur Didaktik der weitgehend selbstbestimmten <strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-<br />

Dok. Wenn Sie sie nützlich <strong>und</strong> brauchbar finden, sollten Sie sie erproben. Aber<br />

vielleicht haben Sie bessere Ideen <strong>als</strong> ich. Also entwickeln Sie bitte andere, neue,<br />

alternative, um sie zu testen - denn darauf kommt es letzten Endes an: ob sie sich in<br />

der Praxis bewähren <strong>und</strong> sich realisieren lassen.<br />

Wenn Quellen Spiegel sind <strong>und</strong> die Quellenbibliothek eine Spiegelfunktion (2.) hat,<br />

so folgt daraus auch das Gebot, <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> "Blick in den Spiegel" selbstkritisch<br />

zu evaluieren (5.). Aus praktischen Erwägungen habe ich bei den vorgeschlagenen<br />

Standards, Methoden <strong>und</strong> Indikatoren viele Abstriche von der "richtigen", m. E. zu<br />

theoretischen <strong>und</strong> deshalb zumindest an Schulen problematischen wissenschaftlichempirischen<br />

Evaluation gemacht.<br />

Aber auch hier gilt der Gr<strong>und</strong>satz: Die D-Dok. ist offen <strong>und</strong> geöffnet für alternative<br />

Vorschläge <strong>und</strong> Methoden, <strong>und</strong> Sie sind frei, sie zu entwickeln <strong>und</strong> zu erproben. Ich<br />

werfe Fragen <strong>und</strong> Fragestellungen auf, beantworte sie aber in der Regel nicht, um<br />

sie offen zu lassen - Sie sind frei, Antworten zu suchen <strong>und</strong> zu finden oder auch<br />

nicht.<br />

Sie sind frei, neue Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen zu entwerfen, sie zu<br />

akzentuieren, zu f<strong>als</strong>ifizieren oder zu verifizieren, sie den Erfordernissen der Praxis<br />

anzupassen. Die DVD-D-Dok. ist ein Arbeitsinstrument <strong>und</strong> ein Hilfsmittel zum<br />

lebenslangen, weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> ein Angebot für die Praxis.<br />

Wer die Datenbank öffnet, begibt sich auf eine Entdeckungs- <strong>und</strong> Abenteuerreise in<br />

fast astronomische Weiten <strong>und</strong> Breiten: in das Unbekannte, in andere Länder, in<br />

fremde Sprachen - auf eine terra incognita.<br />

Wenn die DVD-D-Dok. auch nicht verbindlich ausgelegt werden kann <strong>und</strong> darf, so ist<br />

sie doch herausgeberbestimmt insofern, <strong>als</strong> es sich um eine digitale<br />

Quellenbibliothek handelt. Sie ist eine Edition von Quellentexten mit sie ergänzenden<br />

Originalbild-(FOT) sowie Originalton-(TON) Dokumenten, sie ist jedoch in ihrer<br />

Spiegelfunktion thematisch nicht fokussiert, sondern breit <strong>und</strong> multiperspektivisch<br />

gestreut. Deshalb ist nicht zu befürchten, die <strong>Lernen</strong>den seien stofflich oder inhaltlich<br />

eingeengt. Die angebotenen Informationen sind nicht "fertig" <strong>und</strong> "geschlossen",<br />

sondern "unfertig" <strong>und</strong> "geöffnet". Sie konfrontieren das lernende Individuum damit,<br />

sie in ihrer quantitativen Themen- <strong>und</strong> Stofffülle nach selbstbestimmten qualitativen<br />

Fragestellungen zu Wissen zu verarbeiten.<br />

16


Die Entscheidung für eine Quellenbibliothek hatte Gr<strong>und</strong>satzcharakter. Es geht<br />

darum, das fremdbestimmte "Lehren" <strong>und</strong> "Belehren", das "Rezipieren",<br />

"Reproduzieren" <strong>und</strong> "Abfragen" durch das weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> zu<br />

ersetzen oder wenigstens alternativ zu erproben. Dazu eignen sich vorzugsweise<br />

Quellen. Denn sie sind der Rohstoff für die Geschichts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

<strong>und</strong> immer "offen", sie neu zu befragen - je nachdem wer, wann, wo, warum <strong>und</strong> wie<br />

jemand in ihren Spiegel sieht.<br />

Offenbar lassen sich manche Probleme des deutschen Schul- <strong>und</strong> Bildungswesens<br />

auf eine veraltete, oft auch vernachlässigte "Lehre" an Universitäten <strong>und</strong><br />

Hochschulen zurückführen. So sind Vorlesungen, insbesondere Pflicht- <strong>und</strong><br />

"Schubladen"-Vorlesungen, die "fertiges", meist "Handbuch"-Wissen "vermitteln" <strong>und</strong><br />

anhäufen, geeignet, an Schulen fröhliche Wiederkehr zu feiern. Frontallehre<br />

verwandelt sich dann in den ineffizienten, noch häufig praktizierten Frontalunterricht.<br />

Anders <strong>als</strong> dieses "Lehren" <strong>und</strong> "Belehren" ist <strong>Lernen</strong> kein fremdbestimmter<br />

kumulativer, abfragbarer Vermittlungs- <strong>und</strong> Rezeptionsprozess, sondern ein aktiver,<br />

weitgehend selbstbestimmter Akt, der <strong>neues</strong> Wissen kreiert oder entdeckt statt<br />

"fertiges" zu reproduzieren oder einzuüben. Könnten so aus Lehrern <strong>und</strong> Lehrerinnen<br />

nicht <strong>Lernen</strong>de werden? Die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen beim <strong>Lernen</strong> begleiten? Sie<br />

fördern <strong>und</strong> fordern? Indem sie gemeinsam Fragestellungen erarbeiten? Sich<br />

Lernziele selbst setzen? Dazu Lerninhalte auswählen? Die dazu passenden<br />

Lernmethoden erproben? Und dafür Arbeitsblätter entwerfen?<br />

Warum brauchen <strong>Lernen</strong>de dazu Lehrpläne, (Rahmen)-Richtlinien, Curricula,<br />

Bildungsstandards oder Schulbücher? Sind Kultusbürokratie <strong>und</strong> Schulaufsicht<br />

erforderlich, damit sie von "oben" bestimmen, genehmigen <strong>und</strong> kontrollieren, was<br />

"unten" auszuführen ist? Warum können <strong>Lernen</strong>de nicht ihr Lernpensum selbst<br />

bestimmen? Es von Fall zu Fall korrigieren <strong>und</strong> ihre Lernergebnisse selbst<br />

evaluieren? Warum ihre organisatorischen Lernstrukturen <strong>und</strong> ihre sozialen<br />

Rahmenbedingungen der Klassenführung, der Lernabläufe <strong>und</strong> Lernplanung nicht<br />

selbst regeln - möglichst demokratisch nach Mehrheitsentscheidungen?<br />

Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />

an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen<br />

(<strong>Quellenarbeit</strong>) gelingt, verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />

Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />

Unveränderlich dagegen <strong>und</strong> deshalb eine Konstante in der Erscheinungen Flucht<br />

sind schriftliche Originalquellen, wenn sie gesichert datiert <strong>und</strong> authentisch<br />

wiedergegeben sind. Dann veralten sie nicht <strong>und</strong> behalten ihren "objektiven" Wert<br />

unabhängig von subjektiven <strong>und</strong> zeitlichen Faktoren. Denn Quellen sind "objektiv",<br />

ihre Auswahl dagegen ist subjektiv <strong>und</strong> zeitbedingt. Dies gilt auch für die<br />

Quellenbibliothek <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der D-Dok.<br />

17


1. Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Kontext der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />

der D-Dok.<br />

Informationszeitalter - PISA-Studien I <strong>und</strong> II - Alltäglicher<br />

Narzissmus - Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen<br />

Bildungswesens<br />

1.1. Die informationelle Revolution: Konturen des globalen<br />

Informationszeitalters <strong>und</strong> der Wissensgesellschaft<br />

In den westlichen Demokratien vollzieht sich gegenwärtig ein Umbruch – der<br />

Übergang vom Industriezeitalter <strong>und</strong> von der Industriegesellschaft zum<br />

Informationszeitalter <strong>und</strong> zur Wissensgesellschaft. 1 Hand in Hand damit geht<br />

schrittweise die „Dematerialisierung" der bisherigen Produktionskräfte <strong>und</strong> ihrer<br />

Hauptressourcen zur Wertschöpfung. Die Ökonomie wandelt sich zur Ökologie. Dies<br />

stellt das alte Profitdenken im Wirtschafts- <strong>und</strong> Arbeitsleben sowie rein materielles<br />

Konsumverhalten in Frage.<br />

Der Rohstoff „Hardwarekapital" <strong>und</strong> Investitionen in Energien, Technik, Maschinen,<br />

Fabrikanlagen u. a. werden zunehmend durch den Rohstoff „Information" ersetzt <strong>und</strong><br />

durch den produktiven Umgang mit ihr: das sind Software (Programme, Wissen),<br />

innovative Ideen <strong>und</strong> Strategien, "Humankapital" wie Bildung, Ausbildung <strong>und</strong><br />

Weiterbildung, darunter die Qualifikation für neue Medien <strong>und</strong> Technologien. Diese<br />

Veränderungen tragen langfristig zum Abbau tradierter hierarchischer Strukturen bei.<br />

Sie herrschen heute in <strong>Deutschland</strong> nicht nur im staatlich-öffentlichen Bereich vor,<br />

sondern überwiegen auch in Politik <strong>und</strong> Parteien, in Wirtschaft <strong>und</strong> Arbeit, in der<br />

Bildung <strong>und</strong> Ausbildung sowie nicht zuletzt in patriarchalischen Familien.<br />

Die Vernetzung digitaler Techniken im Informationszeitalter führt zur weltweiten<br />

"Konnektivität" des Wissens, zur Dezentralisierung tradierter-autoritärer<br />

Führungsstrukturen <strong>und</strong> -stile sowie letztendlich zur Globalisierung durch neue<br />

Kommunikations- <strong>und</strong> Informationstechnologien. Das Internet befähigt heute schon<br />

zu einem fast unbegrenzten Zugriff auf weltweites Wissen. Es ist zur wichtigsten<br />

Produktivkraft geworden ist <strong>und</strong> verdoppelt sich derzeit etwa alle fünf Jahre.<br />

1 Siehe dazu Guido Alt, Holger Bill, Matthias Machnig (Hrsg.): Innovation. Technik. Zukunft. Die<br />

Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft gestalten. Opladen 2002; Bernhard von Rosenbladt (Hrsg.):<br />

Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im Bildungssystem.<br />

Münster/München u. a. 1999.<br />

18


Mit dem Globalisierungsbegriff ist vielfach die negative Assoziation verknüpft, dass<br />

sich Wettbewerb <strong>und</strong> Konkurrenz grenzüberschreitend verschärfen <strong>und</strong> auf dem<br />

Rücken wirtschaftlich Schwacher <strong>und</strong> auf Kosten nationaler Schutzzonen<br />

ausgetragen werden. Diese Sicht lässt außer Acht, dass die von der informationellen<br />

Revolution ausgelösten <strong>und</strong> ausgeweiteten nationalen Konflikte <strong>und</strong><br />

Herausforderungen auch nur supranational, d. h. grenzüberschreitend geregelt <strong>und</strong><br />

vielleicht gelöst werden können. Der trotz Krisen fortschreitende Integrationsprozess<br />

in der Europäischen Union (EU) hat dafür das Problembewusstsein geschärft.<br />

Zu den negativen Konsequenzen der fortschreitenden Informatisierung gehört<br />

zweifellos die drohende Gefahr einer „digitalen Spaltung oder Trennung" (digital<br />

divide) der Gesellschaft in den Industriestaaten. Ihr kann nur dann vorgebeugt<br />

werden, wenn es gelingt, sozialen Randgruppen <strong>und</strong> nicht zuletzt der älteren<br />

Generation zweierlei zu vermitteln: Medienakzeptanz, d. h. die Bereitschaft, moderne<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien anzunehmen, <strong>und</strong><br />

Medienkompetenz, d. h. die Fähigkeit, sie zu nutzen <strong>und</strong> zu beherrschen. Finanzielle<br />

Barrieren ergeben sich vor allem bei der Ausstattung durch Hardware <strong>und</strong> Software<br />

sowie Leitungskosten, die der Internetzugang verursacht.<br />

Größer noch <strong>als</strong> das Risiko einer nationalen „digitalen Spaltung" von<br />

Industriegesellschaften ist die „digitale Abkopplung" der Dritten Welt, <strong>als</strong>o der<br />

Schwellen- <strong>und</strong> Entwicklungsländer; denn wenn sie an den neuen<br />

Kommunikationstechnologien nicht partizipieren können, bleibt ihnen der neue<br />

Rohstoff „Information" unzugänglich. Der Soziologe Manuel Castells, der das<br />

Informationszeitalter in drei Bänden analysiert hat, befürchtet daher, dass durch die<br />

informationelle Revolution zwar gewaltige Produktionskräfte neu entstehen, aber<br />

Ungleichheit, soziale Polarisierung <strong>und</strong> Armut zunehmen <strong>und</strong> damit die "schwarzen<br />

Löcher menschlichen Elends" innerhalb der globalen Wirtschaft konsolidiert werden,<br />

vor allem in der Dritten <strong>und</strong> in der entstehenden Vierten Welt. 2<br />

Die D-Dok. will in das neue globale Informationszeitalter einführen, indem sie<br />

historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen <strong>und</strong> Daten erster Hand<br />

deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachig anbietet. Wer mit ihnen arbeitet, wird von Informationen<br />

überflutet <strong>und</strong> zugeschüttet. Sich in ihnen zurecht zu finden, erfordert Übung <strong>und</strong><br />

<strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Problemlösen: Informationen gezielt in einem Meer von<br />

Informationen zu suchen, zu finden, auszuwerten <strong>und</strong> vielfältig zu nutzen. Wer dies<br />

mit der D-Dok. übt <strong>und</strong> lernt, wird in der informationellen Revolution auch gegen<br />

globale Tendenzen, die neue Ungleichheiten <strong>und</strong> Ausgrenzungen schaffen,<br />

gewappnet sein.<br />

2 Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft; Teil 2: Die<br />

Macht der Identität; Teil 3: Jahrtausendwende. Opladen 2001 - 2003. Zur "Entstehung der Vierten<br />

Welt" <strong>und</strong> die "schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus" siehe Teil 3: Jahrtausendwende.<br />

Opladen 2003. Seiten 73ff. <strong>und</strong> 170ff.<br />

19


Die Informationen in der D-Dok. sind noch kein Wissen, sondern Rohstoff für dieses<br />

Wissen <strong>und</strong> für die von ihm abhängige Wissensgesellschaft. Erst wenn Menschen<br />

mit ihnen arbeiten <strong>und</strong> sie verarbeiten, verwandeln sie sich in lebendiges Wissen.<br />

Dies setzt eine Umorientierung im Informationszeitalter voraus: Bildung vollzieht sich<br />

nicht nur in stark institutionalisierten Formen des Lehrens <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s, z.B. in<br />

Schule, Hochschule <strong>und</strong> Beruf zu festgelegten Zeiten, sondern lebenslang auch in<br />

formalen <strong>und</strong> informellen Lernprozessen des Individuums. Dieser<br />

Paradigmenwechsel heißt lernende Gesellschaft oder <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong>. Es<br />

erfordert, das Lernverhalten von Gr<strong>und</strong> auf zu verändern. Davon handelt dieses<br />

Begleitbuch zur <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> D-Dok.<br />

1.2. Die PISA-Studien I <strong>und</strong> II der Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung (OECD): Konsequenzen für<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Man muss nicht das Bildungs- <strong>und</strong> Sozialgefälle im Nord-Süd-Verhältnis<br />

beschwören, um auf Defizite im Informationszeitalter hinzuweisen <strong>und</strong> auf die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen "schwarzen Löcher" selektiver Globalisierung <strong>und</strong> sozialer Exklusion.<br />

Die PISA-Studie I (Programme for International Student Assessment), die weltweit<br />

größte <strong>und</strong> bislang unbestritten f<strong>und</strong>ierte Schulleistungsanalyse, die von der<br />

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung (OECD) in Auftrag<br />

gegeben wurde, testete im Frühsommer 2000 r<strong>und</strong> 180.000, in der Regel 15jährige<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in 32 Staaten in den Bereichen Lesekompetenz,<br />

mathematische Gr<strong>und</strong>bildung <strong>und</strong> naturwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>bildung. Davon<br />

entfiel auf die B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> eine repräsentative Stichprobe von etwa<br />

5.000 Probanden/innen aus insgesamt 219 Schulen. 3<br />

<strong>Deutschland</strong> landete bei der Lesekompetenz im internationalen Vergleich<br />

abgeschlagen im unteren Drittel (Abbildung 1). 4 Fast 10% der getesteten 15jährigen<br />

deutschen Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen fehlt jedes Textverständnis , so dass sie<br />

unterhalb der niedrigsten Kompetenzstufe I liegen (OECD-Durchschnitt 6%) –<br />

schlechter <strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong> schneiden nur Lettland, Luxemburg, Mexiko <strong>und</strong> Brasilien<br />

ab. Weitere 12,7% erreichen die Kompetenzstufe I, so dass fast 23% der deutschen<br />

Jugendlichen Texte zwar lesen, sie aber nicht oder allenfalls nur oberflächlich<br />

verstehen können.<br />

3 Deutsches PISA-Konsortium (Jürgen Baumert, Eckhard Klieme, Michael Neubrand, Manfred<br />

Prenzel, Ulrich Schiefele, Wolfgang Schneider, Petra Stanat, Klaus-Jürgen Tillmann, Manfred Weiß<br />

Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern im internationalen Vergleich.<br />

Opladen 2001 (Fortan PISA 2000). Seiten 18f.<br />

4 PISA 2000. Seite 102.<br />

20


Im obersten Leistungsbereich, in der Kompetenzstufe 5, liegt der deutsche Anteil nur<br />

knapp unter dem OECD-Durchschnitt von 9,5%. Zwar sind die Anteile der<br />

Spitzenreiter Neuseeland <strong>und</strong> Finnland mit über 18% fast doppelt so hoch, doch<br />

liegen die deutschen Werte im OECD-Durchschnitt <strong>und</strong> damit im Mittelmaß, während<br />

sie im unteren Leistungsbereich weit darunter liegen. Mit anderen Worten:<br />

<strong>Deutschland</strong>, im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>als</strong> „Land der Dichter <strong>und</strong> Denker" (Madame de<br />

Staël) idealisiert <strong>und</strong> Vorbild für Bildungs- <strong>und</strong> Hochschulreformen, läuft Gefahr, zu<br />

einem Bildungs-Entwicklungsland zu werden.<br />

Auffallend ist die Streuung der Leistungen in <strong>Deutschland</strong> durch Abweichungen von<br />

den Standards; denn nirgendwo sind die Diskrepanzen zwischen "guten" <strong>und</strong><br />

"schlechten" Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern derartig krass. In der Lesekompetenz<br />

erreichen sie mit einem Mittelwert von 484 Punkten den 21. Rang von 31 Ländern;<br />

der OECD-Durchschnitt liegt bei 500 Punkten, der Spitzenreiter Finnland bei 546<br />

Punkten. Auf der Gesamtskala jedoch ist die Standardabweichung mit 111 Punkten<br />

in <strong>Deutschland</strong> am höchsten; danach folgen Neuseeland mit 108, Belgien mit 107,<br />

die USA mit 105 <strong>und</strong> Norwegen mit 104 Punkten (Abbildung 2). 5 Daraus ist zu<br />

schließen, dass in diesen Ländern der Leseerfolg, <strong>und</strong> zwar vor allem beim<br />

Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten, von der familiären <strong>und</strong> sozialen Herkunft abhängt - am<br />

stärksten in <strong>Deutschland</strong>. Bestehende soziale <strong>und</strong> berufliche Benachteiligungen<br />

werden dadurch festgeschrieben.<br />

Niederschmetternd sind auch die Lesehäufigkeit <strong>und</strong> die Einstellungen zum Lesen in<br />

<strong>Deutschland</strong>. Während beim "Primus" Finnland der Anteil jener Schüler/innen, die<br />

angeben, nicht zum Vergnügen zu lesen, mit etwa 23% gering ist, liegt er in<br />

<strong>Deutschland</strong> bei 42% <strong>und</strong> erreicht damit den höchsten Wert in allen vergleichbaren<br />

Ländern überhaupt. Einen Mittelwert dagegen belegt <strong>Deutschland</strong> mit etwa 13%<br />

beim Anteil jener Schüler/innen, die nach eigenen Angaben täglich mindestens eine<br />

St<strong>und</strong>e zum Vergnügen lesen. 6<br />

5 PISA 2000. Seite 107.<br />

6 PISA 2000. Seiten 113ff., Abbildungen Seiten 114 - 115.<br />

21


Abbildung 1: Prozentualer Anteil von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern unter Kompetenzstufe I <strong>und</strong> auf<br />

Kompetenzstufe V: Gesamtskala Lesen der PISA-Studie<br />

22


Abbildung 2: Mittelwerte <strong>und</strong> Streuungen der Testwerte in den Teilnehmerstaaten: Gesamtskala<br />

Lesen der PISA-Studie<br />

Ergänzend zu den 5.000 Schülern/innen aus 219 Schulen wurden in <strong>Deutschland</strong><br />

zusätzlich 50.000 Schüler/innen aus 1.246 Schulen getestet. Vergleicht man die<br />

Lesekompetenz der 15jährigen aller deutschen B<strong>und</strong>esländer in dieser nationalen<br />

Studie PISA-E mit den Testwerten in den PISA-Teilnehmerstaaten, so ergibt sich ein<br />

deutliches Süd-Nord- <strong>und</strong> ein West-Ost-Gefälle. Spitzenreiter sind Bayern mit 510<br />

<strong>und</strong> Baden-Württemberg mit 500 Punkten (Abbildung 2 zum Vergleich: Finnland 546,<br />

Japan 522 oder USA 504 Punkte). Danach folgt eine Mittelgruppe, die um den von<br />

<strong>Deutschland</strong> erreichten Durchschnittswert von 484 Punkten liegen: Sachsen mit 491,<br />

Rheinland-Pfalz mit 486, das Saarland mit 484, Nordrhein-Westfalen mit 482 <strong>und</strong><br />

23


Thüringen ebenfalls mit 482 Punkten. Im unteren absteigenden Bereich befinden sich<br />

Schleswig-Holstein mit 478, Hessen mit 476, Niedersachsen mit 474, Mecklenburg-<br />

Vorpommern mit 467, Brandenburg mit 459, Sachsen-Anhalt mit 455 <strong>und</strong> <strong>als</strong> "rote<br />

Laterne" Bremen mit 448 Punkten. Berlin <strong>und</strong> Hamburg blieben unberücksichtigt, da<br />

der Rücklauf aus diesen Ländern zu gering war.<br />

Gemessen am internationalen Standard, offenbarten alle B<strong>und</strong>esländer Schwächen:<br />

Bayern hatte zwar das relativ beste deutsche Leistungsniveau, jedoch auf Kosten<br />

frühzeitiger Auslese, denn dort hat „ein Kind aus der Oberschicht bei gleichen<br />

Fähigkeiten eine mehr <strong>als</strong> sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen,<br />

<strong>als</strong> ein Kind aus einem Facharbeiter-Haushalt. In keinem anderen B<strong>und</strong>esland<br />

schlägt sich die Herkunft so krass in der Bildungslaufbahn nieder." 7 Während in den<br />

von CSU <strong>und</strong> CDU regierten Ländern die Selektion in dem dreigliedrigen<br />

Schulsystem früh beginnt, <strong>und</strong> zwar nach sozialen Kriterien <strong>und</strong> zu wenig nach<br />

Fähigkeiten, verhält es sich in vielen von der SPD regierten Ländern mit<br />

Gesamtschulen genau umgekehrt: Dort steht breiteren Schülerschichten die Tür zu<br />

höheren Bildungsabschlüssen offen, jedoch auf Kosten des Leistungsniveaus <strong>und</strong><br />

einer Noteninflation, die Leistungsunterschiede verwischen oder gar nivellieren. In<br />

Bremen, dem Schlusslicht, sind mehr <strong>als</strong> 36% aller getesteten Schüler/innen<br />

„Risikokandidaten", d. h. sie kommen nach ihrer Vollzeit-Schulpflicht kaum über die<br />

Lesefähigkeiten von Gr<strong>und</strong>schülern hinaus. Wenn es ein deutsches "Musterländle"<br />

gibt, dann am ehesten in Baden-Württemberg mit seinem bevorzugt dreigliedrigen<br />

Schulsystem <strong>und</strong> seiner mittelständischen Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozi<strong>als</strong>truktur; denn dort<br />

scheint das Wagnis besser <strong>als</strong> anderswo gelungen zu sein, relativ mehr<br />

Schüler/innen zu höheren Schulabschlüssen zu führen, ohne das Leistungsniveau zu<br />

gefährden.<br />

Ähnlich besorgniserregende Schwächen wie in der Lesekompetenz offenbarte das<br />

internationale Ranking in den zwei anderen getesteten Bereichen: In der<br />

mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung erreichte <strong>Deutschland</strong> den 20. Platz mit 490 Punkten<br />

(OECD-Durchschnitt 500) <strong>und</strong> in der naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>bildung ebenfalls<br />

den 20. Platz mit 487 Punkten (OECD-Durchschnitt 500 Punkte). 8<br />

Eine am 1. Juli 2003 in London bekannt gegebene ergänzende PISA-Studie von<br />

OECD <strong>und</strong> UNESCO bezieht elf weitere "ärmere" <strong>und</strong> "arme" Länder in die<br />

Untersuchungen mit ein: Albanien, Argentinien, Bulgarien, Chile, Hong Kong-China,<br />

Indonesien, Israel, Mazedonien, Peru, Rumänien <strong>und</strong> Thailand. Durch das sehr gute<br />

Abschneiden von Hong Kong-China rutschte <strong>Deutschland</strong> in der internationalen<br />

Rangliste jeweils um einen weiteren Platz ab: in der Lesekompetenz vom 21. auf den<br />

22. Platz, in der mathematischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>bildung vom 20.<br />

7 So Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung <strong>und</strong> Leiter der deutschen<br />

PISA-Studie, in: DIE ZEIT Nr. 27 vom 27. Juni 2002. Seite 30. - Vgl. Deutsches PISA-Konsortorium<br />

(Hrsg.): PISA 2000 - Die Länder der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> im Vergleich. Opladen 2002.<br />

8 PISA 2000. Tabellen Seiten 173 <strong>und</strong> 229. Zu Einzelheiten Seiten 139ff. <strong>und</strong> 191ff.<br />

24


auf den 21. Platz. Von Hong-Kong abgesehen, befinden sich alle neu analysierten<br />

Länder im unteren Drittel der Rangskala. Auch im Vergleich mit diesen Staaten<br />

bestätigt sich, dass <strong>Deutschland</strong> bildungspolitisch "unterentwickelt" ist. Dort wie hier<br />

offenbaren sich sozial <strong>und</strong> familiär bedingte Disparitäten zwischen "guten" <strong>und</strong><br />

"schwachen" Schülern/innen, alarmierende Lesekompetenzen im unteren <strong>und</strong><br />

untersten Bereich, mangelnde Leistungsmotivation <strong>und</strong> Unzufriedenheit mit den<br />

Lehrern/innen. 9<br />

Die Hauptergebnisse der zweiten weltweiten PISA-Studie 2003 (II), die am 7.<br />

Dezember 2004 veröffentlicht, aber schon vorher bekannt geworden ist, lassen sich<br />

für <strong>Deutschland</strong> verkürzt wie folgt zusammenfassen: 10<br />

1. In den drei Testdisziplinen haben sich die deutschen Schüler/innen gegenüber<br />

PISA 2000 (I) etwas verbessert: am meisten in Mathematik (503 statt 490<br />

Punkte); ebenfalls in den Naturwissenschaften (502 statt 487 Punkte); am<br />

wenigstens in der Lesekompetenz (491 statt 484 Punkte), da der OECD-<br />

Durchschnitt leicht gesunken ist: von 500 auf 494 Punkte.<br />

2. Unverändert hoch bleibt der Anteil jener "Risikoschüler/innen" von fast 23%,<br />

die einfachste Texte nicht lesen oder verstehen können - wie in keinem<br />

anderen großen Industriestaat.<br />

3. Nicht geändert, sondern leicht verschärft hat sich der Trend, dass der<br />

Schulerfolg - wie in keinem anderen vergleichbaren Land - von der sozialen<br />

Herkunft abhängt, insbesondere von Vorbildung <strong>und</strong> Einkommen der Eltern.<br />

Dies benachteiligt vor allem Arbeiter- <strong>und</strong> Migrantenkinder.<br />

4. Beim erstm<strong>als</strong> getesteten Problemlösen, bei dem Alltagswissen mit<br />

Kompetenzen aus verschiedenen Fächern geprüft wird, liegt <strong>Deutschland</strong> mit<br />

513 Punkten deutlich über dem OECD-Durchschnitt (500 Punkte).<br />

5. Schlusslicht ist <strong>Deutschland</strong> beim computergestützten Unterricht. Nur für etwa<br />

21% der Schüler/innen gehört der PC zum Unterrichtsstandard.<br />

9 Organisation for Economic Co-operation and Development, Unesco Institute for Statistics: Literacy<br />

Skills for the World of Tomorrow. Further Results from Pisa 2000. (London 2003.) Zu den<br />

Diskrepanzen vgl. Seiten Seiten 73ff., 82ff., zum familiären Hintergr<strong>und</strong> Seiten 164ff., zur Qualifikation<br />

der Lehrer/innen <strong>und</strong> zur Schulorganisation Seiten 197ff., 201ff. Auf Seite 222 heißt es: "....average<br />

performance in reading literacy in the Czech Republic, Germany, Hungary and Luxembourg is<br />

significantly below the OECD average while, at the same time, there are above average disparities<br />

between students from advantaged and disadvantaged socio-economic backgro<strong>und</strong>s".<br />

10 PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in <strong>Deutschland</strong>. Ergebnisse des zweiten<br />

internationalen Vergleichs. PISA-Konsortium <strong>Deutschland</strong>. Manfred Prenzel u.a. Münster 2004. Vgl.<br />

dazu das Chancen Spezial der ZEIT Nr. 51 vom 9. Dezember 2004. Seiten 75ff. (Pisa 2003 - Schule<br />

im internationalen Vergleich), vor allem Seite 76 (Aktuelle Ranglisten nach Pisa I <strong>und</strong> II).<br />

25


1.3. <strong>Deutschland</strong> im Informationszeitalter: Abstieg zu einem<br />

bildungspolitischen Entwicklungsland oder Absturz in ein schwarzes<br />

Loch?<br />

Wer die Ergebnisse der internationalen PISA-Studien nicht beschönigt oder in Frage<br />

stellt, kommt um die Schlussfolgerung nicht herum, dass sich <strong>Deutschland</strong><br />

bildungspolitisch trotz leichter Verbesserungen 2003 tendenziell dem Standard von<br />

Entwicklungsländern annähert. Zwar ist es mit ihnen <strong>als</strong> Industriestaat <strong>und</strong> wegen<br />

der oberen <strong>und</strong> obersten Leistungsbereiche nicht vergleichbar, jedoch in Ansätzen in<br />

den untersten <strong>und</strong> unteren Leistungsbereichen. So beträgt in <strong>Deutschland</strong> die Rate<br />

jener Jugendlichen, die in der Lesekompetenz unter der niedrigsten Kompetenzstufe<br />

I liegen <strong>und</strong> sie erreichen, fast 23%. In Albanien, Brasilien, Mazedonien <strong>und</strong> Peru ist<br />

sie zwar doppelt so hoch - bis zum Teil über 50%. Wer hier jedoch von<br />

Analphabetismus spricht, muss sich die Frage gefallen lassen, ob 23% der<br />

15jährigen deutschen Schüler/innen nicht funktionale Analphabeten sind, da sie<br />

Texte, obwohl sie lesen können, nicht oder nur oberflächlich verstehen. Sozioökonomische<br />

<strong>und</strong> familiäre Disparitäten zwischen "guten" <strong>und</strong> "schwachen"<br />

Schülern/innen sind in Entwicklungsländern sehr viel stärker ausgeprägt, am<br />

höchsten in Argentinien <strong>und</strong> in Israel, jedoch erzielt <strong>Deutschland</strong> diesbezüglich den<br />

Spitzenwert in allen anderen vergleichbaren Industriestaaten.<br />

Im schlimmsten Fall droht <strong>Deutschland</strong> der Absturz in ein schwarzes Loch - mit<br />

verheerenden Folgen für die Europäische Union <strong>und</strong> vor allem die EU-<br />

Nachbarstaaten. Der Begriff, aus der Astrophysik stammend, ist von Manuel Castells<br />

auf den "Informationalismus" übertragen worden mit der Begründung, dass sich die<br />

Globalisierung selektiv auswirke <strong>und</strong> eine "scharfe Trennlinie zwischen wertvollen<br />

<strong>und</strong> wertlosen Menschen <strong>und</strong> Örtlichkeiten" schaffe. "Dieser weit verbreitete,<br />

vielförmige Prozess der sozialen Exklusion führt zur Bildung von etwas, was ich mit<br />

der Freiheit, mich einer kosmischen Metapher zu bedienen, <strong>als</strong> die schwarzen<br />

Löcher des informationellen Kapitalismus bezeichne. Das sind gesellschaftliche<br />

Regionen, aus denen es statistisch gesprochen für diejenigen, die auf die eine oder<br />

andere Weise diese gesellschaftlichen Landschaften betreten, kein Entrinnen vor<br />

dem Schmerz <strong>und</strong> der Zerstörung gibt, die der menschlichen Existenz zugefügt<br />

werden." 11 Auf <strong>Deutschland</strong> bezogen ist dies zwar vorerst nur ein Szenario des<br />

Horrors, aber eine durchaus denkbare Entwicklung, falls es misslingt, die schwere<br />

Wirtschafts-, Struktur- <strong>und</strong> Bildungskrise, in der sich <strong>Deutschland</strong> befindet, langfristig<br />

zu überwinden. Sollte <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> stärkste Wirtschaftsmacht in der EU wider<br />

Erwarten zu einem schwarzen Loch werden, werden vor allem die Nachbarstaaten in<br />

11 Manuel Castells: Teil 3: Jahrtausendwende. Opladen 2003. Seiten 170f. Zutreffend spricht Castells<br />

davon, dass schwarze Löcher "in ihrer Dichte sämtliche Zerstörungsenergie" konzentrieren (Seite<br />

171).<br />

26


seinen Sog geraten <strong>und</strong> mit in den Abgr<strong>und</strong> gerissen werden. Warum wäre dieser<br />

Prozess ausweglos <strong>und</strong> unumkehrbar?<br />

Castells bezieht sich, ohne dies auszuführen, auf die verheerenden Auswirkungen<br />

kosmischer schwarzer Löcher, die alles, was in einen bestimmten Abstand von<br />

ihnen, dem sogenannten Ereignishorizont (Schwarzschild-Radius), gelangt, für<br />

immer verschlingen, so Gas aus dem Weltall, Licht <strong>und</strong> ganze Sterne. Zwar ist dies<br />

nicht direkt beobachtbar, aber spektral messbar infolge hochenergetischer<br />

Röntgenstrahlung mit Emissionslinien von Ionen, kinematisch nachweisbar durch<br />

elliptische "Tanzbahnen" von Sternen, die ein schwarzes Loch bei Annäherung aus<br />

ihrer Bahn schleudert, oder aberrativ durch Lensing, da Strahlung so gebeugt wird,<br />

dass durch Unschärfen unterschiedlich helle Mehrfachbilder entstehen (<br />

sogenanntes Einsteinkreuz), vor allem bei Quasaren in entfernten Galaxien. Was das<br />

schwarze Loch verschluckt hat, ist unsichtbar <strong>und</strong> verschw<strong>und</strong>en, denn es sendet<br />

keine Strahlung oder Materie, <strong>als</strong>o Energie aus. Die "Jets", <strong>als</strong> riesige gebündelte<br />

Plasmaströme im Weltall weithin sichtbar, stammen nicht aus einem supermassiven<br />

scharzen Loch, sondern aus seiner Akkretionsscheibe, die spiralisiert wie ein Strudel<br />

Materie sammelt <strong>und</strong> aufheizt, um sie langsam ins Zentrum des schwarzen Lochs zu<br />

schleudern. 12<br />

Schwarze Löcher (black holes) sind Überreste toter Sterne, die "ausgebrannt" <strong>und</strong><br />

deshalb "gestorben" sind. Nach einigen Milliarden Jahren haben sie alle ihre<br />

Kernvorräte aufgebraucht. Ohne Brennstoff kann ein massereicher Stern nicht mehr<br />

seiner eigenen Anziehungskraft standhalten, so dass er einen Gravitationskollaps<br />

erleidet. Übrig bleibt ein kompakter Kern, der Materie in unvorstellbarem Ausmass<br />

verdichtet. Kleine Sterne, zu denen unsere Sonne gehört, werden zu weißen<br />

Zwergen, schwerere Sterne in der Regel zu Neutronensternen (Pulsare mit<br />

elektromagnetischer Strahlung), wenn ihre Masse innerhalb der Chandrasekhar-<br />

Grenze liegt, so dass sie einer Gravitationskontraktion unterliegen <strong>und</strong> damit eine<br />

relativ neue Stabilität erreichen. Ein oberhalb dieses Sektors liegender, d. h.<br />

massereicherer Stern dagegen kollabiert zu einem Punkt unendlicher Dichte<br />

(Singularität), umgeben von einem schwarzen Loch. 13 Seine Parameter sind Masse,<br />

12 Arlie O. Petters, Harold Levine, Joachim Wambsganns: Singularity Theory and Gravitational<br />

Lensing. Berlin 2001 (Über Jets sehr mathematisch: Seiten 210ff.); Tereasa G. Brainerd, Christopher<br />

S. Kochanek (Ed.):Gravitational Lensing: Recent Progress and Future Go<strong>als</strong>. Proceedings of a<br />

Conference Held at Boston University, Boston, Mass., 25-30 July 1999. Cambridge/Mass. 2001; Igor<br />

D. Novikov, Valery P. Frolov: Physics of Black Holes. Dordrecht/Boston/London 1989.<br />

13 Roman <strong>und</strong> Hannelore Sexl: Weiße Zwerge-schwarze Löcher. Einführung in die relativistische<br />

Astrophysik. Reinbek bei Hamburg 1975. Seiten 46 ff, 68ff; Roman U. Sexl, Helmuth K. Urbantke:<br />

Gravitation <strong>und</strong> Kosmologie. Eine Einführung in die allgemeine Relativitätstheorie. Mannheim 1987.<br />

Seiten 262ff.; Stuart L. Shapiro, Saul A. Teukolsky: Black Holes, White Dwarfs, and Neutron Stars.<br />

The Physics of Compact Objects. New York 1983. (zum Chandrasekhar-Limit Seiten 64ff.); Edwin F.<br />

Taylor, John Archibald Wheeler: Exploring Black Holes. Introduction to General Relativity. San<br />

Francisco 2000; Norman K. Glendenning: Compact Stars. Nuclear Physics, Particle Physics, and<br />

General Relativity. New York 2000. Seiten 90ff., 136ff., 199ff., 366ff.; Manfred Schneider:<br />

27


Drehimpuls, Ladung - mehr nicht. Dies veranlasste den Astronomen John Archibald<br />

Wheeler, der 1967 den Begriff "black hole" prägte, zu formulieren: "Ein schwarzes<br />

Loch hat keine Haare" (No-Hair-Theorem).<br />

Je nach ihrer Masse unterscheidet man primordiale schwarze Löcher, die winzig sind<br />

(urzeitliche Mini-Löcher), stellare schwarze Löcher mit einigen Sonnenmassen,<br />

massereiche schwarze Löcher <strong>und</strong> schließlich supermassereiche rotierende<br />

schwarze Löcher mit Millionen bis Milliarden Sonnenmassen, <strong>als</strong> Aktive Galaktische<br />

Kerne (AGK) Quasare, Radiogalaxien oder Seyfertgalaxien geheißen. In allen<br />

schwarzen Löchern wird Materie in einem Punkt, der zentralen Singularität,<br />

unendlich zusammengepresst mit surrealen <strong>und</strong> unergründlichen Phänomenen:<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit sind enorm oder unendlich gekrümmt (Riemannsche Raum-Zeit), so<br />

dass alle physikalischen Gesetze <strong>und</strong> Einsteins Relativitätstheorie versagen.<br />

Singulär ist auch die Materie ausgedehnt, denn sie nähert sich Null, dagegen nähert<br />

sich ihre Dichte dem Unendlichen. 14<br />

Nach Castells ist eine Vierte Welt entstanden, "die aus vielfältigen schwarzen<br />

Löchern sozialer Exklusion besteht <strong>und</strong> die auf der ganzen Erde zu finden sind". Der<br />

Soziologe meint damit vor allem soziale Randgruppen, innerstädtische Ghettos <strong>und</strong><br />

Armenviertel in Industriestaaten sowie marginalisierte Zonen in Entwicklungsländern,<br />

z.B. das subsaharische Afrika oder verarmte Gebiete in Lateinamerika <strong>und</strong> Asien. Zu<br />

den Opfern sozialer Exklusion zählt Castells insbesondere auch Kinder, die vielseitig<br />

ausgebeutet werden: durch Kinderarbeit, Kinderprostitution, Kinderpornographie <strong>und</strong><br />

<strong>als</strong> Kindersoldaten. 15<br />

In Castells Standardwerk kommt zwar nicht die Makrowelt zu kurz, wohl aber die<br />

Mikrowelt von Sozialisationsfolgen, vor allem in der Familie, <strong>und</strong> damit<br />

zusammenhängende schwarze Löcher, die unsichtbar bleiben. Zwar analysiert er<br />

das "Ende des Patriarchalismus" in der Familie <strong>und</strong> damit zusammenhängende<br />

sexuelle <strong>und</strong> Scheidungsfolgen, jedoch fand er keinen Platz, um auf die<br />

"Transformation der familiären Sozialisation in der neuen familiären Umgebung<br />

einzugehen". 16 Deshalb beschränkt sich Castells auf die Krise traditioneller<br />

patriarchalischer Familienverhältnisse, ohne die Krise der Familie schlechthin, ihre<br />

Auflösungstendenzen <strong>und</strong> ihre Sozialisationsfunktionen zu behandeln.<br />

Himmelsmechanik. Band III: Gravitationstheorie. Heidelberg 1996.<br />

14 Vgl. dazu Hans Jörg Fahr: Raumzeitdenken-Zwangsvorstellung Unendlichkeit. Osnabrück 1973.<br />

Seiten 49ff.(Krümmung von Räumen); Hans-Jürgen Treder: Philosophische Probleme des<br />

physikalischen Raumes. Gravitation, Geometrie, Kosmologie <strong>und</strong> Relativität. Berlin 1974. Seiten<br />

123ff.(Gravitationskollaps); Minas Kafatos (Ed.): Supermassive Black Holes. Proceedings of the 3.<br />

George Mason Astrophysics Workshop, Held at George Mason University, Fairfax, Virg. Cambridge<br />

Va. 1988. Seiten 80ff., 85ff. (Seyfertgalaxien), 243ff.(Akkretion)<br />

15 Manuel Castells: Teil 3. Seiten 87ff. (Afrika),132ff. (Amerika), 158ff. (Kinder), 172f. (Vierte Welt).<br />

16 Manuel Castells: Die Macht der Identität. (Teil 2) Opladen 2002. Seite 244. Zur patriarchalischen<br />

Familie vgl. Seiten 147ff. Der Begriff Narzissmus taucht dreimal auf: <strong>als</strong> kollektive Identität nach<br />

Lasch, <strong>als</strong> konsumistischer Narzissmus <strong>und</strong> <strong>als</strong> Kultur des Narzissmus; vgl. Seiten 9, 249 <strong>und</strong> 254.<br />

28


Die vorherrschende soziologische Betrachtungsweise des Soziologen Castells,<br />

soziale Exklusion <strong>als</strong> Funktion "bestehender Netzwerke von Reichtum, Macht <strong>und</strong><br />

Information" überzubewerten, klammert Ungleichheiten, Behinderungen <strong>und</strong><br />

Ungerechtigkeiten, aber auch Fähigkeiten aus, die unabhängig vom sozioökonomischen<br />

Status der Familie, vom Konflikt zwischen Arm <strong>und</strong> Reich entstehen<br />

<strong>und</strong> in der Regel lebenslang fortbestehen. Gemeint sind narzisstische<br />

Entwicklungsstörungen, die das körperlich-emotionale Selbst <strong>und</strong> seine lückenhafte<br />

Konfiguration betreffen.<br />

1.4. Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch im Informationszeitalter:<br />

Fehlfunktionen des körperlich-emotionalen Selbst <strong>und</strong> die Unfähigkeit,<br />

sich selbst zu lieben<br />

Narzissmus (vor der Rechtschreibreform: Narzißmus) dient in der Umgangssprache<br />

<strong>als</strong> Metapher für übersteigerte Eigenliebe, Verliebtsein in sich selbst, Eitelkeit, oft<br />

auch Egozentrismus. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie. Nach der<br />

Sage hatte sich der schöne "Narziss" in sein Spiegelbild verliebt: Es war nicht er<br />

selbst, sondern eine ihn reflektierende Imagination. 17<br />

Von Havelock Ellis auf die Psychiatrie übertragen (1898) <strong>und</strong> von Näcke (1899) <strong>und</strong><br />

Sadger (1908) in die Psychoanalyse eingeführt, wurde der Begriff von Freud<br />

übernommen <strong>und</strong> vieldeutig verwendet: <strong>als</strong> Bezeichnung für eine sexuelle Perversion<br />

(Autoerotismus), für ein libidinöses Entwicklungsstadium ("zum Liebesobjekt<br />

genommenes Selbst"), für eine animistische Phase ("Allmacht der Gedanken"), für<br />

die Quelle des "Ich-Ide<strong>als</strong>"(ideales Ich), für eine Theorie der Regression (Schlaf,<br />

Hypochondrie) <strong>und</strong> der Psychose (Schizophrenie nach Bleuler, Dementia praecox<br />

nach Kraepelin). 18 Mit diesen unterschiedlichen <strong>und</strong> widersprüchlichen<br />

17 Vgl. dazu Sigm<strong>und</strong> Freud: Gesammelte Werke. Band VIII. Seite 170: "Wir sagen, er findet seine<br />

Liebesobjekte auf dem Wege des N a r z i ß m u s, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus<br />

nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild, <strong>und</strong> der in die schöne Blume dieses<br />

Namens verwandelt wurde." (Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci)<br />

18 Sigm<strong>und</strong> Freud: Gesammelte Werke. Band VIII. Seite 297: "Man hat es <strong>als</strong> Narzissismus<br />

bezeichnet; ich ziehe den vielleicht minder korrekten, aber kürzeren <strong>und</strong> weniger übelklingenden<br />

Namen N a r z i ß m u s vor. Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum,<br />

welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt, um ein<br />

Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe<br />

es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht." (Psychoanalytische Bemerkungen<br />

über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia = Fall Schreber); Gesammelte Werke,<br />

Band IX. Seiten 110f.: "Animistische Phase" entspricht Narzißmus, "Allmacht der Gedanken", "Gefühl<br />

der Allmacht","Magie" (Totem <strong>und</strong> Tabu); Gesammelte Werke. Band X. Seite 161: "Was er <strong>als</strong> sein<br />

Ideal vor sich hinprojiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein<br />

eigenes Ideal war." (Zur Einführung des Narzißmus); Gesammelte Werke. Band XI. Seite 431: "Den<br />

29


Interpretationen hatte Freud, der zwischen einem primären <strong>und</strong> (pathologischen)<br />

sek<strong>und</strong>ären Narzissmus (vom Objekt abgezogene Libido) unterschied, Verwirrung<br />

gestiftet <strong>und</strong> mit dazu beigetragen, den Narzissmus lange zu diskreditieren, bis ihn<br />

die Neopsychoanalyse wieder entdeckt <strong>und</strong> die Psychologie des Selbst ihn<br />

rehabilitiert hat.<br />

Während bei Psychoneurosen, wie sie die Psychoanalyse Freuds versteht, Konflikte<br />

zwischen Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich vorherrschen, somit ein psychischer Apparat<br />

vorausgesetzt wird, entwickeln sich narzisstische Störungen aus Fehlfunktionen des<br />

Selbst. Es bleibt lückenhaft <strong>und</strong> deshalb desintegriert. Primär liegt daher kein<br />

Triebkonflikt vor, sondern ein existenzieller Basisdefekt des Selbst-Fragments.<br />

Deshalb sind die Neurosenlehre Freuds <strong>und</strong> der traditionellen Psychoanalyse nicht<br />

oder nur sehr bedingt auf narzisstische Störungen anwendbar; denn sie spielen sich<br />

intrasystemisch innerhalb des Selbst-Gefüges ab <strong>und</strong> nicht intersystemisch zwischen<br />

Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich, auch wenn sie scheinbar durch Zwangs-, phobische oder<br />

hysterische Symptome, <strong>als</strong>o angsterzeugende pseudosexuelle Triebansprüche<br />

imponieren. Auch hatte die Psychoanalyse anfänglich nicht zwischen der<br />

psychischen Repräsentanz des Selbst innerhalb des psychischen Apparats <strong>und</strong> dem<br />

Ich (Ego) getrennt.<br />

Narzisstische Störungen entstehen dadurch, dass ges<strong>und</strong> Neugeborene keine<br />

"fördernde Umwelt" (Winnicott) haben - weder eine Mutter noch einen Vater, die<br />

diesen Namen verdienen, sondern biologische Mütter <strong>und</strong> Väter oder Phantom-<br />

Mütter <strong>und</strong> -Väter. Sie sind nicht geboren, um zu leben, sondern dazu verdammt zu<br />

überleben. Später erwachsen <strong>und</strong> vereinsamt, richten sie, wenn ihre Abwehr- <strong>und</strong><br />

Überlebenskräfte erlahmen, ihre tief verwurzelten Unwertgefühle <strong>und</strong> ihre<br />

narzisstische Wut, die unbewusst ihren - oft auch gestörten - Eltern gilt, gegen sich<br />

selbst oder gegen die scheinbar feindliche <strong>und</strong> erschreckende Welt, "in der es keine<br />

Nahrung <strong>und</strong> keine Liebe mehr gibt" - "wie ein hungriger Wolf nur noch auszieht, um<br />

zu töten, zu fressen <strong>und</strong> ums Überleben zu kämpfen". 19<br />

Namen für diese Unterbringung der Libido - N a r z i ß m u s - entlehnten wir einer von P. Näcke<br />

beschriebenen Perversion, bei welcher das erwachsene Individuum den eigenen Leib mit all den<br />

Zärtlichkeiten bedenkt, die man sonst für ein fremdes Sexualobjekt aufwendet." (Vorlesungen zur<br />

Einführung in die Psychoanalyse); Gesammelte Werke. Band XIV. S 159: Narzißmus "der die<br />

libidinöse Besetzung des Ichs in eine Reihe mit den Objektbesetzungen bringt <strong>und</strong> die libidinöse Natur<br />

des Selbsterhaltungstriebes betont." (Hemmung, Symptom <strong>und</strong> Angst) Vgl. dazu auch Béla<br />

Grunberger: Vom Narzißmus zum Objekt. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 13ff.; Klaus Strzyz:<br />

Sozialisation <strong>und</strong> Narzißmus. Gesellschaftlicher Wandel <strong>und</strong> die Veränderung von<br />

Charaktermerkmalen. Wiesbaden 1978. Seiten 17ff.; Martin Altmeyer: Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein<br />

intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen 2000. Seiten 42 - 46 (Auflistung in 14<br />

Punkten); Alex Holder, Christopher Dare: Narzißmus, Selbstwertgefühl <strong>und</strong> Objektbeziehungen. In:<br />

Psyche 1982. Heft 9. Seiten 788ff.<br />

19 Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M. 1979. Seiten<br />

315f.<br />

30


Um ein kohärentes Selbst zu entwickeln, sind Empathie <strong>und</strong> Zuwendung einer<br />

Bezugsperson oder eines sozialen Umfeldes erforderlich. Nur so vermag das Kind<br />

einzelne Körperteile <strong>und</strong> zunächst fragmentierte körperliche <strong>und</strong> seelische<br />

Funktionen zu besetzen, zu konfigurieren <strong>und</strong> sich <strong>als</strong> körperlich-emotionale<br />

Ganzheit zu erfahren. 20 Ist die Mutter, die in der Regel in dieser primären<br />

Sozialisation die Hauptrolle spielt, ihrem Kind gegenüber dominant, kalt oder gar<br />

abweisend <strong>und</strong> abwesend, aber auch umgekehrt, ist sie zu nachgiebig <strong>und</strong> verwöhnt<br />

sie ihr Kind, ohne ihm Grenzen zu setzen <strong>und</strong> damit Halt zu geben, so vermag es<br />

kein stabiles Selbst <strong>und</strong> Selbstwertgefühl aufzubauen, sondern allenfalls Kerne<br />

davon.<br />

Eine in sich widersprüchliche "Erziehung" ohne Konstanz <strong>und</strong> Kontinuität begünstigt<br />

jene narzisstischen Störungen, die auf einem aufoktroyierten "f<strong>als</strong>chen Selbst"<br />

gründen. Oft sind es sensible <strong>und</strong> "schöne", auch hochbegabte Kinder, die<br />

unbewusst von ihrer Mutter oder ihrem Vater manipuliert oder instrumentalisiert, in<br />

eine "Isolierhaft" (Alice Miller) oder in ein "inneres Gefängnis" (Heinz-Peter Röhr)<br />

geraten. Meistens bleiben sie lebenslang gefühlsmäßig behindert <strong>und</strong> verkrüppelt,<br />

aber ihre häufig selbst gestörten Erzeuger, die das "Beste" wollten, sind oft stolz auf<br />

ihr Kunstprodukt, das sie mit Zuckerbrot <strong>und</strong> Peitsche dressiert haben. Sie erwarten<br />

dann auch noch Dank <strong>und</strong> Anerkennung dafür, dass sie lebende Ruinen mit einer<br />

nach außen beeindruckenden Fassade verblendet haben. Die von der<br />

Psychoanalyse kommende Psychotherapeutin Alice Miller hat dieses "Drama des<br />

begabten Kindes" einem breiten Leserkreis bekannt gemacht. 21<br />

Während die Umgangssprache den Eindruck vermittelt, Narzissmus sei übersteigerte<br />

Selbstliebe, handelt es sich genau um das Gegenteil: um die Unfähigkeit, sich selbst<br />

anzunehmen <strong>und</strong> zu lieben. Wer sich aber nicht selbst liebt, ist seelisch krank <strong>und</strong><br />

kann auch andere nicht lieben.<br />

Das wahre Selbst wurzelt in der Tiefe eigener Selbstwertgefühle sowie in der<br />

Kreativität <strong>und</strong> Sicherheit über das eigene Fühlen <strong>und</strong> Wollen - nicht in fremden,<br />

gehemmten, erzwungenen oder aufoktroyierten Gefühlen, Werten, Eigenschaften,<br />

Leistungen <strong>und</strong> Gaben. Wer so in sich gründet <strong>und</strong> ruht, muss sich nicht dauernd<br />

20 Heinz Kohut: Bemerkungen zur Bildung des Selbst (Brief an einen Schüler bezüglich einiger<br />

Prinzipien der psychoanalytischen Forschung). In: Heinz Kohut: Die Zukunft der Psychoanalyse.<br />

Aufsätze zu allgemeinen Themen <strong>und</strong> zur Psychologie des Selbst. Frankfurt a. M. 1975. Seiten 252ff.,<br />

255, 257f. Zum Es, Ich <strong>und</strong> Über-Ich <strong>als</strong> einer "hohen" Abstraktion des psychischen Apparats im<br />

Unterschied zur "verhältnismäßig niederen" Abstraktion des Selbst vgl. Heinz Kohut: Narzißmus. Eine<br />

Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a. M.<br />

1979. Seiten 14f.<br />

21 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes <strong>und</strong> die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a.<br />

M. 1979; Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a. M. 1980; Du sollst nicht merken. Variationen über<br />

das Paradies-Thema. Frankfurt a. M. 1981; Das verbannte Wissen. Frankfurt a. M. 1988; Abbruch der<br />

Schweigemauer. Die Wahrheit der Fakten. Hamburg 1990. - In den Büchern Millers kommt die Rolle<br />

des Vaters zu kurz; in ihren ersten Werken bleibt sie ausgeklammert.<br />

31


anstrengen, um sich Existenzberechtigung, Anerkennung oder Liebe zu "verdienen",<br />

<strong>und</strong> ist auch unabhängig davon, dass andere ihn bestätigen, loben, beneiden,<br />

bew<strong>und</strong>ern oder spiegeln (mirroring). So abgegrenzt kann er andere <strong>als</strong> von sich<br />

getrennt erleben <strong>und</strong> realistisch wahrnehmen, sie respektieren, tolerieren <strong>und</strong> auch<br />

lieben. Der weltweit bekannte englische Kindertherapeut Winnicott (1896-1971)<br />

drückt es so aus: "Nur das wahre Selbst kann kreativ sein, <strong>und</strong> nur das wahre Selbst<br />

kann sich real fühlen. Während ein wahres Selbst sich real fühlt, führt die Existenz<br />

eines f<strong>als</strong>chen Selbst zu einem Gefühl des Unwirklichen oder einem Gefühl der<br />

Nichtigkeit." 22<br />

Das f<strong>als</strong>che Selbst ist das schwarze Loch einer Mikrowelt: unergründlich, irreal,<br />

verschlingend-vernichtend, monströs, geheimnisvoll, singulär, unsichtbar, nicht<br />

erkennbar, "ohne Haare". Als Abnormitäten psychischer Strukturen <strong>und</strong><br />

physikalischer Gesetze wirken sie sich negativ aus, indem sie auf ihre Umgebung<br />

unerklärliche Anziehungskräfte ausüben, um sich Objekte einzuverleiben, die in ihre<br />

Nähe, ihren Ereignishorizont, geraten. Wie schwarze Löcher Energie ständig<br />

akkretieren, so suchen Narzissten ruhelos nach Objekten, in denen sie sich spiegeln,<br />

die sie für ihre Bedürfnisse instrumentalisieren oder "verschlingen" können, um ihr<br />

lückenhaftes Selbst zu reparieren. "Was immer sich in seinem Innern abspielt, von<br />

außen ist nichts davon zu sehen. Alle Energietransporte, d. h. alle Körper oder<br />

Signale, die von außen auf das schwarze Loch zustreben, erreichen es, je nach dem<br />

Beobachter, entweder nie oder in endlicher Zeit. Im zweiten Fall gerät aber der<br />

Beobachter selbst irgendwann in das Innere des Lochs." 23 Dies gilt auch für<br />

narzisstische Störungen: "Von außen her kann man dem schwarzen Loch sozusagen<br />

seine innere Unordnung nicht ansehen.....Die Messung der inneren Zustände, seien<br />

diese nun geordnet oder ungeordnet, ist ...von außen her überhaupt nicht möglich." 24<br />

Rein äußerlich sind selbst schwer gestörte narzisstische Charaktere relativ gut<br />

angepasst <strong>und</strong> gepanzert. Sie funktionieren scheinbar reibungslos <strong>und</strong> perfekt, z.B.<br />

im Beruf, wenngleich sie manchmal mechanisch wirken <strong>und</strong> maschinenhaft<br />

arbeiten. 25 Auch sind sie von Psychosen klar abgrenzbar. Von Borderline-<br />

22 D.W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. The Maturational Processes and the<br />

Facilitating Environment. München 1974. Seite 193. Zur mütterlichen Fürsorge <strong>und</strong> zum f<strong>als</strong>chen<br />

Selbst vgl. auch Seiten 62ff., 173ff., 187f. Weitere Bücher: Kind, Familie <strong>und</strong> Umwelt. München/Basel<br />

1969; Familie <strong>und</strong> individuelle Entwicklung. The Family and Individual Development. München 1978.<br />

Vor allem Seiten 190ff. zur Deprivation;<br />

Aggression. Versagen der Umwelt <strong>und</strong> antisoziale Tendenz. Stuttgart 1988. Über Donald Woods<br />

Winnicott (1896 - 1971) selbst: D. W. Winnicott: Die menschliche Natur. Stuttgart 1974. Seiten 7 - 26.<br />

23 G. Falk, W. Ruppel: Mechanik, Relativität, Gravitation. Ein Lehrbuch. Berlin 1975. Seite 421.<br />

24 Hans Jörg Fahr: Zeit <strong>und</strong> kosmische Ordnung. Die unendliche Geschichte von Werden <strong>und</strong><br />

Wiederkehr. München/Wien 1995. Seite 156. Vgl. auch Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst. Frankfurt<br />

a.M. 1979. Seite 299:"Das Selbst ist ...in seiner Essenz nicht erkennbar."<br />

25 Alexander Lowen: Narzißmus. Die Verleugnung des wahren Selbst. München 1984. Seite 8.<br />

32


(Übergangs-)Störungen unterscheiden sie sich gr<strong>und</strong>legend, da sie stabile<br />

Selbstkerne entwickelt haben. 26<br />

Ihrem unfertigen körperlich-emotionalen Selbst fehlt jedoch die in der Kindheit<br />

entbehrte narzisstische Zufuhr <strong>und</strong> Aufwertung. Sie sind daher in ihrem<br />

Objekthunger unersättlich, aber zugleich zu tiefergehenden emotionalen Bindungen<br />

nicht fähig. Oft benutzen sie andere, um ihre narzisstischen Defizite auszugleichen.<br />

Dazu dienen auch pseudosexuelle Kontakte, Promiskuität, Prostitution oder<br />

Perversionen. Sie haben eine "Plombenfunktion", d. h. sie sollen Lücken des<br />

brüchigen Selbstwertgefühls füllen.<br />

Neben menschlichen Selbstobjekten gibt es auch andere Ersatzobjekte: ideelle<br />

(Größenphantasien, Ideologien, Illusionen, Sekten, Religionen), körperliche<br />

(Schönheit, Attraktivität, Leistungssport, Bodybuilding), berufliche (Arbeitszwänge,<br />

Workaholic) oder mediale (Fernseh-, Internetsucht u. ä.). Wenn sie kompensatorisch<br />

scheitern, können auch Alkohol, Medikamente, Drogen <strong>und</strong> andere Süchte wie<br />

Betäubungsmittel wirken. 27 Kann die innere Leere nicht wenigstens zeitweilig<br />

kompensiert werden, drohen sie in eine Depression zu fallen <strong>und</strong> schließlich in ein<br />

schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt: Sie vernichten sich durch Suicid, in<br />

sehr seltenen Fällen auch andere, um sich gezielt oder ziellos an ihnen zu rächen<br />

(Amok).<br />

Hochmotivierte narzisstische Charaktere sind von Selbstauflösung (Fraktionierung)<br />

<strong>und</strong> schließlich Selbstverlust (Depression) bedroht; denn sie stellen höchste<br />

Forderungen <strong>und</strong> Ansprüche an sich, die ihnen ihr Ideal-Selbst diktiert. Erfolgreich<br />

sind sie faszinierende, grandiose Perfektionisten. Zeichnen sie - wie oft -<br />

außergewöhnliche Gaben <strong>und</strong> Fähigkeiten aus, erstrahlen sie in fast überirdischem<br />

Glanz wie Sterne am Firmament. Wenn aber ihre Schönheit, ihr Ruhm <strong>und</strong> ihre Aura<br />

verblassen, wenn sie ausgebrannt, gealtert <strong>und</strong> vereinsamt sind, kurzum ihr Stern zu<br />

26<br />

Vgl. dazu Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M.<br />

1979. Seiten 19ff., 261ff.<br />

27<br />

Der Kompensation können auch Ideologien sowie rechts- <strong>und</strong> linksextremistische "Selbstobjekte"<br />

dienen, mit denen sie sich identifizieren <strong>und</strong> dann an ihnen festhalten, um sich selbst nicht aufgeben<br />

zu müssen. Sind solche rechtsextremistischen Identifikationen narzisstisch bedingt, so ist es sehr<br />

schwer <strong>und</strong> meistens aussichtslos, sie davon abzubringen, z.B. durch politische Bildung. - Zum<br />

historischen <strong>und</strong> familiären Hintergr<strong>und</strong> vgl. Anita Eckstaedt: Nation<strong>als</strong>ozialismus in der "zweiten<br />

Generation". Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt a. M. 1989. An Hand von<br />

Einzelschicksalen werden familiäre Abhängigkeitsverhältnisse analysiert, die durch<br />

Objektmanipulation von der ersten auf die zweite Generation übertragen werden, darunter auch<br />

unbewusste Identifizierungen mit dem Nation<strong>als</strong>ozialismus; vgl. 135ff., 138. ("In Analyse begeben sich<br />

einzelne der 'zweiten Generation' Angehörende, Kinder von sogenannten 'Nazis', den<br />

Nation<strong>als</strong>ozialisten. Doch sie wissen in der Regel nicht, daß oder ob <strong>und</strong> inwieweit ihre Väter <strong>und</strong><br />

Mütter an die nation<strong>als</strong>ozialistische Ideologie geglaubt hatten. Es ist dabei nicht nur die Tatsache, daß<br />

dieses Wissen fast durchgängig nicht vorhanden ist, es brauchte genau zwei Generationen, <strong>als</strong>o<br />

vierzig Jahre danach, bis sich die Frage nach der Vergangenheit der Väter <strong>und</strong> Mütter erheben<br />

durfte."), 295ff.<br />

33


sinken beginnt, dann konfrontiert sie ihr brüchiges Selbst mit ihrer inneren Leere, mit<br />

ihrer inneren Unruhe, mit ihrer inneren Kälte <strong>und</strong> mit ihrer inneren Heimatlosigkeit.<br />

Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), selbst ohne familiäre Wärme aufgewachsen <strong>und</strong><br />

politisch nachträglich missbraucht, hat diese Tragik des narzisstischen<br />

"übermenschlichen" Lebensgefühls in seinem Gedicht "Vereinsamt" verewigt: 28<br />

Die Krähen schrein<br />

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:<br />

Bald wird es schnein.-<br />

Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!<br />

Nun stehst du starr,<br />

Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!<br />

Was bist du Narr<br />

Vor Winters in die Welt entflohn?<br />

Die Welt - ein Tor<br />

Zu tausend Wüsten stumm <strong>und</strong> kalt!<br />

Wer das verlor,<br />

Was du verlorst, macht nirgends halt.<br />

Nun stehst du bleich,<br />

Zur Winter-Wanderschaft verflucht,<br />

Dem Rauche gleich,<br />

Der stets nach kältern Himmeln sucht.<br />

Flieg, Vogel, schnarr<br />

Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!-<br />

Versteck, du Narr,<br />

Dein blutend Herz in Eis <strong>und</strong> Hohn!<br />

Die Krähen schrein<br />

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:<br />

Bald wird es schnein,-<br />

Weh dem, der keine Heimat hat!<br />

28 Echtermeyer: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neugestaltet von Benno<br />

von Wiese. Düsseldorf 1981. Seiten 521f. - Vgl. auch Alice Miller: Der gemiedene Schlüssel. Frankfurt<br />

a. M. 1988. Seiten 9 - 78 über Friedrich Nietzsche. Neben zutreffenden Deutungen enthält die<br />

Lebensanalyse Nietzsches zu viele Spekulationen; auch ist - wie oft bei Alice Miller - die Materialbasis<br />

nicht ausreichend.<br />

34


1.5. Alltäglicher Narzissmus in der Informations- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsgesellschaft: Massenmedien <strong>als</strong> Spiegelbild <strong>und</strong><br />

intersubjektive Ersatzobjekte<br />

Im Jahre 1979 hat der amerikanische Historiker Christopher Lasch sein Buch "The<br />

Culture of Narcissism" veröffentlicht. Er beschreibt darin den Niedergang des vom<br />

"Konkurrenzdenken geprägten Individualismus", der in der "Sackgasse einer<br />

narzißtischen Selbstbeschäftigung" geendet habe. Dieser Narzissmus sei typisch für<br />

eine Gesellschaft, die keine Befriedigung in Arbeit <strong>und</strong> Liebe finde <strong>und</strong> vor der<br />

Zukunft kapituliere. An die Stelle des "bürgerlichen Zeitalters", das nur noch am<br />

Rande der Industriegesellschaft überlebe, sei ein <strong>neues</strong> "Zeitalter des Narzißmus"<br />

angebrochen; denn nicht mehr Arbeit <strong>und</strong> Wohlstand seien die Leitmotive, sondern<br />

"Hedonismus <strong>und</strong> Selbsterfüllung" die höchsten Werte. 29<br />

Während Christopher Lasch den Narzissmus kulturkritisch oder besser<br />

kulturpessimistisch-historisch deutete, ging Thomas Ziehe in seiner erstm<strong>als</strong> 1975<br />

erschienen Dissertation "Pubertät <strong>und</strong> Narzißmus" von einem anderen, einem<br />

sozialwissenschaftlich-theoretischen Konzept aus. Da überkommene bürgerliche<br />

Orientierungsmuster zerfallen seien <strong>und</strong> sich die Situation im Spätkapitalismus<br />

verändert habe, sei ein "Neuer Sozialisationstypus" (NST) bei Jugendlichen<br />

entstanden. Dieser NST wird <strong>als</strong> narzisstisch konfiguriert vorgestellt, da die<br />

ursprüngliche symbiotische Mutter-Kind-Beziehung auch in Schule <strong>und</strong> Pubertät<br />

fortbestünde. Eine politische Didaktik <strong>und</strong> sozialwissenschaftlich f<strong>und</strong>ierte<br />

Schulpädagogik, die von einer Subjekt-Objekt-Trennung ausgingen, seien daher<br />

überholt <strong>und</strong> hätten ihre Legitimation verloren. Nicht nur Eltern neigten dazu, "ihre<br />

Kinder für die eigene psychische Stabilisierung zu funktionalisieren", sondern auch<br />

Erwachsene benutzten sie zur "Identitätssicherung" <strong>und</strong> zur "Aufrechterhaltung eines<br />

Herrschaftsverhältnisses". Bezogen auf Unterrichtssituationen analysiert Ziehe<br />

narzisstisches Vermeidungsverhalten im Schulbetrieb <strong>und</strong> ein Lehrerverhalten, das<br />

"in hohem Maße durch das Bedürfnis nach Akzeptierung <strong>und</strong> emotionaler<br />

Bestätigung durch die Schüler bestimmt" seien. 30<br />

Ziehes "Neuer Sozialisationstypus" (NST) beeinflusste lange die öffentlichen<br />

Debatten über den psychosozialen Verhaltenswandel Jugendlicher zu sich selbst<br />

sowie zu Erwachsenen <strong>und</strong> umgekehrt. Indem die Studie Ergebnisse der<br />

individuellen Narzissmusforschung <strong>und</strong> -analyse mit neomarxistischen Lehren (<br />

Frankfurter Schule, Habermas, Offe <strong>und</strong> 68ern) verknüpfte, beanspruchte sie, "die<br />

objektiven, in sich widersprüchlichen Individuationsbedingungen" der "Subjekte im<br />

Spätkapitalismus" freizulegen. 31 Erstm<strong>als</strong> herausgearbeitet wurden von Ziehe<br />

29<br />

Christopher Lasch. Das Zeitalter des Narzißmus. Hamburg 1995. Seiten 14f., 295ff., 307f., 310f.<br />

30<br />

Thomas Ziehe: Pubertät <strong>und</strong> Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? Frankfurt a. M. 1984.<br />

Seiten 3ff., 6f., 56ff., 133ff., 247ff., 253.<br />

31<br />

So Regina Becker-Schmidt im Vorwort. Seite X; Klaus Strzyz: Sozialisation <strong>und</strong> Narzißmus.<br />

35


Zusammenhänge zwischen Narzissmus <strong>und</strong> Pädagogik, zwischen Schule <strong>und</strong><br />

Bildung.<br />

In der Tat gibt es bestimmte Berufe, zu denen sich narzisstische Menschen<br />

hingezogen fühlen. Sie sind bevorzugt in Kirchen <strong>und</strong> Sekten, in Bildung <strong>und</strong><br />

Ausbildung, in Politik, Parteien <strong>und</strong> Verbänden sowie in den Medien zu finden. In<br />

allen diesen Bereichen können sie beeindrucken <strong>und</strong> belehren, Macht ausüben <strong>und</strong><br />

sich so intersubjektiv spiegeln oder selbst inszenieren, um innere Defizite<br />

auszugleichen. Dass Macht <strong>und</strong> Narzissmus "siamesische Zwillinge" 32 seien, ist zwar<br />

eine unzulässige Verallgemeinerung, jedoch trifft zu, dass Machtinhaber oft<br />

narzisstisch gestört sind.<br />

Ein narzisstisches Ideal sind "Traumberufe in den Medien" (Sylvia Kunert), wozu<br />

Jobs <strong>und</strong> Karrieren in Presse <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funk, vor allem aber im Fernsehen gehören.<br />

Diese Medien bieten eine Bühne, das Fernsehen eine "Megabühne", um<br />

Bedürfnisse, gespiegelt, bestätigt <strong>und</strong> anerkannt zu werden, zu befriedigen. In<br />

Einzelfällen ermöglichen sie auch, Größenphantasien, Exhibitionismus oder<br />

verborgene Wünsche, mächtig, grandios <strong>und</strong> berühmt zu sein, vorübergehend zu<br />

stillen. Versteckte Aggressionen <strong>und</strong> Vorurteile, oft auch aufgestaute innere Wut,<br />

können durch Entertainment <strong>und</strong> Infotainment, durch scheinbare Toleranz <strong>und</strong><br />

Parodie sowie einstudiertes Dauerlächeln "überspielt" werden - Hauptsache ist, das<br />

Publikum, um das sich alles dreht, merkt nichts <strong>und</strong> lässt sich blenden. Das seit<br />

Kindheit eingeübte Rollenspiel, das zur zweiten Natur geworden ist, kann so<br />

professionalisiert werden <strong>und</strong> Profit abwerfen. Allerdings ist diese Selbstinszenierung<br />

auch gnadenlos auf den sich wiederholenden Erfolg angewiesen; denn sinkende<br />

Zuschauerquoten z.B. im Fernsehen, haben zur Folge, dass die "Show" abgesetzt<br />

wird <strong>und</strong> Publikumslieblinge ebenso schnell wieder in der Versenkung verschwinden,<br />

aus der sie kometenhaft aufgestiegen waren.<br />

Medien sind heute das Spiegelbild oder die Bewusstseinsindustrie der Informations-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft. Sie ist verkabelt <strong>und</strong> vernetzt, <strong>und</strong> was medial<br />

nicht vermittelt wird, existiert nicht. Massenmedien stiften somit das<br />

Informationszeitalter, begrenzen es aber auch <strong>als</strong> virtuelle Welt. So wie sich Narziss<br />

nicht in sich selbst, sondern in sein Spiegelbild verliebt hatte, so spiegeln die<br />

Massenmedien die Welt nicht real wieder, sondern inszenieren <strong>und</strong> vermitteln sie.<br />

Wiesbaden 1978. Seiten 103ff. spricht bereits von der "Identitätsvermittlung im Monopolkapitalismus".<br />

32 So der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth: Narzissmus <strong>und</strong> Macht. Zur Psychoanalyse seelischer<br />

Störungen in der Politik. Gießen 2002. Porträtiert werden Uwe Barschel, Slobodan Milosevic, Helmut<br />

Kohl, die 68er Generation, darunter Joschka Fischer, jedoch - auch wegen der Materialbasis - nur<br />

teilweise überzeugend. Narzisstische Politiker waren zweifellos Uwe Barschel (CDU) <strong>und</strong> der - nicht<br />

berücksichtigte - Jürgen Möllemann (FDP), die ihr Geltungsbedürfnis, ihre Bedenkenlosigkeit, ihre<br />

Karriere-Besessenheit <strong>und</strong> ihre Größenphantasien so lange auslebten, bis sie scheiterten <strong>und</strong> im<br />

mutmaßlichen, jedoch getarnten Suizid endeten.<br />

36


Indem Medien das Weltbild stiften <strong>und</strong> zugleich begrenzen, bieten sie sich <strong>als</strong><br />

Ersatzobjekte für die Welt <strong>und</strong> das Leben, für Eltern, Kinder <strong>und</strong> Partner/innen<br />

geradezu an. Der Journalist Walter Wüllenweber hat mit seinem Generationenbuch<br />

"Wir Fernsehkinder" (1994) offen gelegt, welches Ausmaß dies annehmen kann: "Als<br />

ich auf die Welt kam, war der Fernseher schon da <strong>und</strong> gehörte zur Familie."<br />

Familienleben spielte sich nur noch vor der "Glotze" ab, um die sich alles drehte.<br />

Papa, Mutti <strong>und</strong> auch Oma erfüllten die finanziellen Wünsche <strong>und</strong> sorgten insofern<br />

für materielles Wohlergehen, aber Zuwendung, Orientierung <strong>und</strong> Halt gaben sie nicht<br />

- dies blieb dem Ersatzobjekt Fernseher überlassen. "Wir waren die ersten, die vor<br />

der Glasscheibe aufwuchsen. Beim Glotzen macht uns auch heute noch keiner so<br />

leicht was vor." Als unzumutbar galt, was nach "Arbeit oder gar Leistung roch".<br />

Technik <strong>und</strong> "Equipment" interessierten, aber nicht Politik, Probleme oder die<br />

Realität. Das ganze Leben wurde zum "Laborversuch", doch die Ergebnisse<br />

enttäuschten. "Wir waren nie auf der Bühne, sondern immer nur Publikum des<br />

Lebens. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Für alle Zeiten, so scheint es,<br />

hat das Fernsehen für uns einen Stammplatz auf der Tribüne reserviert - in der<br />

ersten Reihe natürlich." 33 Aber selbst dieser "Platz in der Gesellschaft" ist ein<br />

imaginärer.<br />

Das Neugeborene kommt <strong>als</strong> "physiologische Frühgeburt" (Adolf Portmann) zur Welt.<br />

Es benötigt taktile Reize, sensorische Stimulierung <strong>und</strong> emotionale Wärme, um zu<br />

überleben <strong>und</strong> jenes Urvertrauen zu entwickeln, das zur Entstehung des Selbst,<br />

danach zu Ich-Stärke, Individualität <strong>und</strong> Identität führen. Dies kann nur eine Umwelt<br />

mit menschlichem Gesicht bewirken, aber kein toter Apparat leisten. Und doch ist es<br />

heute in vielen Familien, unabhängig von ihrem sozialen Status üblich, Kleinkinder, in<br />

Ausnahmefällen sogar Säuglinge, dem Fernseher zu überantworten, wenn sie lästig,<br />

anstrengend sind oder keine Zeit für sie übrig bleibt. Anders <strong>als</strong> Eltern ist der<br />

Fernseher immer verfügbar: ein zur Familie gehörender kostenloser Kinderbetreuer,<br />

Kinderzerstreuer <strong>und</strong> Kinderentertainer.<br />

Seit Einführung des dualen R<strong>und</strong>funksystems Anfang 1984 hat sich dieser Trend<br />

durch den Wettbewerb zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern (ARD <strong>und</strong> ZDF)<br />

sowie den neuen privaten (zuerst SAT 1 <strong>und</strong> RTL) verschärft. Dem kommerziellen<br />

Fernsehen geht es um möglichst hohe Zuschauerquoten <strong>und</strong> die davon abhängigen<br />

Werbeeinnahmen. Daher verflachen die Programme. Ihr Überangebot macht den<br />

Zuschauer zu einem passiven Fernsehkonsumenten. Er zappt sich durch Kanäle <strong>und</strong><br />

wird mit Werbung überflutet. Vor allem Kinder vermögen nicht mehr zwischen der<br />

virtuellen Welt <strong>und</strong> der realen Welt zu unterscheiden, zwischen Schein <strong>und</strong> Sein.<br />

Bei aller Kritik am Fernsehkonsum von Kindern, vor allem am Wochenende: positiv<br />

zu bewerten ist, dass sie nicht sich selbst überlassen <strong>und</strong> verlassen sind; denn auf<br />

33<br />

Walter Wüllenweber: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Berlin 1994. Seiten 13,<br />

21, 34, 59, 104, 141.<br />

37


Knopfdruck ist der Fernseher jederzeit bereit, sich um sie kümmern <strong>und</strong> sie zu<br />

stimulieren. Auch wenn Fernsehkinder in ihrer psychischen Entwicklung retardiert<br />

sind, bei Sprach-, Lese- <strong>und</strong> Schreibtest schlechter abschneiden <strong>als</strong> andere: Sind<br />

dafür die Massenmedien verantwortlich zu machen oder die Sozialisationsagenturen,<br />

<strong>als</strong>o Familien <strong>und</strong> Schulen? 34<br />

Christopher Lasch ordnet den Narzissmus kulturpessimistisch einem neuen Zeitalter<br />

des Hedonismus <strong>und</strong> der Selbstbeschäftigung zu, während Thomas Ziehe ihn <strong>als</strong><br />

Produkt des Spätkapitalismus deutet. Hier dagegen wird eine andere These<br />

vertreten: Dass der Narzissmus im Informationszeitalter wie ein schwarzes Loch<br />

wirkt, das Menschen, die in seine Nähe geraten, emotional auslaugt <strong>und</strong> depriviert,<br />

<strong>und</strong> sie, falls sie hineinfallen, seelisch-körperlich zerstört.<br />

Offen bleiben die Antworten auf Fragen: Ob <strong>und</strong> inwieweit narzisstische Störungen<br />

vom Informationismus begünstigt werden? Oder umgekehrt: Ob <strong>und</strong> inwieweit<br />

Massenmedien sie eindämmen? Befähigen sie <strong>als</strong> Ersatzobjekte Kinder, Selbstkerne<br />

aufzubauen <strong>und</strong> damit zu überleben, statt - allein gelassen - von Selbstauflösung<br />

bedroht oder gar dem Selbstverlust (Depression) ausgeliefert zu sein? Oder handelt<br />

es sich, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer meint (7.6.-1.), um eine<br />

"Medienverwahrlosung"?<br />

Wie man auch immer diese Fragen beantworten <strong>und</strong> die modernen Massenmedien<br />

bewerten mag: Nicht nur für Kinder, sondern sehr oft auch für Alte, Kranke, Arme,<br />

Arbeitslose, Vereinsamte, Verlassene <strong>und</strong> Hoffnungslose sind Fernseher <strong>und</strong><br />

inzwischen auch das Internet alles in einem: Unterhaltung, Informationsquelle,<br />

Zeitvertreib, Betäubungsmittel, Zerstreuung, Partnerersatz <strong>und</strong> Trostspender.<br />

1.6. Die geschlossene Gesellschaft in <strong>Deutschland</strong>: Familie, Bildung,<br />

Ausbildung <strong>und</strong> Beruf <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Berufschancen in <strong>Deutschland</strong> hängen in erster Linie von der sozialen<br />

Herkunft ab, weniger von Bildung, Fähigkeiten <strong>und</strong> Leistung. Dies ist das Fazit nicht<br />

nur der PISA-Studien I <strong>und</strong> II, sondern auch zuverlässiger, empirisch f<strong>und</strong>ierter<br />

soziologischer Untersuchungen. So hat Michael Hartmann die „Leistungselite"<br />

34 Manfred Spitzer, Nervenk<strong>und</strong>e 22, 2003, Seiten 113ff. hat universitäre Studien zum<br />

Fernsehverhalten von Kindern ausgewertet. Danach sind Vielseher schlechter im Lesen <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong><br />

<strong>als</strong> Wenigseher. "Wer viel fern sieht, bewegt sich weniger <strong>und</strong> liegt mehr auf der Couch, schaut eher<br />

das Programm von Privatsendern <strong>und</strong> hat schlechtere Noten in Deutsch." Zur Mediennutzung vgl.<br />

auch PISA 2000. Seiten 487ff. Viel Zeit vor dem Fernseher <strong>und</strong> Videogerät verbringen Hauptschüler:<br />

täglich 3-5 St<strong>und</strong>en 27,3%, mehr <strong>als</strong> 5 St<strong>und</strong>en 28,2%.<br />

38


entmythologisiert; denn in sie steigt jemand in der Regel nicht auf, sondern man wird<br />

in sie hineingeboren, sofern der familiäre Geburtsschein dazu prädestiniert. 35<br />

Harry Friebel, Heinrich Epskamp u.a. haben in einer an der Hamburger Hochschule<br />

für Wirtschaft <strong>und</strong> Politik entstandenen Längsschnittstudie belegt, dass nicht Bildung<br />

<strong>und</strong> Ausbildung den Lebensweg bestimmen, sondern die soziale Schicht <strong>und</strong><br />

Herkunft. Schon in einem ersten Zwischenfazit hatten die Autoren festgestellt:<br />

"Weder hat eine Bildungsreform stattgef<strong>und</strong>en, die die Formel 'Chancengleichheit<br />

durch Bildung' verdient, noch ist das Bildungssystem 'autonom', um eine solche<br />

Formel realisieren zu können." Als Ergebnisse ihrer 18jährigen Forschungsarbeit<br />

formulieren sie zugespitzt: "'Chancengleichheit durch Bildung' ist eine ebenso<br />

unverschämte Stilisierung der Bildungsexpansion wie die Formel 'Bildung schafft<br />

Arbeit'. Es sind zugleich zwei ideologische Aussagen, die Bildung<br />

instrumentalisieren. Mit unserer Untersuchung haben wir Einblicke gewinnen können,<br />

wie Bildung soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Geschlechterhierarchisierung bestätigt." 36 Und<br />

die PISA-Studien lassen keinen Zweifel daran, dass das deutsche Bildungswesen in<br />

allen international vergleichbaren Ländern sozial Schwache am stärksten<br />

benachteiligt. Die im Gr<strong>und</strong>gesetz verbürgte <strong>und</strong> vor allem seit 1969 vehement<br />

geforderte Chancengleichheit gilt nur in der Verfassungstheorie, aber nicht in der<br />

Verfassungswirklichkeit.<br />

Das deutsche Bildungswesen gehört weltweit zu den ungerechtesten. Nach der<br />

Geburt, in den ersten entscheidenden sechs Lebensjahren, überlässt der Staat die<br />

Kinder ihrem Schicksal - Eltern, Kirchen, Fernseher, Videos, Spielen. Statt familiäre<br />

<strong>und</strong> soziale Benachteiligungen auszugleichen oder wenigstens zu mildern, lässt er<br />

ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Begabungen oft verkümmern, während die durch ihre Umwelt<br />

ohnehin begünstigten <strong>und</strong> gut situierten Kinder ihren in der Regel nicht mehr<br />

einholbaren Vorsprung in ihrer psychosozialen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung auf- <strong>und</strong><br />

ausbauen können.<br />

Nach der gemeinsamen Gr<strong>und</strong>schule, mit zehn Jahren, werden die Schüler/innen -<br />

auch oft nach familiären sozialen Kriterien - aussortiert. Während Kindergartenplätze<br />

fehlten <strong>und</strong> Geld kosteten, konnten die ohnehin durch Abitur <strong>und</strong> Familie<br />

Privilegierten bislang kostenlos studieren. Die familiär, sozial <strong>und</strong> psychisch<br />

Benachteiligten blieben so benachteiligt, wie ihnen vorherbestimmt war.<br />

Das deutsche Bildungswesen ist nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient. Nach<br />

den Zahlen aus dem Jahre 2001 bricht fast jeder Sechste Schule, Ausbildung oder<br />

35 Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren <strong>und</strong> soziale Herkunft in<br />

Wirtschaft, Politik, Justiz <strong>und</strong> Wissenschaft. Frankfurt a. M. u.a. 2002.<br />

36 Harry Friebel/Heinrich Epskamp/Brigitte Knobloch/Stefanie Montag/Stephan Toth:<br />

Bildungsbeteiligung: Chancen <strong>und</strong> Risiken. Eine Längsschnittstudie über Bildungs- <strong>und</strong><br />

Weiterbildungskarrieren in der "Moderne". Opladen 2000. Seiten 13, 404. Zur<br />

Bildungsreformdiskussion <strong>und</strong> Bildungsexpansion Seiten 15ff., 104ff., 408ff.<br />

39


Studium ab. Fast ein Zehntel aller Schüler/innen verlassen die allgemein bildenden<br />

Schulen ohne jeden Abschluss, zwei Drittel davon sind männlich, jeder Fünfte davon<br />

entstammt einer Migrantenfamilie. Zwei Drittel der Betriebe klagen über die<br />

Schulausbildung der Auszubildenden: dass sie schlecht lesen, schreiben <strong>und</strong><br />

rechnen können. Jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag wird vorzeitig<br />

aufgelöst, vor allem im Handwerk; gleichzeitig fehlen Ausbildungsplätze. Etwa ein<br />

Viertel aller Studienanfänger an Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten bricht das Studium<br />

ohne Examen ab. Die höchste Abbrecherquote verzeichnen die<br />

Sozialwissenschaften mit 42%, gefolgt von den Sprach- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften<br />

mit 41%. 37 Wer aber bis zum Examen durchhält, kann damit rechnen, von<br />

gesunkenen Leistungsstandards <strong>und</strong> einer Noteninflation zwischen sehr gut <strong>und</strong> gut<br />

zu profitieren. Nur die Juristen bestätigen die Ausnahme von dieser Regel.<br />

Roman Sexl, Professor am Institut für Theoretische Physik der Universität Wien <strong>und</strong><br />

Abteilungsleiter am Institut für Weltraumforschung der Österreichischen Akademie<br />

der Wissenschaften, pflegte auf internationalen Tagungen seine Zuhörer/innen<br />

manchmal mit der Frage zu verblüffen: „Wissen S', was a schwarzes Loch is? A<br />

schwarzes Loch is wie a Ministerium: Es kommt alles rein, aber es kommt nix raus."<br />

38 Wirklich nichts herausgekommen, aber viel hineingesteckt worden ist von<br />

Regierungen sowie Bildungs- <strong>und</strong> Kultusministerien, um Chancengleichheit<br />

herbeizuführen, d. h. familiäre, geschlechts- <strong>und</strong> migrantenspezifische<br />

Benachteiligungen auszugleichen. Diese angeblichen Bildungsreformen sind<br />

gescheitert.<br />

Die Bildungsrealitäten sprechen eine klare Sprache: Ein Jugendlicher aus der<br />

Oberschicht hat sechs- bis zehnmal mehr Chancen, ein Gymnasium zu besuchen,<br />

<strong>als</strong> ein Jugendlicher aus einer Arbeiterfamilie. Nach den <strong>neues</strong>ten Zahlen: Von 100<br />

Kindern aus der Oberschicht kommen 84 aufs Gymnasium <strong>und</strong> dann 72 zur<br />

Universität, aus den unteren Schichten jedoch nur 33 aufs Gymnasium <strong>und</strong> 8 noch<br />

zur Universität. Nach der PISA-Studie I hat ein Oberschichtkind auch dann dreimal<br />

mehr Chancen <strong>als</strong> ein Arbeiterkind, ins Gymnasium aufzusteigen, wenn beide dazu<br />

gleich befähigt sind. 39 Die soziale Segregation ist somit ausschlaggebend.<br />

Der am 16. September 2003 in Berlin vorgestellte <strong>neues</strong>te OECD-Bericht "Bildung<br />

auf einen Blick" ("Education at a Glance") erteilt dem deutschen Bildungssystem trotz<br />

positiver Trends keine guten Noten. So liegt die Studienanfängerquote deutlich unter<br />

37 Zahlenangaben nach iwd - Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Nr. 49<br />

vom 5. Dezember 2002 <strong>und</strong> Nr. 30 vom 24. Juli 2003.<br />

38 Mitteilung von Hans Jörg Fahr, Professor für Astrophysik an der Universität Bonn.<br />

39 Wieso, weshalb, warum? Über die Ursachen der Bildungsmisere <strong>und</strong> wie man Schule besser<br />

machen kann. Jürgen Baumert <strong>und</strong> Hermann Lange im ZEIT-Gespräch. In: Die Zeit Nr. 50 vom 6.<br />

Dezember 2001. Seite 46. Zahlenangaben nach: Walter Wüllenweber: Das Märchen von der<br />

Chancengleichheit. Warum Herkunft <strong>und</strong> Beziehungen mehr zählen <strong>als</strong> Leistung. In: stern Nr. 30 vom<br />

17. Juli 2003. Seiten 30 - 40, zit. 34.<br />

40


dem OECD-Durchschnitt von 47 %. Auch bei den Bildungsausgaben liegt<br />

<strong>Deutschland</strong> mit 5,3 % des BIP immer noch leicht darunter (5,5 %). Die Studie macht<br />

die Bildungsinvestitionen dafür verantwortlich, dass die durchschnittliche jährliche<br />

Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in <strong>Deutschland</strong> in den Jahren 1991 - 2000<br />

beträchtlich unter der Wachstumsrate der meisten OECD-Länder lag. 40<br />

1.7. Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens: Steht eine<br />

Bildungskatastrophe bevor?<br />

In den 1960er Jahren hatte der Liberale Ralf Dahrendorf eine aktive Bildungspolitik<br />

gefordert, da Bildung ein "Bürgerrecht" sei. Der Religionsphilosoph Georg Picht<br />

prognostizierte einen "Bildungsnotstand": Er drohe in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

<strong>Deutschland</strong>, da sie in der "vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der<br />

europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland <strong>und</strong> Portugal" stehe. 41 Wegen der<br />

geringen Abiturientenquote von etwa 6 % <strong>und</strong> steigenden Schülerzahlen bei<br />

gleichzeitigem Lehrermangel befürchtete Picht, dass bald jene Akademiker fehlen<br />

würden, die für die „Leistungsgesellschaft" <strong>und</strong> die internationale wirtschaftliche<br />

Wettbewerbsfähigkeit erforderlich seien. Er beklagte, dass Bildung von sozialen,<br />

regionalen, kulturellen, geschlechtsspezifischen <strong>und</strong> konfessionellen<br />

Voraussetzungen abhänge, die eine Bildungsauslese bewirkten; dies sei in der<br />

Demokratie nicht zu rechtfertigen <strong>und</strong> widerspräche der „sozialen Gerechtigkeit".<br />

Seit den 1960er Jahren hat <strong>Deutschland</strong> eine Bildungsexpansion erlebt. Aber Pichts<br />

Annahme, dass von den Bildungschancen „der soziale Aufstieg <strong>und</strong> die Verteilung<br />

des Einkommens" abhingen, <strong>und</strong> die Prognose des damaligen B<strong>und</strong>esministers für<br />

Arbeit <strong>und</strong> Sozialordnung Theodor Blank (CDU), wonach Bildung die "Sozialchance<br />

Nummer Eins" 42 sei, haben sich nicht bewahrheitet. Schein <strong>und</strong> Sein, Wirklichkeit <strong>und</strong><br />

Anspruch, Theorie <strong>und</strong> Praxis des deutschen Bildungswesens klaffen weit<br />

auseinander. Die Zahl der Abiturienten <strong>und</strong> Akademiker hat sich vervielfältigt - oft<br />

jedoch auf Kosten von Leistungsstandards, nicht auf Kosten sozialer <strong>und</strong> familiärer<br />

Schranken, die fortbestehen.<br />

40<br />

OECD-Veröffentlichung "Bildung auf einen Blick 2003". Wesentliche Aussagen der OECD zur<br />

Ausgabe 2003. Herausgegeben vom BMBF am 16. 9. 2003 (23 Seiten). Vgl. dazu auch die<br />

Presseerklärung von BMBF <strong>und</strong> KMK vom gleichen Tage. - Nach einer Untersuchung des Instituts der<br />

deutschen Wirtschaft haben die deutschen Studierendenzahlen entgegen dem weltweiten Trend von<br />

1995 - 2000 am stärksten abgenommen; vgl. Christiane Konegen-Grenier: Mehr Geld <strong>und</strong><br />

Strukturreformen. In: Forschung & Lehre 9/2003. Seiten 481 - 483.<br />

41<br />

Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse <strong>und</strong> Dokumentation. Freiburg i. Brsg.<br />

1964. Seite 16; Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik.<br />

Osnabrück 1965.<br />

42<br />

Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 141 vom 20. August 1965. Seite<br />

1137f.<br />

41


Daher stellt sich heute, 40 Jahre nach Pichts Analyse die Frage, ob eine „deutsche<br />

Bildungskatastrophe" bevorstehe, mehr denn je. Drei Gründe sind dafür vor allem zu<br />

nennen:<br />

-1. dass soziale familiäre Barrieren fortbestehen, die den Bildungsweg weitgehend<br />

vorherbestimmen <strong>und</strong> festlegen. "Das wichtigste <strong>und</strong> das für mich<br />

bestürzendste Ergebnis", so B<strong>und</strong>espräsident Rau über die PISA-Studie I, "ist,<br />

dass der Schulerfolg eines Schülers oder einer Schülerin in keinem anderen<br />

Land in Europa so stark von der sozialen Herkunft abhängt wie bei uns in<br />

<strong>Deutschland</strong>." 43 Dies gilt auch für vergleichbare außereuropäische Staaten wie<br />

z.B. die USA 44 <strong>und</strong> z.T. sogar für Entwicklungsländer.<br />

-2. dass frühe, vom sozialen familiären Status unabhängige<br />

Sozialisationsstörungen zunehmen, die auf das Fehlen einer emotional<br />

„fördernden Umwelt" (Winnicott) zurückzuführen sind <strong>und</strong> in der Adoleszenz<br />

fortdauern. Wenn Familien <strong>und</strong> Familienbande zerfallen, sind Kinder meistens<br />

die Leidtragenden - auch dann, wenn Ehen emotional zerrüttet sind, aber<br />

scheinbar intakt fortbestehen, <strong>als</strong>o äußerlich „funktionieren". An die Stelle des<br />

von Freud <strong>und</strong> der traditionellen Psychoanalyse konstatierten „neurotischen"<br />

ödipalen Konfliktdreiecks, das zwischenmenschliche Objektbeziehungen<br />

zwischen Mutter-Vater-Kind voraussetzt <strong>und</strong> deren Erbe das Über-Ich ist, treten<br />

daher zunehmend narzisstische Entwicklungsstörungen <strong>als</strong> Primärdefekte. Da<br />

sie sich wie ein schwarzes Loch auswirken, unsichtbar, unergründlich <strong>und</strong> auch<br />

nicht messbar sind, werden sie von Soziologen <strong>und</strong> Bildungsforschern ignoriert<br />

<strong>und</strong> übersehen selbst dort, wo sie Familienkonstellationen analysieren. Dies gilt<br />

auch für die PISA-Studien. 45 Emotionale Phänomene wie familiäre<br />

Geborgenheit <strong>und</strong> Wärme, das Urvertrauen, die Eltern-Kind-Beziehung, die<br />

43 Grußwort des B<strong>und</strong>espräsidenten Rau beim Kongress "Qualität im Bildungswesen" der<br />

Gewerkschaft Erziehung <strong>und</strong> Wissenschaft in Berlin. In: Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der<br />

B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 102 vom 13. Dezember 2002. Dokument Nr. 102-3 (CD-ROM-Version).<br />

44 Dort vollzieht sich derzeit ein Wertewandel im Verhältnis Familienleben - Arbeitsplatz; vgl. dazu Arlie<br />

Russell Hochschild: Work-Life-Balance. Keine Zeit...Wenn die Firma zum Zuhause wird <strong>und</strong> zu Hause<br />

nur Arbeit wartet. Opladen 2002.<br />

45 PISA 2000, Seiten 323ff. untersuchen zwar ausführlich familiäre Lebensverhältnisse,<br />

Bildungsbeteiligung <strong>und</strong> Kompetenzerwerb, jedoch nur, soweit sie sich "erfassen" lassen, z. B. soziale<br />

Herkunft, ihre Indikatoren, Familientypen u.a. ( Seiten 326ff., 331ff., 478ff.) Der internationale<br />

Schülerfragebogen des Feldtests berücksichtigte jene Aspekte der "Eltern-Kind-Beziehungen, die mit<br />

der Bildung von sozialem Kapital zusammenhängen, unter anderem den Erziehungsstil des<br />

Elternhauses, die Häufigkeit, mit der sich die Eltern um das Fortkommen ihres Kindes in der Schule<br />

kümmern <strong>und</strong> es bei den Schularbeiten unterstützen" (Seite 333). Das affektiv-emotionale Klima, das<br />

Familie wesentlich prägt, bleibt damit weitgehend ausgeklammert. Harry Friebel, Heinrich Epskamp<br />

u.a. bemühten sich in ihrem empirischen Forschungsprojekt, auf der Basis des Teilsamples auch<br />

Eltern-Kind-Beziehungen auszufragen, z.B. die elterliche Kontrollhaltung, die Pole Liebe versus<br />

Feindseligkeit u.a. (Seiten 120f.). Ausgewertet wird fast nur soziologische Fachliteratur, wenig<br />

fächerübergreifende pädagogische <strong>und</strong> sehr wenig psychologische.<br />

42


Integration von Narzissmus <strong>und</strong> Triebansprüchen, aber auch menschliche<br />

Abgründe <strong>und</strong> Abnormitäten lassen sich nicht zahlenmäßig erfassen <strong>und</strong><br />

messen, mit naturwissenschaftlichen Instrumenten allenfalls begrenzt<br />

untersuchen.<br />

-3. dass Migrantenkinder, d. h. Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprache<br />

(SNDH: 7.8.), die in Schulen einen Anteil bis zu 20%, in Ballungszentren bis auf<br />

über 50 - 80% stellen, besonders hohe Misserfolgsquoten aufweisen. Die<br />

Integration ausländischer Jugendlicher gelingt in <strong>Deutschland</strong> schlechter <strong>als</strong> in<br />

anderen europäischen, z. B. skandinavischen Staaten. Im Jahre 1999 haben<br />

19,5% (8%) der ausländischen Jugendlichen keinen Schulabschluss erzielt,<br />

42% (25%) erreichten den Hauptschulabschluss, 29% (41%) den<br />

Re<strong>als</strong>chulabschluss <strong>und</strong> 9,7% (25,9%) die Hochschulreife - in Klammern sind<br />

die Vergleichszahlen für die deutschen Schulabgänger angegeben. 46 89% der<br />

ausländischen Jugendlichen ohne Berufsausbildung haben keinen<br />

Schulabschluss. Vor allem Migrantenjungen sind bei der Suche nach<br />

Ausbildungsplätzen chancenlos, da sie überproportional die Hauptschule ohne<br />

Abschluss verlassen.<br />

Verschärft wird diese Exklusion dadurch, dass Migrantenkinder oft zwischen<br />

allen Stühlen sitzen. Sie haben häufig weder eine Heimat, zu der sie sich<br />

bekennen können oder wollen, noch ein Zuhause, da sie teilweise mit<br />

innerfamiliären <strong>und</strong> interkulturellen Konflikten aufwachsen, die mit dem „Clash<br />

of Civilizations" (Samuel P. Huntington) zu tun haben.<br />

Im Informationszeitalter haben diese drei voneinander unabhängigen, aber<br />

manchmal auch koinzidenten Faktoren zur Folge, „dass die soziale Exklusion<br />

reproduziert wird <strong>und</strong> dass den bereits Ausgeschlossenen weitere Verletzungen<br />

zugefügt werden". 47 Dies wird, wenn sich nichts ändert, zu einer Brutstätte<br />

menschlichem Elends, sozialer Ungleichheit <strong>und</strong> gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten<br />

werden, die <strong>Deutschland</strong> teuer zu stehen kommen dürften. Nicht nur, dass sich eine<br />

neue deklassierte Reservearmee von funktionalen Analphabeten, Ungelernten <strong>und</strong><br />

Arbeitslosen ankündigt, die sich jeweils selbst rekrutieren <strong>und</strong> reproduzieren werden,<br />

auch ein neuer politischer Extremismus ist denkbar <strong>und</strong> - in Ausnahmefällen –<br />

vereinzelte terroristische Anschläge <strong>als</strong> Verzweiflungsakte.<br />

46 Faruk Sen, Martina Sauer, Dirk Halm: Intergeneratives Verhalten <strong>und</strong> (Selbst-)Ethnisierung von<br />

türkischen Zuwanderern. Gutachten des Zentrums für Türkeistudien für die Unabhängige Kommission<br />

"Zuwanderung". Essen 2001. Seiten 26f. Zu Jugendlichen aus Migrationsfamilien vgl. auch PISA<br />

2000, Seiten 346, 372ff.<br />

47 So Manuel Castells zur selektiven Globalisierung: Teil 3 : Jahrtausendwende. Opladen 2003. Seite<br />

171.<br />

43


1.8. Das Menetekel von Erfurt: Die Fassade der scheinbar heilen Welt<br />

oder die Singularität des Grauens?<br />

Ein singuläres Kind des Informations- <strong>und</strong> Medienzeitalters war ein Deutscher: der<br />

19jährige Schüler Robert Steinhäuser aus Erfurt in Thüringen. Er gehörte keiner<br />

sozialen Randgruppe an, sondern entstammte einer bürgerlichen Familie, die intakt<br />

zu sein schien. Aber die tabuisierte heile Welt, in der er mit weißen Spitzendeckchen<br />

auf den Tischen <strong>und</strong> mit weißen Rüschengardinen an den Fenstern aufwuchs, war<br />

eine blendende Fassade, hinter der sich Grauen, Gewalt, Unmenschlichkeit <strong>und</strong><br />

Terror verborgen hatten.<br />

An einer solch <strong>und</strong>urchdringbaren Mauer scheitert das herkömmliche<br />

Instrumentarium der Soziologen, Bildungsforscher <strong>und</strong> auch der PISA-Studien. Sie<br />

analysieren <strong>und</strong> messen, was sie sehen <strong>und</strong> erfassen können, aber nichts hinter der<br />

Maske - das empirisch Unergründliche, Undenkbare, Grauenvolle, die so verborgen<br />

bleiben, dass sie nicht existieren. Und sie existieren doch - unsichtbar <strong>und</strong> stets<br />

präsent.<br />

Robert Steinhäuser war ein Schulversager, Schulschwänzer <strong>und</strong> Urk<strong>und</strong>enfälscher.<br />

Deshalb hatte ihn das Erfurter Gutenberg-Gymnasium unbürokratisch, aber<br />

normenwidrig relegiert <strong>und</strong> ihn an das Königin-Luise-Gymnasium, das Erfurter<br />

Schulamt schließlich an das Martin-Luther-Gymnasium verwiesen. Dort meldete er<br />

sich nicht: Er hatte bereits aufgehört zu existieren, war "wie ein Stück Müll aus der<br />

Schule geworfen" (Christoph H. Werth) worden mit der Folge, dass er in einem in<br />

<strong>Deutschland</strong> einmaligen, nur in Thüringen geltenden Ausschluss-System nach dem<br />

zweiten gescheiterten Abiturversuch vor dem Nichts stand - ohne jeden<br />

Schulabschluss. 48 Aber statt sich selbst zu „entsorgen" <strong>und</strong> damit zu annihilieren, tat<br />

Steinhäuser so, <strong>als</strong> ob er weiter existiere <strong>und</strong> <strong>als</strong> ob er am 26. April 2002 eine<br />

Abiturklausur im Erfurter Gutenberg-Gymnasium schreibe.<br />

Er erschien dort aus seiner Sicht nicht <strong>als</strong> Täter, sondern <strong>als</strong> Opfer <strong>und</strong> Rächer: in<br />

„Ninja"- Kluft, schwer bewaffnet <strong>und</strong> ließ 17 Tote zurück. Eine Lehrerin erschoss er<br />

nicht sofort, sondern steckte ihr die Pistole in den M<strong>und</strong>, um sie zu quälen; um einen<br />

am Boden liegenden Lehrer schoss er erst demonstrativ herum, bevor er ihn gezielt<br />

hinrichtete, <strong>und</strong> dies möglichst vor den Augen von Mitschülern, von denen er auch<br />

zwei liquidierte. In seiner projektiven Identifizierung, die auf einer<br />

Bewusstseinsspaltung beruht, schrie er nach Rache – Rache für Demütigungen,<br />

Rache für Verletzungen, Rache für die Zerstörung seiner Existenz – bis sein<br />

48 Christoph H. Werth: "Amok-Schläfer". 26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium Erfurt: ein kritischer<br />

Rückblick. In: Mut. Forum für Kultur, Politik <strong>und</strong> Geschichte Nr. 419, Juli 2002. Seiten 20ff., zit. 22. In<br />

seiner Argumentation oft einseitig, aber mit seinen psychologischen Deutungen überzeugend ist<br />

Freerk Huisken: z.B. Erfurt. Was das bürgerliche Bildungs- <strong>und</strong> Einbildungswesen so alles anrichtet.<br />

Hamburg 2002. Seiten 48ff. (Kapitel 3: Beleidigtes Selbstbewusstsein <strong>und</strong> gekränkte Ehre)<br />

44


Rachedurst im Blutrausch gestillt war <strong>und</strong> er sich folgerichtig am Ort seiner<br />

Kränkungen selbst vernichtet hat. 49<br />

"Er kam nicht vom anderen Stern" schrieb Susanne Gaschke, Autorin des Buches<br />

"Die Erziehungskatastrophe". Sie verweist auf die "seelische Verwahrlosung vieler<br />

junger Menschen in diesem Land", so dass es eher verw<strong>und</strong>ern müsse, weil<br />

"derartiges Unheil" nicht häufiger geschehe. "Die Familien zerfallen - manche<br />

sichtbar, manche nur innerlich. Erwachsene haben immer weniger Zeit für Kinder.<br />

Deren Mediennutzung nimmt, mit elterlicher Duldung, gefährliche Formen an; dazu<br />

dröhnt die Konsummaschine mit ihrer lauten Dauerbotschaft, dass nur der etwas ist,<br />

der etwas hat. Die Brutalisierung der Alltagskultur schreitet voran." Gaschke weist<br />

darauf hin, dass etwas Ähnliches bereits im bayrischen Meißen, Brannenberg,<br />

Freising <strong>und</strong> Bad Reichenhall geschehen sei <strong>und</strong> dass eine "Zeitbombe" ticke. Alle<br />

staatlichen Einrichtungen, so meint sie, könnten "den Blick der Eltern in die Augen<br />

ihrer Kinder" nicht ersetzen. 50 Dies ist ein zentrales Motiv der <strong>Quellenarbeit</strong>.: Der<br />

Blick in den Spiegel.<br />

Für den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der sich mit den<br />

Folgen der Aufstiegs- <strong>und</strong> Risikogesellschaft (Ulrich Beck), mit dem<br />

Rechtsextremismus <strong>und</strong> Gewalt an Schulen befasst hat, führt die Erfurter Blutspur<br />

zum "Problem der Anerkennung" - <strong>als</strong>o zu einem narzisstischen. Anerkennung zu<br />

erreichen sei bei Jugendlichen über schulische Leistungen, über körperliche<br />

Attraktivität <strong>und</strong> über demonstrierte Stärke möglich. "Wer nicht auffällt, wird nicht<br />

wahrgenommen, <strong>und</strong> wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts". 51<br />

Der Amok-Experte Götz Eisenberg befürwortet bei Jungen "Stützen für ihr lädiertes<br />

Selbstwertgefühl": Dann könnten sie eine Identität entwickeln, die nicht länger auf<br />

Körperkraft <strong>und</strong> Gewalt beruhe. Die Schauspiel-Dozentin Ines Geipel fordert in einer<br />

Mixtur aus Chronik, Reportage <strong>und</strong> Roman eine "rückhaltlose Aufklärung" über jene<br />

49 Zur projektiven Identifizierung <strong>und</strong> zum Rachedurst bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen vgl.<br />

Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M. 1979. Seiten<br />

263f., 303f., 376; Heinz Kohut: Überlegungen zum Narzißmus <strong>und</strong> zur narzißtischen Wut. In: Die<br />

Zukunft der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1975. Seiten 205ff., besonders 227 ("Der Rachedurst, das<br />

Bedürfnis, ein Unrecht zu korrigieren, eine Beleidigung auszumerzen, mit welchen Mitteln auch immer,<br />

<strong>und</strong> ein tief eingewurzelter unerbittlicher Zwang bei der Verfolgung all dieser Ziele, die jenen keine<br />

Ruhe läßt, die eine narzißtische Kränkung erlitten haben - das sind die Merkmale, die für die<br />

narzißtische Wut in all ihren Formen charakteristisch sind <strong>und</strong> die sie von anderen Aggressionsarten<br />

unterscheiden."); Raymond Battegay: Narzißmus <strong>und</strong> Objektbeziehungen. Über das Selbst zum<br />

Objekt. Bern/Stuttgart/Wien 1977. Seite 61.<br />

50 Susanne Gaschke: Er kam nicht vom anderen Stern. Robert S. <strong>und</strong> der Mord <strong>als</strong> Menetekel: Wo die<br />

Familie versagt, helfen weder die besten Schulen noch die strengsten Gesetze. In: DIE ZEIT Nr. 19<br />

vom 2. Mai 2002. Seite 1. Vgl. dazu auch Susanne Gaschke: Die Erziehungskatastrophe. Kinder<br />

brauchen starke Eltern. Stuttgart/München 2001.<br />

51 Wilhelm Heitmeyer: Süchtig nach Anerkennung. In: DIE ZEIT Nr. 19 vom 2. Mai 2002. Seite 4. -<br />

Eine "Chronologie des Grauens" der Blutbäder an Schulen befindet sich auf den Seiten 2 <strong>und</strong> 3<br />

ebenda.<br />

45


Deformationen <strong>und</strong> Defizite der deutschen Gesellschaft, die Steinhäusers<br />

"Mordserie" in einen Kontext einbetten: Vereinzelung <strong>und</strong> Außenseitertum,<br />

Leistungsdruck <strong>und</strong> Sucht nach Anerkennung, Amoklauf vor dem "Gesichtsverlust"<br />

am Tag der Abiturprüfung. 52<br />

Wie man auch immer das Erfurter Menetekel deutet: Seit dem 26. April 2002 lastet<br />

auf dem deutschen Bildungswesen nicht nur der PISA-Schock, sondern auch ein<br />

Alptraum. Er lässt sich nicht verdrängen oder abschütteln. Lauert er hinter der<br />

Fassade einer scheinbar heilen Welt? Oder ist er nur die Ausgeburt eines weltweit<br />

einzigartigen Grauens?<br />

52 Die Gewalt aus der Kälte. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler <strong>und</strong> Amok-Experten Götz<br />

Eisenberg. In: DIE ZEIT Nr. 19 vom 2. Mai 2002. Seite 31. Vgl. dazu auch Götz Eisenberrg: Amok -<br />

Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut <strong>und</strong> Hass. Reinbek 2000. - Ines Geipel: Für heute<br />

reicht's. Amok in Erfurt. Berlin 2004.<br />

46


2. Inhalt, Datenerfassung, Formatierung <strong>und</strong> Leitmotiv der<br />

D-Dok.<br />

Quellen <strong>als</strong> Spiegel <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der<br />

Quellenbibliothek<br />

2.1. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> deutsche, vor allem staatliche Politik 1945 - 2004<br />

<strong>als</strong> Inhalt - Die Sonderrolle des Deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> die<br />

Spiegelfunktion der Reichstagskuppel<br />

Im Zentrum der Dokumentation steht <strong>Deutschland</strong> nach innen <strong>und</strong> nach außen vom<br />

1. Januar 1945 bis zum 31. Januar 2004. Unter <strong>Deutschland</strong> nach dem Kriegsende<br />

am 8. Mai 1945 werden historisch <strong>und</strong> geografisch, aber nicht rechtlich verstanden:<br />

1. in den Nachkriegsjahren 1945 - 1949 die Besatzungszonen der Siegermächte,<br />

Berlin, das Saarland <strong>und</strong> die Oder-Neiße-Gebiete ("Ostdeutschland" in den Grenzen<br />

von 1938); 2. in den Jahren 1949 - 1990 während der deutschen Teilung die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> (BRD) <strong>und</strong> die Deutsche Demokratische Republik<br />

(DDR) sowie Berlin; 3. seit dem 3. Oktober 1990 das geeinte <strong>Deutschland</strong> in seinen<br />

völkerrechtlich festgelegten Grenzen.<br />

Die Datenbank will Geschichte, Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales<br />

dokumentieren. Sie sind somit ihr Bezugs- <strong>und</strong> Orientierungsrahmen. Politik meint in<br />

Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch Politik nach drei<br />

Schlüsselbegriffen: 1. im Sinne von Polity <strong>als</strong> Ordnung <strong>und</strong> Normen (politisches<br />

System: Institutionen, Strukturen, Organisationen u.a.); 2. im Sinne von Politics <strong>als</strong><br />

Prozesse <strong>und</strong> Abläufe (dynamischer Charakter: Konflikte, Konkurrenz; Machterwerb<br />

<strong>und</strong> Machterhaltung, Dissens <strong>und</strong> Konsensbildung u.a.); 3. im Sinne von Policy <strong>als</strong><br />

Inhalte <strong>und</strong> Ziele (Politikfelder: Programme, Interessen, Ideen, Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />

u.a.).<br />

Im Mittelpunkt steht die staatliche Politik - nicht wegen eines überholten<br />

Politikbegriffs, der gesellschaftliche Gruppen <strong>und</strong> Alltagskultur ausschließt oder<br />

vernachlässigt, sondern aus zwei Hauptgründen: 1. ist staatliche Politik nach wie vor<br />

der wichtigste, wenngleich nicht mehr monopolisierte politische Bereich ; 2. sind<br />

staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Quellen (Dokumente), da sie der public domain<br />

angehören, urheberrechtlich nicht kostenpflichtig, auch nicht bei Personen, soweit sie<br />

amtliche oder politische Funktionen wahrnehmen. Der Anfang wurde deshalb mit der<br />

staatlichen Politik gemacht, jedoch mit der Absicht, später Gesellschafts- <strong>und</strong><br />

Alltagsgeschichte <strong>und</strong> -kultur zu ergänzen.<br />

47


Geschichte <strong>und</strong> Politik werden - soweit möglich - auf der obersten Ebene<br />

dokumentiert. Konkret heißt dies, dass sie in den Besatzungszonen 1945 - 1949 die<br />

Siegermächte ( z.B. Kontrollrat), zum Teil auch die deutschen Länder <strong>und</strong> Parteien<br />

sowie zonenübergreifende Organe (z.B. Wirtschaftsrat) repräsentieren. In der BRD<br />

steht der B<strong>und</strong> im Mittelpunkt, vertreten durch den Deutschen B<strong>und</strong>estag, die<br />

B<strong>und</strong>esregierung, das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht <strong>und</strong> den B<strong>und</strong>espräsidenten; in der<br />

DDR sind dies primär die SED, sek<strong>und</strong>är staatliche Organe wie Regierung<br />

(Ministerrat) <strong>und</strong> Volkskammer.<br />

Für die BRD hat dies zur Folge, dass vornehmlich Vertreter/innen der<br />

B<strong>und</strong>esregierung zu Wort kommen, selten der Opposition. Während jedoch in der<br />

BRD die Opposition die bestehende B<strong>und</strong>esregierung wiederholt abgelöst hat <strong>und</strong><br />

damit selbst Regierung geworden ist, war dies in der DDR unmöglich <strong>und</strong> auch nicht<br />

vorgesehen. Dort musste daher von 1949 - 1990 vornehmlich die SED-Politik der<br />

"Staats- <strong>und</strong> Parteiführung" dokumentiert werden. Um diesen Mangel etwas<br />

auszugleichen, sind einige Dokumente der Opposition in der DDR sowie Quellen<br />

über literarische, kulturelle <strong>und</strong> naturwissenschaftlich-technische Bereiche ergänzend<br />

aufgenommen worden. Die Opposition in der BRD <strong>und</strong> vor allem in der DDR<br />

angemessener zu dokumentieren, gehört zu den vordringlichsten Aufgaben einer<br />

späteren Neuauflage der D-Dok.<br />

Als Vertretung des souveränen Volkes, von dem alle Staatsgewalt ausgeht <strong>und</strong> von<br />

dem alle Staatsorgane ihre Kompetenzen ableiten, ist der Deutsche B<strong>und</strong>estag das<br />

Organ, das eine zentrale <strong>und</strong> kontinuierliche Rolle in <strong>Deutschland</strong> seit 1949 gespielt<br />

hat - anders <strong>als</strong> die Volkskammer der DDR nicht nur de iure, sondern auch de facto.<br />

Soweit die alte BRD seit 1949 <strong>und</strong> die neue BRD seit 1990 dokumentiert werden,<br />

steht daher der Deutsche B<strong>und</strong>estag <strong>als</strong> Parlament mit seinen Gesetzgebungs-,<br />

Wahl-, Kontroll-, Entscheidungs- <strong>und</strong> Meinungsbildungsfunktionen im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Symbolisiert wird dies dadurch, dass auf dem Titelblatt der D-Dok. die<br />

Reichstagskuppel abgebildet ist. Als <strong>neues</strong> Wahrzeichen des Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estages in Berlin ragt sie 23 Meter hoch über die Dachterrasse des<br />

Reichstagsgebäudes in den Himmel. Die Kuppel ist die Lichtquelle für den<br />

Plenarsaal, der unter ihr liegt; jedoch fällt das Tageslicht nicht direkt wie bei einem<br />

Fenster ein, sondern indirekt über 30 Spiegelreihen mit je 12 Spiegeln, die<br />

computergesteuert abgedeckt werden können, wenn die Sonne zu stark scheint. Die<br />

Kuppel spiegelt somit das Licht <strong>und</strong> leitet es in den Plenarsaal um.<br />

Nicht <strong>als</strong> architektonisches Monument, sondern wegen ihrer Transparenz <strong>und</strong> ihrer<br />

Spiegelfunktion ist die Reichstagskuppel <strong>als</strong> Wahrzeichen des Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estages in Berlin auf dem Titelblatt reproduziert worden. Denn die D-Dok. will<br />

offen sein für möglichst viele Politikfelder der deutschen Geschichte seit 1945 <strong>und</strong><br />

sie - soweit wie möglich - in Quellen spiegeln, insbesondere auch jenen des<br />

48


Deutschen B<strong>und</strong>estages: Gesetzen, Verträgen, Beschlüssen, Debatten, <strong>als</strong>o auch<br />

Regierungserklärungen <strong>und</strong> B<strong>und</strong>estagsreden. Nicht nur die Reichstagskuppel <strong>als</strong><br />

Wahrzeichen "gläserner Demokratie", auch die Quellenbibliothek soll eine<br />

Spiegelfunktion ausüben.<br />

Abbildung 3: Reichstagskuppel <strong>als</strong> Titelbild (Fotografiert von Joachim Liebe, Berlin; in einer<br />

bearbeiteten Fassung von Jens Vogelsang, Aachen)<br />

2.2. Ausgewählte Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen<br />

1945 - 2004: Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen<br />

(Repertorium)<br />

Aufgelistet nach Politikfeldern, die im Untertitel <strong>als</strong> Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Soziales verkürzt wiedergegeben sind, enthält die D-Dok. ausgewählte Quellen in<br />

historisch-chronologischer Reihenfolge aus folgenden interdependenten Bereichen<br />

nach innen <strong>und</strong> nach außen von 1945 bis 2004:<br />

49


-1. Innenpolitik allgemein - Regierungssystem - Wahlen - Gesetzgebung -<br />

Verwaltung - Extremismus - Terrorismus - Verteidigung (Militär) - innerdeutsche<br />

Beziehungen - Rechtspolitik<br />

-2. Außenpolitik - Sicherheitspolitik - <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> Ganzes - Berlin -<br />

internationale Politik <strong>als</strong> Bezugssystem (z.B. Ost-West- <strong>und</strong> Nord-Süd-Konflikt)<br />

-3. Recht allgemein - Rechtspflege - Verfassungsrecht - Staatsrecht - Zivilrecht -<br />

Strafrecht - Verwaltungsrecht - Wohnungs- <strong>und</strong> Mietrecht - Raumordnung -<br />

Sozialrecht - Wirtschaftsrecht - Völkerrecht - Recht der europäischen <strong>und</strong><br />

militärischen Integration<br />

-4. Wirtschaft allgemein - Handel - Gewerbe/Industrie - Landwirtschaft - Finanzen -<br />

Steuern - Ernährung - Verbraucherschutz - Umwelt - Ökologie - Verkehr -<br />

Energie - Atomkraft - Reaktorsicherheit - Bauwesen - Städtebau -<br />

Außenwirtschaft<br />

-5. Entwicklungshilfe - Wirtschaftliche Zusammenarbeit - Nachhaltigkeit - Nord-<br />

Süd-Beziehungen<br />

-6. Soziales allgemein - Arbeit - Beruf - Ges<strong>und</strong>heitswesen - Behinderung - Sport -<br />

Sozialversicherung - Migration - Asyl - Flüchtlinge - Vertriebene<br />

-7. Familie - Kinder - Jugendliche - Frauen - Senioren<br />

-8. Bildung - Wissenschaft - politische Bildung - Schule - Hochschule -<br />

Kommunikation - Post - Medien - Datenverarbeitung<br />

- 9. Am Rande: Parteien - Opposition - Gewerkschaften - Arbeitgeberverbände -<br />

andere Interessengruppen - Kirchen - Ethik - Ideen <strong>und</strong> Ideologien - Literatur -<br />

Kultur - Psychologie - Pädagogik<br />

Die ausgewählten gespeicherten Text-, Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente sind mit den Datei-<br />

Koeffizienten <strong>und</strong> Dateinamen in zeitlicher Reihenfolge nach Jahren, Monaten,<br />

Tagen <strong>und</strong> innerhalb der Tage alphabetisch geordnet <strong>und</strong> in einem Repertorium<br />

verzeichnet worden.<br />

Dieses Findbuch (Repertorium) der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen hat einen Umfang von<br />

523 Druckseiten. Daher musste darauf verzichtet werden, es in diesem Begleitbuch<br />

zu veröffentlichen. F<strong>und</strong>stelle ist die DVD-D-Dok., DVD-Laufwerk, Ordner:<br />

Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen. Dieses Repertorium ist auch auf der Webseite der <strong>Deutschland</strong>-<br />

Dokumentation zu finden: www.d-dok.de/Gesamtliste.<br />

50


Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen vom 1. Januar 1945 bis zum<br />

31. Januar 2004 (Redaktionsschluss: 20. Februar 2004) ist eine wichtige<br />

Arbeitsgr<strong>und</strong>lage der D-Dok. Auf die Möglichkeiten, das Repertorium ganz oder je<br />

nach Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen teilweise auszudrucken <strong>und</strong> mit der<br />

Suchfunktion Strg + f nach Stichworten zu durchsuchen, wird hingewiesen.<br />

2.3. Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung: Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre<br />

Rechtschreibung - Digitalisierung - Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung -<br />

manuelle Korrektur - Haftungsausschluss<br />

-1. Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre Rechtschreibung<br />

Quellenvorlagen sind die im Quellennachweis exakt belegten analogen (gedruckten)<br />

oder digitalisierten Dokumente <strong>und</strong> Daten. Sie sind aus Quellen- <strong>und</strong><br />

Datensammlungen oder anderen Veröffentlichungen, die zuverlässigen <strong>und</strong> meistens<br />

"amtlichen" Charakter haben, ausgewählt worden <strong>und</strong> öffentlich zugänglich. Daher<br />

handelt es sich vornehmlich um staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Dokumente <strong>und</strong><br />

Daten. Unveröffentlichte Quellen (Archivalien) sind, von Ausnahmen abgesehen,<br />

nicht aufgenommen worden.<br />

Die digitalen Quellenvorlagen werden aus dem Internet, von CDs oder DVDs, die<br />

analogen (gedruckten) Quellen aus Printmedien übernommen. Der Quellentext<br />

(Dokumententext) ist, soweit nichts anderes vermerkt ist, gr<strong>und</strong>sätzlich ungekürzt. Er<br />

entspricht inhaltlich <strong>und</strong> orthografisch der jeweiligen Quellenvorlage. Schreib- <strong>und</strong><br />

Flüchtigkeitsfehler (z.B. Druck- <strong>und</strong> Tippfehler) sind stillschweigend verbessert<br />

worden, sofern damit kein inhaltlicher textlicher Eingriff verb<strong>und</strong>en ist. Oberste<br />

Prinzipien der Edition sind Quellentreue <strong>und</strong> Quellenauthentizität.<br />

Die Dokumentenüberschriften <strong>und</strong> die Dateinamen sind an die neue deutsche<br />

Rechtschreibung angepasst <strong>und</strong> so vereinheitlicht worden. Die Dokumententexte<br />

dagegen werden gr<strong>und</strong>sätzlich in der Rechtschreibung der Quellenvorlage<br />

wiedergegeben. In der Dokumentenüberschrift steht daher "Beschluss der<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts", im Dokumententext dagegen "Beschluß des<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts", wenn die Quellenvorlage der alten deutschen<br />

Rechtschreibung folgt.<br />

-2. Digitalisierung der analogen Quellenvorlage<br />

Die analoge Quelle wird in einem ersten Schritt aus arbeitstechnischen Gründen<br />

kopiert <strong>und</strong> elektronisch gescannt. Das Ergebnis ist eine digitale Kopie der analogen<br />

Quellenvorlage im Computer. Diese digitale Fassung weist im Unterschied zur<br />

51


Quellenvorlage inhaltliche <strong>und</strong> orthografische Fehler auf, die durch den<br />

elektronischen Scannvorgang verursacht worden sind. Erforderlich ist darüber hinaus<br />

die einheitliche Formatierung der Quellen in der D-Dok.<br />

Bei zuverlässigen digitalen Quellen entfällt der Arbeitsschritt der Digitalisierung, nicht<br />

jedoch der Formatierung.<br />

-3. Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung des gescannten Dokuments<br />

In einem zweiten Schritt werden inhaltliche <strong>und</strong> orthografische Fehler des<br />

gescannten Dokuments maschinell korrigiert, um sie zu reduzieren.<br />

Zu diesem Zweck wird das digitale Dokument aus dem Scannprogramm in ein<br />

Textverarbeitungsprogramm übertragen <strong>und</strong> einer automatischen<br />

Rechtschreibprüfung unterzogen. Anschließend formatiert es der/die Bearbeiter/in<br />

einheitlich nach den Gr<strong>und</strong>sätzen, die für die Formatierung in der D-Dok. gelten. Auf<br />

2.4. wird verwiesen.<br />

-4. Manuelle Korrektur des digitalen Dokuments anhand der Quellenvorlage<br />

Das digitale Dokument wird in einem dritten Schritt einer manuellen inhaltlichen <strong>und</strong><br />

Rechtschreibprüfung sowie einer manuellen Prüfung der Formatierung unterzogen.<br />

Damit sollen restliche Fehler beseitigt werden, damit es der analogen Quellenvorlage<br />

entspricht. Dies ist erforderlich, weil derzeit maschinelle Kontrollen, anders <strong>als</strong> die<br />

Werbung verspricht, unzuverlässig sind <strong>und</strong> einer Überprüfung von Menschen <strong>und</strong><br />

durch den Menschen bedürfen.<br />

Auch schwankt häufig die Fehlerrate beim Scannen <strong>und</strong> bei der automatischen<br />

Rechtschreibkontrolle. Unerklärlich bleibt, weshalb Scann- <strong>und</strong><br />

Textverarbeitungsprogramme zeitweilig fehlerfrei arbeiteten, dann aber plötzlich<br />

Fehlerhäufungen <strong>und</strong> sogar Textverstümmelungen auftraten. Das hing manchmal,<br />

aber nicht immer mit der Qualität der Dokumentenkopien zusammen. "Der Computer<br />

spinnt mal wieder" - so hieß dann das geflügelte Wort in der Arbeitsgruppe.<br />

Zur manuellen Korrektur wird das digitale Dokument ausgedruckt <strong>und</strong> mit der<br />

analogen Quellenvorlage Zeile für Zeile kollationiert. Soweit in der ausgedruckten<br />

Fassung noch Fehler festzustellen sind, werden sie anhand der Quellenvorlage <strong>und</strong><br />

entsprechend den Formatierungsvorgaben der D-Dok. korrigiert. Die<br />

Korrekturzeichen am Rande orientieren sich am Duden ("Rechtschreibung der<br />

deutschen Sprache <strong>und</strong> der Fremdwörter").<br />

Die Fehlerkorrektur wird in das digitale Dokument im Computer eingegeben <strong>und</strong> in<br />

der ausgedruckten Fassung des digitalen Dokuments abgehakt.<br />

52


Der/die Bearbeiter/in zeichnet das fertig gestellte gespeicherte Dokument mit<br />

seinem/ ihrem Namen <strong>und</strong> mit Angabe des Datums ab <strong>und</strong> druckt es neu aus.<br />

Dadurch lässt sich nachträglich feststellen, wer aus der Arbeitsgruppe welche<br />

inhaltlichen <strong>und</strong> orthografischen Fehler oder Urheber- bzw. Nutzungsrechte bei<br />

Dokumenten (z. B. aus dem Internet) übersehen hat. Bei über 10.000 Dokumenten<br />

<strong>und</strong> über 100.000 Seiten Quellentexten sind Lücken, Fehler <strong>und</strong> Mängel<br />

unvermeidlich <strong>und</strong> auch Rechte Dritter/Nutzungsrechte manchmal fraglich <strong>und</strong><br />

unsicher, teilweise nicht ermittelbar oder erkennbar.<br />

Die so gewonnenen Stammakten, die alle geschilderten Vorgänge dokumentieren,<br />

haben einen Umfang von etwa 400 Aktenordnern. Es ist beabsichtigt, sie in einem<br />

Archiv zu hinterlegen <strong>und</strong> so dauerhaft zu sichern.<br />

-5. Haftungsausschluss<br />

Damit ist die Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung abgeschlossen. Trotz sorgfältiger<br />

Arbeiten durch die studentischen Mitarbeiter/innen <strong>und</strong> Kontrollen sowie Stichproben<br />

durch den Herausgeber kann eine Haftung <strong>und</strong> eine Gewähr für die Authentizität, die<br />

Vollständigkeit <strong>und</strong> die Fehlerfreiheit der digitalisierten Dokumente <strong>und</strong> ihrer<br />

Quellenvorlagen auf der DVD-D-Dok. nicht übernommen werden.<br />

Dieser Ausschluss von der Haftung <strong>und</strong> der Gewährleistung gilt auch für Links<br />

(Verweise), Internetadressen <strong>und</strong> F<strong>und</strong>stellen sowie Urheber- oder Nutzungsrechte<br />

von Dokumenten, bei denen ausnahmslos vermerkt wird, aus welcher "Quelle" sie<br />

stammen. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber<br />

verantwortlich.<br />

Einen Haftungsausschluss enthalten auch die Lizenzbestimmungen der DVD-D-Dok.<br />

(license.txt) unter 5. Unter 5.3. heißt es: "Herausgeber <strong>und</strong> Verlag stehen nicht dafür<br />

ein, dass dieses Werk frei von Rechten Dritter ist." Hingewiesen wird ferner auf<br />

urheberrechtliche Bestimmungen zur Software (3.), zur Übertragung der Lizenz (4.)<br />

<strong>und</strong> zur Gewährleistung (6.).<br />

2.4. Formatierung <strong>und</strong> Software der PDF-Dokumente:<br />

Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname<br />

<strong>und</strong> Datei-Koeffizient - Quellennachweis - Volltextsuche<br />

- 1. Vorbemerkung<br />

Jedes PDF-Dokument in der D-Dok. wird wie folgt einheitlich formatiert <strong>und</strong> so<br />

typisiert:<br />

53


1. durch Dokumentendatum/-daten;<br />

2. durch den Dokumententitel;<br />

3. durch den Dokumententext;<br />

4. durch den Dateinamen mit Datum/Daten <strong>und</strong> Datei-Koeffizient;<br />

5. durch den Quellennachweis.<br />

1. Dokumentendatum<br />

2. Dokumententitel<br />

15. Mai 1945<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Befehl Nr. 2<br />

des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />

¶<br />

¶<br />

Aus Anlaß der Beendigung des Krieges befehle ich:<br />

¶<br />

1. Vom 15. Mai 1945 ab ist der Bevölkerung Berlins erlaubt, von 05.00 Uhr bis 22.30 Uhr sich frei in der<br />

Stadt zu bewegen.<br />

¶<br />

2. Die Verdunkelung ist zu beseitigen. Die Beleuchtung der Straßen <strong>und</strong> Räumlichkeiten ist für den<br />

ganzen Kalendertag zu gestatten.<br />

¶<br />

¶<br />

Chef der Besatzung <strong>und</strong> Stadtkommandant von Berlin<br />

D3. Dokumententext<br />

¶<br />

Oberbefehlshaber der N-ten Armee<br />

¶<br />

Generaloberst N. Bersarin.<br />

¶<br />

¶<br />

Stabschef der Besatzung<br />

¶<br />

Generalmajor Kuschtschow.<br />

¶<br />

¶<br />

Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.pdf<br />

in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />

Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />

Seite 3.<br />

4. Dateiname<br />

5. Quellennachweis<br />

Abbildung 4: Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname - Quellennachweis<br />

54


-2. Dokumentendatum/-daten<br />

Am Anfang jedes PDF-Dokuments steht das Datum, das durchgehend in deutscher<br />

Sprache nach Tag, Monat <strong>und</strong> Jahr wiedergegeben ist. Dieses Datum wird optisch<br />

durch einen umrandeten Kasten vom folgenden Dokumententitel <strong>und</strong><br />

Dokumententext abgegrenzt. Es gibt an, wann das jeweilige Dokument entstanden<br />

ist (Entstehungsdatum), verabschiedet (Verabschiedungsdatum) oder veröffentlicht<br />

(Veröffentlichungsdatum) worden ist. Liegt in Ausnahmefällen keine Datierung vor,<br />

so wird sie geschätzt.<br />

Ist das Dokument oder sind die Dokumente nicht auf den Tag genau datierbar, so<br />

werden Dokumentendaten aufgeführt.<br />

Dokumentendaten<br />

Dokumentendatum<br />

21./ 22. April 1946<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Vereinigungskongress der SPD <strong>und</strong> der KPD<br />

vom 21. <strong>und</strong> 22. April 1946 in Berlin<br />

¶<br />

¶<br />

15. Mai 1945<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Befehl Nr. 2<br />

des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 5: Dokumentendaten - Dokumentendatum<br />

-3. Dokumententitel<br />

Auf das Dokumentendatum folgt der Dokumententitel, die zusammen den<br />

Dokumentenkopf bilden. Der Dokumententitel entspricht inhaltlich dem<br />

Dokumententitel der Quellenvorlage oder ist sinngemäß wiedergegeben. Falls dies<br />

nicht möglich ist, wird der Dokumententitel frei formuliert.<br />

55


Der Dokumententitel ist durch vier Leerzeilen in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der<br />

Schriftgröße 12 vom Dokumentendatum <strong>und</strong> zum folgenden Dokumententext durch<br />

zwei Leerzeilen optisch abgegrenzt.<br />

15. Mai 1945<br />

Dokumententitel<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Befehl Nr. 2<br />

des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />

¶<br />

¶<br />

Aus Anlaß der Beendigung des Krieges befehle ich:<br />

¶<br />

1. Vom 15. Mai 1945 ab ist der Bevölkerung Berlins erlaubt, von 05.00 Uhr bis 22.30 Uhr sich frei in der<br />

Stadt zu bewegen.<br />

¶<br />

2. Die Verdunkelung ist zu beseitigen. Die Beleuchtung der Straßen <strong>und</strong> Räumlichkeiten ist für den<br />

ganzen Kalendertag zu gestatten.<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 6: Dokumententitel<br />

-3.1. Dokumentenuntertitel<br />

Dokumentenkopf<br />

In vielen Dokumenten ist aus der Quellenvorlage im Anschluss an den<br />

Dokumententitel ein Untertitel übernommen oder eingefügt worden. Der Abstand<br />

zwischen dem Dokumententitel <strong>und</strong> dem Untertitel beträgt eine Leerzeile. Dieser<br />

Untertitel ist vom nachfolgenden Dokumententext wiederum durch zwei Leerzeilen in<br />

der Schriftart Arial <strong>und</strong> der Schriftgröße 10. getrennt.<br />

56


Untertitel<br />

4. Juli 1945<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Spruchkammer-Verfahrensordnung in Berlin<br />

¶<br />

(Gültig ab 5. Juli 1945)<br />

¶<br />

¶<br />

1. Aufgabe<br />

¶<br />

Aufgabe der Spruchkammer ist die endgültige Entscheidung des Magistrats der Stadt Berlin über die Neuzulassung<br />

<strong>und</strong> Wiedererrichtung von Handels- <strong>und</strong> Gewerbebetrieben aller Art, Untersagung des Gewerbes,<br />

Konzessionsverweigerung u. a. m., soweit gegen die Entscheidung des Bezirksamtes Einspruch erhoben worden<br />

ist.<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 7: Dokumentenuntertitel<br />

-3.2. Dokumentenvortitel<br />

Vor dem Dokumententext steht oft ein Erläuterungstext <strong>als</strong> Dokumentenvortitel in der<br />

Quellenvorlage.<br />

Dieser Erläuterungstext wird durch zwei Leerzeilen vom Dokumententitel bzw. vom<br />

Dokumentenuntertitel sowie vom danach folgenden Dokumententext abgegrenzt <strong>und</strong><br />

in der Regel fett hervorgehoben.<br />

57


20. Mai 1984<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

VII. Turn- <strong>und</strong> Sporttag des DTSB in Berlin<br />

¶<br />

¶<br />

Der VII. Turn- <strong>und</strong> Sporttag des Deutschen Turn- <strong>und</strong> Sportb<strong>und</strong>es der DDR (DTSB) ging am 20. Mai in Berlin nach dreitägigen Beratungen<br />

mit der Beschlußfassung über die künftigen Aufgaben <strong>und</strong> der Wahl der leitenden Organe der sozialistischen Sportorganisation zu Ende.<br />

¶<br />

Die 1200 Delegierten der über 3,4 Millionen Mitglieder umfassenden Sportorganisation hatten am Eröffnungstag den Gener<strong>als</strong>ekretär des<br />

ZK der SED <strong>und</strong> Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, sowie weitere Mitglieder der Partei- <strong>und</strong> Staatsführung herzlich<br />

<strong>als</strong> Gäste begrüßt.<br />

¶<br />

Den Bericht des B<strong>und</strong>esvorstandes des Deutschen Turn- <strong>und</strong> Sportb<strong>und</strong>es der DDR erstattete DTSB-Präsident Manfred Ewald.<br />

¶<br />

Insgesamt ergriffen an den drei Konferenztagen 42 Delegierte <strong>und</strong> Gäste das Wort, unter ihnen das Mitglied des Politbüros <strong>und</strong> Sekretär<br />

des ZK der SED Egon Krenz.<br />

¶<br />

Der neugewählte B<strong>und</strong>esvorstand des DTSB der DDR wählte auf seiner konstituierenden Sitzung Manfred Ewald einstimmig wieder zum<br />

Präsidenten.<br />

¶<br />

¶<br />

Aus dem Bericht des B<strong>und</strong>esvorstandes,<br />

erstattet von DTSB-Präsident Manfred E w a l d<br />

¶<br />

In wenigen Monaten werden wir gemeinsam den 35. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen<br />

Republik feiern. Jeder von uns spürt es persönlich: Großes wurde in diesen 35 Jahren geleistet. Die<br />

angestrengte Arbeit der Bürger unseres Landes hat reiche Früchte getragen. Unter Führung der Partei der<br />

Arbeiterklasse, der Sozialistischen Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s, haben wir auf deutschem Boden einen Staat<br />

der Arbeiter <strong>und</strong> Bauern, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik, erbaut. Dieser Staat ist ein<br />

Friedensstaat, der hohe Anerkennung in der Welt genießt, der sich dynamisch entwickelt, der seinen Menschen<br />

Sicherheit <strong>und</strong> persönliches Wohlergehen gewährleistet.<br />

¶<br />

¶<br />

Vortitel<br />

Abbildung 8: Dokumentenvortitel<br />

-4. Dokumententext<br />

Der Dokumententext ist in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der Schriftgröße 10 digitalisiert<br />

worden. Inhaltlich <strong>und</strong> orthografisch entspricht dieser Dokumententext der jeweiligen<br />

Quellenvorlage, d. h. der im Quellennachweis jeweils belegten analogen<br />

(gedruckten) oder digitalisierten Quelle. Der Dokumententext wird gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ungekürzt nach der jeweiligen Quellenvorlage wiedergegeben, <strong>als</strong>o <strong>als</strong> Volltext. Liegt<br />

nur ein Auszug vor, so ist dies ausdrücklich im Dokumententitel vermerkt.<br />

Für die Formatierung des Dokumententextes gelten folgende Regeln:<br />

Wenn ein Abschnitt einen Zwischentitel (Paragrafen, Artikel, Kapitelüberschriften,<br />

Ziffern) hat, so folgt nach dem Zwischentitel eine Leerzeile.<br />

58


¶<br />

Leerzeile<br />

¶<br />

Artikel III<br />

¶<br />

1. Von der Pflicht zur Abgabe der monatlichen Voranmeldungen <strong>und</strong> Entrichtung der monatlichen<br />

Umsatzsteuerbeträge sind nur die folgenden Steuerpflichtigen ausgenommen:<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 9.1: Leerzeile im Dokumententext<br />

Jeder Abschnitt ohne Zwischentitel wird vom folgenden Abschnitt durch eine<br />

Leerzeile abgegrenzt.<br />

Leerzeile<br />

28. August<br />

1945<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Sperrzeit in Berlin<br />

¶<br />

¶<br />

Die Posten der amerikanischen Besatzung haben Befehl erhalten, innerhalb ihrer Zone während der Sperrzeit<br />

auf alle diejenigen Personen zu schießen, die auf ihren Anruf, haltzumachen, nicht stehenbleiben.<br />

¶<br />

Es wird daher nochm<strong>als</strong> darauf hingewiesen, daß es in allen Besatzungszonen Berlins nicht nur verboten ist,<br />

die Straße in der Zeit von 23.00 Uhr bis 5.00 Uhr früh zu betreten, sondern daß auch jeder bei Nichtbeachtung<br />

dieses Befehls Gefahr läuft, erschossen zu werden.<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 9.2: Leerzeile im Dokumententext<br />

59


Jeder Abschnitt mit einem Zwischentitel wird vom vorherigen Abschnitt durch zwei<br />

Leerzeilen abgegrenzt.<br />

Leerzeilen<br />

¶<br />

¶<br />

Steuerklasse I umfaßt diejenigen Personen, die zu Beginn des Steuerjahres nicht verheiratet waren, <strong>und</strong><br />

diejenigen, die in diesem Jahre nicht mindestens vier Monate verheiratet waren. Personen, die unter die unten<br />

aufgezählten Steuerklassen fallen, gehören nicht zur Steuerklasse I.<br />

¶<br />

¶<br />

b) Steuerklasse II<br />

¶<br />

Zur Steuerklasse II gehören folgende Personen, soweit sie nicht in der dritten Gruppe inbegriffen sind:<br />

¶<br />

I. Personen, die zu Beginn des Steuerjahres oder mehr <strong>als</strong> vier Monate in diesem Jahre verheiratet<br />

waren, sowie<br />

¶<br />

II. unverheiratete Personen, die mindestens vier Monate vor Ablauf des Steuerjahres das 65. Lebensjahr<br />

erreicht haben.<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 10: Leerzeilen im Dokumententext<br />

60


Hervorhebungen (fett, gesperrt, kursiv oder unterstrichen) im Dokumententext, seien<br />

es Zwischenüberschriften, seien es Wörter oder Sätze, werden aus der<br />

Quellenvorlage übernommen.<br />

Fett gesetzte Hervorhebung<br />

¶<br />

¶<br />

I. Die Ergebnisse der Fre<strong>und</strong>schaftsreise<br />

¶<br />

¶<br />

Von größter Bedeutung war in den hinter uns liegenden Monaten die Reise der Partei- <strong>und</strong><br />

Regierungsdelegation unter Leitung des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees <strong>und</strong> Vorsitzenden des<br />

Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht, in die Sowjetunion. Der Besuch, der auf Einladung des Zentralkomitees<br />

der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, des Präsidiums des Obersten Sowjets <strong>und</strong> des Ministerrates der<br />

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Zeit vom 17. bis 28. September 1965 stattfand, führte von<br />

Moskau aus diesmal in die südlichen Republiken der Sowjetunion. Die Partei- <strong>und</strong> Regierungsdelegation konnte<br />

sich dabei mit vielen neuen Errungenschaften des Sowjetvolkes bei der Schaffung der materiell-technischen<br />

Basis des Kommunismus vertraut machen.<br />

¶<br />

Gesperrt gesetzte<br />

Hervorhebung<br />

¶<br />

¶<br />

EL PRESIDENTE DE LA REPÚBLICA DE FINLANDIA:<br />

¶<br />

a la señora Tarja H A L O N E N ,<br />

¶<br />

Ministra de Asuntos Exteriores;<br />

¶<br />

¶<br />

Kursiv gesetzte<br />

¶<br />

Hervorhebung<br />

¶<br />

Avrupa Ekonomik Topluluğu'nu kuran Antlaşma'da gereken usullerin yerine getirildiğinin, özellikle Avrupa<br />

Parlamenter Asamblesi'ne danışıldığının Öteki Akit Tarafa bildirilmesinden sonra ancak Topluluğu kesin olarak<br />

bağlayacağı ihtiyat kaydı ile<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 11: Hervorhebungen im Dokumententext<br />

Um diese Hervorhebungen der Dokumente (fett, gesperrt, kursiv oder unterstrichen)<br />

<strong>und</strong> damit ihre authentische Wiedergabe zu erhalten, ist das seitenorientierte<br />

Portable Document Format (PDF) der Firma Adobe für die D-Dok. ausgewählt<br />

worden; denn die inhaltsorientierten Formate HTML <strong>und</strong> XML enthielten keine<br />

61


Steuerungsinformationen darüber, wie ein Dokument darzustellen oder zu drucken<br />

ist.<br />

Aufzählungen im Text (Buchstaben oder Ziffern) werden durch Tabulatoren<br />

formatiert. Die dabei verwendete Formatierung hält sich so eng wie möglich an die<br />

Quellenvorlage. Bei Aufzählungen mit Ziffern wird der Tabulator direkt nach der Ziffer<br />

gesetzt. Bei Aufzählungen mit Buchstaben wird der Tabulator vor dem Buchstaben<br />

<strong>und</strong> nach dem Buchstaben eingefügt.<br />

1. begrüßt den Entwurf einer Europäischen Akte <strong>als</strong> Beitrag <strong>und</strong> Initiative zur Weiterentwicklung der<br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> zur Verwirklichung der Europäischen Union;<br />

2. stellt fest, daß die Realisierung der Europäischen Akte begleitet werden muß von Fortschritten in einer<br />

gemeinsamen Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> zum Schutz der natürlichen Umwelt, um<br />

den Gedanken einer Europäischen Union bei den Bürgern der Gemeinschaft zu verankern;<br />

3. ist der Ansicht, daß die Prüfung <strong>und</strong> Behandlung dieses Entwurfs auf Ratsebene rasch <strong>und</strong><br />

entschlossen fortgeführt werden muß, so daß spätestens Anfang 1983 Beschlüsse gefaßt werden<br />

können;<br />

7. § 32 wird wie folgt geändert:<br />

Aufzählungen mit<br />

Ziffern (Tabstopp)<br />

Aufzählungen mit<br />

Buchstaben (Tabstopps)<br />

¶<br />

a) Die Absätze 1 <strong>und</strong> 2 werden wie folgt gefaßt:<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 12: Aufzählungen mit Tabstopps im Dokumententext<br />

¶<br />

¶<br />

¶<br />

Aus der Quellenvorlage sind Anmerkungen <strong>als</strong> Fußnoten in der Regel nur dann<br />

übernommen worden, wenn sie zum Originaltext gehören <strong>und</strong> nicht von<br />

Herausgebern, Bearbeitern, Kommentatoren u. a. stammen. Abweichungen von<br />

dieser Regel sind durch die Software verursacht <strong>und</strong> vom Herausgeber der D-Dok.<br />

nicht zu vertreten. Der Text der Anmerkungen ist in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der<br />

Schriftgröße 9 digitalisiert. Anmerkungen, welche nicht durch Ziffern im Text<br />

gekennzeichnet sind, sondern durch Sternchen, Buchstaben oder sonstige Zeichen,<br />

werden durchnummeriert.<br />

62


¶<br />

¶<br />

Rechtsweg<br />

¶<br />

Für Rechtsstreitigkeiten bei der Ausführung dieses Gesetzes ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben.<br />

¶<br />

¶<br />

§ 33 5 )<br />

¶<br />

5) Ab 1. Januar 1984 ändert sich der Wortlaut des § 33 wie folgt:<br />

¶<br />

Absatz 2 lautet:<br />

"(2) Der Widerspruch gegen den Musterungsbescheid (§ 19 Abs. 7) hat aufschiebende Wirkung. Gegen den<br />

Musterungsbescheid kann auch das Kreiswehrersatzamt Widerspruch einlegen."<br />

¶<br />

Absatz 4 entfällt.<br />

¶<br />

¶<br />

Abbildung 13: Fußnoten im Dokumententext<br />

In der Quellenvorlage vorhandene Zitate werden durch einen Tabulator eingerückt.<br />

Die Seitenzahlen der PDF-Dokumente entsprechen nicht den Seitenzahlen der<br />

Quellenvorlage. Die PDF-Dokumente werden, beginnend mit der Seitenzahl 1,<br />

durchnummeriert.<br />

¶<br />

Anmerkungen <strong>als</strong><br />

Fußnoten<br />

¶<br />

Chef der Besatzung <strong>und</strong> Stadtkommandant von Berlin<br />

¶<br />

Oberbefehlshaber der N-ten Armee<br />

¶<br />

Generaloberst N. Bersarin.<br />

¶<br />

¶<br />

Stabschef der Besatzung<br />

¶<br />

Generalmajor Kuschtschow.<br />

¶<br />

¶<br />

Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />

in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />

Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />

Seite 3.<br />

Abbildung 14: Seitenzahlen der PDF-Dokumente<br />

Seitenzahl(en)<br />

1<br />

63


Anhänge, Anlagen <strong>und</strong> Tabellen, die zur Quellenvorlage gehören, sind häufig —<br />

auch aus technischen Gründen — nicht digitalisiert worden. Sind Anhänge oder<br />

Anlagen vom Herausgeber eingefügt worden, so wird dies in Klammern vermerkt.<br />

Inhaltsverzeichnisse werden in der Regel aus der Quellenvorlage übernommen.<br />

Der Dateiname <strong>und</strong> der Quellennachweis stehen, durch einen Kasten umrahmt, am<br />

Ende des Dokumententextes. Der Abstand des Rahmens vom davor liegenden<br />

Dokumententext beträgt zwei Leerzeilen.<br />

Die Dateien sind mit Datum/Daten, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateinamen, jedoch ohne<br />

Quellennachweis im Repertorium (Findbuch) vom 1. Januar 1945 - 30. Januar 2004<br />

einzeln verzeichnet. Auf 2.2. wird verwiesen.<br />

Dateiname <strong>und</strong><br />

Quellennachweis<br />

Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />

in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />

Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />

Seite 3.<br />

Abbildung 15: Dateiname <strong>und</strong> Quellennachweis<br />

-5. Datei mit Datum/Daten, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname <strong>als</strong> Betreff<br />

¶<br />

¶<br />

Die Datei beginnt mit der Angabe des Datums oder der Daten. Zuerst wird das Jahr<br />

genannt <strong>und</strong> danach folgen Monat <strong>und</strong> Tag bzw. Tage. Das Datum wird vom<br />

nachfolgenden Datei-Koeffizienten optisch durch einen Gedankenstrich abgegrenzt.<br />

Danach folgt der Dateiname <strong>als</strong> Betreff.<br />

Datum (Jahr,<br />

Monat, Tag)<br />

Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />

in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />

Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />

Seite 3.<br />

Abbildung16: Datei mit Datum, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname<br />

Datei-Koeffizient<br />

64


Der Datei-Koeffizient gibt <strong>als</strong> dreistellige veränderliche Größe (Variable) in<br />

Großbuchstaben die Zuordnung des Dokuments wieder:<br />

— politisch-geografisch-inhaltlich (BRD, DDR, DTL, EUR, GER, INT, NSB, OST,<br />

OWB, SBZ, UNO, WBZ, WST)<br />

— fremdsprachlich (ENG, ESP, FRA, TUR)<br />

— medial <strong>als</strong> Bild- (FOT) bzw. Ton- (TON) Dokument.<br />

Noch nicht aufgenommen, aber in Vorbereitung sind Karikaturen (KAR) <strong>und</strong> Video-/<br />

Film-Dokumente (VID).<br />

BRD B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> 1949-1990<br />

DDR Deutsche Demokratische Republik 1949-1990<br />

DTL <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> Ganzes / <strong>Deutschland</strong>- <strong>und</strong> Berlin-Frage / Innerdeutsche<br />

Beziehungen / Geeintes <strong>Deutschland</strong><br />

ENG Englischsprachiges Dokument<br />

ESP Spanischsprachiges Dokument<br />

EUR Europa, u. a. EWG, EG bzw. EU, KSZE/ OSZE, WEU, Europarat<br />

FOT Foto- / Bild-Dokument<br />

FRA Französischsprachiges Dokument<br />

GER <strong>Deutschland</strong> / Berlin <strong>als</strong> Besatzungsgebiet 1945-1949<br />

INT Internationaler multilateraler Vorgang (Abkommen, Übereinkommen,<br />

Konvention, Protokoll u. a.)<br />

KAR Karikatur (in Vorbereitung)<br />

NSB Nord-Süd-Beziehungen / Dritte Welt<br />

OST Osten / Osteuropa / östliche Hemisphäre<br />

OWB Ost-West-Beziehungen<br />

SBZ Sowjetische Besatzungszone 1945-1949<br />

TON Ton-Dokument / Audio-Dokument<br />

TUR Türkischsprachiges Dokument<br />

UNO Vereinte Nationen<br />

VID Video- / Film-Dokument (audiovisuell) (in Vorbereitung)<br />

WBZ Westliche Besatzungszone(n) 1945-1949<br />

WST Westen / Westeuropa / westliche Hemisphäre<br />

Abbildung 17: Liste der Datei-Koeffizienten<br />

65


Dateiname<br />

Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />

in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />

Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />

Seite 3.<br />

Abbildung 18: Dateiname <strong>und</strong> Betreff<br />

Der Dateiname will den Dokumenteninhalt <strong>als</strong> Betreff möglichst präzis, wenngleich<br />

verkürzt wiedergeben. Es ist zu beachten, dass sich der Dateiname zwar sinngemäß<br />

auf den Dokumententitel <strong>und</strong> die Dokumentenuntertitel bezieht, allerdings sind<br />

hiervon Abweichungen möglich, die ihren Gr<strong>und</strong> in der begrenzten Länge des<br />

Dateinamens von 255 Zeichen innerhalb des Dateisystems von WINDOWS haben.<br />

Dokumentenköpfe <strong>und</strong> Dateinamen sind - wie bereits erwähnt - an die neue<br />

deutsche Rechtschreibung angepasst <strong>und</strong> so vereinheitlicht worden, nicht jedoch die<br />

Dokumententexte. Sie werden in der Rechtschreibung der jeweiligen Quellenvorlage<br />

ungekürzt wiedergegeben.<br />

-6. Quellennachweis<br />

Der Quellennachweis belegt ausführlich die bibliografische F<strong>und</strong>stelle der<br />

Quellenvorlage. Ihre Seitenzahlen sind vom Dokumentenanfang bis zum<br />

Dokumentenende exakt wiedergegeben.<br />

Quellennachweis<br />

mit Seitenzahlen<br />

Titel: 1955 03 11 - BRD - Finanzminister Schäffer - Die Landwirtschaft im Spiegel der<br />

Finanzpolitik.doc<br />

in: Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 48 vom 11. März 1955.<br />

Seiten 393-396.<br />

Abbildung 19: Quellennachweis <strong>als</strong> F<strong>und</strong>stellenangabe<br />

66


-7. Volltextsuche<br />

Die Software für die Volltextsuche ist eigens für die Datenbank bei der Firma Byte<br />

XXL Informationstechnologiegesellschaft mbH, Hauptstraße 20, 69151<br />

Neckargemünd (Leiter: Prof. Dr. Dieter W. Heermann, Universität Heidelberg) in<br />

Auftrag gegeben worden. Sie ist benutzerfre<strong>und</strong>lich, einfach zu bedienen, schnell<br />

<strong>und</strong> zuverlässig in ihren Suchfunktionen.<br />

Eine technische Kurzanleitung enthält das Booklet der DVD-D-Dok. mit Abbildungen<br />

(Screenshots). Sehr wichtig ist die umfangreiche Testversion der Software der<br />

<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation nach dem Stand vom 4. Dezember 2003. Sie befindet<br />

sich auf der DVD-D-Dok., DVD-Laufwerk, Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen. Alle denkbaren<br />

Booleschen Operatoren <strong>und</strong> Suchfunktionen werden dort anhand konkreter Beispiele<br />

getestet. Auf diese umfangreiche Ausarbeitung werden alle hingewiesen, die<br />

Stärken, aber auch nicht implementierte <strong>und</strong> deshalb nicht funktionierende<br />

Suchfunktionen kennen lernen wollen. Insbesondere Informatiker/innen,<br />

Mathematiker/innen <strong>und</strong> Physiker/innen werden gebeten, die Volltextsuche nach<br />

fachlichen, technischen <strong>und</strong> benutzerorientierten Kriterien zu überprüfen, zu<br />

erproben <strong>und</strong> Verbesserungsvorschläge für die Software zu unterbreiten.<br />

2.5. Die D-Dok. <strong>als</strong> deutschsprachige Datenbank mit eingemischten<br />

englisch-, französisch-, spanisch- <strong>und</strong> türkischsprachigen Dokumenten<br />

Ursprünglich war eine rein deutschsprachige Dokumentation geplant. Sie sollte zwar<br />

auch ausländische Quellen über <strong>Deutschland</strong> enthalten, jedoch nur dann, wenn sie<br />

in deutscher Übersetzung vorlagen.<br />

Es wäre jedoch ein Unding im Informationszeitalter gewesen, <strong>Deutschland</strong> im<br />

Zeichen der Globalisierung <strong>und</strong> des Internets wie eine Sprachinsel zu isolieren <strong>und</strong><br />

die mehrsprachigen Nutzungsmöglichkeiten der Datenbank zu ignorieren - trotz des<br />

fortschreitenden europäischen Einigungsprozesses <strong>und</strong> trotz bestehender weltweiter<br />

Verflechtungen.<br />

Die Dokumente werden, soweit sie deutschsprachigen Ursprungs sind, in deutscher<br />

Sprache digitalisiert. Einzelne Quellen sind in Englisch oder Französisch<br />

wiedergegeben, einige Schlüsseldokumente in Deutsch <strong>und</strong> Englisch, teilweise auch<br />

viersprachig in deutscher (oft amtlicher) Übersetzung <strong>und</strong> in Englisch (ENG),<br />

Französisch (FRA) sowie Spanisch (ESP). Aufgenommen sind auch<br />

türkischsprachige Dokumente (TUR) nebst ihren deutschen Übersetzungen. Die<br />

fünfsprachige D-Dok. wird so in den europäischen <strong>und</strong> globalen Bezugsrahmen<br />

eingebettet.<br />

67


Die Aufnahme fremdsprachiger Quellen beschränkt sich auf die drei Weltsprachen<br />

Englisch (ENG), Französisch (FRA) <strong>und</strong> Spanisch (ESP) sowie auf das Türkische<br />

(TUR). Dadurch kann sich der Benutzerkreis über den deutschsprachigen Raum<br />

hinaus ausdehnen <strong>und</strong> auch die deutsche Sprache sek<strong>und</strong>är davon profitieren,<br />

darunter an Auslandsschulen. War bislang beabsichtigt, die Datenbank in<br />

historischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Fächer in Schulen <strong>und</strong> in der politischen<br />

Erwachsenenbildung zu erproben, so lässt sie sich nunmehr in begrenztem Rahmen<br />

auch im Fremdsprachenunterricht <strong>und</strong> für Übersetzungsübungen nutzen. Dabei<br />

könnten Lehrer/innen an der gleichen Schule kooperieren, die Geschichte/Politik<br />

<strong>und</strong>/oder Fremdsprachen unterrichten.<br />

Ausgewählte Einzeldokumente werden dann in deutscher, englischer,<br />

gegebenenfalls französischer <strong>und</strong> in Ausnahmefällen auch spanischer Sprache - <strong>als</strong>o<br />

viersprachig - wiedergegeben, wenn sie in diesen Sprachen vorliegen <strong>und</strong> damit<br />

Zusatzkosten für Übersetzungen entfallen. Dies gilt vor allem für<br />

Schlüsseldokumente der europäischen Politik <strong>und</strong> Integration. Liegen amtliche oder<br />

nicht amtliche deutsche Übersetzungen für ausgewählte fremdsprachige Dokumente<br />

nicht vor, so werden sie nur in englischer oder französischer Sprache vorgelegt.<br />

Türkischsprachige Quellen (TUR) sind nebst deutschsprachigen Übersetzungen<br />

aufgenommen worden, um zu dokumentieren, dass in <strong>Deutschland</strong> eine Vielfalt <strong>und</strong><br />

Vielzahl von Ausländern/innen leben. Dem kann jedoch nur exemplarisch Rechnung<br />

getragen werden - am Beispiel der größten <strong>und</strong> bedeutendsten Gruppe. Sie soll sich<br />

in einer vornehmlich deutschsprachigen Datenbank wiederfinden, in ihr repräsentiert,<br />

integriert <strong>und</strong> in Quellen gespiegelt sehen.<br />

Bild (FOT)-Dokumente sind je nach Herkunft <strong>und</strong> Quellennachweis mit deutsch- oder<br />

englischsprachigen Überschriften <strong>und</strong> Dateinamen versehen worden. Die gleichen<br />

Regeln gelten für Ton (TON)-Dokumente. Sie sind im Original-Ton (O-Ton)<br />

wiedergegeben, <strong>und</strong> das heißt, dass sie vornehmlich deutschsprachig, teilweise auch<br />

fremdsprachig, vornehmlich englischsprachig sind.<br />

Einzelne Schlüsseldokumente der Siegermächte aus den Nachkriegsjahren 1945 –<br />

1949 werden vorerst nur in deutscher Sprache vorgelegt, obwohl ausschließlich die<br />

englischen, französischen <strong>und</strong>/oder russischen Fassungen <strong>als</strong> maßgeblich galten.<br />

Aus technischen Gründen konnten kyrillische Schriftzeichen nicht digitalisiert werden.<br />

Dies wäre zwar wünschenswert gewesen, ließ sich jedoch auch aus Kostengründen<br />

nicht realisieren. Daher musste auf die Aufnahme russischsprachiger Dokumente<br />

aus der Zeit des Ost-West-Konflikts (Kalter Krieg) <strong>und</strong> der DDR verzichtet werden.<br />

68


2.6. Begriff <strong>und</strong> Authentizität der Quelle <strong>als</strong> Spiegel: Quellen sind der<br />

Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird<br />

Quellen sind alle überlieferten "objektiven", datierbaren <strong>und</strong> deshalb konstanten<br />

Zeugnisse menschlicher Existenz, die in der Gegenwart Geschichte aus dem<br />

Rückblick konstituieren <strong>und</strong> sie in der Vergangenheit zeitnah spiegeln. Diese<br />

Definition bedarf einiger Erläuterungen.<br />

Zeugnisse sind alle materialisierten Informationen, die von Menschen stammen,<br />

unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen; jedoch sind sie nur existent dann,<br />

wenn sie überliefert, <strong>als</strong>o nicht verloren gegangen sind. Geschichte entsteht, indem<br />

man aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückblickt, <strong>als</strong>o aus der zeitlichen<br />

Retrospektive. Voraussetzung <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage dafür sind Quellen in ihrer Funktion,<br />

Informationen <strong>als</strong> Rohstoff zu speichern.<br />

"Objektiv" heißt nicht, dass Quellen die Wirklichkeit sind oder sie realitätsgerecht <strong>und</strong><br />

wahrheitsgetreu wiedergeben (reproduzieren), sondern dass sie die Vergangenheit<br />

zeitnah, oft zeitidentisch überliefern <strong>und</strong> damit spiegeln. Dies kann keine<br />

Geschichtsdarstellung, die nachträglich auf Wissen zurückgreift, das Quellen <strong>als</strong><br />

Rohstoff bereits verarbeitet hat. Texte, Bilder, Töne, Filme (audiovisuell), Objekte<br />

(z.B. Werkzeuge, Schmuck) oder Zustände (z.B. Flur- <strong>und</strong> Siedlungsformen) erteilen<br />

<strong>als</strong> Quellen zeitnah Auskunft über die Vergangenheit <strong>und</strong> konstituieren damit<br />

Geschichte. Ohne Quellen gäbe es keine Geschichte <strong>und</strong> keine<br />

Geschichtswissenschaft.<br />

Wenn Quellen der Rohstoff des historischen Wissens sind, dann sind sie folglich<br />

nicht dieses Wissen, das erst entsteht, indem Quellen <strong>als</strong> Informationen verarbeitet<br />

werden - wer, wann, wo, wie <strong>und</strong> warum jemand in den Spiegel sieht <strong>und</strong> darauf<br />

antwortet. Während Quellen sich stets treu <strong>und</strong> so mit sich selbst identisch bleiben,<br />

wandelt sich das historische Wissen, indem jede Gegenwart neue Fragen stellt <strong>und</strong><br />

die Vergangenheit damit neu bewertet. Mit anderen Worten: Authentische Quellen<br />

sind eine Konstante in der Erscheinungen Flucht, denn sie bleiben, sofern sie<br />

datierbar sind, unverändert <strong>und</strong> unveränderlich; historisches Wissen <strong>und</strong> historische<br />

Darstellungen dagegen sind Variablen, unbekannte Größen, die sich im Laufe der<br />

Jahre ändern <strong>und</strong> wandeln. Quellen konstituieren Geschichte, indem sie aus ihnen<br />

erschlossen <strong>und</strong> erarbeitet wird.<br />

Unterschieden werden Quellen häufig nach ihrem Überlieferungscharakter: 1. <strong>als</strong><br />

Überreste oder Relikte, wenn sie unabsichtlich für die Nachwelt, <strong>als</strong>o mehr oder<br />

weniger zufällig, erhalten geblieben sind; 2. <strong>als</strong> Traditionsquellen, wenn sie<br />

zielgerichtet <strong>und</strong> bewusst für die Nachwelt produziert worden sind, um bestimmte<br />

Informationen zu überliefern. Sie sind daher nicht zufällig entstanden, sondern mit<br />

bestimmten Absichten (Intentionen). Trotz dieser Unterscheidungskriterien, die<br />

69


ursprünglich auf den Historiker Johann Gustav Droysen (1808 - 1884) zurückgehen, 53<br />

lassen sich Überrest- <strong>und</strong> Traditionsquellen oft nicht strikt trennen. Ein Grabstein mit<br />

Inschriften z.B. ist für die Nachkommen des/r Toten eine Traditionsquelle, für spätere<br />

Generationen ein Relikt oder Überrest.<br />

Neu ist der Gedanke, dass Quellen die Vergangenheit spiegeln. Idealtypisch ist dies<br />

"objektiv" der Fall nur dann, wenn Quelle <strong>und</strong> Ereignis zusammenfallen<br />

(koinzidieren). Ein solcher "reiner" Spiegel ist aber eine Ausnahme. In der Regel<br />

stimmen Quelle <strong>und</strong> Ereignis zeitlich nicht überein, sondern weichen voneinander ab.<br />

Je größer die zeitliche Identität von Ereignis <strong>und</strong> Quelle (Koinzidenz), um so<br />

"objektiver" <strong>und</strong> authentischer ist sie.<br />

Inhaltliche Authentizität heißt: Die Quelle ist echt, verbürgt, zuverlässig, vollständig,<br />

sie spiegelt "objektiv" <strong>und</strong> spiegelt nichts vor - sie ist nicht fingiert, verfälscht,<br />

manipuliert, verkürzt. Dies bedeutet nicht, dass die Quelle unparteiisch ist, <strong>und</strong> dies<br />

sagt auch nichts über ihren Wahrheitsgehalt aus. Auch eine Propagandarede ist<br />

"objektiv" <strong>und</strong> authentisch, wenn sie verbürgt <strong>und</strong> so gehalten worden ist, wie sie<br />

vorliegt. Solche "Traditionsquellen" sind allerdings kritisch zu betrachten, da ihre<br />

Verfasser/innen - anders <strong>als</strong> bei "Überresten" - bestimmte Absichten (Intentionen)<br />

verfolgen. Sie legen sie häufig nicht offen oder vertreten bestimmte Ideen, Lehren,<br />

Meinungen u. a., die sie Zuhörern/innen, Lesern/innen oder der Nachwelt vermitteln<br />

wollen. Zur <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> insbesondere zur Quellenkritik gehört es zu prüfen, ob<br />

stichhaltig ist, was die Quelle spiegelt oder vorspiegelt. Nicht umsonst spricht man<br />

von einer Vorspiegelung f<strong>als</strong>cher Tatsachen.<br />

Neben der inhaltlichen Authentizität gibt es auch eine sinnliche Authentizität, die das<br />

Original oder ersatzweise das Faksimile der Quelle vermittelt. Anders <strong>als</strong> eine<br />

mittelalterliche Handschrift oder Urk<strong>und</strong>e hinterlässt jedoch die faksimilierte<br />

Wiedergabe einer zeitgeschichtlichen gedruckten Quelle in der Regel keinen visuellsinnlichen<br />

Eindruck ihrer Echtheit <strong>und</strong> Überlieferung. Auch ermöglicht sie keine<br />

Volltextsuche, die eine Digitalisierung voraussetzt.<br />

53 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />

Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage Darmstadt 1960. Seiten 37ff. teilte<br />

Quellen nach ihrem Aussagewert ein 1. nach Überresten (Seiten 38ff.), die unbeabsichtigt für die<br />

Nachwelt "übriggeblieben" sind; 2. nach Quellen im engeren Sinne (Seiten 61ff.), die bewusst zum<br />

Zwecke der Erinnerung überliefert sind; 3. nach Denkmälern (Seiten 50ff.), die zwischen Überresten<br />

<strong>und</strong> Quellen stehen <strong>und</strong> "monumentalen Charakters" sind. Zur Quellenkritik Seiten 131ff. Ernst<br />

Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode <strong>und</strong> der Geschichtsphilosophie. 3. <strong>und</strong> 4. Auflage<br />

Leipzig 1903 (1. Auflage 1889). Seiten 230ff. unterschied nur noch zwei Gruppen: 1. Überreste<br />

("unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben <strong>und</strong> vorhanden"); 2. Tradition ("was unmittelbar<br />

von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen <strong>und</strong> wiedergegeben durch menschliche<br />

Auffassung"). Diese Einteilung wurde von Gustav Wolf: Einführung in das Studium der neueren<br />

Geschichte. Berlin 1910. Seiten 17ff. übernommen <strong>und</strong> gilt noch heute <strong>als</strong> Standard.<br />

70


Quellen sind der Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird. Sie sind der<br />

Rohstoff für Historiker/innen <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler/innen, die sie verarbeiten:<br />

Geschichte darstellen, schreiben, kompilieren, interpretieren, nutzen, analysieren,<br />

zusammenfassen. Stützen sich historische Deutungen nicht oder zu wenig auf<br />

Quellen, so entstehen Geschichtsklitterungen <strong>und</strong> Geschichtslegenden, die<br />

Hochkonjunktur haben; denn sie beruhen auf Wunschdenken <strong>und</strong> sind deshalb weit<br />

verbreitet. Einmal in die Welt gesetzt, entfalten sie wie ein Gerücht ihre eigene<br />

Dynamik.<br />

Quellen konstituieren aus dem Rückblick Geschichte, Historiker/innen <strong>und</strong><br />

Sozialwissenschaftler/innen rekonstruieren sie. Sie sollten sich dabei stets auf<br />

Quellen <strong>und</strong> nicht nur - wie häufig der Fall - auf Sek<strong>und</strong>ärliteratur stützen. Zwar<br />

verkünden <strong>und</strong> überliefern Historiker/innen <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler/innen auch<br />

Geschichte, sie sind jedoch in ihren Darstellungen nicht mehr "objektiv", sondern<br />

subjektiv, weil die idealtypisch zeitlich identische oder doch zeitnahe<br />

Widerspiegelung von Ereignissen fehlt - kurzum die Authentizität der ursprünglichen<br />

Information <strong>und</strong> ihrer zeitlichen Nähe. Anders <strong>als</strong> Quellen sind<br />

Geschichtsdarstellungen daher Sek<strong>und</strong>ärliteratur. Sie ist kein Spiegel, der "objektiv",<br />

sondern ein Spiegelbild, das subjektiv ist.<br />

Nicht nur Geschichtsdarstellungen sind subjektiv, sondern auch historische<br />

Sachbücher <strong>und</strong> Schulbücher, die chronologisch oder systematisch geordnete Lehr-<br />

/Lernmaterialien interpretierenden Charakters enthalten. Deshalb veralten sie auch<br />

relativ bald. Quellen dagegen, sofern sie authentisch wiedergegeben sind, verbürgen<br />

Langlebigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit. Sie sind auch vielseitig einsetzbar <strong>und</strong> ein<br />

"offenes System", d. h. sie lassen sich ergänzen, neu befragen <strong>und</strong> neu deuten,<br />

während Geschichtsdarstellungen <strong>und</strong> Schulbücher ein subjektiv-kommentierendes<br />

"geschlossenes System" vermitteln <strong>und</strong> insoweit festgelegt ("festgeschrieben") sind.<br />

Dies gilt auch für Chroniken, die sich weitgehend an historischen Tatsachen<br />

orientieren. 54<br />

2.7. Die Dokumentenauswahl der D-Dok.: Ihr Anspruch, deutsche<br />

Geschichte <strong>und</strong> Politik zu spiegeln<br />

Die D-Dok. ist zwar ein Produkt des schnelllebigen Informationszeitalters, in dem sich<br />

das menschliche Wissen derzeit alle fünf Jahre verdoppelt. Da es sich jedoch um<br />

eine digitalisierte Sammlung gedruckter, vornehmlich staatlicher Quellen<br />

(Dokumente) handelt, in denen sich die historisch-politische Vergangenheit<br />

54 Vgl. dazu die von mir verfasste, von der B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung seit 1995<br />

herausgegebene, wiederholt nachgedruckte <strong>und</strong> aktualisierte <strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 - 2000. Bonn<br />

2000, zuletzt 2004.<br />

71


<strong>Deutschland</strong>s über den Tag hinaus spiegelt, sind sie langlebig <strong>und</strong> von bleibendem<br />

Wert - nicht der Vergänglichkeit <strong>und</strong> dem ständigen Wechsel von Schlagzeilen,<br />

Nachrichten, Kommentaren, Meinungen <strong>und</strong> anderen Tagesaktualitäten unterworfen.<br />

Diese Datenbank ist daher nicht auf Sand gebaut, sondern <strong>als</strong> Quellenbibliothek in<br />

festem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden verankert.<br />

Im Internet finden sich neben seriösen viele fragwürdige, unzuverlässige<br />

Informationen unterschiedlichster, auch privater Anbieter. Meistens fehlen Belege<br />

oder Angaben über die Provenienz der Informationen. Anders <strong>als</strong> das Internet enthält<br />

diese Datenbank authentische, vor allem staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Quellen,<br />

die ungekürzt wiedergegeben <strong>und</strong> mit exakten F<strong>und</strong>stellen versehen sind.<br />

Informationsschrott ist in der Datenbank nicht zu finden.<br />

Um die Authentizität der Quellen zu wahren, werden sie gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>als</strong><br />

Volltextversion digitalisiert, <strong>als</strong>o ungekürzt wiedergegeben. Wenn die<br />

Ursprungsquelle, die im Dokumentennachweis exakt belegt ist, in Ausnahmefällen<br />

nur einen Auszug ab- oder nachdruckt, so wird dies im Dokumententitel festgehalten.<br />

Ausgewertet werden gedruckte nationale <strong>und</strong> internationale, insbesondere amtliche<br />

Sammlungen: z.B. Gesetzblätter, Urk<strong>und</strong>en-, Vertrags- <strong>und</strong> Quellensammlungen,<br />

Veröffentlichungen von Parlamenten, Regierungen <strong>und</strong> Regierungsstellen, von<br />

Organisationen <strong>und</strong> Parteien, ferner auch Dokumentationen von<br />

Fachwissenschaftlern, in Zeitschriften, Zeitungen sowie von Fachverlagen <strong>und</strong><br />

Forschungseinrichtungen. Ungedruckte, <strong>als</strong>o unveröffentlichte archivalische Quellen<br />

sind nur ausnahmsweise aufgenommen worden.<br />

Digitalisiert vorliegende Dokumente sind, soweit ihre Ursprungsquelle<br />

vertrauenswürdig ist, aus dem Internet inhaltlich ungekürzt herunter geladen worden.<br />

Als Quellennachweis ist die genaue Internetadresse aufgeführt <strong>und</strong> danach in<br />

Klammern der Tag des Downloads vermerkt. Dies ist insbesondere seit 1998 möglich<br />

<strong>und</strong> erforderlich gewesen, da viele staatliche <strong>und</strong> nichtstaatliche, internationale <strong>und</strong><br />

nationale Institutionen <strong>und</strong> Organisationen ihre Dokumente nicht mehr gedruckt<br />

(analoge = Print- oder Papierversion), sondern nur noch im Internet veröffentlichen<br />

(digitale = elektronische Version). So ist z.B. das Bulletin des Presse- <strong>und</strong><br />

Informationsamts der B<strong>und</strong>esregierung derzeit nur online abrufbar <strong>und</strong> nach Ablauf<br />

eines Jahres offline auf CD-Rom verfügbar.<br />

Die Vielfalt der digitalisierten, vor allem staatlichen Quellen spiegelt sich in der<br />

Vielfalt ihrer Arten wider. Kurz zusammengefasst, <strong>als</strong>o nicht detailliert<br />

aufgeschlüsselt, gehören bei den Volltextquellen dazu: Urk<strong>und</strong>en, die Rechte <strong>und</strong><br />

Pflichten begründen, darunter völkerrechtliche <strong>und</strong> staatsrechtliche Verträge,<br />

Abkommen, Vereinbarungen, Satzungen <strong>und</strong> Erklärungen; innerstaatliche Akten <strong>und</strong><br />

Akte, Gesetze, Verordnungen, Anordnungen, Aufzeichnungen, Reden <strong>und</strong> Vorträge,<br />

72


Urteile, Beschlüsse, Programme, Protokolle, Schriftwechsel/Briefe, Aufsätze <strong>und</strong><br />

Artikel, Mitteilungen, Kommuniqués, Erklärungen, Berichte, Statistiken u.a.<br />

Die aufgenommenen eingemischten Bild- (FOT) - <strong>und</strong> Ton- (TON) Dokumente haben<br />

einen ergänzenden <strong>und</strong> veranschaulichenden Charakter. Sie müssen - den<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen der Dokumentation folgend - datierbar, folglich Original-Foto- <strong>und</strong><br />

Original-Ton-Dokumente sein. Sie ungekürzt, <strong>als</strong>o authentisch wiederzugeben, ist bei<br />

den Ton-Dokumenten in der Regel daran gescheitert, dass die im<br />

Dokumentennachweis belegten Ursprungsquellen Reden nur auszugsweise<br />

wiedergeben. Sofern eine digitalisierte Volltextversion in der D-Dok. vorliegt, kann<br />

das dazu gehörende Rede-Ton-Dokument daraufhin überprüft werden, welche<br />

Stellen weggelassen <strong>und</strong> ob die Stimmung <strong>und</strong> die Höhepunkte der Rede<br />

eingefangen worden sind.<br />

In Vorbereitung befinden sich probeweise vollständig digitalisierte B<strong>und</strong>estagsreden,<br />

die sowohl <strong>als</strong> Text- wie auch <strong>als</strong> MP3-Ton-Dokumente ungekürzt wiedergegeben<br />

werden sollen. Zu prüfen bleibt dann, ob der damit verb<strong>und</strong>ene hohe Speicherbedarf<br />

vertretbar ist <strong>und</strong> ob lange <strong>und</strong> zum Teil auch langatmige Reden didaktisch sinnvoll<br />

genutzt werden können.<br />

Wie bereits begründet, sind historisch-politische Quellen nicht neutral <strong>und</strong><br />

unparteiisch, auch manchmal unglaubwürdig, aber zum Zeitpunkt ihres Entstehens<br />

authentisch <strong>und</strong> "objektiv". Ihre Auswahl dagegen ist unbestritten subjektiv. Sind sie<br />

exakt datiert <strong>und</strong> authentisch wiedergegeben, so sind sie eine Konstante in der<br />

Erscheinungen Flucht. Wird z.B. ein Gesetz mit genauem Datum ungekürzt <strong>und</strong><br />

wortgetreu amtlich veröffentlicht, dann gilt es so lange <strong>als</strong> festgeschrieben <strong>und</strong><br />

textlich unverändert fort, bis es aufgehoben oder novelliert wird. So gesehen haben<br />

Quellen einen Ewigkeitswert - es sei denn, sie gehen verloren <strong>und</strong> sind damit nicht<br />

existent. Nur durch Quellen wird uns in der Gegenwart vermittelt <strong>und</strong> bewusst, was in<br />

der Vergangenheit war.<br />

Nicht alles, was aus der Vergangenheit überliefert ist, hat bleibenden Wert. Vieles<br />

gehört zum Treibsand der Geschichte. Quellen zu sammeln, zu sichten <strong>und</strong><br />

auszuwählen, hat unbestreitbar subjektiven Charakter. Warum <strong>und</strong> was schließlich<br />

aussortiert wird, hängt von den Fragestellungen, Präferenzen <strong>und</strong> oft auch<br />

unbewussten Einstellungen dessen ab, der ausgewählt <strong>und</strong> damit bewertet hat. Als<br />

Faustregel gilt: Je breiter <strong>und</strong> umfangreicher die Quellenauswahl ist, um so geringer<br />

wird ihr subjektiver Spielraum. Im Idealfall werden alle vorhandenen Quellen<br />

vollständig erfasst; dann liegt keine subjektive Auswahl vor, sondern eine objektiv<br />

komplette Sammlung. Dies ist jedoch selbst auf sehr begrenzten Politikfeldern<br />

objektiv unmöglich, schon gar nicht im Informationszeitalter mit seinen<br />

Massenmedien.<br />

73


Die D-Dok. hat erstrebt, möglichst viele der unter 2.2. aufgeführten, vor allem<br />

staatlichen Politikfelder zu erfassen <strong>und</strong> mit ihrer Themenvielfalt <strong>und</strong> ihren Facetten<br />

vorzustellen - alle gleichermaßen zu berücksichtigen, war a priori nicht realisierbar.<br />

Je breiter das Spektrum der Auswahl in den Bereichen Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Sozialem wurde, um so mehr war es erforderlich, die Quantität staatlicher Quellen zu<br />

reduzieren <strong>und</strong> sie nach qualitativen Schwerpunkten <strong>und</strong> nach ihrer Themenvielfalt<br />

zu streuen. Insoweit ist die Dokumentenauswahl, die der Herausgeber zu vertreten<br />

hat, subjektiv <strong>und</strong> fragmentarisch.<br />

Ihrem Charakter nach kann diese Datenbank immer nur in einem Zustand der<br />

Unfertigkeit sein - einem status nascendi. Es gibt keine Wissenschaft, die den<br />

immerwährenden Wechsel der Zeit so versinnbildlicht wie die Geschichte: Was heute<br />

ist, wird morgen gestern, <strong>und</strong> morgen wird heute sein. So entsteht aus allem, was<br />

geschieht, Vergangenheit, <strong>und</strong> mit den Fragen, die wir an sie stellen, ändern sich<br />

auch die Antworten auf sie. Deshalb können wir Geschichte immer nur im<br />

Nachhinein beurteilen. Mit ihr ändert sich der Blickwinkel, <strong>und</strong> daher sehen wir oft mit<br />

anderen Augen, was wir aus dem Rückblick sehen - heute anders <strong>als</strong> gestern oder<br />

morgen. Dies gilt um so mehr für zurückliegende Jahre <strong>und</strong> Jahrzehnte <strong>und</strong> für<br />

Quellen, die sich in ihnen spiegeln.<br />

Ihren Zielsetzungen nach beansprucht die D-Dok. dennoch, ein Spiegel zu sein, der<br />

aus historischer Retrospektive 60 Jahre deutscher, vornehmlich staatlicher <strong>und</strong><br />

zwischenstaatlicher Politik seit 1945 reflektiert. Ein Spiegel ist objektiv-intersubjektiv,<br />

ein Spiegelbild dagegen subjektiv-imaginär. Narziss hatte sich nicht in sich selbst,<br />

sondern in sein Spiegelbild verliebt (1.4.). Auch die Massenmedien sind Spiegelbilder<br />

<strong>und</strong> allenfalls Ersatzobjekte (1.5.).<br />

Wenn die D-Dok. eine Spiegelfunktion haben soll, dann darf sie auf <strong>Deutschland</strong> kein<br />

Bild projizieren, das dem Selbstverständnis der alten oder neuen BRD entstammt<br />

oder ihm entspricht. Deshalb wird die DDR unabhängig davon, wie sie einzuschätzen<br />

ist, gleichberechtigt neben der BRD dokumentiert; denn nicht nur die BRD, die<br />

beansprucht hat, <strong>Deutschland</strong> allein nach innen <strong>und</strong> nach außen zu vertreten, auch<br />

die DDR gehört zur deutschen Geschichte, zum deutschen Geschichtsbild <strong>und</strong> zur<br />

deutschen Identität - ob man dies wahrhaben will oder nicht. Dies gilt umgekehrt<br />

auch für das Selbstbild <strong>und</strong> das Selbstverständnis, das die ehemalige DDR von sich<br />

<strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong> hatte. Ein Spiegel reflektiert, aber er bewertet nicht. Dies bleibt dem<br />

Betrachter überlassen, der in den Spiegel schaut <strong>und</strong> daraus seine Schlüsse ziehen<br />

kann.<br />

Nichts ist objektiv-intersubjektiv so geeignet, eine Spiegelfunktion auszuüben, wie<br />

historisch-politische Quellen. Sie dokumentieren, was zum Zeitpunkt ihres<br />

Entstehens war; sie subjektiv auszuwählen, einzuordnen, zu deuten <strong>und</strong> zu<br />

bewerten, bleibt der historischen Retrospektive überantwortet. Diese Spiegelfunktion<br />

ist auch dann erfüllt, wenn es sich um keine idealtypisch "reine", "glatte" oder<br />

74


"neutrale" Widerspiegelung handelt, weil der Spiegel Mängel aufweist. Die<br />

Toleranzgrenze wäre allerdings überschritten, wenn die D-Dok. ein blinder, ein<br />

zerbrochener Spiegel oder gar ein Zerrspiegel wäre.<br />

Um die Volltextquellen authentisch mit Hervorhebungen wiedergeben zu können, ist<br />

das pdf-Format ausgewählt worden. Es gewährleistet, dass fette, gesperrte, kursive<br />

oder unterstrichene Textstellen auf dem Monitor angezeigt <strong>und</strong> auch ausgedruckt<br />

werden können.<br />

2.8. Die Spiegelfunktion der fördernden Umwelt in der primären<br />

Sozialisation: Die Entstehung des Selbst <strong>und</strong> des denkenden Ichs<br />

Der wiederholt zitierte Winnicott (1.4.) hat der Spiegelfunktion der „fördernden<br />

Umwelt" eine f<strong>und</strong>amentale Bedeutung für die frühkindliche Sozialisation<br />

beigemessen. „In der individuellen emotionalen Entwicklung", so betont er, „ist das<br />

Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels." Diese visuelle Interdependenz<br />

zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind deutet Winnicott, indem er auf Francis Bacon <strong>und</strong> René<br />

Descartes anspielt: „Ich bin der Meinung, eine Beziehung zwischen Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmung herstellen zu können, indem ich einen historischen Prozeß im<br />

einzelnen annehme, der darauf beruht, selbst gesehen zu werden. Wenn ich sehe<br />

<strong>und</strong> gesehen werde, so bin ich. Jetzt kann ich mir erlauben, um mich herumzublicken<br />

<strong>und</strong> zu sehen. Ich sehe jetzt kreativ: Was ich betrachte, nehme ich auch wahr." 55<br />

An anderer Stelle schreibt Winnicott zur Entstehung des Ichs: Da jemand sieht <strong>und</strong><br />

begreift, dass „ich existiere", bekomme ich „(wie ein im Spiegel gesehenes Gesicht),<br />

den Beweis zurück, den ich brauche, daß ich <strong>als</strong> Wesen erkannt worden bin". Wenn<br />

der Zustand des ICH BIN hergestellt sei, dann schließe er ein, alles andere sei nicht<br />

ich. „Ich bin, ich existiere, ich sammle Erfahrungen <strong>und</strong> bereichere mich <strong>und</strong> habe<br />

eine introjektive <strong>und</strong> projektive Interaktion mit dem NICHT ICH, der wirklichen Welt<br />

der gemeinsamen Realität." 56<br />

Wie die Mutter ihr Kind spiegelt, entscheidet darüber, welches Selbst <strong>als</strong> Kern seiner<br />

körperlich-emotionalen Existenz entsteht. Ist ihr Blick lebendig, empathisch, liebevoll,<br />

so kann das Kind sein Körperselbst <strong>und</strong> schließlich sein wahres Selbst besetzen <strong>und</strong><br />

einen ges<strong>und</strong>en Narzissmus aufbauen – <strong>als</strong> in der Regel lebenslang prägende Basis<br />

seines Selbstwertgefühls <strong>und</strong> Selbstwertes. Ist der Blick der Mutter dagegen<br />

55 D. W. Winnicott: Die Spiegelfunktion von Mutter <strong>und</strong> Familie in der kindlichen Entwicklung. In: Vom<br />

Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1987. Seiten 128ff., zit. 128 <strong>und</strong> 131f. Vgl. dazu auch Martin Altmeyer:<br />

Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen 2000. Seite<br />

222f.<br />

56 D. W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. München 1965. Seite 79.<br />

75


fordernd, abweisend oder leer, so können sich die Pforten zu narzisstischen oder im<br />

Extremfall psychotischen Störungen öffnen – das Kind besetzt ein f<strong>als</strong>ches Selbst<br />

<strong>und</strong> konfiguriert zwangsweise einen pathologischen Narzissmus. Durch diese<br />

Verinnerlichung von Objektbeziehungen, die auf intersubjektiver Spiegelung oder<br />

Anerkennung beruhen, entsteht die seelische Gr<strong>und</strong>ausstattung des Ichs <strong>als</strong> höhere<br />

Instanz der Selbstvergewisserung.<br />

Der französische Philosoph, Mathematiker <strong>und</strong> Physiker René Descartes (1596-<br />

1650), auf den Winnicott u.a. anspielen, war ein Skeptiker, den methodische Zweifel<br />

plagten, ob nicht alle scheinbaren Gewissheiten auf Irrtümern <strong>und</strong><br />

Selbsttäuschungen beruhten. Von dem Gr<strong>und</strong>satz ausgehend, man müsse zunächst<br />

alles bezweifeln (de omnibus dubitandum est), folgert er, dass jemand existiert, der<br />

zweifelt <strong>und</strong> denkt. Die Gewissheit des denkenden Ichs könne daher nicht in Frage<br />

gestellt werden: cogito, ergo sum (Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich). Dabei trennt Descartes<br />

nicht den eigenen Geist vom eigenen Körper: "Jetzt aber weiß ich nicht nur, daß ich,<br />

sofern ich ein denkendes Ding bin, existiere, sondern es bietet sich mir außerdem<br />

auch eine gewisse Idee einer körperlichen Natur dar; <strong>und</strong> so kommt es, daß ich<br />

zweifle, ob die denkende Natur, die in mir ist, oder die vielmehr ich selbst bin, von<br />

jener körperlichen Natur verschieden ist, oder ob beide dasselbe sind." 57 Geist <strong>und</strong><br />

Körper bilden nach Descartes nicht nur eine funktionelle, sondern eine essentielle<br />

Einheit, nämlich die "Person". 58 Nur dadurch sind Empfindungen <strong>und</strong> Gefühle<br />

möglich.<br />

Die Selbstgewissheit des denkenden <strong>und</strong> fühlenden Ichs ist nach Descartes<br />

unbezweifelbar. Das menschliche Subjekt <strong>als</strong> denkendes Ich mit Verstand bzw.<br />

Vernunft begabt, ist das unerschütterliche F<strong>und</strong>ament des Wissens <strong>und</strong> damit auch<br />

das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie. Sie beginnt mit Descartes, denn er hat sie<br />

begründet.<br />

Das Selbst <strong>als</strong> körperlich-emotionaler Bereich <strong>und</strong> das Ich <strong>als</strong> vornehmlich<br />

denkende-rationale Instanz werden oft miteinander verwechselt, obwohl sie sich<br />

wesentlich unterscheiden. In der Selbst- <strong>und</strong> Ich-Psychologie ist das intrapsychische<br />

Selbst ein Bestandteil des interpsychischen Ichs, das darüber hinaus noch weitere<br />

Repräsentanzen enthält. 59 "Das Ich ist nicht das Selbst, wenn es auch der Teil der<br />

57<br />

René Descartes: Meditationen über die Gr<strong>und</strong>lagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden<br />

<strong>und</strong> Erwiderungen. Hamburg 1954. Seite 49.<br />

58<br />

Dominik Perler: René Descartes. München 1998. Seiten 213, 215f., 219; Andreas Kemmerling:<br />

Ideen des Ichs. Studien zu Descartes' Philosophie. Frankfurt a. M. 1996. Seiten 77ff., 102. - Zu den<br />

physiologischen <strong>und</strong> anatomischen Studien siehe René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie<br />

Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664<br />

übersetzt <strong>und</strong> mit einer historischen Einleitung <strong>und</strong> Anmerkungen versehen von Karl E. Rothschuh.<br />

Heidelberg 1969.<br />

59<br />

Hierzu gr<strong>und</strong>legend Heinz Hartmann: Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie.<br />

Stuttgart 1972. - Hartmann definiert das Selbst <strong>als</strong> "eigene Person" im Gegensatz zum Objekt <strong>und</strong> den<br />

Narzissmus <strong>als</strong> libidinöse Besetzung des Selbst; vgl. Seiten 132, 139 u.a. Zu den Ich-Funktionen <strong>und</strong><br />

76


Persönlichkeit ist, der das Selbst wahrnimmt. In Wirklichkeit stellt das Ich das<br />

Selbstbewußtsein oder das Bewußtsein des Selbst dar: Ich fühle (nehme wahr), daß<br />

mein Selbst wütend ist. Descartes hatte recht, <strong>als</strong> er sagte: 'Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich'<br />

(wobei die Betonung auf dem Ich liegt). Er hätte unrecht, wenn er glaubte, das<br />

Denken bestimme das Selbst. Von Computern mag man behaupten, sie denken; was<br />

sie nicht können, ist fühlen." 60 Erst das Ich ist fähig, historische Prozesse aus der<br />

Retrospektive aufzuarbeiten.<br />

2.9. Sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong> identitätsstiftende Sozialisation: Ergänzende<br />

Spiegelfunktionen durch historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />

Quellen<br />

Die identitätsstiftende Spiegelfunktion oder Anerkennung der fördernden Umwelt<br />

während der primären Sozialisation ist in der Regel so prägend, dass sie auch das<br />

Jugend- <strong>und</strong> Erwachsenenalter bestimmt <strong>und</strong> meistens lebenslang fortdauert. Damit<br />

verglichen kann die Spiegelfunktion von Quellen nur eine sehr kleine <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äre<br />

sein - ergänzend, nachträglich aufklärend <strong>und</strong> erhellend.<br />

Wenn ihre Möglichkeiten a posteriori auch begrenzt sind, so sollten sie a priori nicht<br />

unterschätzt werden. Dies hängt wesentlich davon ab, ob <strong>und</strong> inwieweit<br />

Multiplikatoren, <strong>als</strong>o vor allem Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, in der Lage sind, "fördernde<br />

Umwelt" zu sein. In Einzelfällen bestehen sogar Chancen, die historische, die<br />

familiäre <strong>und</strong> die damit verknüpfte individuelle Vergangenheit mit ihren schwarzen<br />

Löchern zu rekonstruieren, sich ihrer zu erinnern <strong>und</strong> sie aufzuarbeiten, auch bei den<br />

Multiplikatoren selbst.<br />

Auf Spiegelung, Anerkennung, Echo <strong>und</strong> Lob sind nicht nur Schüler/innen, sondern<br />

auch Erwachsene zur Regulation ihres Selbstwertgefühls <strong>und</strong> zur Aufrechterhaltung<br />

ihres narzisstischen Gleichgewichts angewiesen. Da die Datenbank keine fertigen<br />

Antworten <strong>und</strong> Ergebnisse liefert, sondern Quellen <strong>als</strong> Rohstoff zur Verfügung stellt,<br />

wird der/die Benutzer/in gefördert <strong>und</strong> gefordert, selbstständig zu recherchieren <strong>und</strong><br />

selbstbestimmt zu lernen. Eigene Leistungen <strong>und</strong> darauf beruhende<br />

Erfolgserlebnisse aktivieren <strong>und</strong> stabilisieren das Selbst, auf dem das Ich aufbaut.<br />

Dadurch steigen Ich-Stärke <strong>und</strong> Selbstbewusstsein, während passivierende Gefühle<br />

der Hilflosigkeit oder gar Ohnmacht abnehmen. Dies gilt auch für Multiplikatoren, vor<br />

allem ältere, die davor zurückscheuen, quellen- <strong>und</strong> computergestützten Unterricht<br />

zu wagen. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur darum, den Intellekt zu motivieren<br />

seinen Fähigkeiten zur Neutralisierung von Trieben vgl. Seiten 120ff., 133ff. Siehe auch Robert<br />

Kegan: Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte <strong>und</strong> Krisen im menschlichen Leben. München<br />

1986. Seiten 22ff. (Theorien der Ich-Entwicklung)<br />

60 Alexander Lowen: Narzißmus. Die Verleugnung des wahren Selbst. München 1984. Seite 41.<br />

77


(Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>), sondern auch darum, das zum Ich gehörende körperlichemotionale<br />

Selbst zu aktivieren (Stufe II). Dann können durch schwarze Löcher<br />

verschlungene oder vergeudete Energien freigesetzt werden <strong>und</strong> sich kreative <strong>und</strong><br />

sublimierende Fähigkeiten des Subjekts entfalten.<br />

Anders <strong>als</strong> soziale Rollenfunktionen, die normendefiniert <strong>und</strong> -abhängig sind,<br />

gehören die Fragen "Wer bin ich?", "Woher komme ich?" <strong>und</strong> "Wohin gehöre ich? in<br />

den Gesamtkomplex kollektiver <strong>und</strong> individueller Identität. 61 Ich-Identität entwickelt<br />

sich in einem sinnstiftenden, oft schmerzlichen Prozess der Selbsterkenntnis, den<br />

Gefühle der Selbstentfremdung auslösen können, z.B. in Lebenskrisen <strong>und</strong><br />

Konfliktsituationen, bei Verlust- <strong>und</strong> Todesfällen, von denen niemand verschont<br />

bleibt. Identität gewährleistet, "im Wechsel der biographischen Zustände <strong>und</strong> über<br />

die verschiedenen Positionen im sozialen Raum hinweg Kontinuität <strong>und</strong> Konsistenz<br />

zu sichern. Ihre Identität behauptet eine Person gleichzeitig für sich <strong>und</strong> gegenüber<br />

anderen; die Selbstidentifikation, das Sich-Unterscheiden-von-Anderen, muß von<br />

diesen anderen auch anerkannt werden." 62 Ich-Identität entsteht durch Geschichte<br />

<strong>und</strong> die mit ihr verknüpfte eigene Biografie. Geschichtsverlust löst daher<br />

Identitätskrisen aus, die bis zum Identitätsverlust <strong>und</strong> zur Depersonalisation des Ichs<br />

gehen können.<br />

Gibt es neben Ich-Identitäten überhaupt kollektive <strong>und</strong> nationale Identitäten? Hält die<br />

vom Historiker Lasch vertretene These vom kollektiven "Zeitalter des Narzißmus"<br />

geschichtlicher Überprüfung stand? (1.5.) Oder die von Ziehe begründete<br />

Entwicklung eines Neuen Sozialisationstypus (NST)? Ist nach 1945 eine neue<br />

deutsche Identität entstanden? Gehört die in der DDR vertretene Auffassung, sie sei<br />

der erste "Arbeiter- <strong>und</strong> Bauernstaat" in der deutschen Geschichte, wofür sich in den<br />

Quellen viele Belege finden, zu einer ideologischen, aufoktroyierten oder<br />

nachweisbaren Identität? Entsteht neben der nationalen allmählich eine neue<br />

europäische Identität?<br />

Für die Benutzer/innen der Quellendatenbank wichtiger sind Fragen nach der<br />

persönlichen Identität <strong>und</strong> ihre Widerspiegelung in der Nachkriegsgeschichte <strong>und</strong><br />

ihrer Familienbiographie (Stufe II der <strong>Quellenarbeit</strong>). Hier lassen sich Schnittstellen<br />

nachweisen: Wie hat meine Familie, seien es die Eltern-, seien es die Großeltern, die<br />

Folgen des Nation<strong>als</strong>ozialismus <strong>und</strong> des Zweiten Weltkriegs verarbeitet? Hat sie<br />

familiäre Verstrickungen verschwiegen, abgewehrt oder sich ihnen gestellt? 63 Wie hat<br />

61<br />

Zur Biografiearbeit Tony Ryan, Rodger Walker: Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen. Weinheim <strong>und</strong> Basel 1997.<br />

62<br />

Entwicklung des Ichs. Herausgegeben von Rainer Döbert, Jürgen Habermas <strong>und</strong> Gertrud Nunner-<br />

Winkler. Königstein/Ts. 1980. Seiten 9f.<br />

63<br />

Darüber gibt es eine umfangreiche psychologisch, zum Teil auch historisch orientierte Literatur über<br />

Nachkömmlinge von NS-Opfern <strong>und</strong> NS-Tätern: Helen Epstein: Die Kinder des Holocaust. Gespräche<br />

mit Söhnen <strong>und</strong> Töchtern von Überlebenden. München 1987; Peter Sichrovsky: Schuldig geboren.<br />

Kinder aus Nazifamilien. Köln 1987; Alexander <strong>und</strong> Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu<br />

trauern. Gr<strong>und</strong>lagen kollektiven Verhaltens. München 1967; Anita Eckstaedt: Nation<strong>als</strong>ozialismus in<br />

78


sie auf den Verlust der Heimat durch Vertreibung, Flucht oder Deportation reagiert?<br />

Wie auf die Jahre der Besatzung, des Hungerns, der Kälte <strong>und</strong> der materiellen Not,<br />

die der heutigen jungen Generation nur vom Hörensagen bekannt sind? Warum<br />

befinde ich mich <strong>als</strong> Migrantenkind in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> welche familiären,<br />

persönlichen, schulischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Nach- <strong>und</strong> Vorteile ergeben sich<br />

daraus? Warum kann ich trotz guter oder gleichwertiger schulischen Leistungen<br />

anders <strong>als</strong> Mitschüler/innen nicht das Gymnasium besuchen <strong>und</strong> studieren, obwohl<br />

verfassungsrechtlich nach Artikel 3 Gr<strong>und</strong>gesetz die Gleichheit vor dem Gesetz<br />

festgeschrieben ist? (1.6.) Welche Folgen hatte für mich <strong>als</strong> Bürger/in der alten BRD<br />

oder der ehemaligen DDR die deutsche Einheit, die völkerrechtlich gelöst, aber im<br />

Innern noch lange nicht vollendet ist? Immerhin vermisst nach einer repräsentativen<br />

Umfrage vom 29. <strong>und</strong> 30 August 2003 jeder dritte Ostdeutsche den DDR-Alltag<br />

(34%) <strong>und</strong> fast jeder vierte (23%) teilweise, so dass von einer "Ostalgie" <strong>als</strong><br />

Verklärung des SED-Staates gesprochen werden kann. 64 Kurzum: Sich mit<br />

Geschichte zu befassen, befähigt dazu, zu den eigenen Wurzeln <strong>und</strong> Quellen<br />

zurückzufinden <strong>und</strong> sie offen zu legen. Dies kann Energien freisetzen, die schwarze<br />

Löcher verschlungen haben, <strong>und</strong> Weichen für neue (alternative?) Lebensweisen<br />

stellen.<br />

Die Datenbank stellt Quellen zur Verfügung <strong>und</strong> spiegelt Geschichte <strong>und</strong> Politik<br />

wider, ohne fertige Antworten auf Fragen zu geben, die sie aufwerfen. Dies bleibt<br />

einem - oft auch schmerzlichen - Selbstfindungs- oder Selbstvergewisserungsprozess<br />

überlassen. So gesehen können Geschichte <strong>und</strong> Politik kreativ<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> zur Selbstentfaltung genutzt werden. Ohne Geschichte ist Ich-<br />

Identität nicht denkbar.<br />

Artikel 2 Absatz 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes lautet: "Jeder hat das Recht auf die freie<br />

Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt <strong>und</strong> nicht<br />

gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Darauf wird<br />

bei den didaktischen Zielsetzungen <strong>und</strong> bei der Vorstellung der Neuen Politischen<br />

Bildung (NPB) näher eingegangen ( 4.2.-1. <strong>und</strong> -2. <strong>und</strong> 6.4.).<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen der sek<strong>und</strong>ären historischen Spiegelfunktion sind<br />

erschöpft dort, wo Einstellungen <strong>und</strong> Vorurteile so tief im Charakter wurzeln, dass sie<br />

der "zweiten Generation". Frankfurt a. M. 1989 (Traumatisierungen durch Kriegs- <strong>und</strong><br />

Nachkriegserlebnisse: Seiten 27ff.); zur Tochter eines SS-Offiziers Dörte von Westernhagen: Die<br />

Kinder der Täter. Das Dritte Reich <strong>und</strong> die Generation danach. München 1991. - Zu Gr<strong>und</strong>satzfragen:<br />

Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte <strong>und</strong> Psychoanalyse. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974.<br />

64 AP-Meldung vom 3. September 2003 nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag des "stern". Befragt<br />

wurden 802 repräsentativ ausgesuchte B<strong>und</strong>esbürger in Ost <strong>und</strong> West. - Zu den Folgen der<br />

deutschen Einheit <strong>und</strong> des "real existierenden Sozialismus": Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau.<br />

Ein Psychogramm der DDR. München 1992; Derselbe: Das gestürzte Volk oder die unglückliche<br />

Einheit. Berlin 1991; aus kirchlicher Sicht Heiner Keupp: Psychologisches Handeln in der<br />

Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven. München 1994. Seiten 128ff., 133ff. über<br />

Folgen der deutschen Einheit.<br />

79


Persönlichkeitslücken füllen <strong>und</strong> insoweit eine Selbsterhaltungsfunktion ausüben.<br />

Radikale Ideologien, weltanschaulich verbrämt, können so <strong>als</strong> intrapsychische<br />

Selbstobjekte integriert <strong>und</strong> mit narzisstischer Libido besetzt werden. Die damit<br />

entstandene brüchige Ich-Identität muss zwanghaft oder fanatisch aufrechterhalten<br />

werden, um Tendenzen der Selbstauflösung (Fraktionierung), des Selbstverlustes<br />

(Depression) <strong>und</strong> zuletzt des Suizids oder Amoks abzuwehren. Solche politisch links-<br />

oder rechtsextremistische Konfigurationen des Größen-Selbst, die oft mit Rache-,<br />

Vernichtungs- oder Allmachtsphantasien sowie dogmatischen Glaubensgewissheiten<br />

einhergehen, sind meistens resistent gegen historische Aufklärungs- <strong>und</strong><br />

Überzeugungsarbeit, oft auch gegenüber langjähriger Psychotherapie. Politische<br />

Bildung ist insoweit a priori zum Scheitern verurteilt, kann sogar dazu führen,<br />

Extremismus <strong>als</strong> Martyrium zu heroisieren.<br />

2.10. Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum): Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong><br />

Leitmotiv der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.<br />

Es ist der Endzweck dieser Quellendatenbank, jungen <strong>und</strong> alten Menschen ein<br />

weitverzweigtes Übungs- <strong>und</strong> Lernfeld zu bieten, damit sie den Herausforderungen<br />

des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen sind. Wenn sie zu lernen<br />

bereit sind, sich die Nachkriegsgeschichte zu vergegenwärtigen <strong>und</strong> sich in ihr zu<br />

spiegeln, können sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen <strong>und</strong> sich in ihr<br />

wiederfinden. So gesehen ist Geschichte kein Ensemble von Daten, Ereignissen,<br />

Normen <strong>und</strong> Geschehnissen in ihrer Kontinuität oder Diskontinuität, sondern die in<br />

der Gegenwart Gestalt gewordene Vergangenheit des kreativ wahrnehmenden Ichs.<br />

Wer sich so mit Geschichte <strong>und</strong> Politik auseinandersetzt, erfährt sehr viel über<br />

<strong>Deutschland</strong>, Europa <strong>und</strong> ihre Außenbeziehungen, über sein Volk <strong>und</strong> seine<br />

Nachbarvölker (Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>), aber darüber hinaus auch über sich selbst<br />

<strong>und</strong> seine Familie (Stufe II der <strong>Quellenarbeit</strong>). Oft können sich dann erst die Pforten<br />

zu Lebenswelten öffnen, die schwarze Löcher verschlungen hatten.<br />

Statt unkritisch an alten persönlichen, ideologischen oder politischen Einstellungen<br />

<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen Lebensgewohnheiten festzuhalten, ermöglicht die<br />

Demokratie den Menschen, vielfältige Informationsquellen zu nutzen, um sich von<br />

Fesseln zu befreien, die ihnen andere oder sie sich selbst angelegt haben. Sich<br />

selbst entfalten kann nur, wer in einer freien <strong>und</strong> offenen Gesellschaft lebt <strong>und</strong> die<br />

Chancen nutzt, die sie bietet - nicht theoretisch-abstrakt, sondern praktisch-konkret.<br />

Aber auch umgekehrt: Mündige Bürger, die selbstbestimmt sind, braucht die<br />

Demokratie, damit sie leben <strong>und</strong> nicht nur überleben kann.<br />

Im Informationszeitalter ist nichts so beständig wie der Wandel. Er allein ist konstant<br />

<strong>und</strong> zugleich variabel. Dieser Widerspruch in sich ist nur durch <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong><br />

auflösbar. Lebenslanges <strong>Lernen</strong> - so heißt das eherne Gesetz, das für alle gilt: für<br />

80


Jung <strong>und</strong> Alt, für Arm <strong>und</strong> Reich, für Kranke, Behinderte <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>e, für<br />

Berufstätige, Arbeitslose, Rentner <strong>und</strong> Pensionäre. Wer nicht lernt oder zu lernen<br />

vermag, der rostet, erstarrt, vegetiert dahin <strong>und</strong> stirbt - nicht gleichbedeutend mit<br />

dem physischen Tod, aber mit dem geistigen. Wer nur in Schule <strong>und</strong> Beruf lernt,<br />

vergreist schon in jungen <strong>und</strong> mittleren Lebensjahren.<br />

Wer zu lernen bereit <strong>und</strong> imstande ist, kann auch im Alter trotz ges<strong>und</strong>heitlicher<br />

Beschwerden selbstbestimmt statt fremdbestimmt leben, solange seine geistigen<br />

Fähigkeiten ihm ermöglichen, Informationen zu beschaffen, zu verarbeiten <strong>und</strong> sie<br />

<strong>als</strong> Wissen zu nutzen. "Es ist ja keineswegs so, daß im hohen Alter mit der<br />

körperlichen Kraft die geistige nachlassen <strong>und</strong> erlahmen muß. Im Gegenteil, es sind<br />

sehr viele Fälle bekannt, in denen gerade im hohen Alter ein Höchstmaß an geistiger<br />

Leistungsfähigkeit erreicht wurde. Hier zeigt sich übrigens auch, daß der Mensch<br />

nicht allein mit biologischen Maßstäben gemessen werden kann." 65<br />

In Abänderung des cartesischen Leitspruchs "Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich" (cogito, ergo<br />

sum) <strong>und</strong> übertragen auf das Informationszeitalter lautet das Leitmotiv der<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum). Descartes<br />

ging es darum, die Selbstgewissheit des denkenden Ichs zu begründen. Deshalb<br />

hatte er alles menschliche Wissen bezweifelt <strong>und</strong> methodisch darauf hin überprüft,<br />

ob es wahr oder f<strong>als</strong>ch, gewiss oder ungewiss sei. Das Ich, das solche Aussagen<br />

macht, so Descartes, ist die menschliche Basis allen Zweifelns <strong>und</strong> Wissens <strong>und</strong><br />

deshalb unabhängig davon, ob seine Schlussfolgerungen, die es zieht, richtig oder<br />

f<strong>als</strong>ch sind (2.8.). Die "Person" ist kein Konglomerat aus Geist <strong>und</strong> Körper, sondern<br />

eine essentielle <strong>und</strong> funktionale Einheit aus beiden, die den emotionalen Bereich<br />

(Empfindungen) mit einschließt. Die Rückwendung des Menschen auf sich selbst<br />

ermöglicht, die eigene Leistungsfähigkeit bis an die Grenzen dessen, was erreichbar<br />

<strong>und</strong> unerreichbar ist, auszuloten. Die Vorgehensmethode, deren sich Descartes<br />

bedient, ist die Reflexion, die Rückwendung auf sich selbst.<br />

Im Informationszeitalter, unter gr<strong>und</strong>legend geänderten Lebensverhältnissen <strong>und</strong><br />

Lebenserwartungen, geht es weniger um die Selbstvergewisserung des Ichs,<br />

sondern darum, das Ich durch <strong>Lernen</strong>, das die Reflexion mit einschließt, lebenslang<br />

zu trainieren <strong>und</strong> so fit bis in das hohe Alter zu halten. Erst dann kann das jeweilige<br />

Ich, zu dem auch das körperlich-emotionale Selbst gehört, das Potenzial eigener<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten ausschöpfen - bis zum Lebensende.<br />

Zeitgeschichte, die auf Quellen menschlicher Existenz beruht, kann dazu verhelfen:<br />

Nicht durch Auswendiglernen von Namen, Daten, Texten, Ereignissen, wie früher<br />

<strong>und</strong> zum Teil auch heute noch in Schulen üblich, nicht durch historisches Wissen<br />

allein, auch noch nicht durch Deuten geschichtlicher Zusammenhänge, sondern in<br />

65<br />

Karl Bednarik: Die Lerngesellschaft. Das Kind von heute - der Mensch von morgen. Wien/München<br />

1966. Seiten 81f.<br />

81


der Vergegenwärtigung oder Spiegelung der Vergangenheit im kreativ<br />

wahrnehmenden Ich. Geschichte ist nicht tot, sie lebt in uns fort.<br />

Sich in der Informationsgesellschaft nach Artikel 2 Absatz 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

entfalten heißt: Sich mit sich selbst auseinandersetzen, sein Leben nach eigenen<br />

Erfahrungen zu gestalten <strong>und</strong> dabei alle Informationen zu nutzen, die zuverlässige<br />

<strong>und</strong> vielfältige Informationsquellen zur Verfügung stellen. So gesehen erweist <strong>und</strong><br />

beweist sich Leben <strong>als</strong> ein ununterbrochener Lernprozess, der mit dem Tod endet.<br />

Die D-Dok. bietet dazu historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen an,<br />

die thematisch breit gestreut <strong>und</strong> fünfsprachig sind. Da <strong>Quellenarbeit</strong> das<br />

lebenslange <strong>Lernen</strong> nicht nur fördern will, sondern auch fordert, heißt der Leitspruch:<br />

"Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum).<br />

Dieses Leitmotiv richtet sich gegen den alltäglichen Narzissmus des Konsums (u. a.<br />

des Fernsehens), des Geldes <strong>und</strong> des "fertigen" Wissens: Consumo, ergo sum. Es<br />

ist der Tanz um das goldene Kalb im Informationszeitalter. Wer nichts hat, muss<br />

kompensieren, um imponieren zu können <strong>und</strong> keine Null zu sein: durch körperliche<br />

Stärke, "Schönheit", Attraktivität, Sexualität, Alkohol, Drogen u. ä., durch<br />

Extremismus, Aggression, Gewalt, Wut oder Hass - bei Jungen meist nach außen<br />

gerichtet, bei Mädchen eher nach innen gewendet. So endet der Amoklauf des<br />

Geldes <strong>und</strong> des Konsums oft im Amoklauf gegen das eigene oder ein fremdes<br />

Selbst.<br />

Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />

an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen<br />

(<strong>Quellenarbeit</strong>) gelingt, verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />

Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />

82


3. Schranken, Kritik, Voraussetzungen <strong>und</strong> Modelle der<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong><br />

Hürden - Didaktikerstreit - Lehrpläne <strong>und</strong> Frontalunterricht<br />

- Drei Vorschläge<br />

Wer quellenorientiert, computergestützt <strong>und</strong> damit zugleich interdisziplinär<br />

unterrichten oder lernen will, steht vor drei Hürden. Sie sind zu überwinden, wenn Sie<br />

sich mit den in Ihnen verinnerlichten Barrieren <strong>und</strong> Abwehrhaltungen gegen<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>, gegen den Computereinsatz in Hochschulen <strong>und</strong> Schulen sowie<br />

gegen interdisziplinäres Arbeiten auseinandersetzen. Ein erster Schritt dazu ist,<br />

Vorbehalte <strong>und</strong> Einwände kennen zu lernen <strong>und</strong> ihr Für <strong>und</strong> Wider - Pro <strong>und</strong> Kontra -<br />

abzuwägen.<br />

3.1. Die erste Hürde: <strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong> - ein kritischer<br />

Rückblick<br />

Trotz früher aufklärerischer Ideen <strong>und</strong> Initiativen, die bereits vor über 200 Jahren<br />

forderten, Quellen im Unterricht einzusetzen <strong>und</strong> damit kritisches Denken zu fördern,<br />

blieb in <strong>Deutschland</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> verpönt <strong>und</strong> instrumentalisiert. 66 Der Stoff, aus<br />

dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird, sollte allenfalls dazu dienen, den<br />

Lehrervortrag zu veranschaulichen oder Schulbuchmeinungen zu illustrieren.<br />

Noch in der Weimarer Republik galt ein Geschichtsunterricht, der nur auf Quellen<br />

aufbaut, <strong>als</strong> "dilettantischer Unverstand". 67 Dass in der NS-Zeit alle Quellen<br />

verdächtig waren, die nicht in die nation<strong>als</strong>ozialistische Ideologie passten, versteht<br />

sich von selbst. Hauptquelle wurde Hitlers "Mein Kampf", das Vorbild sein<br />

Geschichtslehrer an der Linzer Re<strong>als</strong>chule; denn er verstand "nicht nur zu fesseln,<br />

sondern wahrhaft mitzureißen". 68<br />

66 Zur Geschichte des Quelleneinsatzes vgl. Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die<br />

schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2000. Seiten 74ff.; Gerhard Schneider<br />

(Hg.): Die Quelle im Geschichtsunterricht. Beiträge aus Theorie <strong>und</strong> Praxis. Donauwörth 1975. Seiten<br />

24ff. Quellensammlungen <strong>und</strong> Materialien für den Geschichtsunterricht sind auf den Seiten 260 - 263<br />

zusammengestellt.<br />

67 Pandel: Quelleninterpretation. Seite 82 (dort ist allerdings kein überprüfbarer Beleg angegeben).<br />

68 Schneider: Die Quelle...Seiten 40ff., zit. 42; Pandel: Quelleninterpretation. Seiten 84ff., zit. 85.<br />

83


Unter umgekehrten Vorzeichen erhielten Quellen in der DDR den Auftrag,<br />

"Parteilichkeit" im Sinne der SED zu demonstrieren. Quellen hatten daher einen<br />

"Klassencharakter" mit der Folge, dass nicht mehr zwischen Quellen <strong>und</strong><br />

Darstellungen unterschieden wurde. Soweit sie "von fortschrittlichen Kräften"<br />

stammten, galt es, sie "entsprechend den Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungszielen unserer<br />

sozialistischen Schule" auszuwählen. 69 Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer mussten daher in der<br />

DDR ihre "Fortschrittlichkeit" <strong>und</strong> "Zuverlässigkeit" mit Quellenzitaten beweisen,<br />

offenbaren oder vorspiegeln.<br />

In der BRD orientierte sich der Geschichtsunterricht bis in die 70er Jahre in der<br />

Regel an der "Lehrerpersönlichkeit", an seinem "Geschichtsbild" <strong>und</strong> an seiner<br />

"Geschichtserzählung" - mit anderen Worten: an der im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

vorherrschenden Leitdoktrin. 70 Woher das "Geschichtsbild" <strong>und</strong> die<br />

"Geschichtserzählung" stammten, wurde nicht überprüft <strong>und</strong> schon gar nicht<br />

hinterfragt.<br />

So beeinflusste z. B. der berühmte Pädagoge Erich Weniger (1894 - 1961) noch über<br />

seinen Tod hinaus lange die Didaktik <strong>und</strong> den Unterricht an deutschen Schulen: "Der<br />

Geschichtslehrer gibt sein Geschichtsbild <strong>und</strong> wird daher in erster Linie zu erzählen<br />

haben. Der Bericht ist die Urform der Geschichte <strong>und</strong> der geschichtlichen<br />

Unterweisung .... Quellenbenutzung <strong>und</strong> die Lektüre einzelner Abschnitte aus den<br />

Werken großer Historiker dienen der Veranschaulichung. Im Mittelpunkt aber steht<br />

der lebendige Vortrag des Geschichtslehrers." 71 Bedauerlich ist, dass Weniger, der<br />

sich große Verdienste um die politische Bildung erworben hat, seine altväterischen<br />

Lehren <strong>als</strong> "neue Wege im Geschichtsunterricht"(1949) plakatierte <strong>und</strong> damit der<br />

soeben gegründeten BRD Hypotheken der Vergangenheit aufbürdete, die bis heute<br />

im Geschichtsunterricht <strong>als</strong> Altlasten nicht getilgt sind.<br />

Immerhin verdammte Weniger "Quellenbenutzung" nicht gr<strong>und</strong>sätzlich, sofern sie<br />

den Lehrervortrag ergänzten <strong>und</strong> damit schmückten oder bestätigten (affirmierten).<br />

Hans Ebeling, Schulrat <strong>und</strong> Verfasser einer wiederholt aufgelegten Methodik des<br />

Geschichtsunterrichts, die "Objektivität <strong>als</strong> höchstes Ziel" forderte, sah in Quellen<br />

69 So Bernhard Stohr: Methodik des Geschichtsunterrichts. Probleme der methodischen Gestaltung<br />

des Geschichtsunterrichts in der allgemeinbildenden polytechnischen Oberstufe. Berlin 1968. Seiten<br />

266, 267. Vgl. dazu auch Hans-Dieter Schmid: Geschichtsunterricht in der DDR. Eine Einführung.<br />

Stuttgart 1979.<br />

70 Dazu Schneider: Die Quelle...Seiten 20f.: Der Lehrer trägt vor, fragt den Geschichtsstoff ab oder<br />

lässt nacherzählen, was "hängen" geblieben ist.<br />

71 Erich Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht. 3. Auflage Frankfurt a. M. 1965. Seite 70. -<br />

Horst Alfred Kuss: Erich Weniger <strong>und</strong> die "neuen Wege" im Geschichtsunterricht. Überlegungen zur<br />

Theorie <strong>und</strong> Rezeption einer politisch orientierten Geschichtsdidaktik. In: GWU 39, 1988. Seiten 476 -<br />

495 beklagt zwar, dass die "konservativen", staatsbejahenden Inhalte rezipiert worden seien, nicht<br />

jedoch "progressive" Anteile, ohne sie zu nennen (Seite 488). Bedenklich sind Begriffe wie<br />

"Volksgemeinschaft" <strong>und</strong> die bei Weniger auf staatsbürgerliche Erziehung reduzierte politische<br />

Bildung.<br />

84


einen "nur illustrativen Wert", der aber mitunter "recht hoch" sein könne. 72 Was er<br />

unter Quelle verstand, ist bei Ebeling wie bei zeitgenössischen Schulpädagogen<br />

verschwommen <strong>und</strong> unreflektiert geblieben.<br />

Nicht nur im Unterricht, auch in Schulbüchern hatten Quellen eine illustrierende<br />

Funktion: Sie sollten Schulbuchmeinungen untermauern <strong>und</strong> damit "objektivieren".<br />

Oft handelte es sich um Großzitate, die nicht belegt <strong>und</strong> aus dem Zusammenhang<br />

gerissen wurden. Dies änderte sich erst in den 70er Jahren.<br />

Fünf Didaktiker sind die Pioniere der Quellennutzung im Geschichtsunterricht: Hans-<br />

Georg Fernis <strong>und</strong> Heinrich Haverkamp, die Quellenbände zu ihren Schulbuchbänden<br />

herausgaben 73 ; Friedrich J. Lucas, dem Quellen nicht nur zur Illustration, sondern<br />

auch zur Urteilsbildung dienten 74 ; Wolfgang Hug, der seine "Geschichtliche<br />

Weltk<strong>und</strong>e" durch "Quellenlesebücher" ergänzte 75 , <strong>und</strong> Heinz Dieter Schmid, der nur<br />

Quellen von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart edierte <strong>und</strong> auf kommentierende<br />

Texte verzichtete. 76 Ihre bahnbrechenden Leistungen werden nicht dadurch<br />

geschmälert, dass sie Quellen gekürzt, <strong>als</strong>o nicht authentisch wiedergegeben <strong>und</strong><br />

häufig gegen editorische Gr<strong>und</strong>sätze verstoßen haben, <strong>und</strong> zwar gravierend.<br />

Zum ersten Mal wurde damit auch eine Bresche in die Verweigerungshaltung der<br />

meisten Schulbuchverlage geschlagen: Sie wollten Schulbücher verkaufen, aber<br />

keine Quellensammlungen. Dass Quellen bis heute Schulbücher illustrieren, statt mit<br />

ihnen zu konkurrieren oder sie zu ersetzen, lag <strong>und</strong> liegt wesentlich auch an den<br />

großen Schulbuchverlagen. Aus kommerziellen Gründen sind sie sehr viel mehr<br />

daran interessiert, Schulbücher statt Quellen zu veröffentlichen. Sie stimmen darin<br />

mit ihren vornehmlich aus Schulen <strong>und</strong> Schulverwaltung kommenden Autoren<br />

überein; denn ihnen liegt verständlicherweise daran, mit klingender Münze am<br />

Geschäftserfolg ihrer Schulbücher beteiligt zu werden.<br />

72<br />

Hans Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts. Berlin 1955. Seiten 15 <strong>und</strong> 51.- Leicht<br />

geänderte 2. Auflage: Zur Didaktik <strong>und</strong> Methodik eines kind-, sach- <strong>und</strong> zeitgemäßen<br />

Geschichtsunterrichts. Hannover 1966.<br />

Seiten 116f. über Quellen.<br />

73<br />

Hans-Georg Fernis, Heinrich Haverkamp u.v.a.: Gr<strong>und</strong>züge der Geschichte. Oberstufe. 2<br />

Textbände, 2 Quellenbände. Diesterweg Frankfurt a. M. 1967ff.<br />

74<br />

Friedrich J. Lucas unter Mitwirkung von Wolfgang Hilligen: Menschen in ihrer Zeit. Klett Stuttgart<br />

1970ff.<br />

75<br />

Wolfgang Hug: Geschichtliche Weltk<strong>und</strong>e. Diesterweg Frankfurt a. M. 1976ff.<br />

76<br />

Heinz Dieter Schmid (Hg.): Fragen an die Geschichte. Geschichtliches Arbeitsbuch für die<br />

Sek<strong>und</strong>arstufe I. Band 1: Weltreiche am Mittelmeer; Band 2: Die europäische Christenheit; Band 3:<br />

Europäische Weltgeschichte; Band 4: Die Welt im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Mehrere Auflagen Hirschgraben<br />

Frankfurt a. M. 1981ff., ab 1984 Cornelsen (Die Erstauflagen konnten nicht beschafft werden.) Durch<br />

ein Sammelsurium von bunten Bildern, Karten, Quellenauszügen, nacherzählten Quellen <strong>und</strong> Texten<br />

entsteht zeitweilig ein "Bilderbuch", die Quellen sind oft verstümmelt wiedergegeben.<br />

85


3.2. Die zweite Hürde: Neue Medien <strong>als</strong> Arbeitsinstrumente <strong>und</strong><br />

Hilfsmittel: Chancen, Abwehrhaltungen, Grenzen <strong>und</strong> Risiken<br />

Hochschulen <strong>und</strong> Schulen sind heute in der Regel technisch mit Computern<br />

genügend ausgestattet <strong>und</strong> verfügen über einen Internetanschluss; doch lässt die<br />

Nutzung dieser Medien zu wünschen übrig. Dies hängt damit zusammen, dass viele -<br />

übrigens nicht nur, aber vornehmlich ältere - Lehrende über keine oder zu geringe<br />

PC-Kenntnisse verfügen, ferner auch damit, dass selbst jene, die mit Computer <strong>und</strong><br />

Internet privat gut umgehen <strong>und</strong> sie nutzen, davor zurückscheuen oder zögern, sie in<br />

Schulen <strong>und</strong> Hochschulen einzusetzen.<br />

Dies liegt folglich nicht daran, dass noch Lücken in der Ausstattung mit Computern<br />

bestehen <strong>und</strong> damit zusammenhängende technische sowie räumliche Einrichtungen<br />

fehlen, um über sie zu verfügen. 77 Hauptgr<strong>und</strong> dafür, dass die neuen Medien unter<br />

Lehrenden vielerorts Misstrauen wecken, auch über den Sinn ihres Einsatzes, sind<br />

Zweifel, Vorhalte <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Ängste, sie seien mit ihren PC-Kenntnissen<br />

den <strong>Lernen</strong>den unterlegen statt ihnen wie bisher "von Amts wegen" überlegen zu<br />

sein.<br />

Je mehr die neuen Medien ihren Einzug in Hochschulen <strong>und</strong> Schulen halten, um so<br />

stärker werden sie folgerichtig das <strong>Lernen</strong> verändern. Frontallehre <strong>und</strong><br />

Frontalunterricht haben ausgedient: Es funktioniert nicht, dass alle zur gleichen Zeit<br />

dasselbe lernen (müssen) <strong>und</strong> der Lehrende darüber allein bestimmt, allein<br />

entscheidet <strong>und</strong> allein vorträgt. Damit ist auch ein Rollenwandel verb<strong>und</strong>en:<br />

Lehrende arrangieren, beraten, koordinieren, begleiten, moderieren, beobachten <strong>und</strong><br />

lernen mit, können dann "fördernde Umwelt" nach dem so oft zitierten Winnicott (1.4.,<br />

2.8.) werden, statt das Lerngeschehen zu diktieren, zu steuern oder zu beherrschen.<br />

You're never too old to learn and you're never too young to teach.<br />

Neue Medien erfordern <strong>als</strong>o <strong>neues</strong> Lehren <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>. Dies ist schnell <strong>und</strong> leicht<br />

gesagt, aber schwer, praktisch umzusetzen. Nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, ist<br />

für viele Lehrende mit Identitäts- <strong>und</strong> Rollenkonflikten belastet, so dass sie emotional<br />

oder gedanklich blockiert sind, traditionelles, d. h. eingeübtes <strong>und</strong> damit<br />

77 Nach einer Bestandsaufnahme des BMBF (B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung) vom Mai<br />

2002 sind 23 Schüler/innen mit einem Computer in den Gr<strong>und</strong>schulen ausgestattet, 17 in den<br />

Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II <strong>und</strong> 13 in den berufsbildenden Schulen. Durchschnittlich verfügt jede<br />

berufsbildende Schule über 81 Computer, jede Sek<strong>und</strong>arschule I <strong>und</strong> II über 25 <strong>und</strong> jede Gr<strong>und</strong>schule<br />

über 10; vgl. IT-Ausstattung der allgemein bildenden <strong>und</strong> berufsbildenden Schulen in <strong>Deutschland</strong>.<br />

Bonn 2002. Seite 7. Der Fragebogen ist auf den Seiten 31 - 32 abgedruckt. - Nach PISA 2000. Seite<br />

438 bietet die materielle Ausstattung mit PC "wenig Anlass, in den schulischen<br />

Ausstattungsbedingungen einen besonderen Problembereich zu sehen".<br />

Über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Internetnutzung in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> die "digitale<br />

Spaltung" unterrichtet die von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen herausgegebene<br />

Studie: Internet 2002. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> die digitale Welt. Internetnutzung <strong>und</strong> Medieneinschätzung in<br />

<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> Nordrhein-Westfalen im internationalen Vergleich. Opladen 2003.<br />

86


"eingefleischtes" Verhalten in Frage zu stellen. Für viele bedeutet dies, wie Thomas<br />

Ziehe mit Recht betont hat (1.5.), "Herrschaft" zum eigenen Nachteil abzubauen, sich<br />

selbst zu entmachten <strong>und</strong> auf narzisstische Gratifikationen zu verzichten. Dies gilt<br />

vor allem für Lehrende mit schwachem Selbstwertgefühl. Es geht oft mit<br />

Unsicherheitsgefühlen einher, sagt aber nichts über die tatsächlichen fachlichen oder<br />

pädagogischen Qualifikationen aus.<br />

Sich zu verändern, fällt auch "autoritären" Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern sehr schwer. Sie<br />

sind vorwiegend zwanghaft strukturiert, weniger narzisstisch besetzt. Oft in<br />

patriarchalischen oder matriarchalischen Familien aufgewachsen, übertragen<br />

(projizieren) sie das Sagen, das ein Elternteil hatte, auf das Klassenzimmer. Sie<br />

wittern dann hinter Unordnung, Unruhe, Gelächter oder Unregelmäßigkeiten einen<br />

Machtkampf, den sie gegen die oder einzelne Schüler/innen unbedingt gewinnen<br />

"müssen", um das drohende "Chaos" zu bändigen <strong>und</strong> so ihrem Autoritätsverlust<br />

vorzubeugen.<br />

Computer sind Hilfsmittel <strong>und</strong> Werkzeuge für <strong>neues</strong> <strong>und</strong> effizientes <strong>Lernen</strong>, aber kein<br />

Allheilmittel. Sie können Lehrende ebenso wenig ersetzen, wie der von<br />

Skinner/Watson in den 60er Jahren vertretene Behaviorismus, der erstrebte, sie<br />

letzten Endes durch Operantes Konditionieren <strong>und</strong> Programmierten Unterricht<br />

überflüssig zu machen. Computer Based Training (CBT) <strong>als</strong> offline- <strong>und</strong> Web Based<br />

Training (WBT) <strong>als</strong> online-Angebote können Lehrende entlasten <strong>und</strong> unterstützen<br />

<strong>und</strong> den <strong>Lernen</strong>den helfen, weitgehend selbstbestimmt statt fremdbestimmt zu lernen<br />

- mehr nicht.<br />

Wenn Computer Arbeitsinstrumente <strong>und</strong> Hilfsmittel sind, dann haben sie keinen<br />

Selbstzweck <strong>und</strong> keine Funktionen <strong>als</strong> Stimulantien oder Beruhigungsmittel. Schon<br />

heute gibt es, vor allem unter Jugendlichen, Computer- <strong>und</strong> Internet-Freaks <strong>als</strong><br />

scheinbare Alleskönnner - aber die deutsche Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />

beherrschen sie nur bedingt, <strong>und</strong> leseschwach sind obendrein. Etwa 3% aller<br />

deutschen Onliner zwischen 14 <strong>und</strong> 59 Jahren gelten <strong>als</strong> webabhängig. Sie<br />

reagieren mit Nervosität, Gereiztheit oder sogar depressiven Verstimmungen, wenn<br />

sie nicht - oft bis in die Nacht hinein <strong>und</strong> bis zur Erschöpfung - surfen, spielen <strong>und</strong><br />

chatten können. 78 Dass sie im Netz virtuelle Anerkennung <strong>und</strong> ihnen fehlende<br />

Kontakte suchen, deutet auf narzisstische Dysfunktionen <strong>und</strong> ein inkohärentes Selbst<br />

hin (1.4.). Die "Droge Internet" ist auch deshalb ein "ideales" heimliches Suchtmittel,<br />

weil es innerhalb der geschützten eigenen vier Wände grenzenlos, ständig verfügbar<br />

<strong>und</strong> nicht zuletzt auch finanzierbar ist.<br />

78 Droge Internet. In: Focus Nr. 27 vom 30. Juni 2003. Seiten 86 - 88.<br />

87


3.3. Die dritte Hürde: Interdisziplinär lehren, forschen <strong>und</strong> lernen<br />

Politische Bildung <strong>als</strong> Beispiel<br />

Die Forderung, interdisziplinär zu lehren, zu forschen <strong>und</strong> zu lernen, wird regelmäßig<br />

erhoben, doch verhallt sie meistens ungehört. In den letzten Jahrzehnten ist der Zug<br />

in die entgegengesetzte Richtung abgefahren. Die wissenschaftlichen Disziplinen<br />

haben sich vervielfacht, neu spezialisiert <strong>und</strong> gegeneinander meist abgeschottet.<br />

Statt über den Tellerrand der eigenen, häufig überbewerteten Disziplin zu sehen <strong>und</strong><br />

sie unter einem anderen Blickwinkel zu relativieren, lehrt, lernt <strong>und</strong> forscht fast jeder<br />

Fachspezialist für sich. Schließlich hängt sein Erfolg davon ab, wie hoch er<br />

spezialisiert ist, <strong>und</strong> davon wiederum Forschungsaufträge <strong>und</strong> -erträge.<br />

Dieser immanenten Tendenz zum Fachidiotismus wirken die neuen Medien<br />

entgegen. Da sie interdisziplinären Charakter haben, treten die fächerübergreifenden<br />

gegenüber den fachspezifischen Prinzipien in den Vordergr<strong>und</strong>. Konkret heißt dies<br />

nicht, über den Disziplinen zu arbeiten, sondern ausgehend von der eigenen<br />

Disziplin mit <strong>und</strong> zwischen den anderen Disziplinen zu forschen <strong>und</strong> sie <strong>als</strong><br />

gleichwertig anzuerkennen.<br />

Politische Bildung ist fächerübergreifend <strong>und</strong> gebietet daher, dass sie in allen <strong>und</strong><br />

nicht nur in historischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Fächern/Disziplinen<br />

unterrichtet wird. In einigen B<strong>und</strong>esländern, die "Weltk<strong>und</strong>e", "Sozialk<strong>und</strong>e",<br />

"Wirtschaft <strong>und</strong> Sozialk<strong>und</strong>e", "Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e", "Wirtschaftslehre/Informatik",<br />

"Wirtschaft <strong>und</strong> Technik", "Wirtschaft <strong>und</strong> Rechtslehre", "politische Bildung" u.a. in<br />

Schulen anbieten, ist Interdisziplinarität verpflichtend. Dies gilt z.B. auch für das Fach<br />

"Sozialwissenschaften" in Nordrhein-Westfalen, das aus Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Politikwissenschaft sowie Soziologie besteht. Meistens kommt es jedoch zu keiner<br />

multidisziplinären Zusammenarbeit, wenn diese Fächer fachfremd <strong>und</strong><br />

nebeneinander unterrichtet werden, z.B. von Geschichtslehrern/innen.<br />

Wenn sich politische Bildung zu sehr auf Geschichte <strong>und</strong> Politik stützt, bleiben<br />

sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> vor allem naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Fächer<br />

ausgeklammert. Wer beispielsweise über "Umwelt" unterrichten will, kann nicht<br />

umhin, die Grenzen zwischen den Disziplinen Wirtschafts-, Rechts- <strong>und</strong><br />

Politikwissenschaft sowie zwischen Chemie, Biologie, Physik <strong>und</strong> Technik zu<br />

überschreiten. Ein Blick in das Angebot der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>und</strong> der Landeszentralen<br />

für politische Bildung beweist, dass naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische<br />

Disziplinen weitgehend ausgeblendet bleiben.<br />

Schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung ist ein Hauptanliegen der D-Dok.<br />

Sie enthält in den in ihr gespeicherten historisch-politischen <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftlichen Quellen sek<strong>und</strong>är auch Angebote für den Unterricht in<br />

88


geisteswissenschaftlichen Fächern wie Fremdsprachen, Deutsch, Philosophie, Kultur<br />

sowie naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Randbereiche, z. B. der Chemie. In<br />

Ansätzen ist damit der Anfang gemacht, politische Bildung interdisziplinär auch auf<br />

mathematisch-naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Fächer auszuweiten (6.3.).<br />

3.4. Der Didaktikerstreit: <strong>Quellenarbeit</strong> im Fadenkreuz der Kritik <strong>und</strong><br />

Polemik<br />

In der Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht" (GWU), dem<br />

Fachorgan des Verbandes der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s, eröffnete<br />

Oberstudiendirektor Dr. Gerhard Schoebe 1983 eine Polemik gegen <strong>Quellenarbeit</strong><br />

<strong>als</strong> "eine in den Schulen real anzutreffende Unterrichtspraxis". 79 Erzürnt hatten ihn<br />

Heinz Dieter Schmids Aufsatz "Entwurf einer Geschichtsdidaktik der Mittelstufe", der<br />

sehr viele Belege enthält, sowie dessen <strong>und</strong> Grolles Quellensammlungen ("Schmid-<br />

Grolle-Rezeptur"). 80<br />

Trotz der "polemischen, sich wissenschaftlich aufplusternden <strong>und</strong> oftm<strong>als</strong> unklaren<br />

<strong>und</strong> widersprüchlichen Diktion", die Margarete Dörr (Seite 318) in ihrer Entgegnung<br />

beklagt hat, sollten sich alle, die <strong>Quellenarbeit</strong> beabsichtigen, mit den Einwänden<br />

Schoebes <strong>und</strong> dem von ihm ausgelösten - von mir so genannten - Didaktikerstreit<br />

auseinandersetzen. Er wurde vornehmlich, aber nicht nur in der GWU ausgetragen. 81<br />

79<br />

Gerhard Schoebe: Quellen, Quellen, Quellen...Polemik gegen ein verbreitetes Unterrichtskonzept.<br />

In: GWU 34, 1983. Seiten 298 - 317.<br />

80<br />

Heinz Dieter Schmid: GWU 21, 1970. Seiten 340 - 363; Fragen an die Geschichte. Geschichtliches<br />

Arbeitsbuch für die Sek<strong>und</strong>arstufe I. 4 Bände. Frankfurt a. M. 1981ff..; Ingeborg <strong>und</strong> Joist Grolle u. v.<br />

a.: erinnern <strong>und</strong> urteilen. Unterrichtseinheiten Geschichte. 4 Bände. Klett Stuttgart 1. Auflage 1977 -<br />

1986. In der Zeitschrift waren zuvor bereits Beiträge zur <strong>Quellenarbeit</strong> erschienen, die sich auf die<br />

Oberstufe bezogen, zum Teil jedoch auch Quellen - wie Renz - nicht nur zur "Illustration", sondern <strong>als</strong><br />

"das Mittel" im Unterricht befürworteten. Gerhart Bürck: Die Quellenbehandlung auf der Oberstufe. In:<br />

GWU 8, 1957. Seiten 152 - 169; Paul Zimmermann: Betrachtungen über Textbehandlung auf der<br />

Oberstufe. In GWU 7, 1956. Seiten 273 - 280; Friedrich J. Lucas: Zur Geschichts-Darstellung im<br />

Unterricht. In: GWU 16, 1965. Seiten 285 - 298; Gisela Wagner: Quellen <strong>und</strong> Quelleninterpretation im<br />

Unterricht der Geschichte <strong>und</strong> Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e. In: GWU 20, 1969. Seiten 160 - 172; Kurt Fina:<br />

Die Quelle im Geschichtsunterricht. In: GWU 21, 1970. Seiten 615 - 634; Rudolf Renz: Prinzipien<br />

wissenschaftlicher Quellenanalyse <strong>und</strong> ihre Verwertbarkeit im Geschichtsunterricht. In: GWU 22,<br />

1971. Seiten 536 - 551.<br />

81<br />

Margarete Dörr: Quellen, Quellen, Quellen - <strong>und</strong> die Alternative? Erwiderung auf den Aufsatz von G.<br />

Schoebe. In: GWU 34, 1983. Seiten 318 - 329; Joachim Rohlfes: Und noch einmal: Quellen. In: GWU<br />

34, 1983. Seiten 330 - 344; Hilke Günther-Arndt: Der grüne Wollfaden oder Was heißt "Geschichte<br />

erzählen" heute? Zu alten <strong>und</strong> neuen Problemen der Geschichtsdarstellung in Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Unterricht. In: GWU 36, 1985. Seiten 684 - 704; Rainer Bölling: Neue Quellen für den<br />

Geschichtsunterricht - allzu wörtlich genommen. In: GWU 43, 1992. Seiten 620 - 628; Peter Völker:<br />

Eine 'neue Krise' des Geschichtsunterrichts? In: GWU 44, 1993. Seiten 617 - 626; Gerhard Schneider:<br />

Über den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht. In: GWU 45, 1994. Seiten 73 - 90; Rainer<br />

Walz: Geschichtsbewußtsein <strong>und</strong> Geschichtsdidaktik. Eine Kritik der didaktischen Konzeption von<br />

89


Stichwortartig zusammengefasst, ergeben sich folgende Haupteinwände gegen<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>:<br />

-1. Editorische Mängel: "quellenk<strong>und</strong>liche Nachlässigkeit"; Quellenauszüge sind zu<br />

kurz ("Schmidsche Schnitzel-Rezept") <strong>und</strong> "geistige Hochstapelei"; unzuverlässige<br />

Editionen ohne Quellenauthentizität (Bölling); Textverkürzungen <strong>als</strong> Eingriffe <strong>und</strong><br />

Verstümmelungen<br />

von Quellen (Rohlfes u.a.).<br />

-2. Erhöhter Zeitaufwand: Zeiteinheiten einer Schul- oder Doppelst<strong>und</strong>e sind für<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> zu kurz.<br />

-3. "Unpädagogische Authentizitätsfixierung" <strong>und</strong> "Authentizitätsorientierung" sind ein<br />

"Authentizitäts-tique" (gemeint Tic). "Objektivität hat ihr Sein nicht auf der Seite der<br />

Dinge. Ihr Seinsort ist vielmehr auf der Subjekt-Seite. Objektivität hat ihr Sein <strong>als</strong><br />

Objektivitätsstreben der Lehrer" (Schoebe, Seite 308). Irrtümlich wäre anzunehmen,<br />

die Quelle sei der historischen Darstellung bezüglich ihrer Authentizität <strong>und</strong> ihres<br />

'Wahrheitsgehaltes' im Allgemeinen überlegen; eher dürfte das Gegenteil zutreffen<br />

(Rohlfes, Seite 337).<br />

-4. "Methodische Einförmigkeit" der <strong>Quellenarbeit</strong>; sie ist oft ohne "emotionalassoziativen<br />

Bezug".<br />

-5. <strong>Quellenarbeit</strong> überfordert Schüler. Sie wissen nichts oder zu wenig, sind unsicher.<br />

Deshalb haben sie "Angst", "Minderwertigkeitsgefühle" <strong>und</strong><br />

"Gefolgsschaftsbedürfnis"; "Nachplappern des Quelleninhalts" (Schneider, Seite 81).<br />

-6. Schüler können "zwischen Wesentlichem <strong>und</strong> Unwesentlichem nicht<br />

unterscheiden"; aus Mosaiksteinen <strong>und</strong> Details der Quellen entsteht kein<br />

"zusammenfassendes Mosaikbild geschichtlicher Zustände"; es ergeben sich durch<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> keine "dauerhaften Kenntnisse" (Schoebe, Seite 300) <strong>und</strong> keine<br />

"endgültigen Erkenntnis-Ergebnisse" (Schoebe, Seite 302).<br />

Jörn Rüsen <strong>und</strong> Hans-Jürgen Pandel. In: GWU 46, 1995. Seiten 306 - 321; Hans-Jürgen Pandel <strong>und</strong><br />

Jörn Rüsen: Bewegung in der Geschichtsdidaktik? Zum Versuch von Rainer Walz, durch Polemik eine<br />

Bahn zu brechen. In: GWU 46, 1995. Seiten 322 - 329; Joachim Rohlfes: Arbeit mit Textquellen. In:<br />

GWU 46, 1995. Seiten 583 - 590; Rainer Walz: Eine Fortführung der Debatte mit Jörn Rüsen <strong>und</strong><br />

Hans-Jürgen Pandel. In: GWU 47, 1996. Seiten 89 - 92; Hans-Jürgen Pandel <strong>und</strong> Jörn Rüsen:<br />

Erneute Entgegnung auf Rainer Walz. In: GWU 47, 1996. Seiten 93 - 95; Martin Zurwehme:<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der Bearbeitung von Quellen für den Geschichtsunterricht. In: GWU 47,<br />

1996. Seiten 189 - 197. Vgl. dazu auch Geschichtsunterricht heute. Gr<strong>und</strong>lagen, Probleme,<br />

Möglichkeiten. Sammelband GWU-Beiträge der neunziger Jahre. Seelze-Velber 1999 <strong>und</strong> Hans-<br />

Jürgen Pandel: Quelleninterpretation....Seiten 90 - 93.<br />

90


-7. <strong>Quellenarbeit</strong> ist nicht "entwicklungsstufengerecht" <strong>und</strong> deshalb<br />

"entwicklungspsychologisch" nicht zu verantworten, da Schüler gegen sie ein<br />

"prinzipiell kritisches bis mißtrauisches Verhalten" (Schoebe, Seite 304) haben.<br />

-8. Geschichte <strong>als</strong> res gestae: "Der Gegenstand des Geschichtsunterrichts sind<br />

primär geschichtliche Sachverhalte. Also nicht die 'fontes', sondern die 'res gestae'<br />

selbst..."(Schoebe, Seite 311).<br />

-9. Humanitas-Frage: Lehrer steht nicht mehr im Mittelpunkt. "Papier ist nicht<br />

Person". Der Lehrer sollte "sich eingestehen, daß er es ist, der die Geschichte lehrt,<br />

<strong>und</strong> daß nicht die Schüler sie sich selbst lehren" (Schoebe, Seite 309).<br />

-10. "Arbeitsunterricht" <strong>und</strong> "Wissenschaftspropädeutik" entspringen einem<br />

"verfehlten didaktischen Gr<strong>und</strong>ansatz für das derzeitige staatliche Schulwesen" <strong>und</strong><br />

bedeuten "in vielen Fällen eine Vergewaltigung der Lehrer-Individualität" (Völker,<br />

Seiten 619f.).<br />

Sie sollten, bevor Sie urteilen, selbst in der GWU nachlesen, damit Sie sich Ihre<br />

eigene Meinung aus erster Hand bilden können. Denn damit fällt eine<br />

Gr<strong>und</strong>satzentscheidung, die Sie unbeeinflusst von mir <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok.<br />

<strong>und</strong> Autor dieses Begleitbuches treffen sollten: ob Sie mit Quellen in Schulen <strong>und</strong> in<br />

der politischen Bildung arbeiten können, sei es auch nur probeweise, oder<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht.<br />

Zu 1. Die Kritik ist voll gerechtfertigt. Sie sollte allerdings nicht außer Acht lassen,<br />

dass die ersten gedruckten Quelleneditionen für Schulen (nicht für die Wissenschaft)<br />

trotz ihrer schwerwiegenden Mängel eine Schrittmacherfunktion erfüllt haben <strong>und</strong>,<br />

solange sie nicht elektronisch gespeichert werden konnten, die Quellenauswahl<br />

kürzen mussten, um Platz zu sparen. Die von Schoebe (Seite 305) geforderte<br />

"Auswertung aller in Frage kommenden Quellen" ist unmöglich <strong>und</strong> führt jede<br />

Quellenedition ad absurdum.<br />

Zu 2. Es trifft zu, dass <strong>Quellenarbeit</strong> zeitaufwändig ist. Sie kann nicht im 45- oder 50-<br />

Minuten-Takt "abgehakt" werden <strong>und</strong> scheitert deshalb oft auch an Lehrplan- <strong>und</strong><br />

St<strong>und</strong>enplanvorgaben. Dies ist aber ein schulorganisatorisches, deshalb lösbares<br />

oder überwindbares Problem. Allerdings werden hier Schulleiter/innen, die auf<br />

konventionell-traditionelle Unterrichtsmethoden eingeschworen sind, intern die<br />

Chance wittern, <strong>Quellenarbeit</strong> im Keime zu ersticken statt sie zu verbieten.<br />

Zu 3. Eine "unpädagogische Authentizitätsfixierung" <strong>und</strong> einen "Authentizitäts-tic"<br />

(Schoebe, Seite 303) hat, wer krankhaft-verkrampft daran festhält, dass verbürgte<br />

<strong>und</strong> damit echte Quellen authentisch sind. Schoebe sieht den "Lehrer <strong>als</strong> Sachwalter<br />

der Objektivität <strong>und</strong> beschreibt 'Objektivität' <strong>als</strong> etwas, das in der geistigen <strong>und</strong><br />

moralischen Verfassung der Lehrerpersönlichkeit liege <strong>und</strong> nicht verdinglicht werden<br />

91


könne" (Margarete Dörr, Seite 322). Folglich sind Lehrer authentisch, nicht Quellen. -<br />

Vielfach werden die Unterschiede zwischen Quellen <strong>und</strong> Darstellungen auch<br />

verwischt, so vom Mitherausgeber der GWU Rohlfes (Seiten 336); allerdings trifft zu,<br />

dass Quellen auch "Irrtümer, Einseitigkeiten, ja Lügen" enthalten können <strong>und</strong> sie<br />

deshalb kritisch überprüft werden müssen (2.6.).<br />

Zu 4. Eintönig ist nur eine <strong>Quellenarbeit</strong>, die einem starren methodischem Schema<br />

folgt. Mangelnde Affektivität wird Quellen oft deshalb angekreidet, so z.B. Gesetzen,<br />

weil sie eine zwar inhaltsreiche, aber meist nur "trockene" Lektüre sind.<br />

Zu 5. Schüler/innen sind in der Schule, um zu lernen, <strong>und</strong> wenn sie versagt, wissen<br />

sie in der Tat nichts oder zu wenig - so z.B. in Geschichte (Margarete Dörr, Seite<br />

323f.). Nicht nur sie, sondern oft auch Lehrer/innen haben Ängste, Minderwertigkeits-<br />

<strong>und</strong> Insuffizienzgefühle. Wenn Schoebe (Seite 309) expressis verbis <strong>Quellenarbeit</strong><br />

verdächtigt, "ein nicht ungefährliches Gefolgschaftsbedürfnis <strong>und</strong> übergewichtiges<br />

Verlangen nach Führung " zu wecken <strong>und</strong> an die NS-Zeit erinnert, dann polemisiert<br />

er nicht mehr, sondern er hetzt <strong>und</strong> diffamiert. - <strong>Quellenarbeit</strong> überfordert nicht, wenn<br />

sie schüler- <strong>und</strong> zielgerecht ist, d. h. Fähigkeiten <strong>und</strong> Vorkenntnisse der<br />

Schüler/innen berücksichtigt.<br />

Zu 6. Was wesentlich oder unwesentlich ist, ergibt sich aus den Fragestellungen <strong>und</strong><br />

der Hermeneutik, <strong>als</strong>o dem Auslegen <strong>und</strong> dem davon abhängigen Verstehen des<br />

Textes. "Dauerhafte Kenntnisse" <strong>und</strong> "endgültige Erkenntnis-Ergebnisse" sind der<br />

Geschichte fremd <strong>und</strong> allenfalls temporäre Verabsolutierungen. Dennoch gibt es<br />

viele Lehrer/innen wie Oberstudiendirektor Schoebe, die wissen, was endgültig <strong>und</strong><br />

dauerhaft, wesentlich oder unwesentlich, richtig <strong>und</strong> f<strong>als</strong>ch, wahr <strong>und</strong> "objektiv" ist -<br />

nämlich das in ihnen gespeicherte Geschichtswissen <strong>und</strong> ihr Geschichtsbild. Die<br />

nach dieser nie versiegenden "Quelle" dürstenden Schüler/innen sind darauf erpicht,<br />

endlich zu erfahren: "Nun sagen Sie uns bitte: Wie war es denn nun wirklich?"<br />

(Schoebe, Seite 307) Und wenn sie "eines Tages entdecken, daß der Lehrer sie<br />

betrogen hat, indem er so tat, <strong>als</strong> wisse er, 'wie es eigentlich gewesen ist', oder daß<br />

er sie bewußt manipuliert hat" (Margarete Dörr, Seite 323) - was dann?<br />

Zu 7. <strong>Quellenarbeit</strong> erfordert Quellenkritik! Sollten Schüler/innen tatsächlich<br />

prinzipiell kritisch bis misstrauisch gegenüber Quellen sein, wären sie für die Arbeit<br />

mit ihnen gut gerüstet. Wer allerdings einen "objektiven" Geschichtsunterricht à la<br />

Schoebe genossen hat, wird in der Regel nicht befähigt sein, Reden der<br />

B<strong>und</strong>eskanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl <strong>und</strong> Schröder zu<br />

reflektieren. Und wenn Schüler/innen affirmativ Quellen der DDR für bare Münze<br />

nehmen? Ulbrichts, Grotewohls, Stophs, Honeckers u.a. Reden wie den<br />

Geschichtsunterricht <strong>als</strong> wahrheitsgemäß betrachten? - Sind dafür die Lehrer/innen<br />

verantwortlich? - Oder die Schüler/innen, die nach dem "Quellen-spots-Rezept" in<br />

der Oberstufe traktiert, die "buchstabengläubigsten" (Schoebe, Seite 308) sein<br />

sollen? - Oder sind es die Quellen <strong>und</strong> die <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

92


Zu 8. Ungesagt bleibt, woher die Sachverhalte - res gestae - stammen, die primär an<br />

die Stelle von Quellen - fontes - den Geschichtsunterricht bestimmen sollen. Eine<br />

Antwort darauf gibt nicht nur Schoebe selbst, sondern auch der bereits zitierte<br />

Pädagoge Erich Weniger: Der Geschichtslehrer "dient der geschichtlichen Wahrheit"<br />

<strong>und</strong> "vertritt die Einheit der erlebten Geschichte, er spiegelt die in der Gegenwart<br />

erreichte Lagerung der geschichtlichen Kräfte in seiner Person wieder". 82 Kurzum:<br />

Nicht Quellen spiegeln Geschichte <strong>und</strong> ihre Sachverhalte (2.6.), der Lehrer spiegelt<br />

sie.<br />

Zu 9. Bestürzend ist die humanitas-Frage, die Schoebe stellt, da <strong>Quellenarbeit</strong> den<br />

"personalen Bezug schwächt", folglich der Lehrer nicht mehr im Mittelpunkt steht.<br />

Nicht er ist für die Schüler/innen da, sondern umgekehrt, sie haben für ihn da zu<br />

sein. Er spiegelt sich in ihnen <strong>und</strong> produziert sich frontal vor ihnen. So bleibt ihnen<br />

nichts anderes übrig, <strong>als</strong> sein angeblich "objektives" Geschichtswissen zu<br />

übernehmen, sich mit dem Lehrer zu identifizieren <strong>und</strong> damit zugleich sein<br />

Selbstwertgefühl aufzuwerten, das von seinem Unterrichtserfolg abhängt. Es ist eine<br />

verkehrte Schulwelt.<br />

Zu 10. Da sich der Geschichtsunterricht um den Lehrer <strong>als</strong> "humanen" Mittelpunkt zu<br />

drehen hat, vergewaltigt Arbeitsunterricht angeblich seine Individualität. "Nicht jeder<br />

von uns", so weiß der "Praktiker" Peter Völker (Seite 620), "ist Lehrer geworden, um<br />

<strong>als</strong> 'Moderator' auf gemeinsamen historischen 'Entdeckungsreisen' zu fungieren. Wer<br />

<strong>als</strong> bewußter <strong>und</strong> engagierter Historiker in den Unterricht geht, möchte<br />

fachwissenschaftlich exakt unterrichten <strong>und</strong> nicht historisch-politisch vage diskutieren<br />

lassen, für sein präzises Methodenbewußtsein sind die stümperhaften Bemühungen<br />

selbst vieler Oberstufenschüler <strong>und</strong> die unzulänglichen, aus dem Alltagswissen<br />

geschöpften Versuche, historische Phänomene zu erklären, einfach unerträglich."<br />

Schwer erträglich ist aber auch, wie demotivierend <strong>und</strong> zugleich destruktiv solche<br />

"Lehrerpersönlichkeiten" mit ihrer "fachwissenschaftlichen" Selbstinszenierung<br />

<strong>Lernen</strong>de abqualifizieren. 83<br />

Alles in allem offenbart der Didaktikerstreit eine tiefe Kluft, die unüberbrückbar ist.<br />

Der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel (Halle-Wittenberg), ein Protagonist<br />

der Quelleninterpretation, fasst zusammen, was die Verfechter traditioneller<br />

Lehrmethoden leitet: "Das Ideal ist hier ein Unterricht, den allein der Lehrer plant,<br />

steuert <strong>und</strong> durchführt, Ergebnisse sichert <strong>und</strong> abfragt. Das wird verbrämt <strong>als</strong><br />

'humanitas Frage' <strong>und</strong> 'sokratische Frage'. Es ist die Rückkehr auf den Stand des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Es ist ein erzählender Unterricht, der hin <strong>und</strong> wieder<br />

82 Weniger: Neue Wege.....Seiten 71f.<br />

83 Bei anderen thesenhaft wiedergegebenen Kritiken kann man Völker nur zustimmen: "Überfrachtung<br />

der Lehrpläne", "Diskrepanz von Didaktik <strong>und</strong> Schulwirklichkeit", "vom Fernsehen <strong>und</strong> nicht vom Buch"<br />

geprägte Schüler/innen, "ungünstige Rahmenbedingungen für die Realisierung didaktischer<br />

Neuansätze" u.a. (Völker, Seiten 620ff.)<br />

93


Quellenformulierungen zur Illustration aufnimmt. Die Polemik gegen Authentizität<br />

zeigt, daß es diesen Vertretern nicht um historisches Denken, sondern um<br />

reproduktionsfähige Kenntnisse geht. Es gibt keine entwicklungspsychologischen<br />

Untersuchungen, die belegen, daß Quellen insgesamt nicht<br />

entwicklungsstufengerecht seien." 84<br />

Hier ist man geneigt, das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in Schutz zu nehmen <strong>und</strong> an den Leipziger<br />

Lehrer <strong>und</strong> Schuldirektor Albert Richter (1838 - 1897) zu erinnern. Er forderte<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> schon für die Volksschule <strong>und</strong> brachte dafür 1885 das erste<br />

"Quellenbuch" heraus. Mehrfach nachgedruckt, war es nicht für Lehrer/innen,<br />

sondern für die <strong>Lernen</strong>den bestimmt, <strong>und</strong> das waren bei Richter Mädchen. Die Ziele,<br />

die Richter verfolgte, hießen: "Motivation", "Anschaulichkeit" <strong>und</strong> "Selbstthätigkeit". 85<br />

Da kann ich nur mit Wehmut in die "gute alte Zeit" zurückblicken <strong>und</strong> bedauern, dass<br />

es heute noch so viele Schulleiter wie Gerhard Schoebe gibt, aber offensichtlich<br />

weniger solche wie Albert Richter.<br />

3.5. Tua res agitur: Die Frau im Didaktikerstreit <strong>und</strong> im "Problem<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>" - eine Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder eine<br />

Nichtexistenz?<br />

"Männer machen Geschichte" <strong>und</strong> Männer machen Geschichtsunterricht für Schüler -<br />

so scheint es nach dem Didaktikerstreit zu sein. Deshalb sind die Einwände 1 - 10<br />

gegen <strong>Quellenarbeit</strong> maskulin wiedergegeben. Selbst Margarete Dörr spricht nur von<br />

"Lehrern" <strong>und</strong> "Schülern". Es mag noch in den 80er Jahren unreflektiert <strong>und</strong><br />

zeitbedingt sein, dass Lehrerinnen <strong>und</strong> Schülerinnen mit darunter subsumiert<br />

werden, vielleicht auch dann noch, wenn Dörr (Seite 319) davon spricht, dass sich<br />

"Geschichtstheoretiker, Fachwissenschaftler <strong>und</strong> Fachdidaktiker den Kopf" über<br />

Geschichte <strong>und</strong> den Geschichtsunterricht zerbrechen.<br />

Aufhorchen lässt, dass ausgerechnet der hier viel gescholtene Schoebe (Seite 309)<br />

an einer Stelle von den "Mädchen <strong>und</strong> Jungen" einer Klasse <strong>als</strong> Adressaten spricht.<br />

Ein Zufall, ein Versehen, eine vereinzelte Wahrnehmung? Völker (Seite 617,<br />

Anmerkung 1) verwendet die maskuline Sammelform, stellt aber klar, von<br />

84 Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. .Seite 92. - Auch Schoebe, Seite 312 befürwortet<br />

"Quellenauszüge dosiert" <strong>und</strong> "vernünftig" zu verwenden <strong>und</strong> beruft sich dabei auf Bernheim <strong>und</strong><br />

Ranke (Seite 309). Zustimmend äußert er sich zu Dieter Mohrhart: Plädoyer für die<br />

Geschichtserzählung. In: GWU 32, 1982. Seiten 94 - 116. (Schoebe, Seite 316 Anmerkung 21:<br />

"umfassend angelegte <strong>und</strong> tief eindringende Abhandlung".)<br />

85 Quellenbuch. Für den Unterricht in der deutschen Geschichte. Herausgegeben von Albert Richter.<br />

Leipzig 1885. VI, 262 Seiten. - Vgl. dazu Hartmut Voit: Das "Quellenbuch" von 1885: Zur Erinnerung<br />

an Albert Richter <strong>und</strong> die erste Quellensammlung für die Volksschule. In: GWU 37, 1986. Seiten 364 -<br />

370. Dazu auch Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Seiten 80f.<br />

94


"Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern, Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern, Referendarinnen <strong>und</strong><br />

Referendaren" zu reden. Er sagt expressis verbis, was andere ignorieren oder<br />

stillschweigend voraussetzen.<br />

Anno Domini 2004 ist es ein Anachronismus, dass es nach wie vor einen "Verband<br />

der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s" gibt <strong>und</strong> Geschichtslehrerinnen eben mit dazu<br />

gezählt werden. Sie gehören dazu, sie unterrichten, sie lehren, sie lernen, sie<br />

forschen, sie veröffentlichen, sie sind <strong>als</strong> Mitglieder willkommen <strong>und</strong> registriert, <strong>und</strong><br />

sie werden vom Friedrich Verlag <strong>als</strong> "AbonnentInnen"(!) der GWU umworben. Aber<br />

sind sie integriert <strong>und</strong> werden sie wahrgenommen? Handelt es sich um eine<br />

Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder um eine Nichtexistenz? Wer andere<br />

sehen, aber sie <strong>und</strong> sich selbst nicht wahrnehmen kann, ist nicht wirklich existent,<br />

sondern ein Schatten, ein Spiegelbild, eine Imagination, ein f<strong>als</strong>ches Selbst (1.4.). 86<br />

Tua res agitur.<br />

In einem "empirischen" Projekt an der Universität Regensburg stellt nicht Martin,<br />

sondern Martina Langer-Plän fest, dass bezüglich <strong>Quellenarbeit</strong> im<br />

Geschichtsunterricht "weitgehende Unzufriedenheit bei Lehrern <strong>und</strong> Schülern das<br />

Bild" präge. Sie hat nach eigenen "Umfragen bei Geschichtsstudenten" in den Jahren<br />

1995 - 2001 "insgesamt über 80 Studenten befragt", ohne zu sagen, wie viele<br />

Studentinnen sich darunter bef<strong>und</strong>en haben, ob es sich um eine repräsentative<br />

Stichprobe, ein Sample usw. handelt. 87 Dies wäre ein Gebot empirischer Forschung.<br />

Sie kann in der Tat niemand allein aus Büchern lernen, doch Wahrnehmung schon<br />

gar nicht - aber durch Geschichte, auf einem langen, meist schmerzlichen Weg.<br />

Im gleichen Mai/Juni-Heft 5/6, 2003 der GWU spricht ihr langjähriger Mitherausgeber<br />

Joachim Rohlfes im Editorial von "Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern" (Seite 283). Zwei<br />

Autorinnen arbeiten mit "Studierenden", die sie nach weiblichen <strong>und</strong> männlichen<br />

unterscheiden. 88 Geschlechtsspezifisch werden Frauen <strong>als</strong>o wahrgenommen, nicht<br />

mehr ignoriert. Es tut sich <strong>als</strong>o etwas für die Frau <strong>und</strong> vor allem in der Frau in der<br />

Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht. Eine Leerstelle ist sie nicht mehr.<br />

86 Vgl. dazu D. W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. Seite 193: "Wenn das f<strong>als</strong>che<br />

Selbst in seiner Funktion erfolgreich ist, verbirgt es das wahre Selbst oder findet eine Möglichkeit, das<br />

wahre Selbst zum Beginnen eines Lebens zu befähigen. Ein solches Ergebnis kann auf allerlei Arten<br />

erreicht werden, aber wir beobachten aus besonderer Nähe jene Fälle, in denen das Gefühl, die Dinge<br />

seien real oder der Mühe wert, während einer Behandlung auftritt. Meine Patientin, von deren Fall ich<br />

gesprochen habe, ist nahe dem Ende einer langen Analyse an den Anfang ihres Lebens gekommen.<br />

Sie hat keine wirkliche Erfahrung, sie hat keine Vergangenheit. Sie beginnt mit fünfzig Jahren<br />

vergeudeten Lebens, aber sie fühlt sich endlich real, <strong>und</strong> darum will sie nun leben."<br />

87 Martina Langer-Plän: Problem <strong>Quellenarbeit</strong>. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In:<br />

GWU 54, Mai/Juni 2003. Seiten 319 - 336, zit. 319 <strong>und</strong> Anmerkung 4 ebenda. Auf Seite 327 wird<br />

"Steffi" zitiert, auf Seite 333 eine "Schülerin". - Ein unvoreingenommene Bestandsaufnahme mit<br />

wertvollen Hinweisen <strong>und</strong> Literaturangaben liefert Helmut Beilner: Empirische Forschung in der<br />

Geschichtsdidaktik. In: GWU 54, 2003. Seiten 284 - 302.<br />

88 Michele Barricelli/Ruth Benrath: "Cyberhistory" - Studierende, Schüler <strong>und</strong> Neue Medien im Blick<br />

empirischer Forschung. In: GWU 54, 2003. Seiten 337 - 353, zit. 340.<br />

95


3.6. Voraussetzungen der <strong>Quellenarbeit</strong>: Lehrpläne entrümpeln,<br />

Freiräume nutzen <strong>und</strong> tradierte, frontal-belehrende Unterrichtsmethoden<br />

durch alternativ-offene ergänzen oder ersetzen<br />

Als Ausnahme von der Regel, vornehmlich staatliche Quellen auf der obersten<br />

Ebene, <strong>als</strong>o des B<strong>und</strong>es in der BRD, zu dokumentieren (2.1.), sind die Schulgesetze<br />

der 16 B<strong>und</strong>esländer aufgenommen worden. Der Gr<strong>und</strong>: Die Schulgesetze geben<br />

Bildungsziele vor, die durch Lehrpläne/Rahmenlehrpläne <strong>und</strong><br />

Richtlinien/Rahmenrichtlinien konkretisiert werden. Zuständig dafür sind die<br />

Kultusministerien <strong>als</strong> oberste Landesbehörden bzw. die ihnen entsprechenden<br />

Senatsverwaltungen in den Stadtstaaten.<br />

Im Anhang zu den Schulgesetzen war beabsichtigt, die Lehrpläne/Rahmenlehrpläne/<br />

Fachlehrpläne, Richtlinien/Rahmenrichtlinien <strong>und</strong> curricularen Vorgaben in den<br />

einzelnen B<strong>und</strong>esländern vor allem für fächerübergreifende <strong>und</strong> fächerverbindende<br />

Unterrichtsfächer vorzustellen: Arbeitslehre, Ethik, Sachunterricht,<br />

Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e, Gesellschaftslehre, Medienk<strong>und</strong>e, Politik, Politische Bildung,<br />

Rechtsk<strong>und</strong>e, Sozialk<strong>und</strong>e, Sozialpädagogik, Sozialwesen, Sozialwissenschaften,<br />

Weltk<strong>und</strong>e, Wirtschaftslehre, Wirtschaft <strong>und</strong> Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Technik usw. Dies<br />

ließ sich nicht oder nur in Ansätzen realisieren. Die Hauptgründe: Die Dokumente<br />

sind im Internet nur teilweise verfügbar, <strong>als</strong> Druckfassungen urheberrechtlich<br />

geschützt (z.B. in Nordrhein-Westfalen), meist veraltet, zur Zeit in Überarbeitung oder<br />

oft sehr lang, manchmal H<strong>und</strong>erte von Seiten. Daher wurden nur wenige digitalisiert.<br />

Bei umfangreicheren Texten wird auf ihre F<strong>und</strong>stellen im Internet verwiesen.<br />

Die staatlichen Lehrpläne sind oft so mit stofflichen <strong>und</strong> bürokratischen Vorgaben<br />

überfrachtet, dass sie größtenteils <strong>als</strong> unbrauchbar <strong>und</strong> für Lehrer/innen <strong>als</strong><br />

unzumutbar einzustufen sind - obwohl sie nach wie vor <strong>als</strong> verbindlich gelten. Dies<br />

betrifft auch überarbeitete <strong>und</strong> modernisierte Lehrpläne, etwa den Lehrplan<br />

"Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e" in Rheinland-Pfalz seit 1998: Gr<strong>und</strong>fach <strong>und</strong> Leistungsfach<br />

mit Schwerpunkt Geschichte, mit Schwerpunkt Sozialk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> mit Schwerpunkt<br />

Erdk<strong>und</strong>e in den Jahrgangsstufen 11 - 13 der gymnasialen Oberstufe. Obwohl<br />

stofflich entlastet <strong>und</strong> angeblich offen für interdisziplinäres <strong>Lernen</strong>, wahrt jedes der<br />

drei Fächer seine Eigenständigkeit, so dass es nicht zu ihrer Integration kommen<br />

kann <strong>und</strong> soll. Der oft dreispaltig präsentierte Lehrplan ist "in seinem Zielhorizont<br />

verbindlich" - mit insgesamt 182 Seiten! 89 In Baden-Württemberg hat der<br />

Bildungsplan für die Re<strong>als</strong>chule mit den Fächern Ethik, Geschichte <strong>und</strong><br />

Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e 433 Seiten, für das Gymnasium 832 Seiten! 90 Dort findet derzeit<br />

89 Vgl. dazu den Anhang zum Landesgesetz über die Schulen in Rheinland-Pfalz in der Fassung vom<br />

6. März 2003 mit Verweisen auf abrufbare Lehrpläne.<br />

90 Vgl. den Anhang zum Schulgesetz für Baden-Württemberg in der Fassung vom 25. Juli 2000 mit<br />

96


eine Bildungsplanreform statt, mit der das achtjährige Gymnasium eingeführt wird.<br />

Das Staatsinstitut für Schulpädagogik <strong>und</strong> Bildungsforschung (Abteilung<br />

Gymnasium) in München legte am 17. Februar 2003 einen Entwurf zur Sozialk<strong>und</strong>e<br />

vor, das "Leitfach der politischen Bildung am Gymnasium" werden soll - auf drei<br />

Seiten <strong>und</strong> mit der Zielsetzung, "auf der Gr<strong>und</strong>lage des Menschenbildes der<br />

Demokratie zu eigenverantwortlichem Handeln, Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> zur Übernahme<br />

von Verantwortung in der Gesellschaft zu erziehen". 91<br />

Trotz dieser positiven Ansätze ist fraglich, ob die didaktischen Materialisten in den<br />

Ministerien <strong>und</strong> Schulverwaltungen bereit sein werden, ihr bürokratisches Regime zu<br />

lockern. Dies ist erforderlich, damit Schule sich öffnen <strong>und</strong> ändern kann, statt wie<br />

bisher verwaltet oder bürokratisch reglementiert zu werden.<br />

Renate Hendricks, dam<strong>als</strong> Vorsitzende des B<strong>und</strong>eselternrates, der Vertretung der<br />

Eltern von Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen in der BRD, sagt dazu: "Schule in <strong>Deutschland</strong><br />

ist eine geschlossene Gesellschaft. Sie wirkt wie ein fortgesetzter Arm der<br />

Bürokratie, wie ein preußischer Beamter, der verwaltet, was ihm obliegt." 92 Das ist so<br />

immer noch - leider. Nicht nur Schule, auch Familie, Bildung, Ausbildung <strong>und</strong> Beruf<br />

sind in <strong>Deutschland</strong> trotz bisheriger Reformversuche eine "geschlossene<br />

Gesellschaft" geblieben (1.6.). Nach dem PISA-Schock (1.2.) sind allerdings die<br />

Chancen gewachsen, Veränderungen nicht nur auf dem Papier <strong>und</strong> von oben herab<br />

zu dekretieren, sondern auch von unten zu bewirken - durch Eltern, durch Lehrer <strong>und</strong><br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> nicht zuletzt durch die <strong>Lernen</strong>den selbst.<br />

Während in Österreich <strong>und</strong> in der Schweiz Lehrplanarbeit nur wenig institutionalisiert,<br />

organisiert <strong>und</strong> bürokratisiert war <strong>und</strong> deshalb weitgehend offen, variabel <strong>und</strong><br />

durchlässig blieb, wurde in <strong>Deutschland</strong> das Gegenteil praktiziert. Auch im<br />

internationalen Vergleich wird den deutschen Schulen "sehr wenig Selbstständigkeit<br />

zugestanden". 93 Diese Regelungswut hat seit dem PISA-Schock <strong>und</strong> wegen der Krise<br />

des deutschen Bildungswesens nachgelassen, aber vermutlich noch nicht<br />

ausgedient. Das beweist das Tauziehen um die geplanten länderübergreifenden<br />

Verweisen auf Bildungspläne.<br />

91<br />

www.isb.bayern.de/gym/lehrplaene/lehrpl.htm (2. 10. 2003).<br />

92<br />

"Wir müssen Interesse an Schule wecken". Interview mit Renate Hendricks. In: General-Anzeiger<br />

(Bonn) vom 1. Oktober 2003. Seite 5.<br />

93<br />

So der 1., im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) von einem Konsortium unter Federführung<br />

des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) erarbeitete Bildungsbericht<br />

für <strong>Deutschland</strong>: Erste Bef<strong>und</strong>e (Zusammenfassung). Frankfurt a. M./Berlin. 1. September 2003. Seite<br />

7. Hingewiesen wird auch darauf, dass in <strong>Deutschland</strong> unterrichtet wird "auf der Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

weltweit wohl einmaligen Anzahl <strong>und</strong> Vielfalt an Lehrplänen <strong>und</strong> St<strong>und</strong>entafeln in den Ländern <strong>und</strong><br />

Schulformen, die nur noch schwer zu überschauen ist <strong>und</strong> die Gefahr der Ungleichheit bei der<br />

Teilhabe an Bildung in sich birgt" (Seite 6). Abzuwarten bleibt, ob es tatsächlich zu "Änderungen" nicht<br />

nur an Schulen, sondern auch bei der Schulaufsicht kommt, die anstelle eine reglementierenden <strong>und</strong><br />

kontrollierenden "primär eine begleitende, unterstützende <strong>und</strong> beratende Funktion zu übernehmen<br />

hat." (Seite 7)<br />

97


nationalen Bildungsstandards, die anders <strong>als</strong> Lehrpläne verbindlich vorschreiben,<br />

was Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler bis zu einer bestimmten Altersstufe mindestens<br />

erlernt haben müssen.<br />

Nach den Plänen der B<strong>und</strong>esregierung sollen die einzelnen Schulen künftig<br />

"eigenständig" entscheiden können, wie sie die Bildungsstandards im Unterricht<br />

umsetzen. "Wir müssen unseren Schulen", so die B<strong>und</strong>esbildungsministerin<br />

Edelgard Bulmahn am 18. Februar 2003, "die Verantwortung für die Erreichung der<br />

angestrebten Ziele übertragen." 94 Wenn dies nicht - wie so oft schon bei<br />

angekündigten Bildungsreformen - auf dem Papier stehen bleibt, scheinen die Tage<br />

des alten bürokratischen Systems, das Lehrziele <strong>und</strong> Stoffmengen detailliert von<br />

oben herab verordnet hat, um letzten Endes doch alles beim Alten zu belassen,<br />

tatsächlich gezählt zu sein.<br />

Schulen haben bereits mehr Autonomie erhalten, z.B. durch Teilnahme am<br />

Modellversuch "Selbstständige Schule", in Angelegenheiten der Verwaltung, wie sie<br />

Unterricht gestalten <strong>und</strong> über ihnen zugewiesene Mittel verfügen. Damit wachsen<br />

auch die Entscheidungsfreiräume der Schulen, insbesondere der Lehrerinnen <strong>und</strong><br />

Lehrer, um die ihnen verordnete Zwangsjacke zu lockern <strong>und</strong> neue Unterrichts- <strong>und</strong><br />

Lernmethoden zu erproben.<br />

Bisher von oben aufoktroyierte Lehrziele können nicht von heute auf morgen durch<br />

selbst gewählte Lernziele von unten, mit denen sich die <strong>Lernen</strong>den identifizieren, 95<br />

ersetzt werden. Das gilt auch für alternativ-offene Lernmethoden, die den tradierten<br />

<strong>und</strong> eingeübten frontal-belehrenden Unterricht abbauen können. Eine Revolution im<br />

Klassenzimmer ist unmöglich, so wünschenswert sie wäre, möglich dagegen sind<br />

Reformen, die mit kleinen Schritten Neuland betreten <strong>und</strong> damit didaktische <strong>und</strong><br />

methodische Veränderungen einleiten.<br />

Die D-Dok. ist ein Arbeitsinstrument <strong>und</strong> Hilfsmittel, das zu den tradierten<br />

Unterrichtsmethoden frontalen Lehrens (im Sinne des Belehrtwerdens) nicht passt.<br />

Sie kann nur <strong>Lernen</strong> aktivieren, das individuell <strong>und</strong> selbstständig erarbeitet wird, aber<br />

94 Pressemitteilung des BMBF vom 18. Februar 2003: Nationale Bildungsstandards sollen das<br />

deutsche Bildungssystem verbessern. Seite 2. - Am 30. September 2003 hat die<br />

Kultusministerkonferenz auf einer Fachtagung mit Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaft,<br />

Fachdidaktik, Lehrer-, Eltern- <strong>und</strong> Schülerschaft die Bildungsstandards für den Mittleren<br />

Schulabschluss in Deutsch, Mathematik, Englisch <strong>und</strong> Französisch <strong>als</strong> erster Fremdsprache diskutiert<br />

<strong>und</strong> mehrheitlich begrüßt; vgl. KMK-Pressemitteilung vom 30. September 2003.<br />

95 Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. Befragungen, Analysen <strong>und</strong><br />

Perspektiven. Frankfurt a. M. 1980. Seite 31f. weist auf diesen wichtigen Sachverhalt hin <strong>und</strong> sieht in<br />

den alten Lehrplänen <strong>als</strong> "Repertoire von Inhalten" ein "Instrument, inhaltlichen Einfluß auf die<br />

Sozialisation der Jugend" zu gewinnen (zit. Seiten 10 <strong>und</strong> 11). Diese Instrumentalisierung läuft<br />

Gefahr, Lehrpläne zu politischen, ideologischen oder gar parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen.<br />

(3.1.)<br />

98


kein Wissen, das frontal-belehrend vermittelt, so rezipiert, konsumiert, reproduziert<br />

<strong>und</strong> schließlich abgefragt wird.<br />

Lehrende können daher Informationen nicht mehr exklusiv bereitstellen oder der D-<br />

Dok. - genauso wenig wie dem Internet - vorschreiben oder bestimmen, welche<br />

Quellentexte, welche Fotos <strong>und</strong> welche Original-Ton-Dokumente zu einem Thema<br />

angeboten werden dürfen, sollen oder müssen. Auch arbeitet der Computer<br />

interdisziplinär, nicht fachbezogen-spezialisiert bei der Quellentextsuche (3.3.).<br />

Die Lehrenden werden folglich in eigendynamische Lernprozesse mit einbezogen<br />

<strong>und</strong> in sie integriert. Diese neue Lehrer/innen-Rolle <strong>und</strong> offene Unterrichtsmethoden<br />

befähigen zum weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong> statt zum Konsumieren<br />

fremdbestimmter Lehrinhalte. Lebenslang zu lernen, auch ohne Schule <strong>und</strong> ohne<br />

Lehrende - dies ist das Leitmotiv der D-Dok.: Disco, ergo sum (2.10.<strong>und</strong> 4.1.).<br />

3.7. Drei Modelle zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Vergleich: Rudolf Renz (1971) -<br />

Wolfgang Hug (1977/1980) - Hans-Jürgen Pandel (2000)<br />

Vorschläge zur <strong>Quellenarbeit</strong> stammen u.a. von den Autoren Franze, Hug, Leisen,<br />

Pandel, Pellens, Prokasky, Renz, Strotzka <strong>und</strong> Wagner. 96 In Folgendem werden die<br />

drei wichtigsten in der zeitlichen Reihenfolge vorgestellt, in der sie veröffentlicht<br />

worden sind, <strong>und</strong> miteinander verglichen.<br />

Im Jahre 1971 hat Studienassessor Rudolf Renz im Anschluss an eine<br />

wissenschaftliche Analyse geprüft, ob Quellen im Geschichtsunterrricht der<br />

Oberstufe verwertbar seien. Als Systematik der Quellenbehandlung schlägt er<br />

folgenden Zehn-Punkte-Katalog <strong>als</strong> vornehmlich philologisches Modell in der GWU<br />

vor.<br />

1. a) Wie ist der Text gegliedert?<br />

b) In welchem grammatikalischen Zusammenhang stehen Abschnitte, Sätze<br />

bzw. Satzteile zueinander? (Syntaktisch-grammatikalischer Aspekt)<br />

2. a) Welche Bedeutung haben die Schlüsselwörter im Text?<br />

b) Wurden sie einem Bedeutungswandel unterworfen? (Semantischer Aspekt)<br />

96 Gerhard Schneider: Die Arbeit mit schriftlichen Quellen. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider<br />

(Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach Ts. 1999. Seiten 15 - 44, zit. 23ff.;<br />

Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Schwalbach Ts. 2000. Seiten 175ff.; Karl Pellens:<br />

Schülernaher Geschichtsunterricht. Freiburg im Brsg. 1975. Seiten 112 ff., Modell 115; Gisela<br />

Wagner: Quellen <strong>und</strong> Quelleninterpretation. In: Hans Süssmuth (Hg.): Historisch-politischer Unterricht.<br />

Medien. Band 2. 3. Auflage. Stuttgart 1978. Seiten 16 - 40, Modell einer <strong>Quellenarbeit</strong> für Klasse 10<br />

zur Westintegration Seite 33; Herbert Prokasky: Das Zeitalter der Industrialisierung. Paderborn 1988.<br />

Seiten 194f.<br />

99


3. a) Was sind die wichtigsten Stellen?<br />

b) Wo finden wir die Hauptaussage(n)?<br />

4. a) Ist der Text widerspruchsfrei <strong>und</strong> logisch?<br />

b) Können seine Begründungen, Folgerungen, Aussagen nachvollzogen <strong>und</strong><br />

kritisch überprüft werden?<br />

5. a) In welchem Zusammenhang stehen die einzelnen Aussagen mit der<br />

Gesamtheit des Textes?<br />

b) Wie wirken sie gegenseitig aufeinander ein <strong>und</strong> bedingen sich?<br />

(Hermeneutischer Zirkel)<br />

6. a) Welche Motive <strong>und</strong> Interessen bestimmen den Textautor?<br />

b) In welcher gesellschaftlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Position befindet er sich?<br />

(Ideologiekritik)<br />

c) Welche Bildungsvoraussetzungen besitzt er?<br />

d) Worin wird seine Zeit- <strong>und</strong> Standortgeb<strong>und</strong>enheit deutlich? Wodurch zeigt<br />

sich seine Tendenz?<br />

7. a) In welchem Verhältnis zu dem berichteten Ereignis <strong>und</strong> den behandelnden<br />

Personen steht der Autor?<br />

b) Ist er willens <strong>und</strong> fähig, die Wahrheit zu berichten?<br />

8. a) An welche Empfänger ist sein Schriftstück möglicherweise gerichtet <strong>und</strong> in<br />

welchem Verhältnis steht er zu ihnen? (Art des „Publikums")<br />

b) Mußte er eventuell Rücksicht nehmen?<br />

9. In welchem überlieferungsmäßigen <strong>und</strong> geschichtlichen Zusammenhang steht<br />

der Text?<br />

10. In welchem Verhältnis stehen die Aussagen des Textes über bestimmte<br />

Sachverhalte zu denen anderer Quellen? 97<br />

Im Jahre 1977 (1. Auflage) bzw. 1980 (2. Auflage) stellt Wolfgang Hug für die Praxis<br />

des Geschichtsunterrichts in der Sek<strong>und</strong>arstufe I eine "Fragenskala" in fünf Punkten<br />

vor. Er hat sie in Auseinandersetzung mit Rudolf Renz erarbeitet.<br />

1. Paraphrase:<br />

Was ist aus der Quelle zu erfahren? (Inhaltsangabe)<br />

Aus welchen Teilen besteht sie? (Gliederung)<br />

Was ist ihr Thema? (Überschrift)<br />

2. Inhaltsangabe:<br />

Was ist der Kern des Textes?<br />

Was wird im Text behauptet oder widerlegt?<br />

Welche Teilaspekte sind behandelt?<br />

97 Rudolf Renz: Prinzipien wissenschaftlicher Quellenanalyse <strong>und</strong> ihre Verwertbarkeit im<br />

Geschichtsunterricht. In: GWU 22, 1971. Seiten 536 - 551, zit. 550. Erstaunlich ist, dass nicht dieser<br />

Aufsatz, sondern ein Aufsatz Heinz Dieter Schmids den Unmut Schoebes hervorgerufen <strong>und</strong> damit<br />

den Didaktikerstreit ausgelöst hat; denn für Renz ist "die Quelle nicht mehr bloße Illustration, sondern<br />

das Mittel, um den Schüler in die Vergangenheit einzuführen <strong>und</strong> sie ihm gewissermaßen zur<br />

Gegenwart werden zu lassen" (Seite 551); vgl. dazu 3. 4.<br />

100


3. Begriffsanalyse:<br />

Welche Begriffe kommen mehrfach vor?<br />

Welches sind die Schlüsselbegriffe?<br />

Welchen Sinn gibt der Text diesen Begriffen?<br />

4. Sachkritik:<br />

Enthält der Text in sich Widersprüche?<br />

Was konnte der Verfasser der Quelle wissen, was nicht?<br />

Inwieweit ist der Text glaubwürdig?<br />

5. Ideologiekritik:<br />

Wann, von wem <strong>und</strong> für wen ist der Text verfaßt worden?<br />

Welchem Zweck sollte er (vermutlich) dienen?<br />

Welchen Standort nimmt der Verfasser ein? 98<br />

Hans-Jürgen Pandel, Professor für Didaktik der Geschichte an der Martin-Luther-<br />

Universität Halle-Wittenberg, bietet im Jahre 2000 ein Modell an, das er in Kenntnis<br />

<strong>und</strong> in Auseinandersetzung mit Rudolf Renz <strong>und</strong> Wolfgang Hug entwickelt hat:<br />

98<br />

Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. 1. <strong>und</strong> 2. Auflage. Frankfurt<br />

a. M. 1977 <strong>und</strong> 1980. Jeweils Seite 150.<br />

101


INTERPRETATIONSREGELN<br />

I 1. Die historische Frage<br />

N • Leseabsicht festlegen: Was wollen wir wissen? (autorenzentrierte, textzentrierte oder<br />

T wirkungszentrierte Leseabsicht?)<br />

E • Für welchen Zusammenhang suchen wir eine Antwort?<br />

R 2. Heuristik<br />

P • Quellen suchen<br />

R<br />

E<br />

• Quellengattung feststellen <strong>und</strong> bewußtmachen, welche Art von Aussagen zu erwarten sind<br />

T • Verstehenshilfen bereitstellen <strong>und</strong> nutzen (editorische Aufbereitung zur Kenntnis nehmen,<br />

A Register des Buches; Wörterbücher, Historische Lexika etc.)<br />

T • Untersuchungseinheiten festlegen (auf was im Text zu achten ist: Begriffe, Emotionswörter,<br />

I Wertungen, Topoi etc.)<br />

O • Handlungszusammenhänge herstellen<br />

N • Bedingungen benennen<br />

S • Motivationszusammenhänge ausfindig machen<br />

S • Weltbilder rekonstruieren<br />

C 3. Kritik<br />

H • Handelt es sich um eine authentische Quelle?<br />

R • Überlieferungsweise feststellen (Manuskript, Druckfassung, Übersetzung, Zitat)<br />

I • Abfassungszeit mit der Zeit der berichteten Ereignisse vergleichen (was ist dazwischen<br />

T geschehen?)<br />

T • Bestimmung des historischen Erfahrungs- <strong>und</strong> Handlungszusammenhangs<br />

E 4. Interpretation im engeren Sinne<br />

• Den eigenen Standort <strong>und</strong> die eigene Perspektive beschreiben (zeitlich, räumlich, sozial etc.)<br />

• Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs:<br />

a) Wissen aus späterer Zeit, Kenntnisse des Fortganges sind nicht zugelassen<br />

b) späteres Wissen einbeziehen<br />

• übersetzende, analysierende, ideologiekritische Interpretation<br />

• Ideologietopographien zu Rate ziehen<br />

• eine kleine Geschichte aus Anfang, Mittelteil <strong>und</strong> Schluß erzählen<br />

Abbildung 20: Interpretationsregeln <strong>und</strong> Interpretationsschritte für Quellen nach Hans-Jürgen Pandel<br />

(Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2000. Seite 180.<br />

(Flüchtigkeitsfehler sind stillschweigend korrigiert: fehlende Klammer unter 1. <strong>und</strong> 2.; "räum-räumlich" unter 4.)<br />

102


Den drei vorgestellten Modellen ist gemeinsam, dass sie sich auf schriftliche Quellen<br />

<strong>und</strong> den Geschichtsunterricht beschränken; nicht-schriftliche Quellen <strong>und</strong> die<br />

schulische sowie außerschulische politische Bildung, die über den<br />

Geschichtsunterricht hinausgehend fächerübergreifend - interdisziplinär orientiert ist,<br />

bleiben somit ausgeklammert. Renz, Hug <strong>und</strong> Pandel stellen Fragenkataloge<br />

zusammen, die Quellen, die nicht von selbst reden, zum Sprechen bringen sollen,<br />

<strong>und</strong> alle drei fordern, dies quellenkritisch zu tun.<br />

Auf den Methodiken der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fußt Rudolf<br />

Renz, der am stärksten philologisch orientiert ist. Er unterscheidet zwischen äußerer<br />

(niederer) Quellenkritik (Überlieferung: Echtheit, Autor, Zeit <strong>und</strong> Ort) <strong>und</strong> innerer<br />

(höherer) Quellenkritik (Inhalt: Was <strong>und</strong> Wie ). Sein Zehn-Punkte-Katalog will die<br />

"Kriterien der inneren Kritik mit denen der philologischen Textkritik (Punkt 1-5)"<br />

verknüpfen <strong>und</strong> das Hauptgewicht auf die Ideologiekritik legen; daher berücksichtigt<br />

er auch grammatikalisch-syntaktische, semantische <strong>und</strong> Gliederungsfragen. Bei<br />

einer mittelalterlichen Urk<strong>und</strong>e, die strengen Regeln folgt, lässt sich dieses<br />

philologische Modell gut anwenden. Es ist "objektivistisch" <strong>und</strong> normativ, da von<br />

subjektiven Fragestellungen unabhängige "Schlüsselwörter" <strong>und</strong> "Hauptaussagen"<br />

ermittelt werden sollen. Eine Quelle ist oft widersprüchlich statt logisch. Auch die<br />

"Bildungsvoraussetzungen" des Autors/der Autorin sind in der Regel nicht dem<br />

Quellentext zu entnehmen, <strong>und</strong> oft auch nicht, ob er willens <strong>und</strong> fähig ist, die<br />

Wahrheit zu sagen.<br />

Hugs Modell besticht durch seine Prägnanz <strong>und</strong> Kürze. Es verzettelt sich nicht in<br />

Details, doch kommen Quellenumfeld <strong>und</strong> Quellenzusammenhänge zu kurz. Das<br />

Frageraster will "analytische Gesichtspunkte zum systematischen Umgang mit der<br />

schriftlichen Überlieferung" bereitstellen <strong>und</strong> Schüler/innen befähigen, sich<br />

selbstständig mit Quellen auseinanderzusetzen.<br />

Pandel will "nicht unbedingt alles besser machen" <strong>als</strong> die von ihm vorgestellten<br />

Modelle Hugs <strong>und</strong> Renz', beansprucht aber zweierlei: 1. ein "schülerorientiertes<br />

Modell" vorzulegen, <strong>und</strong> 2. den "gegenwärtigen Interpretationsprozeß" zusätzlich<br />

zum geschriebenen Text mit einzubeziehen. Der zweite Punkt ist neu <strong>und</strong> originell,<br />

problematisch allerdings der erste, wenn ein Unterricht, der sich an Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schülern orientiert, den Fehler begeht, den lehrerbestimmten Unterricht in sein<br />

Gegenteil zu verkehren - ohne übrigens zu sagen, wie dies geschehen soll.<br />

Unberücksichtigt bleibt bei Pandel auch die Möglichkeit, computergestützt mit<br />

Quellen zu arbeiten - Renz <strong>und</strong> Hug konnten dies nicht vorausahnen.<br />

Die drei Modelle lassen Evaluations-, entwicklungsstufengerechte <strong>und</strong><br />

geschlechtsspezifische Fragen außer Acht <strong>und</strong> konnten, sieht man von Pandel ab,<br />

die computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> nicht mit einbeziehen. Alle Modelle sind, wie bei<br />

solchen Idealtypen üblich <strong>und</strong> gerechtfertigt, schematisch-regelhaft, obwohl dies von<br />

103


ihren Verfassern nicht so gewollt ist. Schon Renz (Seite 550) hatte angemerkt, dass<br />

er es nicht für nötig halte, alle zehn Punkte zu behandeln, sie <strong>als</strong>o permanentsukzessive<br />

<strong>und</strong> damit unflexibel im Unterricht anzuwenden.<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> beschränkt sich in den drei Modellen auf die Quelleninterpretation (so<br />

der Titel von Pandels Buch) <strong>und</strong> damit auf fachwissenschaftliche Aufgaben. Die weit<br />

über diese I. Stufe hinausgehenden Zielsetzungen zur <strong>Quellenarbeit</strong>, die auch die<br />

Lebensgeschichte <strong>und</strong> das körperlich-emotionale Selbst des lernenden Individuums<br />

erfassen, bleiben somit ausgeklammert.<br />

104


4. Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s mit Quellen<br />

Weitgehend selbstbestimmte, computergestützte<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der verfassungsrechtliche Auftrag der<br />

Persönlichkeitsentfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

Die Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s will das weitgehend selbstbestimmte,<br />

computergestützte <strong>Lernen</strong> mit historisch-politischen, sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

fremdsprachlichen Quellen vermitteln, ermöglichen, erforschen <strong>und</strong> verbessern. Falls<br />

es gelingt, dies umzusetzen, entsteht aus der bisherigen politische Bildung (PB) die<br />

Neue Politische Bildung (NPB) - aus den Quellen, an den Quellen <strong>und</strong> mit den<br />

Quellen. Sie erhält eine technologische Basis <strong>und</strong> wird aus Artikel 2 Absatz 1<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz abgeleitet, dort verankert <strong>und</strong> so verfassungsrechtlich legitimiert. Sie<br />

entwickelt Methoden, wie sich historisch-politische, sozialwissenschaftliche <strong>und</strong><br />

fremdsprachige <strong>Quellenarbeit</strong> anwenden <strong>und</strong> in die Praxis umsetzen lässt. Betroffen<br />

von diesen Herausforderungen sind vor allem die allgemein bildenden Schulen, die<br />

berufliche Ausbildung, die Hochschulen, die Erwachsenenbildung <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

sowie die Fortbildung, insbesondere für Multiplikatoren.<br />

Didaktik des <strong>Lernen</strong>s mit Quellen heißt: auswählen, interpretieren, reflektieren,<br />

verstehen <strong>und</strong> generalisieren von Informationsquellen erster Hand durch die<br />

<strong>Lernen</strong>den im Sinne des Leitmotivs <strong>und</strong> den Lernzielen. Die Lehrenden werden in<br />

diesen Lernprozess mit einbezogen, lernen <strong>als</strong>o mit, sind aber unentbehrlich: <strong>als</strong><br />

fördernde Umwelt, die <strong>Lernen</strong>de begleitet, berät, anregt, unterstützt, ermuntert,<br />

tröstet, sofern sie dies wünschen, aber auch <strong>als</strong> fordernde Umwelt, die Leistung<br />

verlangt <strong>und</strong> nicht davor zurückscheut, sie einzufordern - selbst dann, wenn dies den<br />

<strong>Lernen</strong>den missfällt.<br />

4.1. Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo<br />

sum)<br />

Weitgehend selbstbestimmtes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> vornehmlich<br />

primärer, aktiver Lernprozess<br />

Das oberste Lernziel der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. ist das weitgehend<br />

selbstbestimmte lebenslange <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen <strong>als</strong> übergeordnetes<br />

Leitmotiv: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich". (2.10.) Es will kein bloßes Kopfwissen, <strong>als</strong>o<br />

vornehmlich theoretisch-intellektuelles Wissen des Ichs vermitteln, sondern<br />

105


nachhaltig erarbeitetes, handlungsorientiertes Wissen, das das körperlich-emotionale<br />

Selbst mit einschließt <strong>und</strong> zum Praxistransfer befähigt. Es ist ein Unterschied, ob<br />

Wissen nur in Schule <strong>und</strong> Hochschule erworben <strong>und</strong> gespeichert, somit auf "Vorrat"<br />

gelernt wird, oder ob es ermöglicht, im Verlaufe des Lebens Schritt zu halten mit<br />

aktuellen, jeweils neuen Konfrontationen von Informationen <strong>und</strong> Veränderungen -<br />

kurzum zum lebenslangen <strong>Lernen</strong> auch ohne Lehrende. Sie sind, wenn dieser<br />

Lernprozess gelingt, nach Schule <strong>und</strong> Hochschule <strong>als</strong> sek<strong>und</strong>äre<br />

Sozialisationsinstanzen entbehrlich, aber nicht von vornherein.<br />

Der anvisierte Lernprozess geht davon aus, das es idealtypisch-modellhaft zwei<br />

Wege des <strong>Lernen</strong>s gibt: 1. durch Rezeption <strong>und</strong> Auseinandersetzung mit<br />

vorhandenem, vorgegebenem Wissen, das nachvollzogen, überprüft, kritisiert,<br />

ergänzt <strong>und</strong> so weiterentwickelt <strong>und</strong> neu aufgebaut, oft aber nur reproduziert <strong>und</strong><br />

konsumiert wird; 2. durch weitgehend selbstbestimmte Erarbeitung <strong>und</strong> Überprüfung<br />

neuen, entstehenden Wissens auf der Gr<strong>und</strong>lage von Quellen erster Hand, die den<br />

Rohstoff dafür liefern.<br />

Der erste Weg ist die Regel: Wissen aus analogen <strong>und</strong> digitalen Bibliotheken<br />

(Sek<strong>und</strong>ärliteratur: Fach-, Sach- <strong>und</strong> Schulbücher, Zeitschriften <strong>und</strong> Aufsätze,<br />

Datenbanken) <strong>und</strong> dem Internet u.a. wird ausgewertet, rezipiert, ergänzt, oft nur<br />

passiv reproduziert <strong>und</strong> konsumiert - es ist ein sek<strong>und</strong>ärer Lernprozess auf der Basis<br />

bestehenden, vorhandenen Wissens. Der zweite Weg ist in unserer schnelllebigen<br />

Zeit die Ausnahme von der Regel: kein fertiges Produkt, sondern Quellen <strong>und</strong> Daten<br />

sind der Rohstoff, aus dem selbstbestimmt <strong>neues</strong> Wissen entsteht - es ist ein<br />

vornehmlich primärer aktiver Lernprozess: mühsamer, zeit- <strong>und</strong> arbeitsaufwändiger<br />

<strong>als</strong> der vornehmlich sek<strong>und</strong>äre, passive.<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> orientiert sich am primären statt üblichen sek<strong>und</strong>ären Lernprozess.<br />

Damit können vor allem Jugendliche ihre individuellen Fähigkeiten an den Quellen<br />

erproben <strong>und</strong> aus ihnen aus erster Hand lernen statt fertiges Wissen passiv zu<br />

übernehmen <strong>und</strong> zu konsumieren - sei es von Multiplikatoren, sei es aus<br />

Schulbüchern, die Wissen aus zweiter, oft dritter oder unbekannter Hand anbieten<br />

<strong>und</strong> weitergeben.<br />

Die Unterscheidung ist, wie bereits gesagt, idealtypisch-modellhaft. Sie beruht auf<br />

einer ursprünglich auf Max Weber zurückgehenden "reinen" gedanklichen<br />

Konstruktion, die so in der Realität empirisch nicht vorfindbar ist <strong>und</strong> von störenden<br />

Faktoren abstrahiert, um historische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />

Erfahrungstatsachen gedanklich besser erfassen <strong>und</strong> miteinander vergleichen zu<br />

können. Ein Idealtypus ist daher die theoretisch einseitige "utopische" Steigerung von<br />

Elementen der Wirklichkeit, damit sie sich zu einem widerspruchslosen<br />

106


Idealkonstrukt zusammenfügen. 99 Einen voraussetzungslosen primären Lernprozess,<br />

der jedes Vorwissen ausschließt oder negiert, gibt es nicht.<br />

Aus dem hier vorgestellten Idealtypus oder Modell des selbstbestimmten,<br />

quellenorientierten <strong>und</strong> computergestützten <strong>Lernen</strong>s, aus dem sich keine<br />

"Wirklichkeit" ableiten lässt, ergibt sich die Aufgabe, zu erproben, zu überprüfen <strong>und</strong><br />

zu evaluieren, wie nahe oder wie fern die "pädagogische Wirklichkeit" <strong>und</strong> ihr Alltag<br />

zum idealtypischen Konstrukt stehen. Dies lässt sich nur an Schulen im In- <strong>und</strong><br />

Ausland sowie in der außerschulischen politischen Bildung testen.<br />

Parallelen zum hier vorgeschlagenen Modell ergeben sich mit dem "selbstregulierten<br />

<strong>Lernen</strong>", das in der PISA-Studie vorgestellt <strong>und</strong> empfohlen wird: "sich selbstständig<br />

Lernziele zu setzen, dem Inhalt <strong>und</strong> Ziel angemessene Techniken <strong>und</strong> Strategien<br />

auszuwählen <strong>und</strong> sie auch einzusetzen". Dieses Modell geht davon aus, dass<br />

<strong>Lernen</strong>de sich selbst realistisch motivieren, korrigieren, evaluieren <strong>und</strong> mit "einem<br />

flexibel einsetzbaren Repertoire von Strategien zur Wissensaufnahme <strong>und</strong><br />

Wissensverarbeitung sowie zur Überwachung der am <strong>Lernen</strong> beteiligten Prozesse"<br />

arbeiten können. "Im Unterschied zu fachbezogenen, kognitiven Kompetenzen<br />

beruht selbstreguliertes <strong>Lernen</strong> auf einer Handlungskompetenz, bei der die<br />

insgesamt notwendigen <strong>und</strong>/oder verfügbaren kognitiven, motivationalen <strong>und</strong><br />

sozialen Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln <strong>und</strong> Leisten<br />

zusammenwirken." 100 Dieses Modell stellt höhere Anforderungen <strong>und</strong> Erwartungen an<br />

die <strong>Lernen</strong>den <strong>als</strong> das hier vertretene des weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s,<br />

das die Lehrenden in den Lernprozess integrieren will <strong>und</strong> sie für unentbehrlich hält.<br />

Wie beim selbstregulierten <strong>Lernen</strong> geht es um "fächerübergreifende Kompetenz"<br />

(Jürgen Baumert u.a.). Ähnlichkeiten ergeben sich mit dem "entdeckenden <strong>Lernen</strong>",<br />

auch forschendes <strong>Lernen</strong> genannt, das der wiederholt zitierte Geschichtsdidaktiker<br />

Wolfgang Hug (3.7.) empfiehlt. 101<br />

99 Max Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong> sozialpolitischer Erkenntnis. In:<br />

Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988. Seiten 146ff. <strong>und</strong> 153ff.<br />

100 PISA 2000. Seite 271- 298, zit. 271. Auf Seite 298 ist die Fachliteratur aufgeführt, u.a. Baumert,<br />

Klieme, Neubrand u.a. (1999), Simons (1992), Weinert (1999) <strong>und</strong> Boekaerts (1999).<br />

101 Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. Befragungen, Analysen <strong>und</strong><br />

Perspektiven. Frankfurt a. M. 1980. Seiten 152ff., zur Lehrer/innenrolle Seite 154.<br />

107


4.2. Wozu <strong>und</strong> warum lernen?<br />

Zwei ausgewählte interdependente Teillernziele: Neue Politische Bildung<br />

(NPB) <strong>und</strong> Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

Die D-Dok. kennt keine Lehrziele, sondern nur Lernziele, die sich <strong>als</strong> Teilziele aus<br />

dem Leitmotiv des weitgehend selbstbestimmten lebenslangen <strong>Lernen</strong>s an <strong>und</strong> mit<br />

den Quellen ableiten lassen oder mit ihm zusammenhängen (<strong>Quellenarbeit</strong>). Diese<br />

Teillernziele bedingen sich gegenseitig so, dass sie nur idealtypisch voneinander<br />

getrennt werden können. Sie sind davon abhängig, ob sie an allgemein bildenden<br />

oder berufsbildenden Schulen, an Hochschulen, in der Erwachsenenbildung oder in<br />

der Weiter- <strong>und</strong> Fortbildung umgesetzt werden sollen <strong>und</strong> bedürfen darüber hinaus<br />

einer entwicklungsstufengerechten Differenzierung.<br />

Unter 5.2. wird der Katalog der Teillernziele für allgemein bildende Schulen <strong>als</strong><br />

Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> vorgestellt <strong>und</strong> unter 7. nach Adressen<br />

für die schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung aufgeschlüsselt.<br />

Im Folgenden werden zwei aufeinander bezogenen Lernziele <strong>als</strong> Schwerpunkte der<br />

D-Dok. herausgegriffen: 1. Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong> 2. Selbst- <strong>und</strong> Ich-<br />

Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz.<br />

-1. Neue Politische Bildung (NPB): Die <strong>Lernen</strong>den sollen durch Üben weitgehend<br />

selbstbestimmt Kompetenzen erwerben, um sich in der Quellendatenbank<br />

interdisziplinär nach ihren Fragestellungen eigenständig-kritisch zurechtzufinden <strong>und</strong><br />

so den Herausforderungen des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen<br />

werden. Zu dieser Neuen Politischen Bildung (NPB) gehören: 1. historische,<br />

politische, sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> fremdsprachliche Kenntnisse, 2. das Wissen<br />

um Rechte <strong>und</strong> Pflichten in der Demokratie, um an ihr teilhaben <strong>und</strong> sie schützen zu<br />

können, 3. mathematisch-technische <strong>und</strong> praktische Fertigkeiten, sich Zugang zu<br />

vielfältigen Informationsquellen zu verschaffen, mit ihnen kritisch umzugehen <strong>und</strong> so<br />

von ihnen zu profitieren. Diese Fähigkeiten sollen durch die D-Dok. vermittelt <strong>und</strong> in<br />

der Informationsgesellschaft umgesetzt werden. In der Demokratie bieten sich dazu<br />

viele Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen: sich selbst zu entfalten, an ihr zu partizipieren <strong>und</strong><br />

sich in ihr gesellschaftlich oder politisch zu engagieren.<br />

Eine so verstandene politische Bildung erfüllt eine Doppelfunktion: "Sie ist<br />

unverzichtbar", so B<strong>und</strong>estagspräsident Wolfgang Thierse in einem Schreiben an<br />

mich vom 11. Januar 2002, "wenn die Teilhabe an unserer Demokratie nicht nur<br />

abstraktes Angebot bleiben, sondern von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern <strong>als</strong> konkrete<br />

Möglichkeit wahrgenommen werden soll, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu<br />

108


nehmen <strong>und</strong> unser Staatswesen zu gestalten." 102 Aber umgekehrt ist politische<br />

Bildung auch unabdingbar für die Selbsterhaltung einer freiheitlichen Demokratie,<br />

denn sie lebt von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern, die sie tragen <strong>und</strong> weiterentwickeln.<br />

Zur Konzeption der Neuen Politischen Bildung (NPB) <strong>und</strong> ihrer idealtypischen<br />

Charakterologie wird auf 6., vor allem 6.1. - 6.4. verwiesen.<br />

-2. Selbstentfaltung <strong>und</strong> Ich- Entwicklung: Zur Handlungsfreiheit <strong>und</strong> Freiheit der<br />

Person heißt es in Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz: "Jeder hat das Recht auf die freie<br />

Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt <strong>und</strong> nicht<br />

gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Nach dem<br />

Verfassungsrang ist die freie Persönlichkeit mit der unantastbaren Menschenwürde<br />

ausgestattet (Artikel 1 Absatz 1 GG) <strong>und</strong> der oberste Wert schlechthin. Artikel 2<br />

Absatz 1 GG verbürgt ein subjektiv-öffentliches Recht, das unmittelbar gilt,<br />

einklagbar <strong>und</strong> gegen unberechtigte staatliche Eingriffe geschützt ist. Das<br />

Gr<strong>und</strong>recht bindet daher die Staatsgewalt <strong>und</strong> steht nicht zur Disposition des<br />

Gesetzgebers. Als allgemeines Menschenrecht steht das Jedermann-Recht aus<br />

Artikel 2 Absatz 1 GG auch Ausländern/innen in <strong>Deutschland</strong> zu. Zwar ist das<br />

Gr<strong>und</strong>recht der Freizügigkeit auf Deutsche <strong>und</strong> das B<strong>und</strong>esgebiet beschränkt (<br />

Artikel 11 GG), dies schließt jedoch nicht aus, Artikel 2 Absatz 1 GG auf den<br />

Aufenthalt von Menschen in der BRD anzuwenden. 103<br />

Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 GG<br />

schützt nach dem Elfes-Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 16. Januar 1957<br />

die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne, nicht nur einen "Kernbereich der<br />

Persönlichkeit". 104 Das Gr<strong>und</strong>recht stößt allerdings auf drei Schranken: 1. ist es nur<br />

innerhalb der "verfassungsmäßigen Ordnung" geschützt, darf <strong>als</strong>o nicht für<br />

102 Ich hatte mich am 19. November 2001 an Wolfgang Thierse mit der Bitte um ideelle Unterstützung<br />

für das Projekt gewandt, z.B. bei der Nutzung der B<strong>und</strong>estagsbibliothek sowie der Beschaffung von<br />

Dokumentenkopien, Fachbüchern, Materialien u.a. Er hat dies in seinem Antwortschreiben vom 11.<br />

Januar 2002 befürwortet <strong>und</strong> so begründet: "Wie Sie völlig zu Recht hervorheben, liegt mir die<br />

politische Bildung sehr am Herzen. Sie ist unverzichtbar, wenn die Teilhabe an unserer Demokratie<br />

nicht nur abstraktes Angebot bleiben, sondern von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern <strong>als</strong> konkrete<br />

Möglichkeit wahrgenommen werden soll, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen <strong>und</strong> unser<br />

Staatswesen zu gestalten. Ich begrüße deshalb alle Projekte, die durch die Vermittlung von<br />

Kenntnissen zur politischen Bildung beitragen." - Ein Großteil der Reden Thierses <strong>als</strong><br />

B<strong>und</strong>estagspräsident sind in die D-Dok. übernommen worden, weil sie eine F<strong>und</strong>grube für die<br />

politische Bildung sind.<br />

103 Beschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 18. Juli 1973: BVerfGE 35, 382 - 409, zit. 399. Die<br />

B<strong>und</strong>esregierung hatte die Auffassung vertreten, Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste Ausländern nur im<br />

Rahmen der allgemeinen Gesetze ein Aufenthaltsrecht, so dass nach dem Ausländergesetz vom 28.<br />

April 1965 kein Aufenthaltsanspruch bestehe (394). Vgl. dazu auch BVerfGE 6, 32ff., 36.<br />

104 BVerfGE 6, 32 - 45, zit. 37f. Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG gilt auch für<br />

Handelsgesellschaften <strong>und</strong> gewährleistet sie auf wirtschaftlichem Gebiet (Urteil des<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 29. Juli 1959: BVerfGE 10, 89ff., 99). Zum Elfes-Urteil: Adalbert<br />

Podlech in: AK-GG-Stein 2. Auflage 1989. Art. 2 Abs. 1 I Rz 6-16.<br />

109


verfassungsfremde <strong>und</strong> -feindliche Ziele missbraucht werden; 105 2. ist es durch "die<br />

Rechte anderer" begrenzt, die nicht verletzt werden dürfen, soweit sie subjektive<br />

Rechte des Privatrechts <strong>und</strong> damit schutzwürdige Interessen sind. Dies entspricht<br />

dem Rechtsgr<strong>und</strong>satz des neminem laedere; 3. ist es an das "Sittengesetz"<br />

geb<strong>und</strong>en, worunter die herrschenden Moralvorstellungen der Allgemeinheit zu<br />

verstehen sind. Dies ist zu vage, da sich z. B. der sexuelle Moralkodex nicht<br />

verallgemeinern lässt <strong>und</strong> einem Wandel unterworfen ist. 106<br />

Bei Artikel 2 Absatz 1 GG handelt es sich um ein für jedermann verbürgtes<br />

Gr<strong>und</strong>recht, es sagt aber nichts darüber aus, ob <strong>und</strong> wie es individuell genutzt oder<br />

realisiert wird. Über die Sollensvorschriften gibt es sehr viel Literatur <strong>und</strong><br />

Kommentare, die sich jedoch - ihrem normativen Charakter entsprechend - darüber<br />

ausschweigen, wie es um den empirischen Bef<strong>und</strong> des Artikels 2 Absatz 1 GG<br />

bestellt ist. Hier geht es um die Kluft, die zwischen Verfassungsrecht <strong>und</strong><br />

Verfassungswirklichkeit besteht, zwischen Sollen <strong>und</strong> Sein, zwischen Norm <strong>und</strong><br />

Realität.<br />

Verfassungs- <strong>und</strong> Staatsrechtler weisen darauf hin, dass Artikel 2 Absatz 1 GG eine<br />

"Gr<strong>und</strong>rechtsmündigkeit" voraussetzt, die auch für Kinder gilt. So bezeichnet Josef<br />

Isensee "die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit zur Eigenverantwortung"<br />

<strong>als</strong> Erziehungsideal <strong>und</strong> ungeschriebenes Leitbild. Er definiert das Kindeswohl, das<br />

nach Artikel 6 Absatz 2 GG "zuvörderst" den Eltern obliegt, <strong>als</strong> "leibliche, seelische<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Tüchtigkeit". Den Auftrag der Schule sieht er darin, "zu<br />

eigenverantwortlichem Gebrauch der gr<strong>und</strong>rechtlichen Freiheit anzuleiten". 107<br />

Thomas Oppermann weist der fächerübergreifenden politischen Bildung eine<br />

Sonderstellung bei der Selbstgestaltung des eigenen Lebensweges zu, die<br />

Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten voraussetze. Für ihn ist Leistung ein "unabdingbarer<br />

Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung, somit ein Entfaltungsraum für das<br />

Gr<strong>und</strong>recht aus Art. 2 Abs. 1 GG". Für Oppermann ist das Gr<strong>und</strong>gesetz untrennbar<br />

"mit dem Appell an die Leistung im Sinne der Erfüllung quantitativer <strong>und</strong> qualitativer<br />

105 Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell <strong>und</strong> materiell mit der<br />

Verfassung in Einklang steht (BVerfGE 6, 32, zit. 38f. [Elfes]). Vgl. dazu Starck, in: v.<br />

Mangoldt/Klein/Starck (1999), GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnrn 23-30.<br />

106 Günter Erbel: Das Sittengesetz <strong>als</strong> Schranke der Gr<strong>und</strong>rechte. Ein Beitrag zur Auslegung des Art.<br />

2 Abs. 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Berlin 1971. Dass das Sittengesetz zeit- <strong>und</strong> anschauungsbedingt ist,<br />

beweist auch die Rechtsprechung; vgl. Erbel, Seiten 50ff., zur Verfassung 145ff. Eine<br />

Bestandsaufnahme gibt Jürgen Müller: Auswirkungen der unterschiedlichen Auffassungen zum<br />

Rechtscharakter des Art. 2 Abs. 1 GG <strong>und</strong> zu dessen Schranken. Darstellung <strong>und</strong> Kritik. Hamburg<br />

1972.<br />

107 Josef Isensee: Gr<strong>und</strong>rechtsvoraussetzungen <strong>und</strong> Verfassungserwartungen. In: Handbuch des<br />

Staatsrechts der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Herausgegeben von Josef Isensee <strong>und</strong> Paul Kirchhof.<br />

Band V. Heidelberg 1992. Seite 443.<br />

110


Standards verb<strong>und</strong>en", um die eigenen Entwicklungschancen zu erkennen <strong>und</strong><br />

wahrzunehmen. 108<br />

Einverständnis herrscht unter den Verfassungs- <strong>und</strong> Staatrechtlern auch darüber,<br />

dass Artikel 2 Absatz 1 GG Toleranz gebietet <strong>und</strong> Indoktrination verbietet. Dies folgt<br />

aus dem "Persönlichkeitsrecht des Kindes" <strong>und</strong> dem "Gr<strong>und</strong>recht der Schüler", die<br />

Eltern ebenso verpflichten wie Schulen <strong>und</strong> sie damit binden. 109 Zehn Jahre, bevor<br />

das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Juni 1977 zum<br />

hessischen Gesetz über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26.<br />

Oktober 1976 dem einzelnen Kind das Recht "auf eine möglichst ungehinderte<br />

Entfaltung seiner Persönlichkeit <strong>und</strong> damit seiner Anlagen <strong>und</strong> Befähigungen"<br />

bestätigte 110 , hatte Ekkehart Stein in seiner gr<strong>und</strong>legenden, wenngleich inzwischen<br />

veralteten Studie das "Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule"<br />

begründet <strong>und</strong> hervorgehoben, dass Kinder <strong>und</strong> Schüler eigenwertige Subjekte, aber<br />

keine Objekte staatlicher Erziehungsmaßnahmen seien. 111 Das Kind hat auch ein<br />

Recht auf Kenntnis seiner Abstammung, da sie - so Christian Starck - "wichtige<br />

Anknüpfungspunkte für das Verständnis <strong>und</strong> die Entfaltung der eigenen<br />

Individualität" liefert. 112<br />

Das Gr<strong>und</strong>recht aus Artikel 2 Absatz 1 GG ist kein normatives Abstraktum, sondern<br />

ein konkretes Lernziel, das lebenslang gilt (2.10.). Es geht um Reifungsprozesse<br />

(Maturational Processes), die einer entwicklungsstufengerechten "fördernden<br />

Umwelt" (Facilitating Environment) bedürfen <strong>und</strong> über das Konzept Winnicotts<br />

hinausgehend auch einer Leistung fordernden Umwelt (Facilitating and Demanding<br />

Environment). Sie werden so von der primären, <strong>als</strong>o familialen auf die sek<strong>und</strong>äre, vor<br />

allem schulische Sozialisation übertragen, jedoch entwicklungsphasengerecht<br />

abgewandelt <strong>und</strong> mit dem Leistungsappell aus Artikel 2 Absatz 2 GG verknüpft.<br />

In den ersten Lebensjahren ist eine Bezugsperson erforderlich, in der Regel die<br />

Mutter, die Geburtshelferdienste leistet <strong>und</strong> eine Spiegelfunktion bei der Entstehung<br />

des Selbst <strong>und</strong> des Ichs ausübt, damit das Kind sich narzisstisch entfalten <strong>und</strong> ein<br />

ges<strong>und</strong>es Selbstwertgefühl entwickeln kann (1.4.). Unentbehrlich sind aber auch<br />

108 Thomas Oppermann: Schule <strong>und</strong> berufliche Ausbildung. In: Handbuch des Staatsrechts der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Band VI. Heidelberg 1989. Seiten 329ff., zit. 344ff., 348, 349.<br />

109 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnrn. 139 ("Gr<strong>und</strong>recht der<br />

Schüler"), 171 ("Persönlichkeitsrecht des Kindes") mit Nachweisen.<br />

110 BVerfGE 45, 400 - 421, zit. 417 (Ein Recht auf Bildung ist im GG nicht verankert <strong>und</strong> vom<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgericht ebenda offen gelassen worden). - Das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG "setzt<br />

die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person <strong>als</strong> unabdingbar<br />

voraus", gilt <strong>als</strong>o nicht für Tote; so das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seiner "Mephisto"-Entscheidung<br />

vom 24. Februar 1971, die Klaus Manns Schlüsselroman "Mephisto" über Gustaf Gründgens betrifft,<br />

der am 7. Oktober 1963 gestorben war (BVerfGE 30, 173ff., zit. 194).<br />

111 Ekkehart Stein: Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule. Neuwied/Berlin 1967.<br />

Vgl. dazu neu Ekkehart Stein/Götz Frank: Staatrecht. 17. Auflage. Tübingen 2000. Seiten 433ff.<br />

112 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 102.<br />

111


Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, die unter gr<strong>und</strong>legend veränderten Bedingungen<br />

Schulkinder <strong>und</strong> Schüler/innen fördern <strong>und</strong> fordern, damit sie lernen, sich zu<br />

entfalten <strong>und</strong> in die Informationsgesellschaft "hineinzuwachsen". Was der<br />

Psychoanalytiker Martin Altmeyer <strong>als</strong> "Intersubjektivität" der narzisstischen<br />

Selbstbezogenheit verfremdet, hat der Jurist Dieter Suhr glänzend <strong>und</strong> für jedermann<br />

verständlich ausgedrückt: <strong>als</strong> "Entfaltung der Menschen durch die Menschen", da<br />

Artikel 2 Absatz 1 GG einer sozialen Brücke durch "andere <strong>als</strong> Bedingung" der<br />

eigenen Existenz bedürfe. 113<br />

Diese "Entfaltung der Menschen durch die Menschen" setzt bei Multiplikatoren<br />

voraus, dass sie zur Selbstreflektion oder zur inneren Selbstwahrnehmung bereit <strong>und</strong><br />

fähig sind. Sie sind erlernbar. Sie erfordern jedoch, innere Blockaden <strong>und</strong> schwarze<br />

Löcher (1.4.) wahrzunehmen. Wer <strong>als</strong> Lehrer oder Lehrerin den Mut hat, die D-Dok.<br />

in der Schule zu erproben, begibt sich auf eine unbekannte Reise nicht nur in die<br />

deutsche, sondern auch in die eigene Vergangenheit. Dann können Multiplikatoren<br />

nicht umhin, sich emotional <strong>und</strong> intellektuell damit auseinanderzusetzen, ob sie sich<br />

den Herausforderungen der <strong>Quellenarbeit</strong> in der II. Stufe stellen oder ihnen<br />

ausweichen. Oft wird diese Konfrontation mit dem eigenen Selbst so brüsk sein, dass<br />

eine Erprobung der D-Dok. im Unterricht ausscheidet oder scheitert.<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer sind kein Elternersatz <strong>und</strong> keine Psychotherapeuten, obwohl<br />

sie von Kindern <strong>und</strong> Schülern/innen so oft - meist unbewusst - wahrgenommen<br />

werden, <strong>und</strong> Schulverwaltungen dies manchmal von ihnen erwarten. Es geht nicht<br />

darum, Abhängigkeitsverhältnisse aus der Kindheit zu pflegen <strong>und</strong> zu verlängern, um<br />

sie auf Schule <strong>und</strong> Ausbildung auszudehnen <strong>und</strong> so fortzusetzen, sondern es geht<br />

langfristig darum, sie zu entpersonalisieren <strong>und</strong> damit aufzuheben. Die D-Dok. will<br />

dies fördern dadurch, dass die von der Bezugsperson, <strong>als</strong>o in der Regel von der<br />

Mutter, ausgeübte primäre Spiegelfunktion vorübergehend sek<strong>und</strong>är von<br />

Lehrern/innen wahrgenommen, aber schließlich von Quellen <strong>als</strong> Informationen erster<br />

Hand übernommen <strong>und</strong> damit versachlicht wird - wie in 2.8.<strong>und</strong> 2.9. beschrieben.<br />

Erst damit werden Lehrende im selbstbestimmten Lernprozess entbehrlich.<br />

Die Realitäten in Familie, Schule <strong>und</strong> Ausbildung stimmen häufig nicht mit den<br />

Sollensvorschriften überein. Am 29. Juli 1968 hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

zum Artikel 6 Absatz 2 GG ausgeführt: "Die Anerkennung der Elternverantwortung<br />

<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Rechte findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind<br />

des Schutzes <strong>und</strong> der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen<br />

Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem<br />

Menschenbilde des Gr<strong>und</strong>gesetzes entspricht." 114 So sollte es sein. Viele Eltern<br />

113 Martin Altmeyer: Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit.<br />

Göttingen 2000; Dieter Suhr: Entfaltung der Menschen durch die Menschen. Zur Gr<strong>und</strong>rechtsdogmatik<br />

der Persönlichkeitsentfaltung, der Ausübungsgemeinschaften <strong>und</strong> des Eigentums. Berlin 1976. Seiten<br />

80ff., zit. 88. Zur Entstehung des Art. 2 Abs. 1 GG <strong>und</strong> zum Sittengesetz: Seiten 51ff. <strong>und</strong> 151ff.<br />

114 BVerfGE 24, 119ff., zit. 144. - Ist das Kindeswohl gefährdet, gelten die §§ 1666ff. BGB.<br />

112


finden jedoch keine oder nur wenig Zeit für ihre Kinder <strong>und</strong> betäuben ihr schlechtes<br />

Gewissen, das sie ihnen gegenüber empfinden, mit klingender Münze, <strong>als</strong> könnten<br />

sie ihnen auszahlen, was sie ihnen schuldig geblieben sind: emotionalen Zugang<br />

(Empathie), Wärme, Geborgenheit <strong>und</strong> nicht zuletzt Verantwortung, Zuspruch, Halt<br />

<strong>und</strong> Beispiel.<br />

"Kinder dürfen ihre Eltern berechtigt anklagen", so Winnicott, "wenn sie ihnen,<br />

nachdem sie sie in die Welt gesetzt haben, nicht den Start ins Leben ermöglichen,<br />

den zu geben sie verpflichtet sind." 115 Dies ändert jedoch nichts daran, dass solche<br />

gestörten oder kaputten Familien Gesellschaft <strong>und</strong> Staat enorm belasten <strong>und</strong> sich<br />

verheerend auf Schule <strong>und</strong> Ausbildung auswirken. Nachträglich reparieren, was in<br />

der Familie gescheitert ist, können Schule <strong>und</strong> Gesellschaft nur sehr begrenzt,<br />

allenfalls sek<strong>und</strong>är (2.9.). Eltern, die versagt haben, <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />

Schulverwaltungen muten Lehrern/innen oft zu, zusätzlich zu ihren Lehraufgaben<br />

einen psychologischen <strong>und</strong> familiären Lastenausgleich zu übernehmen.<br />

4.3. Was recherchieren <strong>und</strong> wie selektieren?<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Teilbereiche technischer <strong>und</strong> mathematischer<br />

Kompetenz: Vorauswahl <strong>und</strong> Auswahl von Informationen durch die<br />

<strong>Lernen</strong>den mit den Lehrenden <strong>als</strong> fördernde <strong>und</strong> fordernde Umwelt<br />

Technische Voraussetzung ist ein Desktop Computer oder ein Notebook/Laptop<br />

(Hardware) mit DVD-Laufwerk <strong>als</strong> Medium <strong>und</strong> der erforderlichen Software. Ohne sie<br />

<strong>und</strong> die Fertigkeiten, mit ihnen umzugehen, ist der Zugang zur D-Dok. blockiert. Auf<br />

die technische Kurzanleitung im Booklet der DVD-D-Dok. <strong>und</strong> die dort unter<br />

Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen gespeicherte ausführliche Testversion zur Software wird<br />

verwiesen.<br />

Informationen aus erster Hand recherchieren <strong>und</strong> selektieren heißt: Quellen nach<br />

Themen- <strong>und</strong> Fragestellungen suchen <strong>und</strong> finden, sammeln <strong>und</strong> wählen, heuristisch<br />

sichten, reflektieren <strong>und</strong> endgültig auswählen. Ein zielloses Surfen in einem Meer<br />

von Informationen dient allenfalls dem Zeitvertreib, hilft aber nicht, zielgerichtet<br />

Informationen zu beschaffen. Angesichts des breiten, weiten <strong>und</strong> umfangreichen<br />

115 D. W. Winnicott: Kind, Familie <strong>und</strong> Umwelt. München/Basel 1969. Seite 231. - Winnicott meinte,<br />

dass die Erkenntnis des Wertes der Familie stark zugenommen habe <strong>und</strong> dass die "lange <strong>und</strong><br />

mühsame Aufgabe der Eltern, ihre Kinder genau kennenzulernen, eine Arbeit ist, für die sich die Mühe<br />

lohnt. Und wir glauben tatsächlich, daß dies die einzige wirkliche Gr<strong>und</strong>lage für den Aufbau der<br />

menschlichen Gesellschaft darstellt <strong>und</strong> der einzige Weg ist, wie man eine demokratische Einstellung<br />

gewinnt." (ebenda)<br />

113


Quellenf<strong>und</strong>us, den die Datenbank anbietet, kann ich mir die Themen, über die ich<br />

Informationen suche, in der Regel selbst aussuchen.<br />

Da die D-Dok. nur Rohstoff-Informationen <strong>als</strong> Quellen <strong>und</strong> keine fertigen Antworten<br />

<strong>und</strong> Meinungen anbietet, stellt sich die Frage, was ich will. Wie beschaffe ich mir jene<br />

Informationen, die ich suche? Habe ich sie gef<strong>und</strong>en, ausgeschöpft oder übersehen?<br />

Hier geht es zunächst um die Informationsrecherche <strong>und</strong> -beschaffung.<br />

Die dafür erforderliche Kompetenz entspricht großenteils der in der PISA-Studie I<br />

beschriebenen "mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung" (Mathematical Literacy). Sie soll<br />

dazu befähigen, "die Anwendbarkeit mathematischer Konzepte <strong>und</strong> Modelle auf<br />

alltägliche - vor allem auch offene, nicht gut definierte - Problemstellungen zu<br />

erkennen, die einem Problem zu Gr<strong>und</strong>e liegende mathematische Struktur zu sehen<br />

<strong>und</strong> Aufgabenstellungen in mathematische Operationen zu übersetzen. Den Kern<br />

von Mathematical Literacy bildet somit das Anwenden, verstanden <strong>als</strong> Prozess des<br />

Modellierens von Situationen mithilfe mathematischer Begriffe." 116 An die Stelle einer<br />

"fertigen" oder "richtigen" Mathematik tritt ein "Mathematisierungsprozess": das<br />

"Verknüpfen von Situationen" mit mathematischen Ansätzen, bezogen auf<br />

anwendungsbezogene Aufgaben beim "Prozess der Erstellung, Verarbeitung <strong>und</strong><br />

Interpretation eines mathematischen Modells", so dass die Lösung mathematischer<br />

Aufgaben <strong>als</strong> "Modellierungsprozess" erscheint. 117<br />

Dazu befähigen die in der technischen Kurzanleitung der DVD-D-Dok. aufgeführten<br />

<strong>und</strong> in der Testversion (DVD-Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen) ausführlich<br />

beschriebenen Suchoptionen mit ihren anwendungsbezogenen "offenen"<br />

mathematischen Operationen, die auf dem Modell der Booleschen Algebra<br />

(Schaltalgebra) mit ihren binären Verknüpfungen von Eingangs- <strong>und</strong><br />

Ausgangsvariablen beruhen. Sie lassen sich auch graphisch <strong>und</strong> <strong>als</strong><br />

Schaltfunktionen darstellen <strong>und</strong> so veranschaulichen. Auf die Ausführungen unter<br />

4.6.<strong>und</strong> 4.7., wo es um die modellhafte Generalisierung des Textverstehens geht,<br />

wird verwiesen. Da die Booleschen Suchprozesse auch technische Fertigkeiten im<br />

Umgang mit Hardware <strong>und</strong> Software erfordern, wird in 4.3. von einem Teilbereich<br />

technischer <strong>und</strong> mathematischer Kompetenz gesprochen. Dies entspricht den<br />

"Anforderungen des gegenwärtigen <strong>und</strong> künftigen Lebens einer Person <strong>als</strong><br />

konstruktivem, engagiertem <strong>und</strong> reflektierendem Bürger". 118<br />

Erste prozessuale Operation ist die Fragestellung oder das Forschungsinteresse:<br />

Themenvorschläge <strong>als</strong> Themenkatalog sammeln, sie historisch-politisch <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftlich hinterfragen, diskutieren <strong>und</strong> bewerten.<br />

116 PISA 2000. Seite 141f. Zusammenfassende Darstellung der PISA-Dimensionen Seite 23.<br />

117 PISA 2000. Seite 143ff. Dort sind auch Literaturhinweise aufgeführt.<br />

118 PISA 2000. Seite 23 zur "mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung".<br />

114


Themeneinfälle beruhen auf Intuitionen, die möglichst spontan, <strong>als</strong>o ohne langes<br />

Überlegen, Nachdenken, Reflektieren oder gar Grübeln "da sind". Sie sollen den<br />

Quellenf<strong>und</strong>us der D-Dok., der virtuell vorliegt, aktivieren <strong>und</strong> erschließen helfen.<br />

Ohne Fragen, d. h. Forschungsinteressen, keine Antworten; denn Quellen sprechen<br />

nicht für sich selbst <strong>und</strong> von allein, sondern nur, wenn sie "angezapft" werden. Die<br />

Datenbank bietet dafür Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen in den<br />

Jahren 1945 - 2004 an, die dem Katalog in 2.2. entnommen werden können.<br />

Themenstellung <strong>und</strong> Fragestellungen sollen zunächst vage bleiben <strong>und</strong> nicht zu sehr<br />

eingeengt - <strong>als</strong>o offen sein. Es ist wichtig, dass die <strong>Lernen</strong>den sie diskutieren,<br />

"basisdemokratisch" aushandeln <strong>und</strong> einen mehrheitlich breiten Konsens über sie<br />

erzielen. Nur so können sie sich mit ihnen identifizieren <strong>und</strong> sich für sie engagieren.<br />

Von Lehrern/innen oder Lehrplänen aufoktroyierte Themen, die offen oder versteckt<br />

Unmut, auch angepasstes Zwangsverhalten oder eine innere Abwehr auslösen<br />

können, eignen sich nicht zum selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>. Suggestiv sind Fragen, die<br />

die Antworten vorwegnehmen oder sie präjudizieren.<br />

Idealtypische Fragestellungen oder Forschungsinteressen<br />

Was interessiert mich?<br />

Was will ich wissen?<br />

Wie sollen Thema <strong>und</strong> Fragestellungen ungefähr lauten?<br />

Gründe dafür?<br />

Sind die Fragestellungen offen oder relativ festgelegt?<br />

Alternativen dazu?<br />

Was sind die Bezugsfelder?<br />

Wie grenze ich sie ein oder erweitere sie?<br />

Worin besteht mein oder das Vorwissen?<br />

Was sind meine Erwartungen?<br />

Meine Ahnungen?<br />

Meine Hypothesen?<br />

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Fragestellungen?<br />

Fragen entspringen der kindlichen Neugier <strong>und</strong> dem Staunen darüber, was es in der<br />

Welt alles zu entdecken gibt. Sie sind der Ursprung jeder Erfahrung, jeder Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> des gespeicherten menschlichen Wissens, aber auch der Motor von<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung, die es ohne sie nicht gäbe. Zu den Kernaufgaben der<br />

Schule gehört es, diese kindliche Neugier <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Lebendigkeit<br />

<strong>und</strong> Spontaneität zu fördern, statt sie - wie familiär oft geschieht - zu unterdrücken<br />

<strong>und</strong> damit zum Versiegen zu bringen.<br />

Für den unter 2.6. (Quellen) zitierten Johann Gustav Droysen ist die "historische<br />

Frage" f<strong>und</strong>amental für jeden geschichtlichen Lernprozess. "Und in meiner Frage<br />

115


umgrenze ich schon ungefähr, was ich, indem ich sie mir zu beantworten suche, zu<br />

finden erwarte; ich ahne schon, daß noch anderes <strong>und</strong> Wichtigeres <strong>als</strong> ich bis jetzt<br />

weiß, dahintersteckt; meine Frage enthält schon mehr, <strong>als</strong> ich gelernt habe, eine<br />

Ahnung, die mir aus der Gesamtheit dessen, was ich auch sonst bisher innerlich<br />

durchlebt <strong>und</strong> erfahren habe, hervorspringt. Ebendarum kann ich so fragen, frage ich<br />

so." 119 Für Droysen ist die historische Frage der Angelpunkt für jeden historischen<br />

Erkenntnisprozess, der mit ihr beginnt. Spontane, kreative Fähigkeiten sind <strong>als</strong>o<br />

gefragt.<br />

Zweite prozessuale Operation ist die Informationsrecherche: Suchen <strong>und</strong> finden von<br />

Quellen bzw. Quellenstellen gemäß der Themenstellung <strong>und</strong> den Fragestellungen.<br />

Dafür werden vier verschiedene Suchoptionen angeboten. Sie sind in der<br />

technischen Kurzanleitung im Booklet der DVD erwähnt <strong>und</strong> in der ausführlichen<br />

Testversion (DVD-Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen) beschrieben <strong>und</strong> bedürfen<br />

eines Methodentrainings: 1. die Einfache Suche <strong>und</strong> 2. die Expertensuche nach der<br />

Open-Source-Suchmaschine swish-e (www.swish-e.org), 3. die PDF-eigene Suche<br />

(Strg + F) <strong>und</strong> 4. die Adobe Acrobat (Reader) 6-Indices-Suche.<br />

Idealtypische Fragestellungen:<br />

Welche Suchbegriffe gebe ich ein?<br />

Welche Booleschen Kombinationen von ihnen?<br />

Welche Synonyma (bedeutungsähnliche oder bedeutungsgleiche Wörter)?<br />

Welche Homonyma (gleichlautende, aber in der Bedeutung verschiedene Wörter)<br />

liegen vor? Thesaurus benutzt?<br />

Was ist das logische <strong>und</strong> assoziative Umfeld der Suchworte?<br />

Eingrenzungen nach Jahren <strong>und</strong> Koeffizienten?<br />

Vorwissen dazu?<br />

Geschlechtsspezifische Unterschiede?<br />

Hilfe von Lehrern/innen?<br />

Welche Innovationen die elektronische Suche mit sich bringt, schildert der Historiker<br />

Konrad Repgen. Er hat bis Ende 2002 die Acta Pacis Westphalicae (APW)<br />

herausgegeben, eine umfangreiche gedruckte Edition der Akten des Westfälischen<br />

Friedenskongresses (1643 - 1649), dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die<br />

kritische Ausgabe erstreckt sich seit 1958 bzw. 1962 (Band 1) über mehr <strong>als</strong> vier<br />

Jahrzehnte, ohne dass ihr Ende absehbar ist. 120<br />

119 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />

Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage. Darmstadt 1960. Seite 33.<br />

120 Zuständig für die Edition ist die 1957 gegründete "Vereinigung zur Erforschung der Neueren<br />

Geschichte" e. V. in Bonn. Neuer Leiter ist seit Anfang 2003 Maximilian Lanzinner. Seit 1962 sind in<br />

drei Serien mit Abteilungen 27 Bände in 33 Teilbänden mit r<strong>und</strong> 25 000 Druckseiten erschienen. Die<br />

Edition des 28. Bandes steht bevor (Auskunft der Geschäftsführerin Antje Oschmann). Geplant sind<br />

116


"Wer beispielsweise wissen will, ob - <strong>und</strong> wenn Ja: wo - in den publizierten Akten des<br />

Westfälischen Friedens", so Repgen im Mai 1998, "der Terminus aequilibrium,<br />

balance, bilancia, gegengewicht oder gleichgewicht vorkomme, Begriffe, die uns im<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert in nahezu jedem wichtigen außenpolitischen Aktenstück auf Schritt<br />

<strong>und</strong> Tritt begegnen, der ist im Augenblick noch auf das zeitraubende Durchmustern<br />

von r<strong>und</strong> 11 500 Seiten in Großoktav gedruckten Quellentextes angewiesen<br />

(darunter 3000 Seiten im vertrackten Schwedisch des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts). Denn mir ist<br />

<strong>als</strong> Herausgeber der APW leider erst Ende der 80er Jahre eingefallen, daß auch die<br />

Schlagworte der politischen Verkehrssprache im Register erfaßt werden sollten." Das<br />

genannte Beispiel könnte die Kontroverse beilegen, ob das spätere europäische<br />

Gleichgewicht ein gewolltes, <strong>als</strong>o direktes Produkt der Friedensverträge von 1648<br />

gewesen wäre, oder eine unbeabsichtigte, <strong>als</strong>o indirekte Nebenwirkung, wie Repgen<br />

vertreten hatte. 121 "Wäre uns der printmedial publizierte Quellentext der APW auch in<br />

digitalisierter Form zugänglich, was ich anstrebe <strong>und</strong> vielleicht in absehbarer Zeit<br />

erreiche (die Mediävisten verfügen darüber beim Umgang mit Texten der Heiligen<br />

Augustinus <strong>und</strong> Thomas oder des Gratian bekanntlich schon länger), so könnten wir<br />

die entsprechenden Worte vom Rechner in Sek<strong>und</strong>en- <strong>und</strong> Minutenschnelle suchen<br />

lassen." Zutreffend fügt Repgen hinzu: "Was die positiven <strong>und</strong> die negativen<br />

Suchergebnisse dann historisch zu bedeuten hätten, weiß der Computer natürlich<br />

nicht. Das herauszufinden, bleibt (zum Glück) Kunst <strong>und</strong> Handwerk des Historikers -<br />

auch im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> darüber hinaus. Der Computer aber kann uns heute<br />

schon ein so präzises Erkennen <strong>und</strong> Argumentieren ermöglichen, wie es für frühere<br />

Zeiten unerreichbar war." 122<br />

Die nach der Informationsrecherche in der D-Dok. vorliegende negative oder positive<br />

Informationssammlung ist ein solches sek<strong>und</strong>enschnelles Suchergebnis. Es beruht<br />

auf der Sichtung von weit mehr <strong>als</strong> 100.000 abrufbaren Druckseiten, ist somit fast<br />

zehnmal umfangreicher <strong>als</strong> die von Repgen genannten r<strong>und</strong> 11.500 Druckseiten der<br />

Acta Pacis Westphalicae (APW). Diese vorläufige Informationssammlung wird nach<br />

Treffermengen <strong>und</strong> Prozentquoten in der Suchmaske auf dem Monitor angezeigt.<br />

Heute werden alle Menschen, ob sie es wollen oder nicht, täglich mit einer Flut von<br />

Informationen konfrontiert <strong>und</strong> von ihnen überschwemmt, beeinflusst oder verwirrt -<br />

im Beruf, im Alltag, in der Freizeit, durch das gesprochene <strong>und</strong> nonverbale Wort,<br />

durch gedruckte <strong>und</strong> elektronische Medien, vor allem das Fernsehen <strong>und</strong> das<br />

r<strong>und</strong> 40 Bände.<br />

121<br />

Konrad Repgen: Der Westfälische Friede <strong>und</strong> die Ursprünge des europäischen Gleichgewichts. In:<br />

Ders.:<br />

Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Gr<strong>und</strong>fragen der neuzeitlichen Geschichte.<br />

Herausgegeben von Klaus Gotto <strong>und</strong> Hans Günter Hockerts. Paderborn u.a. 1988. Seiten 53-66.<br />

122<br />

Konrad Repgen: Akteneditionen zum späteren 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Lothar Gall/Rudolf<br />

Schieffer (Hrsg.): Quelleneditionen <strong>und</strong> kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica<br />

<strong>und</strong> der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München,<br />

22./23. Mai 1998. München 1999. Seiten zit. 44 - 45.<br />

117


Internet. Dies korrespondiert mit der Flut von Informationen, die die D-Dok. nach<br />

Suchbegriffen <strong>und</strong> ihren Kombinationen mechanisch "ausspuckt". Diese Rohfassung<br />

der Auswahl bedarf der heuristischen Sichtung.<br />

Dritte prozessuale Operation sind Heuristik (griechisch heuriskein = finden,<br />

entdecken) <strong>und</strong> heuristische Verfahren: Die vorläufige Informationssammlung <strong>als</strong><br />

Vorauswahl <strong>und</strong> Rohfassung sichten, durchsehen <strong>und</strong> reflektieren, um zu klären, ob<br />

sie zur Bearbeitung des/r vorgeschlagenen Themas/en <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Fragestellungen ausreicht, sich eignet, lückenhaft oder ungenügend ist.<br />

Anders <strong>als</strong> die Intuition, die auf Einfällen beruht <strong>und</strong> im ersten prozessualen Schritt<br />

gefragt ist, kommt der Heuristik verstärkt ein bewusst anwendungsbezogenes<br />

mathematisches, problemlösendes <strong>und</strong> somit zielgerichtetes, präzisierendes Denken<br />

zu. Für Johann Gustav Droysen ist die Heuristik deshalb "die Kunst des Suchens der<br />

nötigen Materialien". 123<br />

Nach der Informationsrecherche <strong>und</strong> -sammlung sollen die <strong>Lernen</strong>den sich die<br />

Quellen mit den Informationen, die sie brauchen, selbst zusammenstellen, sie<br />

sozusagen herausfiltern <strong>und</strong> auf ihren Aussagewert testen. Diese konkrete Aufgabe<br />

dürfen die Lehrenden nicht übernehmen oder den <strong>Lernen</strong>den abnehmen. Haben<br />

Lehrer/innen Bedenken gegen die geplanten Problemlösungen, so sollten sie dies<br />

auch äußern, aber die Entscheidung darüber der Klassenmehrheit überlassen -<br />

unabhängig davon, ob sie erfolgversprechend oder fragwürdig sind. Scheitern die<br />

<strong>Lernen</strong>den, so hilft dieser Misserfolg ihnen, Erfahrungen zu sammeln <strong>und</strong> ihre<br />

heuristischen Fähigkeiten, Probleme zu lösen, mehr zu steigern <strong>als</strong> ein<br />

Anfangserfolg. Heuristische Verfahren beruhen auf einem Aha-Erlebnis - sei es<br />

positiv, sei es negativ.<br />

Idealtypische Fragestellungen:<br />

Reichen die in der D-Dok. gef<strong>und</strong>enen Quellen <strong>und</strong> Informationen aus?<br />

Sind es zu wenige?<br />

Zu viele?<br />

Aber wenig aussagekräftige?<br />

Engen sie die Entscheidungsfreiheit der <strong>Lernen</strong>den ein?<br />

Oder präjudizieren sie sie?<br />

Sind sie multiperspektivisch?<br />

Um was für Quellengattungen handelt es sich vornehmlich?<br />

Müssen neue, nicht in der Datenbank gespeicherte Quellen beschafft werden?<br />

Sind die bisherigen Themen <strong>und</strong> Fragestellungen zu ändern?<br />

Zu präzisieren?<br />

123 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />

Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage. Darmstadt 1960. Seite 85. Vgl. dazu<br />

auch Seiten 332ff.<br />

118


Einzugrenzen?<br />

Neu zu kombinieren durch erweitere Boolesche Suche?<br />

Aufzugeben?<br />

Zu ergänzen?<br />

Neu zu formulieren?<br />

Geht's so? Geht's so vielleicht? Geht's nicht?<br />

Heureka!?<br />

Wichtig ist die heuristische Prüfung, ob <strong>und</strong> inwieweit die Informationssammlung<br />

Multiperspektivität verbürgt. Dieser von Klaus Bergmann in die Didaktik eingeführte<br />

Begriff fragt danach, ob ein historischer Sachverhalt "aus mehreren, mindestens zwei<br />

unterschiedlichen Perspektiven beteiligter <strong>und</strong> betroffener Zeitgenossen dargestellt<br />

wird". 124 Es geht <strong>als</strong>o nicht nur darum, ob die Informationssammlung quantitativ<br />

ausreicht, sondern auch darum, ob sie qualitativ unterschiedliche Sicht- <strong>und</strong><br />

Betrachtungsweisen dokumentiert. Handelt es sich um BRD- <strong>und</strong> DDR-Quellen, so<br />

unterscheiden sie sich oft diametral-bipolar in ihrer Perspektivität.<br />

Multiperspektivität ist auch deshalb ein Schlüsselbegriff für die D-Dok., weil Quellen<br />

eine Spiegelfunktion haben sollen (2.6.<strong>und</strong> 2.7.). Wenn sie nur einseitige Sichtweisen<br />

wiedergeben, drohen sie zu einem Spiegelbild oder gar zu einem Zerrspiegel zu<br />

werden. Dies zu überprüfen, obliegt heuristischen Fragestellungen oder<br />

Forschungsinteressen.<br />

Die Heuristik ist eine uralte philosophische, mathematische <strong>und</strong> technologische<br />

Disziplin, auch Findungs- oder Erfindungskunst (ars inveniendi), Ereunetik, Heuretik,<br />

Analysis oder Zetetik geheißen. Archimedes ( 287 - 212 vor Chr. ) soll "Heureka!" -<br />

ich hab's gef<strong>und</strong>en! ausgerufen haben, <strong>als</strong> er, angeblich im Bade liegend, das<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz der Hydrostatik entdeckt hatte: Der hydrostatische Auftrieb eines<br />

Körpers ist gleich dem Gewicht der von ihm verdrängten Flüssigkeits- oder<br />

Gasmenge. Archimedes hatte ein Problem gelöst, das nach ihm später benannte<br />

Archimedische Prinzip gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> somit ein positives Aha-Erlebnis. Beachten Sie<br />

bitte, dass Archimedes seine Entdeckung im entspannten Zustand gemacht haben<br />

soll, <strong>und</strong> wir nicht wissen, wie viele negative Aha-Erlebnisse er hatte, bevor er<br />

"Heureka!" rufen konnte.<br />

Nach Immanuel Kant sind "heuristische Begriffe" solche, die zeigen, wie wir "die<br />

Beschaffung <strong>und</strong> Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen<br />

sollen" <strong>und</strong> damit neue Erkenntnisse gewinnen. 125 Anders <strong>als</strong> die Annahmen a priori<br />

124 Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik. Herausgeber Klaus<br />

Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Gerhard Schneider. 5. Auflage. Seelze Velber<br />

1997. Seiten 301 - 303, zit. 301. Vgl. auch Hans-Jürgen Pandel. Quelleninterpretation. Seiten 102 -<br />

104.<br />

125 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a. M. 1968. Seite 584. Vgl. auch Michael Graf<br />

von Matuschka: Heuristik. Geschichte des Wortes <strong>und</strong> der Versuche zur Entwicklung allgemeiner <strong>und</strong><br />

119


sind die heuristischen Aussagen a posteriori, <strong>als</strong>o erfahrungsbedingt. Die so<br />

gef<strong>und</strong>enen Problemlösungen gewährleisten nicht die Sicherheit neu gewonnener<br />

Erkenntnisse, erweitern, präzisieren, reflektieren <strong>und</strong> variieren sie aber. 126<br />

Mit Heuristik beschäftigt haben sich insbesondere auch die Philosophen <strong>und</strong><br />

Mathematiker Pappos von Alexandria ( um 320 n. Chr.), der Kommentator des Euklid<br />

(um 365 - 300 v. Chr.), René Descartes (1596 - 1650), Gottfried Wilhelm Leibniz<br />

(1646 - 1716), Bernard Bolzano (1781 - 1848) <strong>und</strong> Georg Pólya (1887 - 1985). In der<br />

Gegenwart hat sie für die EDV einen unvorhersehbaren neuen Stellenwert<br />

gewonnen, da heuristische Virenscanner Dateien nicht nur anhand von<br />

Virendefinitionen, <strong>als</strong>o Virenpatterns oder Virensignaturen durch den Vergleich der<br />

Programmcodes, identifizieren können, sondern sie auch potenziell direkt auf<br />

verdächtiges Verhalten überprüfen <strong>und</strong> blockieren können, bevor sie sich ausbreiten.<br />

Ohne diese neue heuristische Technologie, die virtuell analysiert, ob ein Programm<br />

bösartig sein könnte <strong>und</strong> deshalb auch bisweilen f<strong>als</strong>chen Alarm auslöst, gäbe es<br />

heute keinen wirksamen Schutz gegen neue Bedrohungen durch unbekannte Viren,<br />

Würmer <strong>und</strong> Trojaner.<br />

Nach der heuristischen Überprüfung der vorläufigen Quellenauswahl liegt die<br />

ergänzte, veränderte, präzisierte, überarbeitete Fassung der Informationssammlung<br />

vor - ihre Selektion. Ob sie endgültig ist, ist unsicher, ob sie Erfolg gewährleistet<br />

ebenso, aber die Wahrscheinlichkeit, dass dies so sein könnte, hat zugenommen.<br />

4.4. Welche Informationen wie zu Wissen verarbeiten?<br />

Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess: Quellen erklären, quellenkritisch<br />

auswerten <strong>und</strong> auf ihre Spiegelfunktion überprüfen<br />

Lesekompetenz (Reading Literacy) ist in der PISA-Studie so definiert: "Geschriebene<br />

Texte zu verstehen, zu nutzen <strong>und</strong> über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu<br />

erreichen, das eigene Wissen <strong>und</strong> Potenzial weiterzuentwickeln <strong>und</strong> am<br />

gesellschaftlichen Leben teilzunehmen." 127 Die schriftlichen Texte in der D-Dok. sind<br />

historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen. Sie hermeneutisch<br />

spezieller Theorien von der Antike bis Kant. Dissertation. Düsseldorf 1974.<br />

126 Heinrich Schepers: Heuristik, heuristisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3.<br />

Darmstadt 1974. Spalten 1115 - 1120, zit. 1120.<br />

127 PISA 2000. Seite 23. Auf Seite 70 heißt es: "Lesen <strong>als</strong> kulturelle Schlüsselqualifikation eröffnet die<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben <strong>und</strong> bietet die Möglichkeit der zielorientierten <strong>und</strong> flexiblen<br />

Wissensaneignung. Umgekehrt bedeutet eine geringe Lesefähigkeit bis hin zum modernen<br />

Analphabetismus einen enormen Chancennachteil. Geringe Lesefähigkeit <strong>und</strong> -bereitschaft werden<br />

daher zunehmend <strong>als</strong> soziales <strong>und</strong> politisches Problem ernst genommen." Vgl. auch Seiten 70ff. <strong>und</strong><br />

78ff. zum Begriff <strong>und</strong> zur internationalen Konzeption.<br />

120


auszulegen <strong>und</strong> zu verstehen, dient den selbstbestimmten Lernzielen. Dies fördert<br />

nicht nur Wissen <strong>und</strong> potenzielle Fähigkeiten, sondern auch die Teilhabe an der<br />

Demokratie. Auf identische, vergleichbare, aber auch unterschiedliche Zielsetzungen<br />

zur PISA-Studie wird bei den einzelnen operativen Schritten hingewiesen.<br />

Die vierte prozessuale Operation dient der Informationsverarbeitung auf der unteren<br />

Ebene des Erklärens: Jede einzelne ausgewählte Quelle oder Quellenstelle lesen<br />

<strong>und</strong> interpretieren nach äußerlich-sinnlich lokalisierbaren oder physikalischmessbaren<br />

Merkmalen. Sie ermöglichen eine erste provisorische Auslegung, die an<br />

der wahrnehmbaren Oberfläche der Informationssammlung stehen bleibt, sie <strong>als</strong>o<br />

nicht durchdringt.<br />

Der folgende Zwölf-Punkte-Fragenkatalog will kein starres Schema sein, das<br />

sukzessive abzuarbeiten <strong>und</strong> abzuhaken ist, sondern eine idealtypische<br />

Orientierungshilfe:<br />

- 1. Decodierfähigkeiten?<br />

Auf der untersten Stufe (z.B. der Gr<strong>und</strong>schule) beschränken sie sich auf Buchstaben<br />

(Zeichen, Symbole), ihre Zusammensetzung zu Wörtern <strong>und</strong> das Entschlüsseln von<br />

Wortbedeutungen (Semantik oder Semasiologie).<br />

Auf der nächsten Stufe geht es darum, Wortbedeutungen auf das Satzgefüge<br />

(Syntax) zu beziehen, <strong>als</strong>o semantische <strong>und</strong> syntaktische Abhängigkeiten<br />

herzustellen.<br />

Die darauf folgende Stufe ist die Textebene, die Sätze übergreifend <strong>als</strong> Einheiten in<br />

ihrer Kontinuität repräsentiert.<br />

Darin enthaltene unbekannte Fremdwörter oder Fachbegriffe (termini technici)?<br />

Historische, zeitbezogene Begriffe, die einer Erklärung bedürfen?<br />

- 2. Sprache?<br />

Einsprachig oder mehrsprachig?<br />

Deutsch?<br />

Englisch (ENG)?<br />

Französisch (FRA)?<br />

Spanisch (ESP)?<br />

Türkisch (TUR)?<br />

Decodierfähigkeiten?<br />

Übersetzung? Vorzüge <strong>und</strong> Mängel?<br />

Amtliche Übersetzung?<br />

- 3. Quellengattung oder Quellentyp?<br />

Gesetz?<br />

Bilateraler oder multilateraler Vertrag?<br />

Staats- oder völkerrechtlich?<br />

Akten?<br />

121


Gerichtliche Entscheidung: Urteil? Beschluss?<br />

Aufzeichnung?<br />

Bericht?<br />

Rede?<br />

Artikel?<br />

Brief?<br />

Protokoll? usw.<br />

Was für Reden <strong>als</strong> Quellengattung liegen vor:<br />

Parlamentsrede?<br />

Versammlungsrede?<br />

Gedenkrede?<br />

"Sonntagsrede"?<br />

Vortrag (wissenschaftlich, populär u. a.)?<br />

R<strong>und</strong>funkrede?<br />

Parteirede?<br />

Parteitagsrede?<br />

Lobrede?<br />

Fernsehrede?<br />

Einführungsrede?<br />

Tischrede?<br />

"Toast"?<br />

Begrüßungsrede?<br />

Einführungsrede?<br />

Grußwort?<br />

Unterscheidungen bei anderen Quellengattungen, z. B. Briefen, Artikeln? Akten?<br />

usw.<br />

- 4. Authentizität?<br />

Volltextversion oder Auszug?<br />

Auslassungen überprüfbar?<br />

Irrtümer?<br />

Lücken?<br />

F<strong>und</strong>stelle?<br />

Quellennachweis zuverlässig oder glaubwürdig?<br />

Zweifel an Authentizität?<br />

Glaubwürdigkeit?<br />

Inhaltliche Mängel?<br />

Formelle Mängel?<br />

Orthografie- <strong>und</strong> Interpunktionsfehler?<br />

Flüchtigkeitsfehler?<br />

Textverstümmelungen?<br />

Sinnentstellungen?<br />

Authentische Textwiedergabe?<br />

122


Die Frage nach der formellen Authentizität, d. h. die ungekürzte, korrekte<br />

digitalisierte Textwiedergabe, hat in der D-Dok. einen höheren Stellenwert <strong>als</strong> die<br />

inhaltliche nach der Echtheit; denn anders <strong>als</strong> z. B. bei mittelalterlichen <strong>und</strong><br />

neuzeitlichen Urk<strong>und</strong>en steht in der Regel außer Zweifel, dass in amtlichen<br />

Sammlungen seit 1945 veröffentlichte staatliche Quellen nicht gefälscht sind. 128 Dies<br />

schließt nicht aus, dass Gesetzestexte gelegentlich nachträglich berichtigt werden<br />

müssen, da sie versehentlich Fehler, u.a. Druckfehler, enthalten. Politische Reden<br />

staatlicher Repräsentanten, die schriftlich festgehalten oder nachgewiesen sind,<br />

weichen manchmal vom gesprochenen Wort ab; es hat <strong>als</strong> authentisch zu gelten,<br />

sofern eine Tonaufzeichnung vorliegt. <strong>Quellenarbeit</strong> verzettelt sich aber <strong>und</strong> sprengt<br />

Raum, Zeit <strong>und</strong> Maß, wenn sie beckmesserisch z. B. bei B<strong>und</strong>estagsreden, die seit<br />

1949 nicht nur mitstenografiert, sondern <strong>als</strong> Tondokumente aufgenommen werden, in<br />

jedem einzelnen Fall darauf beharrt, Textabweichungen von der Tonaufnahme<br />

akribisch zu kontrollieren. Eine Ausnahme von dieser Regel liegt vor, falls<br />

Anhaltspunkte oder wenigstens Indizien für eine Textmanipulation sprechen.<br />

- 5. Wann? Diese Frage orientiert sich am Zeitfaktor <strong>als</strong> historischer Variablen<br />

(Veränderlichen). Die Zeit ist das physikalisch-messbare <strong>und</strong> wichtigste<br />

Ordnungsprinzip der Datenbank; denn sie dokumentiert die Quellen in ihrer<br />

chronologischen Reihenfolge <strong>und</strong> damit in ihrem zeitlichen Kontext.<br />

Dokumentendatum/-daten?<br />

Zeitliche Unmittelbarkeit/Identität, Nähe oder Entfernung zum Vorgang?<br />

Kontext?<br />

Was geschieht vorher?<br />

Was gleichzeitig?<br />

Was nachher?<br />

Chronologische Einordnung?<br />

Zeitliche Zusammenhänge/Interdependenzen?<br />

Disparitäten?<br />

Kontinuitäten?<br />

Diskontinuitäten?<br />

Konstellationen?<br />

- 6. Wer? Welche? Hier geht es um die Akteure. Dies sind z.B. bei Verträgen auch<br />

Staaten oder Staatenverbindungen.<br />

Verfasser/in/nen?<br />

Redner/in/nen?<br />

Biografische Vorkenntnisse über sie?<br />

Funktion/en?<br />

128 Zur Interpretation mittelalterlicher <strong>und</strong> neuzeitlicher Quellen Gerhard Theuerkauf: Einführung in die<br />

Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Mittelalter. 2. Auflage. Paderborn usw. 1997; Bernd-<br />

A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hrsg.): Einführung in die Interpretation historischer<br />

Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn usw. 1992.<br />

123


Ämter?<br />

Gruppe?<br />

Organ/e?<br />

Institutionen?<br />

Völkerrechtssubjekt/e?<br />

Perspektive, u.a. Partei- oder Standortgeb<strong>und</strong>enheit?<br />

Kulturelle, gesellschaftliche, politische, parteipolitische, ideologische Botschaften des<br />

Redners/Autors?<br />

- 7. Was? Inhalt?<br />

Ein Hauptthema?<br />

Mehrere Themen, z.B. Überblick über die außenpolitische Lage?<br />

Regierungserklärung?<br />

Aktuelle St<strong>und</strong>e?<br />

Vermittelte Ideen?<br />

Hauptaussagen nach Fragestellungen?<br />

Wiederkehrende Schlüsselbegriffe?<br />

Ihre Semantik?<br />

Gedankengang?<br />

Logische Konsistenz?<br />

Roter Faden?<br />

Argumentationsstrategie?<br />

Lücken?<br />

Widersprüche?<br />

Ungereimtheiten?<br />

Zusammenhänge zwischen den Textteilen?<br />

Aussagen vornehmlich Fakten?<br />

Oder Propaganda?<br />

Oder Werbung?<br />

Oder Geschwätz?<br />

Wertungen?<br />

Kommentar?<br />

Mutmaßungen?<br />

Ideologie?<br />

Parteinahmen?<br />

Zusammenfassung?<br />

- 8. Warum? Wozu?<br />

Intentionalität/Zielsetzungen?<br />

Gründe?<br />

Zweck <strong>und</strong> Nutzen?<br />

Mittel-Kosten-Nutzen-Relation?<br />

Vordergründiger Anlass?<br />

Tiefer liegende Ursachen?<br />

124


Erklärte, offen gelegte, offensichtliche oder versteckte Absichten?<br />

- 9. Wo? Lokalisierung?<br />

Ort des Geschehens?<br />

Deutscher B<strong>und</strong>estag?<br />

Volkskammer?<br />

Vortrag/Rede wo, z. B. R<strong>und</strong>funk, Fernsehen, Parteitag usw.?<br />

Artikel/Aufsatz wo, z.B. Zeitung, Zeitschrift usw.?<br />

- 10. Adressat/en <strong>und</strong> Adressen?<br />

Empfänger?<br />

Publikum?<br />

Rezipient/en?<br />

Forum?<br />

Akademisches, parteipolitisches, offenes oder geschlossenes Auditorium?<br />

Zuhörer/in/nen?<br />

Einfluss des/r Adressaten/des Publikums auf den Redner/Autor?<br />

- 11. Wie? Auf welche Weise?<br />

Methode?<br />

Form <strong>und</strong> Inhalt?<br />

Aufbau <strong>und</strong> Struktur?<br />

Gliederung?<br />

Dokumentenvortitel?<br />

Dokumentenuntertitel?<br />

Linguistische, syntaktische <strong>und</strong> grammatikalische Besonderheiten?<br />

Stilfragen?<br />

Argumentation normativ, parteipolitisch, punktuell usw.?<br />

Rhetorische Mittel?<br />

- 12. Ergänzende Quellenmaterialien?<br />

Bild-Dokument (FOT)?<br />

Ton-Dokument? (TON)?<br />

Es geht bei den modellhaft aufgeführten Fragen darum, Informationen über<br />

feststellbare, messbare oder lokalisierbare Größen herauszufiltern, die selbst dann,<br />

wenn sie nicht genau fixierbar sind, eine feststehende Bandbreite (z.B. bei Daten,<br />

Autoren, Themen) aufweisen. Im PISA-Modell entspricht dies den "textimmanenten"<br />

Verstehensleistungen, für die "die im Text selbst enthaltenen Informationen<br />

ausreichende Gr<strong>und</strong>lage für die Beantwortung der Fragen" sind. 129 Diese Subskala<br />

"Informationen ermitteln" verlangt, "eine oder mehrere Informationen bzw.<br />

129 PISA 2000. Seite 82. Es geht <strong>als</strong>o um "primär textinterne Informationen", die den Text <strong>als</strong> Ganzes<br />

betrachten oder sich auf bestimmte Textteile konzentrieren (Abbildung 2.1 ebenda).<br />

125


Teilinformationen im Text zu lokalisieren. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse von<br />

Textabschnitten mit dem Ziel, Detailinformationen (wie etwa die Abfahrtszeit eines<br />

Zuges oder das Vorhandensein eines bestimmten Arguments) zu finden. Je nach<br />

Komplexität der Aufgabe ist dafür ein unmittelbares Verstehen größerer Textteile <strong>und</strong><br />

ein Vergleich von im Text vorhandenen Angaben erforderlich." 130<br />

Die fünfte prozessuale Operation dient der Informationsverarbeitung auf der mittleren<br />

Ebene der Quellenkritik <strong>und</strong> Quellenreflexion: Die ausgewählten Quellen nicht mehr<br />

je einzeln textimmanent interpretieren, sondern <strong>als</strong> Gesamtheit mit ihren<br />

Informationen <strong>und</strong> Interdependenzen vergleichen: auf nicht in ihnen gespeichertes<br />

externes Wissen zurückgreifen sowie kritisch nach Inhalten, Form <strong>und</strong> Strukturen<br />

analysieren.<br />

Die vierte prozessuale Operation hatte sich auf die einzelne Quelle oder<br />

Quellenstelle beschränkt, um sie - idealtypisch isoliert - zu erklären. Nun geht es um<br />

die Informationssammlung <strong>als</strong> Ensemble: Die oft verwirrende Vielfalt der Dokumente<br />

mit ihren Verflechtungen quellenkritisch zu reflektieren <strong>und</strong> dabei externes Wissen zu<br />

nutzen, <strong>als</strong>o nicht nur internes Vorwissen, über das Leser/innen verfügen müssen,<br />

um Quellen überhaupt lesen (decodieren) <strong>und</strong> erklären zu können. Extern<br />

gespeichertes Wissen findet sich u.a. in Lexika, Fach- <strong>und</strong> Sachbüchern sowie digital<br />

auf CD-Roms oder DVDs sowie im Internet.<br />

Idealtypische Fragestellungen:<br />

Unbekannte, nicht textimmanent identifizierbare oder nicht vorgestellte Personen<br />

oder Begriffe?<br />

Suchbegriffe in ihrem Kontext?<br />

Sind sie lokalisierbar <strong>und</strong> vergleichbar?<br />

Analoge oder logische Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Vergleiche aus dem Stellenwert der<br />

Suchbegriffe?<br />

Ihre Integration in der Informationssammlung?<br />

Ihre Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

Leitideen?<br />

Willensbildungsprozess?<br />

Vor welchem Publikum/Forum?<br />

Widersprüchliche Argumentation ein <strong>und</strong> desselben Autors/Redners?<br />

Beziehungsgeflecht der Suchbegriffe?<br />

Multiperspektivische oder einseitige Spiegelungen?<br />

Wirkungsgeschichte: Handlungs-, Motivations- <strong>und</strong> Wirkungszusammenhänge?<br />

Verständnis- <strong>und</strong> Erinnerungsfähigkeiten?<br />

130<br />

PISA 2000. Seite 83. Übersicht über die fünf Stufen der Subskala "Informationen ermitteln" auf<br />

Seite 89.<br />

126


Inhaltliche Repräsentanz <strong>und</strong> Integration der Informationssammlung <strong>als</strong> abrufbare<br />

gespeicherte Gedächtnisleistung?<br />

Wiederholungen <strong>und</strong> Protokollieren erforderlich?<br />

Diese idealtypischen Fragen beziehen sich auf die Informationssammlung <strong>als</strong><br />

Ganzes <strong>und</strong> auf so gewonnene, zu integrierende Kenntnisse <strong>als</strong> neu erarbeitetes<br />

Wissen. Sie sind zur Reflexion <strong>und</strong> Bewertung mit heranzuziehen <strong>und</strong> ergänzen das<br />

bisherige Wissen. Damit wird dem Risiko vorgebeugt, dass <strong>Quellenarbeit</strong> nur<br />

punktuelles, aber kein zusammenhängendes <strong>und</strong> reproduktionsfähiges Wissen liefert<br />

- man <strong>als</strong>o vor lauter Bäumen keinen Wald sieht.<br />

Abschließend stellen sich idealtypische Schlüsselfragen:<br />

Erfüllen die in der Informationssammlung repräsentierten Quellen/Quellenstellen eine<br />

Spiegelfunktion, indem sie die Vergangenheit reflektieren?<br />

Oder sind sie trügerisch, weil sie ein Spiegelbild vorgaukeln?<br />

Oder gar einen Zerrspiegel vor Augen halten?<br />

Selbstbespiegelung in DDR-Quellen, teilweise auch in BRD-Quellen?<br />

Waren es nicht zuletzt auch westdeutsche Politiker, Wissenschaftler <strong>und</strong><br />

Journalisten, die dem "Arbeiter- <strong>und</strong> Bauernstaat" bis kurz vor seinem Ende<br />

Stabilität, Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Zukunft bescheinigten?<br />

Aus heutiger Sicht formuliert: Sie ihm prophezeit <strong>und</strong> sich darin selbst gespiegelt<br />

haben?<br />

Nach einem abgewandelten Aphorismus des Göttinger Aufklärers <strong>und</strong> Spötters<br />

Georg Christoph Lichtenberg (1742 - 1799), der ihn auf das Buch bezog, sind<br />

Quellen ein Spiegel: Wenn ein Affe hineinguckt, kann freilich kein Apostel<br />

heraussehen. Lichtenberg konnte leicht spotten, denn er war kein verstehender<br />

Historiker oder Sozialwissenschaftler, sondern Professor für erklärende<br />

Experimentalphysik <strong>und</strong> wusste deshalb, dass die "edle Einfalt in den Werken der<br />

Natur" gar zu oft "in der edlen Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet", begründet<br />

liegt.<br />

Die fünfte prozessuale Operation entspricht im PISA-Modell weitgehend der<br />

Subskala "Textbezogenes Interpretieren", sprengt aber deren Rahmen, da sie sich<br />

nicht auf einzelne Texte bezieht, sondern eine Vielzahl von ihnen integriert. Die<br />

Anforderungen an die Lesekompetenz sind daher höher. Sie erfordern teilweise<br />

Abstraktionsfähigkeiten, die in der dritten Subskala "Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten"<br />

aufgeführt sind.<br />

Die "wissensbasierten Verstehensleistungen" des "textbezogenen Interpretierens"<br />

werden im PISA-Modell so definiert: "Bedeutung konstruieren <strong>und</strong><br />

Schlussfolgerungen aus einem oder mehreren Teilen des Textes ziehen. Hierzu<br />

gehören auch schlussfolgerndes Denken <strong>und</strong> der Vergleich von Textteilen im<br />

127


Hinblick auf Evidenz, die mit der bevorzugten Interpretation kompatibel ist. Eine<br />

Aufgabe dieser Subskala kann vom Leser auch verlangen, Schlüsse über die<br />

Absichten des Autors zu ziehen." 131<br />

4.5. Was verstehen <strong>und</strong> wie hermeneutisch deuten zwischen "Fremdheit<br />

<strong>und</strong> Vertrautheit"?<br />

Quelleninterpretation <strong>als</strong> hermeneutische Spirale in Auseinandersetzung<br />

mit Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas<br />

Die Hermeneutik ( griechisch hermeneuein = auslegen, übersetzen), noch älter <strong>als</strong><br />

die Heuristik, ist die Theorie, Kunst <strong>und</strong> Methode der Auslegung <strong>und</strong> Deutung. Der<br />

Götterbote Hermes hatte die göttlichen Gebote den sterblichen Menschen überbracht<br />

<strong>und</strong> sie ihnen verdolmetscht, z. B. mehrdeutige Orakel. Unter aristotelischem Einfluss<br />

wurde die Hermeneutik dogmatisiert <strong>und</strong> zum Regelkanon auch für die Theologie<br />

<strong>und</strong> Rechtswissenschaft. Mit der Autorität <strong>und</strong> Vorm<strong>und</strong>schaft antiker Autoren,<br />

insbesondere des "philosophus" (Aristoteles) im Mittelalter, hat erst die Aufklärung<br />

gebrochen; denn sie forderte für das menschliche Denken, es müsse eigenständig<br />

<strong>und</strong> unabhängig <strong>und</strong> so mündig werden.<br />

Sechste prozessuale Operation ist das hermeneutische Verstehen sui generis.<br />

Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas haben dafür Vorschläge<br />

erarbeitet, die für die Auslegung nicht nur von Texten, sondern auch literarischen <strong>und</strong><br />

künstlerischen Werken gelten. Zwar befasst sich ihre Hermeneutik nicht vorrangig mit<br />

historisch-politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Quellen, doch sind insbesondere<br />

Anregungen wichtig, die Gadamer <strong>und</strong> Habermas für ihre Deutung unterbreiten.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hat der protestantische Theologe, Pädagoge <strong>und</strong> Philosoph<br />

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 - 1834) die Hermeneutik neu definiert:<br />

<strong>als</strong> "Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu<br />

verstehen". Er unterscheidet dabei die grammatische von der psychologischen<br />

Reproduktion; sie erfordere, sich in den Autor <strong>und</strong> sein Gesamtwerk<br />

hineinzuversetzen, um die historische Distanz zu ihm aufzuheben. Schließlich soll<br />

der Interpret die Rede "zuerst ebenso gut <strong>und</strong> dann besser verstehen <strong>als</strong> ihr<br />

Urheber". Voraussetzung dafür ist allerdings nach Schleiermacher eine<br />

Seelenverwandtschaft zwischen beiden <strong>und</strong> ein "divinatorischer" (erahnender)<br />

Nachvollzug. 132<br />

131 PISA 2000. Seite 83. Vgl. auch Seiten 82 (Abbildung 2.1) <strong>und</strong> 89 (Tabelle 2.3 <strong>als</strong> Übersicht).<br />

132 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik <strong>und</strong> Kritik. Mit einem Anhang<br />

sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben von Manfred Frank. Frankfurt a- M.<br />

128


An Schleiermacher knüpft der Philosoph, Pädagoge <strong>und</strong> Psychologe Wilhelm Dilthey<br />

(1833 - 1911) an. Sein Hauptanliegen war, den so genannten Geisteswissenschaften<br />

die Hermeneutik <strong>als</strong> Dreischritt von Erleben, Ausdruck <strong>und</strong> Verstehen zuzuordnen<br />

<strong>und</strong> damit von den aufstrebenden Naturwissenschaften abzugrenzen. Während wir<br />

die physische Welt (Natur) "erklären", d. h. Gründe, Zwecke, Ursachen <strong>und</strong><br />

Kausalitäten erforschen, geht es in der menschlichen Welt um das "Verstehen": Sinn<br />

zu finden <strong>und</strong> Bedeutung zu entdecken, die aus dem Menschen selbst <strong>als</strong> Schöpfer<br />

<strong>und</strong> seinen "Objektivierungen des Geistes" stammen. Dilthey unterscheidet<br />

"elementares" Verstehen, das sich auf alltägliche, einzelne Lebensäußerungen<br />

bezieht, <strong>und</strong> "höheres" Verstehen, das Sinnzusammenhänge aufeinander bezogener<br />

Lebensäußerungen erhellt. Es vollzieht sich <strong>als</strong> "Hineinversetzen, Nachbilden,<br />

Nacherleben". So findet das Ich sich im Du wieder. 133<br />

Als Herausgeber der DVD-D-Dok. <strong>und</strong> <strong>als</strong> Autor dieses Begleitbuchs vermag ich<br />

nicht zu erkennen oder habe noch zu lernen, wie Schleiermachers <strong>und</strong> insbesondere<br />

Diltheys Hermeneutik sinnstiftend auf diese digitale Datenbank anzuwenden wären.<br />

Zwar geht es auch bei historisch-politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Quellen<br />

darum, in ihnen Bedeutung <strong>und</strong> Sinn zu entdecken. Aber nicht nach ihren Ursachen,<br />

Zwecken <strong>und</strong> Gründen zu fragen, ist ahistorisch <strong>und</strong> unkritisch. Kunst (Gemälde,<br />

Skulptur) oder Literatur (Roman, Poesie) können <strong>als</strong> "dauernde geistige<br />

Schöpfungen" immanent-einfühlend zu verstehen sein, aber nicht die vorliegende<br />

Quellensammlung. Politiker-Reden sind in der Regel keine künstlerischen oder<br />

literarischen Werke, neben Sinn <strong>und</strong> Bedeutung enthalten sie oft auch Unsinn <strong>und</strong><br />

Geschwätz. Gesetze <strong>als</strong> einzigartige Konkretisierungen des menschlichen Geistes<br />

hochstilisieren, heißt zu verkennen, dass es sich um wechselnde, normativ<br />

ausformulierte <strong>und</strong> sanktionierte politische Mehrheitsentscheidungen oder<br />

Kompromisse handelt. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, "Schleiermacherei"<br />

zu treiben, sondern darum, Quellen historisch-kritisch zu "entschleiern", <strong>und</strong> das<br />

heißt auch, nach ihren Zwecken <strong>und</strong> Nutzen, nach ihren Ursachen, Gründen <strong>und</strong><br />

Hintergründen, nach ihrem Sinn <strong>und</strong> Unsinn zu hinterfragen, <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />

nach ihren Folgen <strong>und</strong> Auswirkungen zu analysieren.<br />

Für die Quelleninterpretation bedeutsame Kritik an Diltheys Hermeneutik haben die<br />

Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) <strong>und</strong> Jürgen Habermas (geb. 1929)<br />

geübt. Gadamer spricht von "Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus"<br />

<strong>und</strong> von einem "Zwiespalt von Wissenschaft <strong>und</strong> Lebensphilosophie" in dessen<br />

Analyse des historischen Bewusstseins. 134 Auch wenn Autor <strong>und</strong> Interpret in einem<br />

1977. Seiten zit. 75, 94f. Vgl. dazu auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine.<br />

Textstrukturierung <strong>und</strong> -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977.<br />

133<br />

Wilhem Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M.<br />

1968. Seiten zit. 235, 254f.<br />

134<br />

Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit <strong>und</strong> Methode. Gr<strong>und</strong>züge einer philosophischen<br />

Hermeneutik. Tübingen 1990 (Gesammelte Werke. Band 1). Seiten 222ff. <strong>und</strong> 235ff.<br />

129


gemeinsamen, kulturell gewachsenen Traditions- <strong>und</strong> Normzusammenhang stehen,<br />

sei die "hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes" zwischen ihnen nicht<br />

durch ein Hineinversetzen oder durch Einfühlung unmittelbar zu überspringen; denn<br />

was verstanden werden soll, sei zunächst historisch fremd <strong>und</strong> distanziert, <strong>als</strong>o nicht<br />

vertraut, müsse erst in einem Verstehensakt "angeeignet" werden: <strong>als</strong> linguistische,<br />

poetologische/rhetorische <strong>und</strong> vor allem historische Differenz.<br />

Nach Gadamer besteht daher eine Polarität oder Spannung zwischen "Fremdheit<br />

<strong>und</strong> Vertrautheit": zwischen der "historisch gemeinten, abständigen<br />

Gegenständlichkeit <strong>und</strong> der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist<br />

der wahre Ort der Hermeneutik. Aus der Zwischenstellung, in der die Hermeneutik<br />

ihren Stand zu nehmen hat, folgt, daß ihre Aufgabe überhaupt nicht ist, ein Verfahren<br />

des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuklären, unter denen<br />

Verstehen geschieht....Die Vorurteile <strong>und</strong> Vormeinungen, die das Bewußtsein des<br />

Interpreten besetzt halten, sind ihm <strong>als</strong> solche nicht zu freier Verfügung. Er ist nicht<br />

imstande, von sich aus vorgängig die produktiven Vorurteile, die das Verstehen<br />

ermöglichen, von denjenigen Vorurteilen zu scheiden, die das Verstehen verhindern<br />

<strong>und</strong> zu Mißverständnissen führen." 135 Der Abstand der Zeit <strong>und</strong> die Lebensgeschichte<br />

des Interpreten müssten reflektiert <strong>und</strong> nutzbar bei der Textaneignung gemacht<br />

werden, denn sie sei ein "unendlicher Prozeß", der "nicht irgendwo zum Abschluß"<br />

komme. "Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit<br />

mitdenken....Eine sachangemessene Hermeneutik hätte im Verstehen selbst die<br />

Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen. Ich nenne das damit Geforderte<br />

'Wirkungsgeschichte'. Verstehen ist seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher<br />

Vorgang." 136<br />

Der Erkenntnisprozess ist nach Gadamer subjektiv vorstrukturiert <strong>und</strong> erfordert<br />

Selbstreflexion des Interpreten in seiner gegenwärtigen Situation <strong>und</strong> ihrem<br />

"Horizont". Verstehen wird damit historisch relativiert. Gadamer rehabilitiert deshalb<br />

auch die Vorurteile des Einzelnen <strong>als</strong> "Vor-Urteile" <strong>und</strong> Bedingungen des<br />

Verstehens. Bei den Geisteswissenschaften ist folglich das Forschungsinteresse<br />

"durch die jeweilige Gegenwart <strong>und</strong> ihre Interessen in besonderer Weise motiviert.<br />

Erst durch die Motivation der Fragestellung konstituiert sich überhaupt Thema <strong>und</strong><br />

Gegenstand der Forschung." 137 Dies unterscheide die Geistes- von den<br />

Naturwissenschaften, denn es gebe zwar eine "vollendete Naturerkenntnis", aber von<br />

einer "vollendeten Geschichtserkenntnis" zu sprechen, sei "sinnlos".<br />

Jürgen Habermas hat keine eigene Hermeneutik ausgearbeitet, sich aber im<br />

Rahmen seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" kritisch mit Dilthey, Husserl,<br />

135 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten 296ff., zit. 300f.<br />

136 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten zit. 303 <strong>und</strong> 305.<br />

137 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten 281ff., zit. 289. - Zur Rolle seines Lehrers Heidegger<br />

vgl. Seiten 270ff. <strong>und</strong> Martin Heidegger: Sein <strong>und</strong> Zeit. 17. Auflage. Tübingen 1993. Seiten 142ff. <strong>und</strong><br />

148ff.<br />

130


Heidegger <strong>und</strong> vor allem Gadamers Hauptwerk auseinandergesetzt. Sprache ist für<br />

Habermas - anders <strong>als</strong> bei Gadamer - nicht autonom, sondern vergesellschaftet <strong>und</strong><br />

"verdinglicht". Es ist ein Medium, das von Herrschaft, Politik <strong>und</strong> Arbeit mitbestimmt<br />

wird. "Der Interpret muß sich den Kontext klarmachen, der von dem Autor <strong>und</strong> dem<br />

zeitgenössischen Publikum <strong>als</strong> gemeinsames Wissen vorausgesetzt worden sein<br />

muß, damit seinerzeit diejenigen Schwierigkeiten nicht aufzutreten brauchten, die der<br />

Text heute uns bereitet, <strong>und</strong> damit andere Schwierigkeiten unter den Zeitgenossen<br />

auftreten konnten, die uns wiederum trivial erscheinen. Allein auf dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der kognitiven, moralischen <strong>und</strong> expressiven Bestandteile des kulturellen<br />

Wissensvorrats, aus dem der Autor <strong>und</strong> seine Zeitgenossen ihre Interpretation<br />

aufgebaut haben, kann sich der Sinn des Textes erschließen. Aber diese<br />

Voraussetzungen wiederum kann der nachgeborene Interpret nicht identifizieren,<br />

wenn er nicht zu dem mit dem Text verb<strong>und</strong>enen Geltungsansprüchen wenigstens<br />

implizit Stellung nimmt." 138 Zu berücksichtigen sei Quellenkritik <strong>als</strong> Ideologiekritik:<br />

Durch die Vergesellschaftung <strong>und</strong> die "innere Kolonisierung" entstehen<br />

Bewusstseinsformen, die Einzelne zwar befähigen, sich in den von Familien- ,<br />

Klassen- <strong>und</strong> politischen Strukturen geschaffenen Verhältnissen zurechtzufinden,<br />

deren tatsächlichen Charakter aber zugleich verschleiern.<br />

Habermas analysiert in diesem Zusammenhang auch die "familiäre Sozialisation <strong>und</strong><br />

Ich-Entwicklung" bei der "Diagnose der Entkopplung von System <strong>und</strong> Lebenswelt".<br />

Für die "marxistisch vereinnahmte Psychoanalyse" sei der Ödipuskomplex der<br />

"Angelpunkt", wie sich die "funktionalen Imperative des Gesellschaftssystems in den<br />

Über-Ich-Strukturen des herrschenden Sozialcharakters durchsetzen konnten".<br />

Habermas meint damit auch die Forschungen der Kritischen Theorie (Frankfurter<br />

Schule) über den autoritären Charakter, dem eine präfaschistische Disposition<br />

zugeschrieben wird. 139 Er konstatiert jedoch einen zeittypischen Symptomwandel von<br />

den klassischen Neurosen ( z.B. Hysterie oder Zwangsneurose) hin zu<br />

narzisstischen Störungen. Indem er sich auf Heinz Kohut <strong>und</strong> Christopher Lasch, in<br />

den Anmerkungen auch auf Alfred Lorenzer, Margaret S. Mahler, Edith Jacobson<br />

<strong>und</strong> Otto F. Kernberg beruft, sieht er "signifikante Veränderungen der Gegenwart",<br />

die sich einer sozialpsychologischen Erklärung durch den Ödipuskomplex entziehen.<br />

Die Theorie des kommunikativen Handelns bietet für ihn den Rahmen, "in dem das<br />

Strukturmodell von Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich reformuliert werden" könne. An die Stelle<br />

der Triebtheorie, die sich am Modell der Beziehungen zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />

orientiere, trete dann eine Sozialisationstheorie, die Strukturen der Intersubjektivität<br />

138 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M. 1999. Seiten 158ff., zit. 190. Vgl. dazu auch Band 2:<br />

Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1999. Seiten 182ff.; zur kritischen<br />

Gesellschaftstheorie Seiten 548ff.<br />

139 Die Analysen gehen von der Hypothese aus, dass der autoritäre Charakter in der mittelständischen<br />

patriarchalischen Familie wurzele <strong>und</strong> dass seine "verborgenen" psychischen Bedürfnisse<br />

verantwortlich seien für antidemokratisches, potenziell faschistisches Verhalten, weniger für politische,<br />

gesellschaftliche <strong>und</strong> wirtschaftliche Überzeugungen. Vgl. Theodor W. Adorno: Studien zum<br />

autoritären Charakter. Vierte Auflage. Frankfurt a. M. 1982.<br />

131


<strong>und</strong> Identitätsbildung mit ihren intrapsychischen <strong>und</strong> interspychischen<br />

"Kommunikationsbarrieren" offenlege. 140<br />

Jürgen Habermas ist der Erste <strong>und</strong> Einzige, der sich - soweit ersichtlich - mit der<br />

Theorie der Hermeneutik beschäftigt <strong>und</strong> zugleich den Paradigmenwechsel von<br />

neurotischen zu narzisstischen Störungen erkannt hat. Sie werden in der<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft zunehmen <strong>und</strong> zerstörerische<br />

Wirkungen ausüben: <strong>als</strong> schwarze Löcher <strong>und</strong> alltäglicher Narzissmus (1.4. <strong>und</strong><br />

1.5.).<br />

Diltheys hermeneutischer Zirkel besagt, dass von den Teilen auf das Ganze <strong>und</strong> vom<br />

Ganzen auf das Einzelne geschlossen werden könne. Nach Gadamer beschreibt der<br />

Zirkel den Erkenntnisprozess zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit": Die<br />

Textaneignung beginnt mit dem historisch bedingten, wirkungsgeschichtlichen <strong>und</strong><br />

kulturellen Vorurteilshorizont <strong>und</strong> schreitet zur Textaneignung durch subjektives<br />

Verstehen fort: vom Vorverständnis zum Gegenstandsverständnis.<br />

Habermas steuert die ideologiekritische <strong>und</strong> narzisstische Dimension zu einer<br />

komplexeren Hermeneutik bei. Sie schließt die historische Zeitgeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> die<br />

jetzige Lebenserfahrung mit ein, <strong>und</strong> das heißt, dass sich das Textverstehen nicht<br />

nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart bezieht. Dafür ist<br />

"kritische Selbstreflexion" erforderlich. Sie ähnelt der Intrazeption, deren Negation <strong>als</strong><br />

"Anti-Intrazeption" Theodor W. Adorno <strong>und</strong> Mitautoren <strong>als</strong> Variable der<br />

Faschismus(F)-Skala eingeführt haben, definiert <strong>als</strong> "Abwehr des Subjektiven, des<br />

Phantasievollen, Sensiblen". 141<br />

Um den fortschreitenden Lernprozess der sechsten prozessualen Operation zu<br />

verdeutlichen, wird nicht von einem hermeneutischen Zirkel, sondern von einer<br />

hermeneutischen Spirale gesprochen. Sie ist offen <strong>und</strong> ermöglicht anstelle einer<br />

zirkulären Rückkehr zum Ausgangspunkt ein Textverstehen, das niem<strong>als</strong> <strong>als</strong><br />

abgeschlossen zu betrachten ist. Für ein <strong>und</strong> dieselbe Quelle sind vielfältige<br />

Interpretationen denkbar, die von den jeweiligen Fragestellungen abhängen - wer,<br />

wann, wo, wie <strong>und</strong> warum in den Spiegel schaut, versteht <strong>und</strong> sich selbst korrigiert.<br />

Dies vermag blockierte kreative Kräfte im Subjekt freizusetzen, sofern es sich<br />

Quellentexte zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit" (Gadamer) fortschreitend<br />

aneignet <strong>und</strong> so "versteht".<br />

140 Jürgen Habermas: Band 2. Seiten 567ff., zit. 569f., 571.<br />

141 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 1982. Seiten 45, 53f. Zur<br />

zweiten F-Skala (Form 60) vgl. Seiten 71ff., zit. 73, zu den endgültigen F-Skalensätzen (Form 45 <strong>und</strong><br />

40) Seiten 81ff., zit. 82f. - Der Begriff Intrazeption stammt von Murray (1938) <strong>und</strong> bedeutet "Dominanz<br />

von Gefühlen, Phantasien, Grübeleien, Sehnsüchten - eine vor allem auf Imaginationen gründende,<br />

subjektive Anschauungsweise". Extrazeption bezeichnet die Tendenz, "sich von konkreten, eindeutig<br />

wahrnehmbaren, physischen Bedingungen (tangiblen, objektiven Tatsachen) bestimmen zu lassen"<br />

(Adorno, Seite 54).<br />

132


4.6 Sind Hypothesen <strong>als</strong> Verallgemeinerungen möglich?<br />

Die Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen: Verknüpfungen von binären Variablen<br />

nach ihrem Wahrheitsgehalt<br />

Die Hypothesenbildung entspricht in der PISA-Studie I den obersten Stufen IV <strong>und</strong> V<br />

in der Subskala "Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten". Die Stufe IV fordert "z.B. die kritische<br />

Bewertung eines Textes oder das Formulieren von Hypothesen über Informationen<br />

im Text, unter Zuhilfenahme von formalem oder allgemeinem Wissen", die Stufe V<br />

"...die kritische Bewertung oder das Bilden von Hypothesen, unter Zuhilfenahme von<br />

speziellem Wissen. Typischerweise verlangen Aufgaben dieses Niveaus vom Leser<br />

den Umgang mit Konzepten, die der Erwartung widersprechen." 142 Manchmal wird<br />

diese Aufgabe gelingen, aber oft auch misslingen. Dennoch sollte nicht darauf<br />

verzichtet werden, sich ihr zu stellen, weil sie das Abstraktionsvermögen<br />

herausfordert <strong>und</strong> erprobt. Experimente sind zu fördern. Wenn sie scheitern, sind sie<br />

ein Ansporn, es später erneut zu versuchen. Wer vor ihnen zurückscheut, verzichtet<br />

darauf, Erfahrungen zu sammeln <strong>und</strong> aus ihnen zu lernen.<br />

Dazu ist ein kurzer Rückgriff auf die Boolesche Algebra <strong>als</strong> Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Hypothesenbildung erforderlich. 143<br />

In der Mathematik besagt die Gleichung y= f(x), dass die Ausgangsvariable y eine<br />

eindeutig definierte Funktion der Eingangsvariablen x ist, wenn jedem zulässigen<br />

Zahlenwert von x ein fester Zahlenwert y gesetzmäßig zugewiesen ist. In der<br />

normalen Algebra können die Variablen x1, x2, x3 ......xn beliebige Werte annehmen<br />

<strong>und</strong> z. B. durch Addition <strong>und</strong> Multiplikation so miteinander verknüpft werden, dass<br />

eine neue Ausgangsvariable y entsteht. Solche Abhängigkeitsverhältnisse beruhen<br />

auf den Gesetzen der Mathematik <strong>und</strong> lassen sich nicht oder nur sehr eingeschränkt<br />

auf die Sozialwissenschaften übertragen.<br />

142 PISA 2000. Seite 89 (Tabelle 2.3).<br />

143 Siehe dazu Alexander Wynands: Boolesche Algebra <strong>und</strong> Informatik. Kastellaun 1977; Gert Böhme:<br />

Algebra. Anwendungsorientierte Mathematik. Berlin 1992; Franz Jehle: Boolesche Algebra. München<br />

1993; Peter Lesky u. a.: Boolesche Algebra. Stuttgart 1976; Heinz-Peter Gumm <strong>und</strong> Werner<br />

Poguntke: Boolesche Algebra. Mannheim 1981; Klaus Urbanski <strong>und</strong> Roland Woitowitz: Digitaltechnik.<br />

Ein Lehr- <strong>und</strong> Übungsbuch. Berlin 2000; Christoph Meinel <strong>und</strong> Martin M<strong>und</strong>henk: Mathematische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Informatik. Stuttgart 2000; Elliott Mendelson: Boolesche Algebra <strong>und</strong> logische<br />

Schaltungen. Hamburg 1982; Uwe Schöning: Theoretische Informatik - kurzgefasst. Heidelberg u.a.<br />

2001; Werner Nehrlich: Diskrete Mathematik. Basiswissen für Informatiker, eine Mathematicagestützte<br />

Darstellung. Leipzig 2003; Günter Hotz: Einführung in die Informatik. Stuttgart 1990. - Pavel<br />

S. Alexandrov: Einführung in die Mengenlehre <strong>und</strong> in die allgemeine Topologie. Berlin 1984; Dieter<br />

Haupt: Mengenlehre - leicht verständlich. Leipzig 1971; Arnold Oberschelp: Allgemeine Mengenlehre.<br />

Mannheim 1994.<br />

133


Anders <strong>als</strong> bei der normalen Algebra verknüpft die Boolesche Algebra, die nach dem<br />

englischen Mathematiker George Boole (1815-1864) benannt ist, logische Variablen<br />

(Aussagen), die nur zwei diskrete Werte annehmen: entweder 1 oder 0, entweder<br />

richtig oder f<strong>als</strong>ch, entweder wahr oder unwahr. Während die normale Algebra von<br />

Zahlen <strong>und</strong> Zahlenwerten handelt, geht es bei der Booleschen Algebra nur um den<br />

Wahrheitsgehalt von Aussagen <strong>und</strong> ihren Verknüpfungen - ja (1) oder nein (0).<br />

Tertium non datur. Eine Boolesche Größe (Aussage) hat somit binären Charakter.<br />

Eine Boolesche Funktion liegt vor, wenn die Ausgangsvariable y davon abhängt, ob<br />

eine oder mehrere Bedingungen in einer eindeutig definierten Weise richtig (1) oder<br />

f<strong>als</strong>ch (0) sind. Es gibt drei gr<strong>und</strong>legende Verknüpfungen zwischen Booleschen<br />

Größen: die Konjunktion, die Disjunktion <strong>und</strong> die Negation.<br />

134


Definition der Konjunktion (UND-, AND-Funktion): Die Ausgangsvariable y ist dann<br />

erfüllt (1), wenn alle Eingangsvariablen x1, x2...xn gleichzeitig erfüllt (1) sind. Ist eine<br />

Eingangsvariable f<strong>als</strong>ch (0), so ist auch die Ausgangsvariable f<strong>als</strong>ch (0).<br />

y = x1 Λ x2...Λ xn = x1 & x2....& xn = x1 ∗ x2...∗xn = x1 x2 ...xn<br />

Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen:<br />

x1 x2 y<br />

0 0 0<br />

0 1 0<br />

1 0 0<br />

1 1 1<br />

Definition der Disjunktion (Oder-, OR-Funktion): Die Ausgangsvariable y ist dann<br />

erfüllt (1), wenn wenigstens eine der Eingangsvariablen x1, x2...xn erfüllt (1) ist. Sind<br />

alle Eingangsvariablen f<strong>als</strong>ch (0), so ist auch die Ausgangsvariable y f<strong>als</strong>ch (0).<br />

y = x1 V x2 ... V xn = x1 + x2 ...+xn<br />

Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen:<br />

x1 x2 y<br />

0 0 0<br />

0 1 1<br />

1 0 1<br />

1 1 1<br />

Abbildung 21: Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen<br />

Definition der Negation: Die Ausgangsvariable y ist dann erfüllt (1), wenn die<br />

Eingangsvariable x nicht erfüllt (0) ist. Ist x = 1, dann ist y= 0. Die Negation ist somit<br />

die Umkehrung der Identität y= x.<br />

y = nicht x<br />

Die Schaltalgebra (Switching Algebra) ist die Anwendung der Booleschen Algebra<br />

auf die EDV <strong>und</strong> Elektrotechnik (u.a. Mess-, Steuerungs- <strong>und</strong> Regeltechnik) <strong>und</strong><br />

kann deshalb auch im Physikunterricht behandelt werden. Anders <strong>als</strong> die<br />

konventionelle, analoge Schaltungstechnik arbeitet die elektronische mit zwei<br />

diskreten, <strong>als</strong>o binären Eingangs- <strong>und</strong> Ausgangsspannungen. Die drei<br />

Gr<strong>und</strong>funktionen lassen sich durch elektronische Schaltungen, den Gattern, nach<br />

DIN 40700 Teil 14 so realisieren <strong>und</strong> symbolisieren:<br />

135


Abbildung 22: Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> elektronische Schaltungen nach DIN<br />

Negation: Ruheschaltung<br />

Konjunktion (UND-, AND-Funktion): Serienschaltung<br />

Disjunktion (ODER-, OR-Funktion): Parallelschaltung<br />

In der Mengenlehre lassen sich die Booleschen Funktionen <strong>als</strong> Gebietsdarstellungen<br />

in einem Rechteck veranschaulichen, das alle zulässigen Werte der<br />

Eingangsvariablen <strong>und</strong> ihrer Verknüpfungen beinhaltet. Bei bis zu zwei<br />

Eingangsvariablen, die sich überlappende Kreise darstellen, ergeben sich bei den<br />

drei Gr<strong>und</strong>funktionen folgende Kombinationen <strong>und</strong> Teilmengen:<br />

136


Konjunktion<br />

Disjunktion<br />

Negation<br />

Abbildung 23: Gebietsdarstellungen (Schnittmengen) der Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen<br />

137


Die schraffierten Flächen (Schnittmengen) erfüllen die Funktion so, dass die<br />

Ausgangsvariable y = 1 ist. Die unschraffierten Flächen (Teilmengen) stellen jene<br />

Verknüpfungen von Wahrheitswerten der zwei Eingangsvariablen x1 <strong>und</strong> x2 dar, bei<br />

denen die Ausgangsvariable y = 0, <strong>als</strong>o nicht erfüllt ist. Bei der Negation <strong>als</strong><br />

Umkehrung der Identität y = x gibt es nur zwei Schnittmengen, da y = nicht x ist. Die<br />

NAND-Funktion entsteht durch Negation der Konjunktion, die NOR-Funktion durch<br />

Negation der Disjunktion.<br />

Die Gr<strong>und</strong>verknüpfungen Konjunktion, Disjunktion <strong>und</strong> Negation sind die Basis der<br />

Volltextsuche mit der Suchmaschine swish-e, deren Recherchemöglichkeiten in der<br />

DVD-D-Dok. ausführlich getestet <strong>und</strong> dokumentiert worden sind (Testversion: DVD-<br />

Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen). Die Junktoren lassen sich noch weniger <strong>als</strong><br />

die Verknüpfungen der normalen Algebra beim Textverstehen anwenden, da bei der<br />

Booleschen Algebra der Inhalt unwichtig ist <strong>und</strong> es nur um den Wahrheitsgehalt von<br />

Aussagen geht - ob sie richtig (1) oder f<strong>als</strong>ch (0) sind. Bei der Quelleninterpretation<br />

dagegen handelt es sich genau um das Gegenteil: um die spezifisch inhaltliche <strong>und</strong><br />

subjektive Deutung von Text-Aussagen, die sich nicht nach Verknüpfungsregeln von<br />

Variablen ( = x1, x2......xn) <strong>als</strong> Ergebnis-Aussage (= y) "errechnen" oder<br />

"programmieren" lassen. "Wahrheiten", "endgültige" Ergebnisse, Lösungen,<br />

Aussagen <strong>und</strong> Antworten gibt es in der "fertigen" Mathematik, aber nicht in der<br />

Geschichtswissenschaft <strong>und</strong> in den Sozialwissenschaften.<br />

4.7. Wie Hypothesen aus dem inhaltlich-subjektiven Quellenverständnis<br />

ableiten?<br />

Tendenziell-approximative Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen<br />

Unter drei Voraussetzungen lassen sich mit den Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen<br />

Konjunktion, Disjunktion <strong>und</strong> Negation historisch-politische Hypothesen bilden:<br />

1. indem historisch-individuelle Aspekte durch Abstraktion vernachlässigt <strong>und</strong> so<br />

generalisiert werden;<br />

2. indem Funktionen <strong>und</strong> Aussagen ihrer Logik, Gesetzmäßigkeit <strong>und</strong> Kausalität<br />

entkleidet <strong>und</strong> durch subjektive, aber nachvollziehbare Inhalte ergänzt werden;<br />

3. indem die Kopula = (ist gleich) durch das Symbol → ersetzt wird, <strong>und</strong> das<br />

heißt: dass y dazu tendiert, Ergebnis- oder Ausgangsvariable der<br />

Eingangsvariablen oder Einflussgrößen (Parameter) x1, x2....xn zu werden.<br />

138


Siebte prozessuale Operation ist der Versuch einer Generalisierung mit der<br />

Zielsetzung, aus dem subjektiven Textverstehen Hypothesen abzuleiten <strong>und</strong> sie <strong>als</strong><br />

Variablen zu verknüpfen. Je höher der Abstraktionsgrad wird, um so mehr verlieren<br />

historisch-politische Vorgänge ihre Individualität durch Verallgemeinerungen.<br />

Idealtypische Fragestellungen:<br />

Wie lassen sich die Ergebnisse des "subjektiven" Textverstehens <strong>und</strong> die Ergebnisse<br />

der "objektiven" Volltextsuche mit der Suchmaschine der D-Dok. kombinieren?<br />

Ist es möglich, sie zu verknüpfen <strong>und</strong> zu mathematisieren?<br />

Lassen sich so Funktionen mit Abhängigkeitsverhältnissen herstellen?<br />

An die Stelle mathematischer oder logischer Verknüpfungsgesetze <strong>und</strong> "Wahrheiten"<br />

der Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen treten damit tendenziell-approximative<br />

Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen: Möglichkeiten, Konstellationen, Trends,<br />

Wahrscheinlichkeiten. Sie sind dem historischen Wandel unterworfen, <strong>als</strong>o niem<strong>als</strong><br />

dauerhaft, kausal, determiniert oder programmierbar. Damit wird dem Umstand<br />

Rechnung getragen, dass in der Geschichte Menschen entscheiden, deren Verhalten<br />

oft irrationalen Gefühlen statt rationaler Logik folgt. Zwar gibt es ausnahmsweise<br />

auch Konstellationen, die menschliche Entscheidungen vorherbestimmen, wenn<br />

Zwang <strong>und</strong> Druck überhand nehmen. In der Regel bleiben aber<br />

Entscheidungsspielräume offen <strong>und</strong> damit Möglichkeiten, zwischen Alternativen<br />

auszuwählen.<br />

Auf die Möglichkeit, die Eingangsvariablen zu quantifizieren <strong>und</strong> damit zahlenmäßig<br />

zu gewichten, z. B. innerhalb einer Skala von -10 bis +10, wird hingewiesen. Davon<br />

wird allerdings aus zwei Hauptgründen abgeraten: 1. Ist es schwierig, qualitative<br />

Inhalte <strong>als</strong> rechnerische Größen zu quantifizieren, <strong>und</strong> 2. ist der subjektive Spielraum<br />

zu groß, zumal die jeweilige Interpretation in der jeweiligen Gegenwart die<br />

Retrospektive auf die Vergangenheit verändert.<br />

Am einfachsten zu arbeiten ist mit der Negation, da sie nur über eine<br />

Eingangsvariable verfügt. In der Zeit des Kalten Krieges war die Welt bipolarantagonistisch:<br />

zweigeteilt in Ost <strong>und</strong> West, in Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Feind, in dichotomen<br />

Denk- <strong>und</strong> Gefühlsschemata erstarrt - tertium non datur. Der "Antagonismus" <strong>und</strong> die<br />

"Konfrontation" der beiden deutschen Staaten vor allem in den 1950er Jahren bietet<br />

dafür Anschauungsmaterial: Sehr oft ist die Politik der BRD die Negation der Politik<br />

der DDR <strong>und</strong> die Politik der DDR die Negation dieser Negation - <strong>und</strong> umgekehrt.<br />

Allerdings verbietet sich eine schematische Betrachtungsweise anstelle einer<br />

differenzierten, da viele Ausnahmen die Regel bestätigen: So haben beide deutsche<br />

Staaten anfangs an der deutschen Einheit <strong>und</strong> an einer einheitlichen deutschen<br />

Staatsangehörigkeit festgehalten - bis die DDR die Zwei-Staaten-Politik vertreten,<br />

per Gesetz vom 20. Februar 1967 eine eigene Staatsbürgerschaft eingeführt <strong>und</strong><br />

unter Honecker schließlich sogar zwischen "zwei Nationen" unterschieden hat. Aus<br />

139


der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts, wonach die BRD mit dem<br />

Deutschen Reich identisch bzw. teilidentisch sei, lassen sich keine Identitäten<br />

ableiten (y= x), wohl aber rechtliche <strong>und</strong> politische Konsequenzen, z. B. das<br />

Wiedervereinigungsgebot <strong>und</strong> das Verbot, die DDR <strong>als</strong> Ausland zu betrachten.<br />

Die wichtigste Suchoption ist die Konjunktion, bei der mehrere, mindestens jedoch<br />

zwei Variablen gleichzeitig erfüllt sein müssen. In vielen Fällen werden sie den<br />

eingegebenen Suchbegriffen entsprechen oder direkt aus den ermittelten Quellen<br />

bzw. Quellenstellen entnommen werden können. Dies unterscheidet das hier<br />

vorgeschlagene wesentlich von empirischen Verfahren, die ihre Materialgr<strong>und</strong>lage<br />

nicht Quellen entnehmen, sondern durch Messungen <strong>und</strong> Auswertung von<br />

Fragebögen beschaffen. Aus ihnen hatten Theodor W. Adorno <strong>und</strong> seine Mitautoren<br />

die Eingangsvariablen "Konventionalismus", "autoritäre Unterwürfigkeit", "autoritäre<br />

Aggression", "Anti-Intrazeption", "Aberglaube <strong>und</strong> Stereotypie", "Machtdenken <strong>und</strong><br />

'Kraftmeierei'", "Destruktivität <strong>und</strong> Zynismus", "Projektivität" <strong>und</strong> "Sexualität"<br />

abgeleitet <strong>und</strong> definiert; sie sollten sich so ergänzen, dass sie den potenziell<br />

antidemokratischen Charakter <strong>als</strong> Ausgangsvariable messen. Dazu dienten die F-<br />

Skalensätze mit Fragebogenfassungen. 144 Die meisten Hypothesen waren aus<br />

Forschungsarbeiten <strong>und</strong> Interviews übernommen <strong>und</strong> <strong>als</strong> Fragebogensätze so<br />

umformuliert worden, dass sie - <strong>als</strong> Variablen verknüpft - das Konstrukt <strong>und</strong> Syndrom<br />

einer mehr oder weniger dauerhaften Charakterstruktur bilden sollten.<br />

Im Unterschied zu solchen empirisch beschafften Daten, die statistisch ausgewertet<br />

<strong>und</strong> nach ihrem Zuverlässigkeitsgrad interpretiert werden, geht die 7. prozessuale<br />

Operation den umgekehrten Weg: Die Daten sind historisch-politische <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftliche Quellen, die bereits vorliegen. Sie werden maschinell nach<br />

Suchbegriffen "objektiv" ausgewertet, subjektiv interpretiert <strong>und</strong> verstanden, sollen<br />

aber - soweit möglich - modellhaft funktionalisiert <strong>und</strong> generalisiert werden. Die<br />

Datenerhebung, die sich in der empirischen Sozialforschung in der Regel des<br />

klassischen Instruments der Befragung (neben der Inhaltsanalyse <strong>und</strong> Beobachtung)<br />

bedient <strong>und</strong> daher Fragebögen <strong>und</strong> Frageleitfäden entwickelt, entfällt daher. Anders<br />

<strong>als</strong> ursprünglich angenommen, dürfte der Zuverlässigkeitsgrad der<br />

"Quellenbefragungen" nicht höher sein <strong>als</strong> jener der empirischen Datenerhebung <strong>und</strong><br />

Datenauswertung. Schließlich ist die vorliegende Quellenauswahl subjektiv <strong>und</strong><br />

deshalb ebenso wenig repräsentativ wie Stichprobenbefragungen.<br />

144 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 1982. Seiten 45ff., 63ff.,<br />

91ff.<br />

140


In zwei Fällen habe ich versucht, historisch-politische Vorgänge zu generalisieren<br />

<strong>und</strong> modellhaft zu funktionalisieren: den Oder-Neiße-Konflikt <strong>und</strong> in einer<br />

"Remigrationsformel" die Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von Emigranten, nach 1945<br />

nach <strong>Deutschland</strong> zurückzukehren. 145 Diese Hypothesen- <strong>und</strong> Theoriebildung stützte<br />

sich allerdings weniger auf <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> vielmehr auf Forschungsergebnisse,<br />

<strong>als</strong>o wissenschaftliche Sek<strong>und</strong>ärliteratur.<br />

145 Hans Georg Lehmann: Der Oder-Neiße-Konflikt. München 1979. Seiten 184ff. (Konfliktsynthesen<br />

<strong>und</strong> Theoriebildung); Derselbe: Rückkehr nach <strong>Deutschland</strong>? Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von<br />

Emigranten. In: Rückkehr <strong>und</strong> Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben<br />

Nachkriegsdeutschlands. Herausgegeben von Claus-Dieter Krohn <strong>und</strong> Patrik von zur Mühlen.<br />

Marburg 1997. Seiten 39 - 70, vor allem 65ff.<br />

141


5. Evaluation der <strong>Quellenarbeit</strong> an Schulen: "Spieglein,<br />

Spieglein, an der Wand......"<br />

Primat der Praxis - Lernprogramm der D-Dok. - Standards,<br />

Methoden <strong>und</strong> Indikatoren - Spiegelszene<br />

Evaluation, d. h. Bewertung, ist "der Blick in den Spiegel". 146 Sie gibt es nicht erst,<br />

seitdem es angewandte Sozialwissenschaft <strong>und</strong> empirische Sozialforschung gibt,<br />

sondern solange es Menschen gibt. Evaluation ist ein lebenslanger Lernprozess. Er<br />

beginnt mit der Geburt <strong>und</strong> endet mit dem Tode. Insofern gilt auch hier das Leitmotiv<br />

der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich.<br />

Der erste Spiegel sind die Augen der Mutter, <strong>und</strong> diese erste "Evaluation" ist meist<br />

lebenslang prägend <strong>und</strong> deshalb schicksalhaft (2.8.). In der Schule hat es Evaluation<br />

schon immer gegeben, wenngleich einseitig: Lehrer/innen bewerten <strong>und</strong> benoten<br />

Schüler/innen. Aber nach welchen Kriterien, Methoden, Zielsetzungen <strong>und</strong><br />

Indikatoren (Anhaltspunkten, Anzeichen)? Im Alltagsleben evaluiert irgendwer<br />

irgendwie sich selbst oder irgendjemand in irgendeiner Weise - sei es in der Familie,<br />

in der Gruppe, im Beruf, im Alter.<br />

Wer in den Spiegel sieht, hegt oft Erwartungen, die subjektiv-irrationalen<br />

Bedürfnissen entspringen, weniger objektiv-rational nachvollziehbaren<br />

Zielsetzungen: "Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen<br />

Land?" Wer ist der/die Größte? Wer der/die Beste? Wer der/die Stärkste? Wer<br />

der/die Mächtigste? Wer der/die Reichste? usw. Schneewittchen im Märchen der<br />

Brüder Grimm ist ein Objekt solch fragwürdiger Evaluation geworden, aber wir<br />

werden es tagtäglich auch in der Realität, ob wir es wollen oder nicht, bewusst oder<br />

unbewusst.<br />

5.1. Der Primat der Praxis in der Evaluation: Kontrolliertes Bewerten <strong>und</strong><br />

Verwerten von Informationen <strong>als</strong> Handlungswissen - Schule <strong>als</strong><br />

konkretes Beispiel<br />

Nicht nur im Alltag ist das Fremdwort Evaluation diffus, inflationär <strong>und</strong> unspezifisch,<br />

oft gilt dies auch für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Erforderlich sind daher<br />

146 So der Titel eines Sammelbandes mit 14 Beiträgen aus <strong>Deutschland</strong>, der Schweiz <strong>und</strong> Österreich<br />

"zur Praxis von Selbstevaluation <strong>und</strong> Schulentwicklung": Der Blick in den Spiegel. Herausgegeben von<br />

Edwin Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz mit Illustrationen von Andreas Breinbauer.<br />

Innsbruck/Wien/München 1999.<br />

142


Präzisierungen, Rollendefinitionen <strong>und</strong> Kompetenzklärungen. Dazu gehört,<br />

Bewertungskriterien (Indikatoren) offen zu legen.<br />

In der angewandten Sozialwissenschaft, nicht nur in der empirischen<br />

Sozialforschung ist Evaluation eine "methodisch kontrollierte, verwertungs- <strong>und</strong><br />

bewertungsorientierte Form des Sammelns <strong>und</strong> Auswertens von Informationen" 147 .<br />

Ausschlaggebend sind dabei nicht die Methoden, <strong>als</strong>o die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />

Evaluation durchgeführt wird, sondern ihre erkenntnisleitenden Zielsetzungen:<br />

Informationen für die Praxis zu analysieren <strong>und</strong> dahingehend zu bewerten, inwieweit<br />

sie sich für Innovationen <strong>und</strong> daraus ableitbare Maßnahmen eignen.<br />

Wer mit der D-Dok. arbeitet, kann nicht umhin, sich dieser Aufgabe zu stellen, <strong>und</strong><br />

hat sich ihr teilweise auch schon verschrieben; denn die in der Datenbank<br />

gespeicherten Informationen sind nach spezifischen Fragestellungen <strong>und</strong> sieben<br />

prozessualen Operationen recherchiert <strong>und</strong> gesammelt, ausgewählt, ausgewertet<br />

<strong>und</strong> bewertet <strong>und</strong> - soweit möglich - tendenziell funktionalisiert worden.<br />

Allerdings fehlt 1. die Evaluation der geleisteten <strong>Quellenarbeit</strong> im strengen Sinne, d.<br />

h. Kontrollen, ob die gesetzten Ziele erreicht worden sind, <strong>und</strong> 2. das Resultat dieses<br />

Evaluationsprozesses, d. h. seine Dokumentation <strong>und</strong> die Konsequenzen, die daraus<br />

zu ziehen sind. Mit anderen Worten: Evaluation ist ein integraler Bestandteil der<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>, gehört implizit zu ihr <strong>und</strong> zu ihrem Profil. Wenn Quellen, wie wiederholt<br />

hervorgehoben (2.6. <strong>und</strong> 2.7.), Spiegel sind <strong>und</strong> deshalb eine Spiegelfunktion<br />

ausüben, dann ist die Evaluation der Rückspiegel (summativ) oder der begleitende<br />

Spiegel (formativ).<br />

Die folgenden Hinweise sind für allgemein bildende Schulen gedacht <strong>und</strong> lassen sich<br />

nicht auf berufsbildende übertragen. Auf Schulen konzentriert sich die <strong>Quellenarbeit</strong><br />

deshalb, weil sie ein Angelpunkt politischer Bildung sind <strong>und</strong> nach dem PISA-Schock<br />

das Entwicklungspotenzial für Innovationen bieten. "Der Blick in den Spiegel", so die<br />

Evaluationsforscher Edwin Radnitzky (Wien) <strong>und</strong> Michael Schratz (Innsbruck), "<strong>und</strong><br />

die daraus abgeleitete bzw. damit verb<strong>und</strong>ene Entwicklungsaktivität - z. B. das<br />

Erstellen eines Schulprogramms - kann der Arbeit von Lehrer/innen langfristig mehr<br />

Sinn geben <strong>und</strong> ihre berufliche Zufriedenheit steigern." 148<br />

147 Helmut Kromrey: Evaluation - ein vielschichtiges Konzept. Begriff <strong>und</strong> Methodik von Evaluierung<br />

<strong>und</strong> Evaluationsforschung. Empfehlungen für die Praxis. In: Sozialwissenschaften <strong>und</strong> Berufspraxis<br />

(SUB) 24 , 2001. Seiten 105 - 131, zit. 112. Ergänzende Literaturangaben Seiten 130 - 131. Siehe<br />

dazu auch die Definitionen in: Claus G. Buhren, Dagmar Killus, Sabine Müller: Wege <strong>und</strong> Methoden<br />

der Selbstevaluation. Ein praktischer Leitfaden für Schulen. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 13 - 16. Vgl. auch<br />

Herbert Altrichter: Evaluation <strong>als</strong> Alltäglichkeit, <strong>als</strong> Profession <strong>und</strong> <strong>als</strong> Interaktion. In: Josef<br />

Thonhauser <strong>und</strong> Jean-Luc Patry: Evaluation im Bildungsbereich. Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis im Dialog.<br />

Innsbruck/Wien 1999. Seiten 103 - 120.<br />

148 Edwin Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz: Qualitätsentwicklung durch Selbstevaluation. In: Der Blick in<br />

den Spiegel. Seiten 9 - 21, zit. 12. Vgl. dazu auch Anton Strittmatter: Qualitätsevaluation <strong>und</strong><br />

Schulentwicklung. In: Josef Thonhauser <strong>und</strong> Jean-Luc Patry: Evaluation .... Seiten 173 - 188.<br />

143


Evaluation ist an Schulen in <strong>Deutschland</strong> zu einem Reizwort geworden. Der Begriff<br />

löst nicht nur Unbehagen aus, sondern schürt oft auch Unsicherheiten <strong>und</strong> Ängste.<br />

Der Gr<strong>und</strong>: Schulbehörden haben dieses Instrument - meist auf dem Umweg über<br />

das Schulprogramm - aufgegriffen <strong>und</strong> drangsalieren damit Lehrer/innen, um sie zu<br />

kontrollieren, zu "messen" <strong>und</strong> angeblich nach Leistungsstandards zu bewerten.<br />

Schulen <strong>und</strong> Lehrer/innen haben ihre eigenen "Instrumente" entwickelt <strong>und</strong> wissen,<br />

wie sie solche Zwangsmaßnahmen unterlaufen: Sie betreiben eine "Als-ob-<br />

Evaluation", inszenieren eine "Evaluation-Show" u. a. Bedauerlich ist allerdings, dass<br />

damit Evaluation diskreditiert <strong>und</strong> zu Schanden gemacht wird, obwohl nicht nur<br />

Schulen, sondern vor allem Lehrer/innen von ihr profitieren könnten.<br />

Wer in der Evaluation an Schulen "perfekt" sein will, findet nur den Anfang, aber kein<br />

Ende. Vor lauter Bäumen werden Sie keinen Wald mehr sehen, wie teilweise schon<br />

bei der Informationssammlung. Weniger ist daher mehr <strong>als</strong> viel - multum, non multa.<br />

Statt Fragebögen mit Alternativantworten auszuarbeiten, sie zu skalieren, zu<br />

diskutieren <strong>und</strong> zu testen, sollten Sie sich der Instrumente der Beobachtung <strong>und</strong><br />

Befragung (Interview) <strong>als</strong> empirischer Datensammlungsverfahren bedienen. Sie<br />

können sich dann auf Ihre Schüler/innen konzentrieren <strong>und</strong> sie individuell mit ihren<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen wahrnehmen <strong>und</strong> auch fördern. Sie ersparen sich<br />

schriftlichen <strong>und</strong> "dokumentarischen" Aufwand. Und Sie sehen dann auch eher die<br />

positiven Ansätze der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> ihre Mängel, Lücken, Fehler. Kurzum: Es<br />

geht nicht um Theorien, <strong>und</strong> schon gar nicht um Schulbehörden, sondern um den<br />

Primat der Praxis: was für schulische Zwecke brauchbar <strong>und</strong> praktikabel ist.<br />

Standardisierte Verfahren <strong>und</strong> quantitative Indikatoren (z.B. statistische Kennzahlen)<br />

sollten daher entfallen.<br />

Als Herausgeber der D-Dok. <strong>und</strong> Autor dieses Begleitbuches kann ich Ihnen zwar<br />

nicht namens der Schulaufsicht, aber im eigenen Namen eine Generalabsolution für<br />

alle Sünden erteilen, die Sie <strong>als</strong> Lehrer/in wider Geist <strong>und</strong> Buchstaben der "richtigen"<br />

Evaluation in der "richtig" angewandten Sozialwissenschaft, der empirischen<br />

Sozialforschung, der Theory-based Evaluation, der Sozialethik, der Action Research,<br />

der Managementforschung, der Statistical Power Analysis, der Self-Efficay, der<br />

Komplexforschung u. a. begehen.<br />

Wenn Sie dies annehmen können, dann wird eine Last von Ihnen abfallen, die Sie<br />

vielleicht auch körperlich-seelisch wahrnehmen, indem Sie sich zurücklehnen <strong>und</strong> tief<br />

durchatmen. Was Ihnen alles erspart bleibt, können Sie der Literatur entnehmen<br />

oder dort nachblättern. 149<br />

149 Andreas Diekmann: Empirische Sozialforschung. Gr<strong>und</strong>lagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek<br />

bei Hamburg 1996; Helmut Kromrey: Empirische Sozialforschung. Modelle <strong>und</strong> Methoden der<br />

Datenerhebung <strong>und</strong> Datenauswertung. Opladen 1998; Jürgen Friedrichs: Methoden empirischer<br />

Sozialforschung. Opladen 1997; Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Band 1:<br />

Methodologie, Band 2: Methoden <strong>und</strong> Techniken. Weinheim 1995; Erwin Roth (Hrsg.):<br />

144


5.2. Evaluation an allgemein bildenden Schulen: Das Schulprogramm in<br />

<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> das Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong><br />

Die Schulgesetze der B<strong>und</strong>esländer, die in der D-Dok. digitalisiert sind, verpflichten<br />

die Schulen in der Regel dazu, sich ein Schulprogramm zu geben. Auf Gr<strong>und</strong><br />

verordneter Selbstständigkeit, oft auch Eigenständigkeit geheißen, sollen sie ohne<br />

inhaltliche Vorgaben ein gr<strong>und</strong>legendes Konzept entwerfen, das ihre fachlichen <strong>und</strong><br />

pädagogischen Ziele, deren Schwerpunkte <strong>und</strong> die Wege zu ihnen beschreibt.<br />

Indikatoren dienen <strong>als</strong> Messlatten <strong>und</strong> Notengeber, ob Schulen ihre selbstgewählten<br />

Ziele erreicht haben. Diese Schulentwicklungsarbeit, an der neben den<br />

Lehrern/innen auch die Schüler/innen <strong>und</strong> die Eltern einzubeziehen sind, bedarf<br />

einer Bestandsaufnahme (Ist-Analyse). Sie mündet in einer Soll-Analyse ein <strong>und</strong><br />

erfordert eine regelmäßige Überprüfung.<br />

Schulprogramme <strong>und</strong> Evaluation gelten <strong>als</strong> zwei voneinander abhängige<br />

Gestaltungselemente, über die Schulen sich selbst diagnostizieren, sich "benoten",<br />

weiterentwickeln <strong>und</strong> der Schulaufsicht darüber berichten. Damit soll zugleich<br />

innerschulische Qualitätssicherung <strong>und</strong> nicht zuletzt gewährleistet sein, dass<br />

Schulen mit ihren Leistungen <strong>und</strong> ihrem Entwicklungspotenzial vergleichbar <strong>und</strong><br />

messbar werden.<br />

Die D-Dok. bietet sich geradezu dazu an, sie im Rahmen von Schulprogrammen zu<br />

erproben, vorausgesetzt, dass Schulleitung, Kollegium, Schulkonferenz,<br />

Schüler/innen <strong>und</strong> nicht zuletzt die Eltern ihre Zielsetzungen billigen. Sie kann<br />

Schulen ein <strong>neues</strong> Gesicht geben, <strong>und</strong> zwar nicht kosmetisch verschönert, sondern<br />

durch ein <strong>neues</strong> Profil von Gr<strong>und</strong> auf: Ihre alte Schule wird nicht wieder zu erkennen<br />

sein, <strong>und</strong> Sie selbst werden sich so unsichtbar verändert haben, dass Sie Ihre<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler verunsichern, weil sie die "alte" Lehrerin oder den "alten"<br />

Lehrer vor sich zu sehen glauben, aber dennoch eine "neue" Lehrerin oder einen<br />

"neuen" Lehrer vor sich haben.<br />

Sozialwissenschaftliche Methoden. Lehr- <strong>und</strong> Handbuch für Forschung <strong>und</strong> Praxis. München u.a.<br />

1999; Rainer Schnell, Paul Bernhard Hill <strong>und</strong> Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung.<br />

München u.a. 1999. Zur Evaluation: Heinrich Wottawa <strong>und</strong> Heike Thierau: Lehrbuch Evaluation. Bern<br />

2003; Joachim König: Einführung in die Selbstevaluation. Ein Leitfaden zur Bewertung der Praxis<br />

Sozialer Arbeit. Freiburg 2000; James R. Sanders (Hrsg.): Handbuch der Evaluationsstandards. Die<br />

Standards des "Joint Committee on Standards for Educational Evaluation". Opladen 2000; Heinz<br />

Günter Holtappels: Schulqualität durch Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation. Konzepte,<br />

Forschungsbef<strong>und</strong>e, Instrumente. München 2003; Michael Schratz: Qualität sichern: Schulprogramme<br />

entwickeln. Seelze 2003.<br />

145


Voraussetzungen dafür sind allerdings, 1. dass Sie langfristig den Mut haben, sich<br />

auf Ihre eigenen Quellen zu besinnen, 2. dass Sie sich trotz Ängsten <strong>und</strong><br />

wiederkehrender schmerzlicher Rückschläge den Herausforderungen der<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> stellen, 3. dass Sie sich selbstbestimmt mit ihren Lernzielen im<br />

Rahmen Ihrer Fächer identifizieren können, <strong>und</strong> 4. dass Sie Fähigkeiten entwickeln,<br />

sie praktisch umzusetzen - aus dem Bauch heraus, nicht theoretisch <strong>und</strong> kopflastig.<br />

Das idealtypische Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> für allgemein bildende<br />

Schulen wird durchnummeriert, jedoch bedeutet die Reihenfolge keine Rangfolge. Es<br />

besteht aus 13 vernetzten, auch einzeln auswählbaren <strong>und</strong> modellhaft voneinander<br />

abgrenzbaren Teillernzielen, die sich am Leitmotiv orientieren. Soweit sie sich auf<br />

einzelne Fächer beziehen, sind sie zugleich auch fächerübergreifend, andere<br />

betreffen nicht festgelegte Inhalte, Gr<strong>und</strong>sätze, Formen <strong>und</strong> Methoden des <strong>Lernen</strong>s.<br />

Alles in allem ist es ein "offenes", wenig präzisiertes Lernprogramm. Es wirft Fragen<br />

auf, ohne Antworten auf sie zu geben. Deshalb steht hinter den 13 Teillernzielen ein<br />

Fragezeichen. Auch hier geht es wieder um Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen:<br />

Fragen an Sie, aber keine Antworten für Sie.<br />

Leitmotiv des weitgehend selbstbestimmten lebenslangen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an den<br />

Quellen: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum)<br />

Teillernziele:<br />

-1. Medienakzeptanz <strong>und</strong> Medienkompetenz: Schüler/innen <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

Lehrer/innen fit machen für das Informationszeitalter?<br />

-2. Neue Politische Bildung (NPB): Neben den historischen, sozialwissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> fremdsprachlichen Kernfächern auch Mathematik, Informatik <strong>und</strong><br />

Naturwissenschaften interdisziplinär mit einbinden?<br />

-3. Quellenorientierter Geschichtsunterricht: Geschichte nicht <strong>als</strong> eine Sammlung von<br />

Daten, Namen, Fakten <strong>und</strong> Ereignissen reproduzieren <strong>und</strong> konsumieren, sondern <strong>als</strong><br />

eine Informationsquelle erschließen, die in uns Gestalt geworden ist?<br />

-4. Computergestützter Fremdsprachenunterricht <strong>als</strong> <strong>Quellenarbeit</strong>: Fremdsprachen<br />

<strong>als</strong> Quellcode, Quelltext oder Programmcode (Source Code), der zu entschlüsseln<br />

ist, um fremde Menschen, fremde Kulturen "zwischen Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit"<br />

(Gadamer) zu "verstehen", zu "übersetzen" <strong>und</strong> so fremde Welten zu "decodieren"?<br />

-5. "Offener", anwendungsorientierter Mathematik-, Informatik- <strong>und</strong><br />

naturwissenschaftlicher Unterricht: Fördert er Kreativität <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Teilhabe, indem er sich auf eine Entdeckungsreise (Logic of Mathematical<br />

Discoveries) begibt <strong>und</strong> so heuristisch Probleme löst (Problem Solving Strategies),<br />

146


statt sich mit "fertigen" Formeln abzuschotten <strong>und</strong> in "geschlossenen" abstraktentheoretischen<br />

Denkmodellen zu erschöpfen?<br />

-6. <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> Quellenkritik (im engeren Sinn) <strong>als</strong> vornehmlich primäres<br />

aktives <strong>Lernen</strong>: Nach weitgehend selbstbestimmten Fragestellungen, so dass<br />

Frontalunterricht sich von selbst erübrigt, <strong>als</strong>o nicht "abgeschafft" wird, sondern von<br />

selbst "verschwindet"?<br />

-7. Selbstentfaltung des Menschen nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz: Damit<br />

Kinder <strong>und</strong> Schüler/innen, aber auch Erwachsene sich zu selbstbestimmten<br />

mündigen Bürgern in der Demokratie entwickeln <strong>und</strong> vielfältige Informationsquellen<br />

nutzen können?<br />

-8. Individuelle Förderung von Kindern so frühzeitig wie möglich an ihren Wurzeln:<br />

Damit sie ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Begabungen entfalten, wahrnehmen <strong>und</strong> innovative<br />

Ideen kreieren können, die "professionellen" Beratern <strong>und</strong> Evaluatoren nicht im<br />

Traum einfallen, weil sie keine Träume mehr haben?<br />

-9. Generationenübergreifendes, weitgehend selbst organisiertes <strong>Lernen</strong>: Nicht nur<br />

die "Alten" unterrichten die "Jungen", sondern auch die "Jungen" die "Alten", nicht<br />

nur die Eltern ihre Kinder, sondern auch Kinder ihre Eltern oder Großeltern, so dass<br />

Eltern, Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen <strong>Lernen</strong>de werden?<br />

-10. Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong>: Kooperieren <strong>und</strong> Feedback der<br />

<strong>Lernen</strong>den, die sich Lernziele, Lerninhalte <strong>und</strong> Lernmethoden selbst setzen, sich<br />

selbst motivieren <strong>und</strong> sie jeweils selbst korrigieren <strong>und</strong> neu definieren?<br />

-11. Integration <strong>und</strong> Toleranz in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> Europa : Damit Westdeutsche <strong>und</strong><br />

Ostdeutsche zusammenwachsen <strong>und</strong> Deutsche <strong>und</strong> Ausländer zusammenleben<br />

können, indem sie sich wechselseitig respektieren, ohne ihre Identität zu verlieren,<br />

sie zu verleugnen oder sie anderen aufzuzwingen?<br />

-12. Von geschlechts- oder migrantenspezifischen sowie familiär- oder entwicklungsstufenbedingten<br />

Variablen abhängige Lernprozesse: Sie wahrnehmen, "verstehen"<br />

<strong>und</strong> soweit wie möglich in der Praxis berücksichtigen?<br />

-13. Implementierung neuer Paradigma, Referenzdesigns <strong>und</strong> Indikatoren: Für die<br />

innerschulische Evaluation <strong>als</strong> "Blick in den Spiegel", weil Evaluation <strong>und</strong> Innovation<br />

zwei Seiten ein <strong>und</strong> derselben Medaille sind?<br />

147


5.3. Der Spiegel <strong>und</strong> die Unberechenbarkeit der Schulaufsicht:<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok. <strong>als</strong> "Untergr<strong>und</strong>arbeit" an deutschen<br />

Schulen?<br />

Könnte Ihre allgemein bildende Schule in ihr Schulprogramm Elemente des<br />

Lernprogramms der D-Dok. aufnehmen? Und könnte sie sich mit ausgewählten<br />

Themen aus dem 13-Punkte-Katalog profilieren? Oder vielleicht zu einer der besten<br />

Schulen in Ihrer Stadt oder gar im Lande werden?<br />

Aber wenn Sie vor den Spiegel treten <strong>und</strong> ihn befragen: "Spieglein, Spieglein, an der<br />

Wand, was ist die beste Schule im ganzen Land?", müssen Sie befürchten, dass der<br />

Spiegel weissagt: "Ihr könntet die beste Schule sein im Lande, aber eure<br />

Schulaufsicht ist dazu nicht im Stande." Oder nach deutlicher: "Ihr könntet die beste<br />

Schule sein im Lande, aber eure Schulaufsicht ist eine Schande." Dies zu<br />

entschlüsseln, erfordert <strong>Quellenarbeit</strong>.<br />

Wenn der Spiegel so orakelt, wird er seine Gründe haben, denn er ist unbestechlich<br />

<strong>und</strong> "objektiv", auch wenn die Schulaufsicht gelb <strong>und</strong> grün werden sollte. Was auf<br />

dem Papier steht <strong>und</strong> in der Theorie taugt, entspricht oft nicht der Praxis. Vielleicht<br />

hat Ihre Schulaufsicht das Schulprogramm so lange zurückgewiesen <strong>und</strong> erst<br />

genehmigt, bis es kein Schulprogramm mehr war, wie gesetzlich vorgeschrieben,<br />

sondern ein Programm der Schulaufsicht, obwohl sie dazu nicht im Stande ist. Ihre<br />

Schule hat Autonomie, Eigenständigkeit oder Selbstständigkeit verordnet<br />

bekommen? Aber die Bürokratie an Ihrer Schule nimmt nicht ab, sondern zu. Und die<br />

Schulleitung darf trotz neuer Kompetenzen keine Lehrer/innen einstellen, die Ihrer<br />

Schule ein <strong>neues</strong> Profil geben könnten, sondern erhält Problemfälle zugewiesen, die<br />

das Kollegium demotivieren <strong>und</strong> Ihre Schule ruinieren.<br />

Vielleicht ist auch Ihre Dezernentin oder Oberschulrätin mitverantwortlich für das<br />

Votum des Spiegels, weil sie Ihrer Schule "neue Medien" <strong>und</strong> "Evaluation" verordnet<br />

hat , aber selbst mit dem Computer nicht umgehen kann <strong>und</strong> noch nichts von<br />

EVAluation gehört hat. Zwar hat die Schulaufsicht auf dem Papier eine<br />

Doppelfunktion erhalten, denn sie soll nicht nur kontrollieren, reglementieren,<br />

anweisen <strong>und</strong> gegebenenfalls strafen, sondern auch beraten, begleiten <strong>und</strong> helfen.<br />

Dies hat sich dort allerdings noch nicht herumgesprochen, abgesehen davon, dass<br />

Bürokratien viel Zeit brauchen, um ihr Selbstverständnis neu zu definieren <strong>und</strong> zu<br />

lernen.<br />

Der direkte Weg zur Erprobung der D-Dok. führt daher nicht über das<br />

Schulprogramm <strong>und</strong> damit über die Schulaufsicht <strong>als</strong> unberechenbarer<br />

Unbekannten, sondern über Ihre Schulleitung vor Ort. Ist es nicht eine Schande,<br />

dass computergestützte, fächerübergreifende <strong>Quellenarbeit</strong>, neue Lernziele <strong>und</strong><br />

Lernmethoden in <strong>Deutschland</strong> sich an Schulen "verstecken", sozusagen in den<br />

148


"Untergr<strong>und</strong>" flüchten müssen? Dass sie wie Schulbücher zensiert, nach Lehrplänen<br />

zurechtgestutzt <strong>und</strong> dann erst genehmigt werden, bevor sie von Amts wegen<br />

zugelassen sind? Früher war es die Kirche, die den Segen von oben verbürgte,<br />

heute ist es die Schulbürokratie. Sie hat auch nach PISA noch nicht begriffen, was<br />

die St<strong>und</strong>e geschlagen hat. Im internationalen Vergleich sind nur in <strong>Deutschland</strong><br />

Schulen nach wie vor eher Dienstbehörden, deren Administrator/innen "die<br />

Anweisungen der vorgesetzten Behörden entgegennehmen, umsetzen <strong>und</strong> nach<br />

oben berichten..." 150 Diese "verwaltete Schule" hat sich trotz vielfältiger Kritik, u. a.<br />

durch Hellmut Becker schon 1956, nur auf dem Papier, aber nur wenig in der Praxis<br />

verändert.<br />

Oder ist die Schulaufsicht nur ein Alptraum?<br />

Ein Missverständnis?<br />

Ein tief verwurzeltes Misstrauen?<br />

Ein Feindbild?<br />

Bitten Sie Ihre Schulleiterin oder Ihren Schulleiter um ein kurzes Gespräch, legen Sie<br />

das Lernprogramm der D-Dok. vor <strong>und</strong> fragen Sie ihn oder sie, ob Sie in Ihren<br />

Fächern Teillernziele aus diesem Katalog aufgreifen <strong>und</strong> an der Schule erproben<br />

könnten - nicht um die D-Dok. dort einzuführen, sondern um sie zu erproben. Ich bin<br />

fest davon überzeugt, dass Sie dazu seine oder ihre Zustimmung <strong>und</strong> folglich auch<br />

Unterstützung erhalten werden, es sei denn, er oder sie ist die an Ihrer Schule<br />

wandelnde Ausgeburt deutscher Schulaufsicht. Vielleicht kann sich Ihr Schulleiter<br />

oder Ihre Schulleiterin mit dem fächerübergreifenden Lernprogramm der D-Dok.<br />

selbst identifizieren <strong>und</strong> entscheidet sich, sie ebenfalls zu erproben. Gemeinsam<br />

könnten Sie die D-Dok. dann auch auf einer Lehrerkonferenz vorstellen.<br />

Sie "infizieren" so andere Kolleg/innen, kooperieren mit ihnen <strong>und</strong> treiben<br />

interdisziplinäre Arbeitsteilung: im Schutze Ihrer Schule <strong>und</strong> Klasse <strong>und</strong> ohne<br />

Einmischung der Schulaufsicht <strong>als</strong> unberechenbarer "Größe". Sie evaluieren<br />

schulintern selbstbestimmt statt fremdbestimmt durch eine "professionelle"<br />

Bürokratie. Und Ihre Schule behält sich die Option offen, die Schulaufsicht zu testen<br />

<strong>und</strong> zu evaluieren - statt umgekehrt. Ist dies nicht eine neue Perspektive zur<br />

"Qualitätsentwicklung" <strong>und</strong> "Profilierung" von Schulaufsicht (<strong>und</strong> Schulberatung?)<br />

durch Evaluation im ganzen Lande, zu der sie bisher nicht im Stande war?<br />

Während der Fachtagung "Auf dem Weg in die Bildungslandschaft" am 23. Januar<br />

2004 in Bonn hat NRW-Ministerpräsident Steinbrück (SPD) zum "heiklen Thema"<br />

150 Heinz Rosenbusch: Schulleitung <strong>und</strong> Schulaufsicht. In: Ernst Rösner (Hrsg.): Schulentwicklung <strong>und</strong><br />

Schulqualität. Kongressdokumentation 1. <strong>und</strong> 2. Oktober 1998. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 243 - 258, zit.<br />

251. - Zur Kritik an der "verwalteten Schule" vgl. Hellmut Becker: Kulturpolitik <strong>und</strong> Schule. Probleme<br />

der verwalteten Schule. Stuttgart 1956; Peter Posch <strong>und</strong> Herbert Altrichter: Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Grenzen der Qualitätsevaluation <strong>und</strong> Qualitätsentwicklung im Schulwesen. Innsbruck/Wien 1997.<br />

Seiten 217ff.<br />

149


Schulaufsicht betont: "Sie berät <strong>und</strong> unterstützt, aber soll nicht gängeln." 151 Auf dem<br />

Papier! Statt die sie verändernden Sollvorschriften umzusetzen, kontrolliert <strong>und</strong><br />

reglementiert Schulaufsicht auch heute noch Schulen: Sie schreibt ihnen "von oben"<br />

vor, was sie "unten" auszuführen, zu unterrichten <strong>und</strong> zu prüfen haben. Davon sind<br />

auch die derzeit 278 Schulen in 19 Regionen Nordrhein-Westfalens nicht<br />

ausgenommen, die sich am befristeten Modellprojekt "Selbstständige Schule"<br />

beteiligen. Versprochen worden ist ihnen "Freiraum", das soll heißen "Verlässlichkeit,<br />

Chancengleichheit <strong>und</strong> Selbstständigkeit", aber geerntet haben sie teilweise bisher -<br />

wie auf der Fachtagung bemängelt worden ist - das Gegenteil, Kompetenzgerangel<br />

inbegriffen. Unter dem Stichwort "Regionalisierung" hat sich die Schulaufsicht in<br />

NRW in "Steuergruppen" eingenistet, so dass sie mittlerweile nicht nur von den<br />

Bezirksregierungen aus kommandieren, sondern auch vor Ort <strong>und</strong> in Kreisen<br />

herumschnüffeln kann. Sie will jetzt "Inspektor/innen" ausbilden, die unangemeldet<br />

Schulen zum "Schul-Ranking" aufsuchen <strong>und</strong> kontrollieren sollen.<br />

Eine Schulaufsicht, die Schulen fremd-bestimmt, <strong>und</strong> die D-Dok., die selbstbestimmte<br />

Schulen braucht, verhalten sich zueinander wie Wasser <strong>und</strong> Feuer. Die<br />

hier vertretene selbstbestimmte <strong>Quellenarbeit</strong> kann sich erst entfalten nach dem<br />

Ende einer Schulaufsicht <strong>und</strong> Bildungsbürokratie, wie sie vor 1945 in Preußen-<br />

<strong>Deutschland</strong> entstanden ist <strong>und</strong> seitdem weitgehend unverändert fortwirkt - auch<br />

nach dem Stalingrad des deutschen Bildungswesens bei PISA.<br />

5.4. Gegenstand <strong>und</strong> Zweck der schulinternen Evaluation: Standards,<br />

Methoden <strong>und</strong> "weiche" Indikatoren auswählen<br />

Gegenstand der Evaluation ist die geleistete <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> in Ausnahmefällen<br />

auch die D-Dok. <strong>als</strong> Produkt. Einzubeziehen sind die beteiligten Lehrer/innen <strong>und</strong> die<br />

betroffenen Schüler/innen bzw. Klassen <strong>und</strong> - empfehlenswert - die Schulleitung,<br />

damit sie informiert ist.<br />

Zweck der Evaluation ist es, Erkenntnisse (Daten) über den Verlauf <strong>und</strong> die<br />

Ergebnisse der <strong>Quellenarbeit</strong> zu liefern <strong>und</strong> sie dafür auszuwerten. Damit wird nicht<br />

151 Zitiert nach Sascha Stienen: "Schulaufsicht soll beraten, aber nicht gängeln". Ministerpräsident<br />

Steinbrück bezeichnet das Projekt "Selbstständige Schule" <strong>als</strong> erfolgreich. Doch Schulleiter fordern<br />

mehr Freiraum: Die Bezirksregierungen sind noch keine Dienstleister". In: General-Anzeiger vom<br />

24./25. Januar 2004. Seite 5. - Wie Schulrealität <strong>und</strong> Lehreralltag aussehen, konnte Steinbrück im<br />

Lehrerzimmer der katholischen Sankt-Nikolaus-Gr<strong>und</strong>schule in Köln erfahren, <strong>als</strong> er sie am 2. Februar<br />

2004 besucht hat. Es war keine "Nikolausfeier", die das Kollegium für ihn vorbereitet hatte, sondern<br />

eher eine kalte Dusche; vgl. Sebastian Okada: "Aber erfrieren tut da keiner". Ministerpräsident<br />

Steinbrück besucht in Köln eine offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> weist Klagen von Lehrern über ihre<br />

Arbeitsbelastung zurück. In. General-Anzeiger vom 3. Februar 2004. Seite 5 (nach dpa).<br />

150


nur Rechenschaft über die <strong>Quellenarbeit</strong> abgelegt, auch Konsequenzen sind daraus<br />

zu ziehen:<br />

Ist sie erfolgreich?<br />

Sinnvoll?<br />

Weitgehend selbstbestimmt?<br />

Problematisch?<br />

Entwicklungsstufengerecht?<br />

Akzeptabel?<br />

Ausbaufähig?<br />

Gescheitert?<br />

Einzustellen?<br />

Fortzusetzen?<br />

Zu verbessern?<br />

Offen bleiben muss, welche Standards, Methoden <strong>und</strong> Indikatoren für die<br />

schulinterne Evaluation auszuwählen sind, denn sie hängen vom bisherigen Verlauf<br />

der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> somit Unterrichtsergebnissen ab. Wie bisher können daher nur<br />

Fragestellungen angeboten, aber keine Antworten auf sie gegeben werden. Das<br />

können nur Sie mit Ihren davon betroffenen Schüler/innen im Einvernehmen mit<br />

eventuell kooperierenden Lehrer/innen. Dazu werden Hinweise gegeben, die jedoch<br />

klasseninterne Entscheidungen nicht präjudizieren sollten.<br />

Idealtypische Fragestellungen:<br />

- 1. Wer evaluiert?<br />

Intern oder extern?<br />

Aus der weitgehend selbstbestimmten <strong>Quellenarbeit</strong> folgt die selbstbestimmte<br />

Evaluation, <strong>als</strong>o die schulinterne Evaluation (Selbstevaluation). Handeln Sie bitte mit<br />

Ihrer Klasse aus, wer welche Kompetenzen erhält <strong>und</strong> übernimmt. Dies kann die<br />

ganze Klasse sein, eine Gruppe ausgewählter Schüler/innen oder kooperierende<br />

Lehrer/innen. Abgeraten wird vorerst, die Schulaufsicht, die sich in eigenen<br />

Ausarbeitungen <strong>als</strong> Evaluator anbietet, einzuschalten, solange sie kontrolliert <strong>und</strong><br />

anweist statt zu beraten <strong>und</strong> tatsächlich zu helfen. 152<br />

152<br />

Eine gute Visitenkarte für die "Behörde für Schule, Jugend <strong>und</strong> Berufsbildung" (Amt für Schule) in<br />

Hamburg<br />

ist die von ihr herausgegebene Orientierungshilfe: Schulinterne Evaluation. Ein Leitfaden zur<br />

Durchführung. Hamburg 2000. Er gibt eine Übersicht über die schulinterne Evaluation im Rahmen des<br />

Schulprogramms aus der Sicht des Hamburgischen Schulgesetzes, sieht die "Doppelfunktion" von<br />

Schulaufsicht <strong>und</strong> Schulberatung<br />

<strong>als</strong> "neue Aufgabe" (Seite 30f.), führt konkrete Beispiele für Indikatoren <strong>und</strong> Evaluationsinstrumente<br />

auf ( Seiten 34 - 42) <strong>und</strong> kommentiert Literaturangaben, die auch mir weitergeholfen haben. -<br />

Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung <strong>und</strong> Medien: Qualitätsentwicklung in<br />

Schulen - Selbstevaluation: Handreichung zur Unterstützung von Schulen für ihre Evaluationsarbeit.<br />

Bad Berka 2003.- Für NRW vgl. Landesinstitut für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung (Hrsg.): Wie Schulen ihr<br />

151


- 2. Wann wird evaluiert?<br />

Projektbegleitend <strong>als</strong> formative oder abschließend <strong>als</strong> summative Evaluation?<br />

So wie das Projekt hier vorgestellt <strong>und</strong> präsentiert wird, ist die summative Evaluation<br />

zum Abschluss der <strong>Quellenarbeit</strong> die Regel, d. h. es folgt eine nachträgliche<br />

Erfolgskontrolle aus der Retrospektive. Formative, d. h. retrospektive <strong>und</strong> prospektive<br />

Evaluation kommt nur in sehr seltenen Ausnahmefällen infrage: Wenn Sie<br />

Spitzenschüler/innen haben, die nicht nur die geleistete <strong>Quellenarbeit</strong>, sondern auch<br />

die D-Dok. selbst "unter die Lupe" nehmen <strong>und</strong> so zum Evaluationsgegenstand<br />

machen.<br />

-3. Nach welchen Indikatoren <strong>als</strong> Bewertungskriterien oder Messinstrumenten wird<br />

evaluiert? Sind sie "weich" oder "hart"?<br />

"Offen" oder "eng" <strong>und</strong> "festgeschrieben"?<br />

Indikatoren (Anzeiger, Merkmale) sollen messen oder werten, ob <strong>und</strong> inwieweit<br />

Zielsetzungen erreicht worden sind, sei es auch nur teilweise, sei es nicht oder gar<br />

nicht. Verzichten Sie darauf, Kriterien festzulegen, die sich auf einen bestimmten<br />

Evaluationsbereich beziehen, um sie dann mit definierten "harten" Indikatoren zu<br />

besetzen. 153 Sie sind sonst bei Befragungen zwar überprüfbar, nachvollziehbar <strong>und</strong><br />

statistisch prozentual auswertbar (auch nach Erfolgs- <strong>und</strong> Misserfolgsraten), aber für<br />

schulische Zwecke meist steril <strong>und</strong> wenig ergiebig.<br />

"Weiche" Indikatoren lassen einen breiten Bewertungsspielraum "offen" statt ihn<br />

einzuschränken oder zu präzisieren. Aus vagen <strong>und</strong> "offenen " Antworten bei<br />

Befragungen können Sie mehr "heraushören" <strong>und</strong> auch nachfragen <strong>als</strong> bei<br />

bereinigten, geprüften <strong>und</strong> "sterilen". Ziel ist es, Informationen (Daten) zu erhalten,<br />

die ein breites Antworten- <strong>und</strong> Meinungsspektrum bieten, auch das persönliche<br />

Empfinden der Befragten berücksichtigen.<br />

Schulprogramm entwickeln. Bönen 1998. - Die Schulprogramme der Schulen sind in der Regel im<br />

Internet abrufbar.<br />

153 Dies entspricht nicht der "richtigen" Evaluation, wird aber aus schulischen <strong>und</strong> praktischen<br />

Gründen empfohlen. Nach den auch praxisorientierten Leitfäden für Schule <strong>und</strong> Unterricht sollen<br />

Indikatoren festgelegt, spezifiziert <strong>und</strong> messbar gemacht werden; vgl. dazu mit praktischen Beispielen<br />

<strong>und</strong> Fragebögen Guy Kempfert, Hans-Günter Rolff: Pädagogische Qualitätsentwicklung. Ein<br />

Arbeitsbuch für Schule <strong>und</strong> Unterricht. Weinheim/Basel 1999. Seiten 43 - 53 (Lehrerselbstevaluation),<br />

53 - 59 (Unterrichtsbeobachtung), 79 - 94 (Indikatoren <strong>und</strong> Lernerfolgsfeststellung). Eine<br />

Indikatorensammlung nebst Beispielen für Instrumente zur Datenerhebung bieten Claus G. Buhren,<br />

Dagmar Killus, Dietmar Kirchhoff <strong>und</strong> Sabine Müller: Qualitätsindikatoren für Schule <strong>und</strong> Unterricht.<br />

Ein Arbeitsbuch für Kollegien <strong>und</strong> Schulleitungen. Dortm<strong>und</strong> 1999. Hilfreich für die Praxis sind auch<br />

Elisabeth Fröhlich <strong>und</strong> Christof Thierstein: Qualitätsentwicklung in Bildungsorganisationen. Zürich<br />

1997; Herbert Altrichter <strong>und</strong> Peter Posch: Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die<br />

Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn 1994.<br />

152


Keinesfalls dürfen Indikatoren an Schulen nur Erfolgskriterien sein. Wichtiger ist, sie<br />

auch <strong>als</strong> Misserfolgskriterien zu nutzen. Die Chance, aus Fehlern zu lernen, wird oft<br />

vertan, wenn in Schulgesetzen Indikatoren <strong>als</strong> "Kriterien für die Zielerreichung"<br />

festgelegt <strong>und</strong> dann <strong>als</strong> "Erfolgsindikatoren" ausgelegt werden. 154 Entscheidend ist,<br />

das Leitmotiv der D-Dok. <strong>und</strong> die damit zusammenhängenden Teillernziele mit den<br />

Indikatoren so zu verknüpfen <strong>und</strong> zu vernetzen, dass Aussagen über die konkreten<br />

Ergebnisse der geleisteten <strong>Quellenarbeit</strong> wenigstens teilweise möglich sind.<br />

-4. Dokumentation <strong>und</strong> Archivierung?<br />

Schriftlich <strong>und</strong> unter Einhaltung von Formvorschriften?<br />

Abgeraten wird, die schulinterne Evaluation schriftlich zu dokumentieren, wie<br />

Schulprogramme oft vorsehen <strong>und</strong> die Schulaufsicht meist unter Berufung auf<br />

"Transparenz" <strong>und</strong> "Offenlegung" fordert. Wenn Sie - wie vorgeschlagen - auf<br />

standardisierte Fragebögen verzichten <strong>und</strong> statt dessen die Schüler/innen mündlich<br />

befragen, werden sie so antworten, wie ihnen "der Schnabel gewachsen" ist. Sie<br />

liefern Ihnen damit die zur Evaluation erforderlichen Informationen, die zugleich oft<br />

auch vertrauliche schulische <strong>und</strong> familiäre Mitteilungen enthalten, die dem<br />

Datenschutz unterliegen. Sie sollten deshalb nicht protokolliert werden. Sie speichern<br />

sie im Kopf, soweit sie für Evaluationsfragen wichtig sind, <strong>und</strong> ersparen sich damit<br />

auch bürokratischen Aufwand.<br />

5.5. Das Kaleidoskop von Antworten, Eindrücken, Meinungen,<br />

Empfindungen: Konkrete Beispiele <strong>als</strong> Bewertungskriterien<br />

Ob Lernziele erreicht worden sind, offenbaren Indikatoren, die mit dem Instrument<br />

der Befragung Erkenntnisse (Daten) liefern. Es folgen einige Beispiele, die fingiert<br />

werden, um zu veranschaulichen, wie Antworten in ihrer "bunten" Folge lauten <strong>und</strong><br />

bewertet werden könnten. Auch Problemfälle sind aufgeführt. Das Netzwerk<br />

zwischen dem Leitmotiv der D-Dok., den Teillernzielen des Lernprogramms für<br />

allgemein bildende Schulen (5.2.) <strong>und</strong> Fragestellungen im Didaktikteil (4.)<br />

verdeutlicht - sofern nachweisbar - ein Pfeil (→).<br />

So könnte das Kaleidoskop "bunter" Eindrücke, Meinungen <strong>und</strong> Empfindungen<br />

aussehen, die in aller Kürze kommentiert werden:<br />

154 Im Hamburgischen Schulgesetz vom 16. April 1997 heißt es im § 51 Absatz 1: "Die Schule legt die<br />

besonderen Ziele, Schwerpunkte <strong>und</strong> Organisationsformen ihrer pädagogischen Arbeit sowie Kriterien<br />

für die Zielerreichung in einem Schulprogramm fest." Zur Auslegung des Amtes für Schule <strong>als</strong><br />

"Erfolgsindikatoren" vgl. Schulinterne Evaluation. Seiten 9f., 13, 18f. Dort wird auch gefordert,<br />

schulinterne Evaluation schriftlich zu dokumentieren (Seite 23f.), wovon aus Gründen des Daten- <strong>und</strong><br />

Vertraulichkeitsschutzes abzuraten ist.<br />

153


"Miriam: Die Quellen, die ich aus dem Internet runtergeladen habe, hätten die D-Dok.<br />

gut ergänzt, hatten aber keine F<strong>und</strong>stellen, da hab ich lieber auf sie verzichtet. Tom<br />

hat dann noch gemerkt, dass sie gekürzt sind."<br />

Miriam weiß sich selbstbestimmt zu helfen: Sie recherchiert auch extern, arbeitet<br />

quellenkritisch <strong>und</strong> mit anderen zusammen. (→ Lernprogramm 5.2.-1./-6./-10.;<br />

Didaktik 4.3., 4.4.)<br />

"Andreas: Papa ist begeistert, dass wir Honecker-Reden gelesen haben, <strong>und</strong> wollte<br />

kaum glauben, dass wir auch andere Genossen so wie früher hören können. Er<br />

w<strong>und</strong>ert sich, dass so was an unserer Schule überhaupt erlaubt ist."<br />

Papa schwelgt in DDR-Nostalgie. Er ist wahrscheinlich SED-Anhänger, -Mitglied oder<br />

-Funktionär gewesen, identifiziert sich unkritisch mit DDR-Dokumenten <strong>und</strong> fühlt sich<br />

von ihnen aufgewertet. Solche Aussagen dürfen auf keinen Fall protokolliert werden,<br />

weil nicht Sinn von <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> ihrer Evaluation sein kann <strong>und</strong> darf, politische<br />

Gesinnungen von Eltern oder Schüler/innen auszuforschen. Unklar ist, wie bei<br />

Andreas selbst die Arbeit mit DDR-Dokumenten angekommen ist. Dies muss<br />

nachgefragt werden.<br />

"Gerd: Ich w<strong>und</strong>ere mich, dass es nach den Quellen mit der DDR immer aufwärts<br />

ging, auch wirtschaftlich noch in den 80er Jahren, obwohl sie ja dam<strong>als</strong> doch schon<br />

pleite war <strong>und</strong> ja auch bald verschwand. Wie war so was möglich? Mit Statistiken?<br />

Mit Wirtschaftswachstum usw.?"<br />

Gerd arbeitet quellenkritisch <strong>und</strong> entwickelt selbstbestimmt interdisziplinäre<br />

Fragestellungen oder Forschungsthemen, die Antwort geben könnten.<br />

(→Lernprogramm 5.2.-3./-6./-10.; Didaktik 4.3.)<br />

"Tina: Ich habe Opa <strong>und</strong> Oma, die immer wieder sagen, dass es ihnen <strong>als</strong> Rentner<br />

ganz schlecht geht <strong>und</strong> die SPD daran schuld ist, die Agenda 2010 runtergeladen<br />

<strong>und</strong> ein paar Gesetzesauszüge dazu. Sie haben auch darin etwas gelesen, meinten<br />

aber, was helfe ihnen das, solange Schröder Kanzler ist."<br />

Tina füttert ihre Großeltern mit Informationsquellen <strong>und</strong> hat teilweise Erfolg mit dem<br />

generationsübergreifenden <strong>Lernen</strong>. (→ Lernprogramm 5.2.-9./-12.; Didaktik 4.3.) -<br />

Politische Bekenntnisse der Großeltern oder Eltern dürfen - um dies nochm<strong>als</strong> zu<br />

wiederholen - nicht verwendet oder dokumentiert werden, da es um keine "richtige"<br />

Evaluation wie bei Forschungsprojekten oder Auftraggebern geht, sondern um eine<br />

schulinterne zur <strong>Quellenarbeit</strong>. Vor der von der Schulaufsicht über das<br />

Schulprogramm "kontrollierten" <strong>und</strong> auch "offen zulegenden" Evaluation wird daher<br />

erneut gewarnt.<br />

154


"Heike: Mir hat's nicht gefallen, in Geschichte jetzt Englisches zu lesen, aber<br />

inzwischen geht's so einigermaßen, <strong>und</strong> ich lerne dabei ja gleichzeitig Geschi <strong>und</strong><br />

Englisch. Die englischen Suchbegriffe zu finden, macht mir aber immer noch zu<br />

schaffen."<br />

Hier klappt nach Anlaufschwierigkeiten der fächerübergreifende Lernprozess, der<br />

Fremdsprachenunterricht mit historischen oder sozialwissenschaftlichen Fächern<br />

koppelt <strong>und</strong> ihre Quellen vernetzt. (→ Lernprogramm 5.2.-3./-4.; Didaktik 4.3.)<br />

"Gr<strong>und</strong>schülerin Anne: Da hat Mama aber gestaunt, <strong>als</strong> ich ihr zeigte, wie ich<br />

Buchstaben <strong>und</strong> auch schon ganze Worte in den Computer eingeben <strong>und</strong> mit der<br />

Maus arbeiten kann. Sie hat es dann nachgemacht <strong>und</strong> auch ganz gut hingekriegt.<br />

Sie will mir einen neuen Computer kaufen <strong>und</strong> auf meinem alten üben."<br />

Wenn das kein Erfolgsindikator für die D-Dok. in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> für<br />

generationenübergreifendes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> unter Frauen ist - was dann?<br />

(→Lernprogramm 5.2. -1./-9./-12.; Didaktik 4.4.)<br />

"Gymnasiast Wolfgang, Leistungskurs Informatik: Da habe ich doch unter<br />

http://www.swish-e.org/ die dortige Release 2.4.0 gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> meine, dass die<br />

Suchfunktionen der D-Dok. nicht ganz auf dem <strong>neues</strong>ten Stand sind <strong>und</strong> verbessert<br />

werden könnten. Das zeigt auch die Testversion im Ordner Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen auf<br />

dem DVD-Laufwerk."<br />

Hier liegt ein Glücksfall <strong>und</strong> eine Ausnahme von der Regel vor, nämlich formative, d.<br />

h. begleitende <strong>und</strong> verbessernde Evaluation: nicht nur der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong><br />

Lernprozess, sondern der D-Dok. <strong>als</strong> Produkt. 155 (→ Lernprogramm 5.2.-5./-7./-13.;<br />

Didaktik 4.5.) Wolfgang ist zum "Systemforscher" <strong>und</strong> zum externen Evaluator<br />

geworden. Bitte daher eine neue Arbeitsgruppe bilden, damit Wolfgang<br />

selbstbestimmt die Software, die mit Perl von einem Web-Server <strong>als</strong> nicht kompilierte<br />

spezielle Version in die Anwendung hineingelinkt worden ist, weiter prüfen <strong>und</strong><br />

eventuell fortentwickeln kann.<br />

"Lehrerin: In Physik habt ihr ja gelernt, wie die wichtigsten Suchfunktionen <strong>als</strong><br />

Schaltungen oder Schnittmengen aussehen...." Zwischenfrage Schüler: "Warum<br />

eigentlich nicht in Mathe?"<br />

Zuruf Wolfgang: "Der kann das doch nicht, der hat nur Formeln..."<br />

155 Michael Schratz, der das Institut für Lehrer/innenbildung <strong>und</strong> Schulforschung an der Universität<br />

Innsbruck leitet, hat Selbstevaluation treffend definiert "<strong>als</strong> Bemühen, Qualität von Prozessen <strong>und</strong><br />

Produkten zu verstehen <strong>und</strong> zu entwickeln". (Pädagogisches Forum, Juni 1999, Seiten 219 - 222, zit.<br />

219.) Vgl. dazu auch Michael Schratz <strong>und</strong> Ulrike Steiner-Löffler: Die <strong>Lernen</strong>de Schule. Arbeitsbuch<br />

pädagogische Schulentwicklung. Weinheim 1998. (In diesem Buch gelingt es, Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />

miteinander zu verknüpfen <strong>und</strong> Evaluationsakzeptanz zu fördern.)<br />

155


Mit Physik ist kooperiert worden, aber nicht mit Mathematik. (→ Lernprogramm 5.2.-<br />

5./-10.; Didaktik 4.5.) Warum? Wollte der Mathematik-Lehrer nicht? Vertritt er die<br />

"fertige" Mathematik? Andere Gründe?<br />

So kann schulinterne Evaluation ungewollt Strukturen, Spannungen, Konflikte,<br />

Kompetenzen <strong>und</strong> die Zusammenarbeit im Kollegium offen legen - wie auch<br />

Einstellungen in Familien. Dies ist ein Nebenprodukt von Evaluation. Sie wird auch<br />

deshalb innerlich oft abgelehnt: Weil sie Lehrer/innen in ihrem Selbstbild narzisstisch<br />

kränken <strong>und</strong> Kolleg/innen narzisstisch verletzen kann, wenn sie ihre fachlichen <strong>und</strong><br />

pädagogischen Defizite aufdeckt. Erneut wird daher davor gewarnt, dies zu<br />

protokollieren <strong>und</strong> zu dokumentieren. Auch sind dann Schulbehörden im Stande,<br />

unter dem Vorwand von "Transparenz" in der Schule, im Kollegium <strong>und</strong> sogar in<br />

Familien "herumzuschnüffeln". Dies ist nicht Sinn der Evaluation.<br />

5.6. Die Spiegelszene <strong>als</strong> Abschied <strong>und</strong> Neuanfang: Ein Tag der<br />

Besinnung? Ein Tag der Abrechnung? Ein Tag der Freude? Ein Tag der<br />

Trauer? Ein Tag der Rache? Ein Tag des Loslassens?<br />

Die Evaluation <strong>und</strong> damit die <strong>Quellenarbeit</strong> enden mit der Spiegelszene. Sie ist kein<br />

Spiel, kein Theater. Wer sie mit einem Schauspiel, einem Planspiel, einem<br />

Rollenspiel, einem Lernspiel oder mit einem szenischen Spiel 156 verwechselt, hat<br />

nicht begriffen, worum es bei der <strong>Quellenarbeit</strong> geht. Die Spiegelszene eignet sich<br />

auch nicht zum Inspektions-, Qualifikations- oder Profilierungstheater, denn die<br />

Bühne <strong>und</strong> der Zuschauerraum sind leer, wenn der Vorhang hoch geht.<br />

Die Spiegelszene ist keine inszenierte Allegorie. Sie ist die letzte prozessuale<br />

Operation <strong>und</strong> dient der Katharsis: innere Spannungen zu lösen, sie emotional <strong>und</strong><br />

geistig zu verarbeiten. Denn <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> ihre Evaluation erfordern nicht nur<br />

rationale, intellektuelle Fähigkeiten aus dem Ich <strong>und</strong> damit Kopfarbeit, sondern auch<br />

Tiefenarbeit mit dem emotional-körperlichen Selbst (1.4.).<br />

Alles, was Sie benötigen, ist ein Spiegel. Es muss kein neuer Spiegel sein, auch ein<br />

alter, gebrauchter, noch verwendungsfähiger tut es. Stellen Sie ihn in der Klasse auf.<br />

Am besten an der Wand. Auch ein Handspiegel reicht aus, den man sich vorhalten<br />

kann.<br />

156 Markus Bernhardt: Geschichte inszenieren. Chancen <strong>und</strong> Probleme von szenischen Spielen im<br />

Geschichtsunterricht. In: GWU 55, Januar 2004, Heft 1. Seiten 20 -36 (immer noch ist es die<br />

Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s: 3.5.). Vgl. dazu auch Markus<br />

Bernhardt: Das Spiel im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2003 <strong>und</strong> Friedrich Jahn: Geschichte<br />

spielend lernen. Hilfen für den handlungsorientierten Geschichtsunterricht. Frankfurt a. M. 1995.<br />

156


Was dann folgt, ist der Urteilsspruch: Der Gerichtstag über die <strong>Quellenarbeit</strong>, die D-<br />

Dok. <strong>und</strong> Sie selbst; denn die Gerichtsverhandlungen, die Beweisaufnahmen <strong>und</strong> die<br />

Zeugenvernehmungen sind abgeschlossen. Und richtet damit der Spiegel nicht<br />

zugleich über die Klasse, Ihre Belastungs- oder Entlastungszeugen?<br />

"Selbstevaluation einzuführen, Spiegel zu installieren <strong>und</strong> ungeschminkt <strong>und</strong><br />

systematisch hinzublicken, kann wehtun." Dies schreibt Anton Strittmatter, der im<br />

Dachverband Schweizer Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer (LCH) die Pädagogische<br />

Arbeitsstelle leitet, <strong>und</strong> etwas von Selbstevaluation versteht, weil er dazu rät: "Was<br />

immer du erblicken wirst, weißt du im Gr<strong>und</strong>e bereits. Du wirst keine wirklichen<br />

Überraschungen erleben. Blicke aber nicht in Spiegel, von denen du genau weißt,<br />

dass du das, was du dort zu sehen bekommst, doch nicht ändern willst oder kannst.<br />

Wähle dir Themen, die für dich wirklich 'reif' sind, zu denen du was tun willst <strong>und</strong><br />

kannst." 157<br />

Dies zu missachten, ist nicht nur riskant, sondern auch gefährlich. Die Spiegelszene<br />

entfaltet sich sonst ichfremd (ichdyston) <strong>und</strong> unbewusst. Sie droht triebhafte<br />

Persönlichkeitsstrukturen gegen Ihren Widerstand offen zu legen <strong>und</strong> Sie mit<br />

narzisstischer Libido oder Wut zu überfluten. Mit anderen Worten: Nur wenn Sie die<br />

Spiegelszene vorher aufarbeiten <strong>und</strong> sie sich bewusst machen, werden Sie sie<br />

ichsynton erleben <strong>und</strong> dem Sog möglicher schwarzer Löcher (1.4.) entrinnen. 158 Dann<br />

kann während der Spiegelszene nichts "passieren".<br />

Also sollten Sie den Blick in den Spiegel proben <strong>und</strong> den "Gerichtstag" gut<br />

vorbereiten. Am besten zu Hause, <strong>und</strong> am besten morgens, wenn Sie erstm<strong>als</strong> -<br />

ungeschminkt - vor den Spiegel treten. Meistens ist es nur ein flüchtiger Blick, unter<br />

Zeitdruck stehend. Vielleicht können Sie sich ein paar Sek<strong>und</strong>en mehr Zeit nehmen<br />

<strong>als</strong> sonst <strong>und</strong> sich so den Spiegel "vorhalten".<br />

So naht - gut vorbereitet - der "Gerichtstag": Ihre Klasse, Sie <strong>und</strong> die beteiligten<br />

Kolleg/innen versammeln sich erwartungsvoll vor dem Spiegel. Niemand von ihnen<br />

wird dazu gezwungen, aber alle werden ermuntert <strong>und</strong> individuell gebeten, sich zu<br />

beteiligen: vor den Spiegel zu treten <strong>und</strong> ihn zu befragen - jetzt: "Spieglein, Spieglein,<br />

an der Wand...".Nun gibt kein Zurück mehr.<br />

157 Anton Strittmatter, in: Der Blick in den Spiegel. Seiten 281 - 284, zit. 281, 284. - Strittmatter hat<br />

1995 - 1997 das "Pilotprojekt Baselland" betreut. Zu Kontrakten <strong>und</strong> Beratungsbeziehungen vgl. auch<br />

Strittmatter in: Herbert Altrichter, Wilfried Schley <strong>und</strong> Michael Schratz (Hrsg.): Handbuch zur<br />

Schulentwicklung. Innsbruck/Wien 1998. Seiten 218 - 238.<br />

158 Gr<strong>und</strong>legend Hermann Argelander: Die szenische Funktion des Ichs <strong>und</strong> ihre Anteile an der<br />

Symptom- <strong>und</strong> Charakterbildung. In: Psyche 24, 1970, Seiten 325 - 345. Vgl. auch Hermann<br />

Argelander: Der Flieger. Eine charakteranalytische Fallstudie. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 10f. (zur<br />

bisher vorwiegend negativen Einstellung der Psychoanalyse zum Narzissmus), 12f. (zur ichfremd<br />

erlebten Szene); Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung <strong>und</strong> Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer<br />

Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1970. Seiten 104 - 107 u.a.<br />

157


Ist es ein r<strong>und</strong>er Spiegel?<br />

Ein eckiger?<br />

Ein ovaler?<br />

Ein geschliffener?<br />

Ein ebener?<br />

Ein gekrümmter?<br />

Ein blanker?<br />

Ein "reiner"?<br />

Ein fleckiger?<br />

Ein neuer?<br />

Ein alter?<br />

Ein glänzender?<br />

Ein gebrauchter?<br />

Ein glatter Spiegel?<br />

War die computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok. sinnvoll?<br />

Unnütz?<br />

Ergiebig?<br />

Langweilig?<br />

Informativ?<br />

Erfolgreich?<br />

Anstrengend?<br />

Lohnend?<br />

Gerechtfertigt?<br />

Überflüssig?<br />

Innovativ?<br />

Zu retrospektiv-historisch?<br />

Zu wenig prospektiv-sozialwissenschaftlich?<br />

Kreativ?<br />

Ist die D-Dok. <strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong>-Spiegel brauchbar?<br />

Entbehrlich?<br />

Klar?<br />

Verschwommen?<br />

"Objektiv"?<br />

Subjektiv?<br />

Kompetent?<br />

Hohl?<br />

Trübe?<br />

Sachk<strong>und</strong>ig?<br />

Blind?<br />

Lückenhaft?<br />

Unvoreingenommen?<br />

Projektiv?<br />

158


Parteilich?<br />

Ist sie kein <strong>Deutschland</strong>-Spiegel, sondern ein Deutschen-Spiegel?<br />

Sehen "Spiegel-Leser" wirklich klar, wie das deutsche Nachrichtenmagazin, dem der<br />

Spiegel seinen Namen geliehen hat, versichert?<br />

Ist es ein Hohlspiegel?<br />

Ein Fassadenspiegel?<br />

Ein Brennspiegel?<br />

Ein Rückspiegel?<br />

Ein Zerrspiegel?<br />

Ein blendender?<br />

Ein kränkender?<br />

Ein verletzender Spiegel?<br />

Liefert er Spiegelbilder?<br />

Spiegelfechterei?<br />

Selbstbespiegelung?<br />

Spiegeltäuschung?<br />

Vorspiegelei?<br />

Eine Fata Morgana?<br />

Sagt der Spiegel wirklich die Wahrheit?<br />

Ist er unbestechlich?<br />

"Objektiv"?<br />

Oder schmeichelt er?<br />

Ist er korrumpierbar?<br />

Was wäre Schneewittchen <strong>und</strong> den sieben Zwergen nicht alles erspart geblieben,<br />

wenn es dam<strong>als</strong> schon eine EVAluation gegeben hätte <strong>und</strong> nicht bloß eine böse<br />

Stiefmutter <strong>und</strong> Königin?<br />

Warum hat sie den Spiegel, der sie so kränkte, nicht zerstört?<br />

Sondern ihr Selbst?<br />

Und ihn trotzdem immer wieder neu befragt?<br />

Warum konnte sie nicht ertragen, dass Schneewittchen tausendmal schöner war <strong>als</strong><br />

sie?<br />

Der Spiegel hat es ihr immer wieder gesagt. Wollte sie es nicht glauben oder nicht<br />

wahrhaben?<br />

War sie dem Spiegel hörig?<br />

Oder litt sie unter der "Spiegel-Krankheit", weil sie alles glaubte, was "Der Spiegel"<br />

jede Woche montags verbreitet?<br />

Lügt der Spiegel?<br />

Verleumdet er?<br />

Will er sich rächen?<br />

159


Spricht Sie der Spiegel schuldig?<br />

Wäre es nicht besser, sich vorher an ihm zu rächen?<br />

Ihn zu zerstören, bevor er Sie zerstört?<br />

Und redet' irr <strong>und</strong> sang ein Lied -<br />

Auf dessen dunklen Spiegel bückt<br />

Sich einst ein Kind <strong>und</strong> wird entrückt.<br />

Und wächst <strong>und</strong> weiß nichts von sich selbst... 159<br />

Ist es ein "dunkler" Spiegel?<br />

Ein schwarzes Loch?<br />

Es wird Sie vernichten, wenn Sie in seinen Sog geraten?<br />

Der Spiegel muss vernichtet werden?<br />

Zerschlagen Sie ihn mit einem schweren Hammer, damit er in tausend Stücke bricht,<br />

bevor er die Kinder, Sie, das Kollegium <strong>und</strong> die ganze Schule verrückt macht? Aber<br />

Vorsicht: Aus diesem Scherbengericht kann blutiger Ernst werden. Der Spiegel kann<br />

Sie nicht nur kränken, sondern auch verletzen?<br />

In Extremfällen schwer verletzen?<br />

Was war <strong>als</strong>o die Spiegelszene?<br />

Ein Tag der Besinnung?<br />

Ein Tag der Abrechnung?<br />

Ein Tag der Freude?<br />

Ein Tag der Trauer?<br />

Vielleicht auch ein Tag mit Tränen?<br />

Der Irritation?<br />

Der Depressivität, des drohenden Selbstverlustes?<br />

Ein Tag der Erleichterung?<br />

Ein Schrei nach Rache?<br />

Ein Amoklauf?<br />

Ein Tag der Verloren- <strong>und</strong> Verlassenheit?<br />

Ein Tag der Trennung <strong>und</strong> des Trennungsschmerzes?<br />

Ein Tag des Loslassens <strong>und</strong> deshalb befreiend?<br />

Was es auch immer war, es war ein Tag, der Sie, Ihre Klasse <strong>und</strong> vielleicht auch Ihre<br />

Schule verändert hat - nicht im Großen, aber im Kleinen: unsichtbar, nicht messbar.<br />

Es war ein Abschied <strong>und</strong> Neuanfang zugleich - aber auch ein Abschied für immer,<br />

der wehtut:<br />

159<br />

Weltgeheimnis (4. Strophe). In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a.<br />

M. 1977. Seite 14.<br />

160


Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:<br />

Wie kann das sein, daß diese nahen Tage<br />

Fort sind, für immer fort, <strong>und</strong> ganz vergangen?<br />

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,<br />

Und viel zu grauenvoll, <strong>als</strong> daß man klage:<br />

Daß alles gleitet <strong>und</strong> vorüberrinnt<br />

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,<br />

Herüberglitt aus einem kleinen Kind<br />

Mir wie ein H<strong>und</strong> unheimlich stumm <strong>und</strong> fremd.<br />

Dann: daß ich auch vor h<strong>und</strong>ert Jahren war<br />

Und meine Ahnen, die im Totenhemd,<br />

Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,<br />

So eins mit mir <strong>als</strong> wie mein eignes Haar.<br />

Und, Spiegel unsrer Sehnsucht, traumhaft funkeln,<br />

Und allen leisen Worten, allem Schweben<br />

Der Abendluft <strong>und</strong> erstem Sternefunkeln<br />

Die Seelen schwesterlich <strong>und</strong> tief erbeben<br />

Und traurig sind <strong>und</strong> voll Triumphgepränge<br />

Vor tiefer Ahnung, die das große Leben<br />

Begreift <strong>und</strong> seine Herrlichkeit <strong>und</strong> Strenge. 160<br />

160<br />

Terzinen über Vergänglichkeit (I, IV Teil). In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine<br />

Dramen. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 19 - 21.<br />

161


6. Politische Bildung (PB) <strong>und</strong> Neue Politische Bildung<br />

(NPB)<br />

Eine Abgrenzung <strong>und</strong> ein Kurzporträt<br />

Politische Bildung (PB) gehört zu den Hauptaufgaben <strong>und</strong> -zielen, die durch die D-<br />

Dok. gefördert werden sollen. Im Mittelpunkt steht die schulische politische Bildung<br />

an den allgemein bildenden Schulen. Sie ist <strong>als</strong> unverzichtbares Teillernziel in das<br />

Lernprogramm für die allgemein bildenden Schulen eingebettet (5.2.-2.). Es lässt<br />

sich allerdings nicht verallgemeinern <strong>und</strong> auf die Berufsschulen, auf die berufliche<br />

<strong>und</strong> auf die außerschulische politische Bildung übertragen.<br />

Die auf B<strong>und</strong>esebene tätigen Organisationen der außerschulischen politischen<br />

Bildung sind im B<strong>und</strong>esausschuss Politische Bildung (BAP) zusammengeschlossen.<br />

Dazu gehören die B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung, Kirchen, Gewerkschaften,<br />

Volkshochschulen, der Deutsche B<strong>und</strong>esjugendring, die politischen Stiftungen <strong>und</strong><br />

andere eigenverantwortliche Träger, die in der Jugendlichen- <strong>und</strong><br />

Erwachsenenbildung einschließlich Weiterbildung tätig sind.<br />

Politische Bildung (PB) wie sie neu verstanden <strong>und</strong> charakterisiert wird, heißt hier<br />

Neue Politische Bildung (NPB). Was berechtigt dazu, sie von der bisherigen<br />

politischen Bildung abzugrenzen <strong>und</strong> damit neu zu etikettieren? Ein neuer Name, ein<br />

<strong>neues</strong> Etikett reichen nicht aus. Erforderlich sind Charakterzüge, die für die Neue<br />

Politische Bildung (NPB) typisch sind, ihr ein unauslöschliches, tief verwurzeltes<br />

Gepräge verleihen.<br />

Wer in der politischen Bildung (PB) tätig ist, wird NPB meistens <strong>als</strong> ichfremd<br />

empfinden <strong>und</strong> sie folgerichtig ablehnen. So entsteht kein Zugang zu ihr, es sei denn,<br />

die Schwelle zum Ichbereich wird überschritten. Dann lassen sich die Gründe,<br />

Gewohnheiten oder Fixierungen vergegenwärtigen, die zur Identifikation des Ichs mit<br />

dem Objekt "politische Bildung" geführt haben. Erst wenn der Schatten des Objekts<br />

verblasst, der auf das Ich gefallen ist, hellt er auf: Bislang ichgerechte (ichsyntone),<br />

gewohnheitsmäßig fixierte Charakterzüge der politischen Bildung werden ichfremd<br />

(ichdyston) <strong>und</strong> damit erst dem Bewusstsein zugänglich.<br />

Dies ist ein Lernprozess, den oft berufliche <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene finanzielle Vorteile<br />

<strong>und</strong> Zweckmäßigkeitserwägungen hemmen oder gar blockieren werden: Die primäre<br />

Identifikation mit dem Objekt "politische Bildung" wenigstens teilweise aufzugeben,<br />

es zu verlassen <strong>und</strong> sich schrittweise dem Objekt "Neue Politische Bildung" (NPB)<br />

zuzuwenden, sich mit ihm sek<strong>und</strong>är zu identifizieren. Diese sek<strong>und</strong>äre Identifikation<br />

ist ein bewusster, aber konfliktreicher Lernprozess, während die primäre sich<br />

unbewusst <strong>und</strong> gewohnheitsmäßig, quasi konfliktfrei, z.B. beruflich vollzogen hat.<br />

162


Dies sind die vier idealtypischen unverzichtbaren Charakterzüge, die in ihren<br />

Abhängigkeiten (Interdependenzen) die Gr<strong>und</strong>lagen der NPB unverwechselbar <strong>als</strong><br />

Einheit bilden:<br />

6.1. Idealtypische Charakterologie I: Vorrangig Arbeit mit Quellen <strong>als</strong><br />

fachwissenschaftlich-rationales F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen<br />

Bildung (NPB)<br />

Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet primär mit Quellen <strong>und</strong> Daten <strong>als</strong> Rohstoff<br />

fächerübergreifender historischer, sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong> fremdsprachlicher<br />

Disziplinen (Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>). Dies heißt nicht, dass sie sich ausschließlich,<br />

sondern nur, dass sie sich vorrangig auf Quellen <strong>und</strong> Daten stützt. Verarbeitete<br />

Informationen aus zweiter, dritter, oft auch vierter <strong>und</strong> fünfter Hand, <strong>als</strong>o z. B.<br />

Sek<strong>und</strong>ärliteratur <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärquellen (z. B. Memoiren), stehen folglich nicht mehr<br />

im Zentrum der Informationsrecherchen, erhalten einen nachrangigen Stellenwert,<br />

sind aber unverzichtbar - sei es analog oder digital, sei es offline oder online.<br />

Margarete Dörr, die lange am Gymnasium Geschichte unterrichtet <strong>und</strong> sich am<br />

Didaktikerstreit (3.4.) beteiligt hat, schreibt dazu, dass "zwischen der Tätigkeit des<br />

Forschers <strong>und</strong> der Tätigkeit des Schülers" im Gr<strong>und</strong>e "nur ein gradueller, aber kein<br />

prinzipieller Unterschied" bestehe. "Kein Schüler, kein Lehrer, kein Student, kein<br />

Hochschullehrer kann alle Quellen lesen, der Forscher allenfalls auf einem kleinen<br />

Spezialgebiet. Alle sind mehr oder weniger angewiesen auf die Vorarbeiten von<br />

anderen Wissenschaftlern, d. h. auf schon verarbeitete Information." 161<br />

Quellen <strong>und</strong> Daten haben in der NPB den gleichen Stellenwert wie Experimente in<br />

den Naturwissenschaften, Kunst- oder Musikwerke in den Künsten, Literaturlektüre in<br />

Deutsch oder den Fremdsprachen. Aber politische Bildung <strong>und</strong> insbesondere<br />

Geschichtsunterricht schöpfen häufig nur aus Sek<strong>und</strong>ärliteratur <strong>und</strong> Schulbüchern,<br />

somit subjektiv verarbeiteten Informationsquellen. Was im naturwissenschaftlichen,<br />

sprachlichen <strong>und</strong> musischen Unterricht schon im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong>enkbar war -<br />

keine Experimente, keine Literaturbeispiele, keine Präsentation von Kunst <strong>und</strong> Musik<br />

- , ist heute in der politischen Bildung <strong>und</strong> im Geschichtsunterricht in <strong>Deutschland</strong><br />

durchaus üblich. Eine solche politische Bildung <strong>und</strong> ein solches<br />

161 Margarete Dörr: Quellen, Quellen, Quellen - <strong>und</strong> die Alternative? In: GWU 34, 1983, Seiten 318 -<br />

329, zit. 326. Vgl. auch Margarete Dörr: Zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Geschichtsunterricht. Interpretation<br />

zweier Reden (Truman <strong>und</strong> Shdanow 1947) <strong>und</strong> einige didaktische Schlußfolgerungen. In: Eberhard<br />

Wilms (Hrsg.): Geschichte. Denk- <strong>und</strong> Arbeitsfach. Heinz Dieter Schmid zum 65. Geburtstag. Frankfurt<br />

a. M. 1986. Seiten 154 - 175. Dörr betont, <strong>Quellenarbeit</strong> ermögliche, Lehrer "entbehrlich zu machen<br />

bzw. zum Ansprechpartner für die Fragen der Schüler" (Seite 168), sie führe auch zum<br />

"übersichtlichen Festhalten von Lernergebnissen" (Seite 169).<br />

163


Geschichtsverständnis, die authentische Quellen <strong>als</strong> ihr F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> ihren<br />

Rohstoff ignorieren, sind fachwissenschaftlich rückständig.<br />

Das Hauptproblem werden Historikerinnen - sofern sie sich wahrnehmen: 3.5. - <strong>und</strong><br />

Historiker sein, die sich so weit von ihrer Disziplin entfernt haben, dass sie nicht mehr<br />

mit dem Rohstoff der Geschichtswissenschaft arbeiten - mit Quellen (2.6.). Sie<br />

"lehren" <strong>und</strong> "entleeren" heute noch an Universitäten ein Fach, dessen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

ihnen fremd bleiben. Die fachwissenschaftliche - nicht nur didaktische -<br />

Rückständigkeit des Geschichtsunterrichts an vielen Schulen hat ihre "Quelle" häufig<br />

in einem rückständigen Geschichtsverständnis von Professoren/innen an deutschen<br />

Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten. Verschärfend kommt hinzu, dass Schulbuchverlage<br />

auch heute noch großenteils "fertige" Darstellungen liefern, die sich an den<br />

Lehrplänen der einzelnen B<strong>und</strong>esländer orientieren <strong>und</strong> sie mit Quellenzitaten<br />

ausschmücken.<br />

Wer nur noch Fachliteratur zur Kenntnis nimmt, wird wohl kaum über Jacob<br />

Burckhardt stolpern, der die "ewigen Vorzüge" der Quelle gegenüber Darstellungen<br />

gerühmt hat: "Vor allem gibt sie das Faktum rein, so daß wir erst erkennen müssen,<br />

was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon<br />

vorwegnimmt <strong>und</strong> das Faktum schon verwertet wiedergibt, d. h. eingefügt in einen<br />

fremden <strong>und</strong> oft f<strong>als</strong>chen Zusammenhang. Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer<br />

Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In<br />

ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz <strong>und</strong> ein großer Teil<br />

ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes." Jacob Burckhardt meint sogar, dass<br />

"unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in<br />

vollständigem Sinne" eingehen könne. 162<br />

6.2. Idealtypische Charakterologie II: Vorzugsweise Arbeit an den<br />

Quellen <strong>als</strong> psychologisch-emotionales F<strong>und</strong>ament der Neuen<br />

Politischen Bildung (NPB)<br />

Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet nicht nur primär mit Quellen <strong>und</strong> Daten,<br />

sondern erstrebt, vorzugsweise auch an den lebensgeschichtlichen Quellen zu<br />

arbeiten oder zu ihnen soweit wie möglich zurückzufinden - ad fontes (Stufe II der<br />

<strong>Quellenarbeit</strong>). Die meisten Menschen leben nicht an ihren Quellen nahe ihrer<br />

Geburt, sondern <strong>als</strong> Nach- <strong>und</strong> Ausgeburten ihrer Sozialisation - "bei den Wurzeln<br />

des verworrenen Lebens". Sie wissen davon nichts oder nur wenig, <strong>und</strong> oft wollen sie<br />

darüber auch nichts wissen oder erfahren. Sie überleben oder existieren in ihrer 2.,<br />

3., 4. Natur, vegetieren in Ausnahmefällen nahe den Abgründen ihrer Seele in ihrer<br />

162<br />

Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit Nachwort herausgegeben von Rudolf<br />

Marx. Stuttgart 1949. Seite 21.<br />

164


5. <strong>und</strong> 6. Natur, so wie sie ihre Informationen nicht aus erster Hand, sondern aus 2.,<br />

3., 4. Hand beziehen. Manchmal schöpfen sie sie sogar aus dem Hörensagen oder<br />

aus Gerüchten, denen sie sich mehr anvertrauen <strong>als</strong> ihren Fähigkeiten,<br />

Informationen selbstbestimmt zu beschaffen <strong>und</strong> zu verarbeiten.<br />

Die lebensgeschichtlichen Quellen bei Erwachsenen sind oft verschüttet <strong>und</strong> deshalb<br />

schwer ergründbar, manchmal sogar am Versiegen - wie ausgetrocknet. Die<br />

Möglichkeiten der NPB dürfen daher nicht überschätzt werden, Menschen so zu<br />

verändern, dass sie ihr f<strong>als</strong>ches Selbst aufgeben, um ihr wahres zu finden (III. <strong>und</strong><br />

letzte Stufe der <strong>Quellenarbeit</strong>). Sonderfälle wie Winnicotts Patientin, die nach 50<br />

Jahren Nichtexistenz an den Anfang ihres Lebens zurückkehrt, neu "geboren" ist,<br />

keine Vergangenheit, keine Erfahrung hat (3.5.), grenzen an W<strong>und</strong>er, die es auch<br />

gibt, aber in der Regel nicht mit NPB erreichbar sind:<br />

Manche freilich müssen drunten sterben,<br />

Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,<br />

Andre wohnen bei dem Steuer droben,<br />

Kennen Vogelflug <strong>und</strong> die Länder der Sterne.<br />

Manche liegen immer mit schweren Gliedern<br />

Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,<br />

Andern sind die Stühle gerichtet<br />

Bei den Sybillen, den Königinnen,<br />

Und da sitzen sie wie zu Hause,<br />

Leichten Hauptes <strong>und</strong> leichter Hände.<br />

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben<br />

In die anderen Leben hinüber,<br />

Und die leichten sind an die schweren<br />

Wie an Luft <strong>und</strong> Erde geb<strong>und</strong>en: 163<br />

Möglich <strong>und</strong> realistisch sind schrittweise Veränderungen im Kleinen <strong>und</strong> Stillen bei<br />

den "Wurzeln des verworrenen Lebens": Dass Menschen nach ihrer Identität fragen,<br />

sich ihrer Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft stellen <strong>und</strong> ihre schwarzen Löcher<br />

zu "erspüren" versuchen. Deshalb bedarf es der Psychologisierung <strong>und</strong><br />

Emotionalisierung der politischen Bildung: Angewandte Sozialwissenschaften (nicht<br />

nur empirische Sozialforschung), insbesondere Entwicklungs- <strong>und</strong> Sozialpsychologie<br />

sowie politische Psychologie, Pädagogik <strong>und</strong> Soziologie erhalten<br />

Schlüsselfunktionen zugewiesen. Dies geht teilweise auf Kosten der Pädagogik, die<br />

abgewertet wird, soweit sie sich mit dem Lehren befasst, aber zugleich aufgewertet,<br />

163<br />

Manche freilich... (Auszug) In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a.<br />

M. 1977. Seite 22.<br />

165


soweit sie sich dem <strong>Lernen</strong> zuwendet. Diese Entpädagogisierung der NPB darf<br />

allerdings nicht auf Kosten der allgemeinen <strong>und</strong> der Fachdidaktik gehen.<br />

Auch Geschichte <strong>und</strong> Politik werden in der NPB psychologisiert <strong>und</strong> emotionalisiert,<br />

d. h. Akteure <strong>und</strong> Vorgänge werden an <strong>und</strong> mit den Quellen auf ideologische,<br />

irrationale, vordergründige <strong>und</strong> widersprüchliche Motive überprüft <strong>und</strong> evaluiert. Es<br />

geht dabei darum, Gefühle <strong>und</strong> Irrationalität in Politik <strong>und</strong> Geschichte, die oft<br />

"rationalisiert" werden, offen zu legen <strong>und</strong> zu analysieren. Diese Problematik ist<br />

bisher sehr wenig erforscht, auch deshalb, weil Politik zu sehr <strong>als</strong> rationaler <strong>und</strong> viel<br />

zu wenig <strong>als</strong> emotionaler Bereich gilt. Birgit Sauer hat treffend formuliert: "Politik wird<br />

mit dem Kopf gemacht" <strong>und</strong> daraus Überlegungen zu einer "geschlechtersensiblen<br />

Politologie der Gefühle" abgeleitet. 164<br />

NPB wird Politiker/innen - regierenden wie oppositionellen - erschweren,<br />

Öffentlichkeit, Wähler/innen <strong>und</strong> Medien zu täuschen, indem sie ihnen f<strong>als</strong>che<br />

Beweggründe <strong>und</strong> Botschaften vorspiegeln, aber die tatsächlichen verschweigen.<br />

Deshalb sind Ideologie- <strong>und</strong> Quellenkritik ein Hauptanliegen der <strong>Quellenarbeit</strong> in der<br />

NPB. Erforderlich ist jedoch, dass sie stichhaltige Methoden, Indikatoren <strong>und</strong><br />

Instrumente entwickelt, damit Politiker/innen nicht Opfer psychologisierender<br />

Spekulationen werden.<br />

Wenn es weitgehend selbstbestimmt gelingt, mit den externen Quellen (Außenwelt)<br />

<strong>und</strong> zugleich an den internen Quellen (Innenwelt) zu arbeiten, wird der Alptraum des<br />

Oberstudiendirektors Dr. Gerhard Schoebe, vieler Historiker/innen sowie von<br />

Multiplikatoren in der politischen Bildung wahr werden: dass die <strong>Lernen</strong>den<br />

Geschichte "sich selbst lehren", dass es keine "endgültigen Erkenntnis-Ergebnisse"<br />

gibt <strong>und</strong> niemand vermeintliche Sachwalter der Objektivität mehr fragen wird: "Nun<br />

sagen Sie uns bitte: Wie war es denn nun wirklich?" (3.4.-6./-9./zu 6./zu 9.)<br />

164 In dem wichtigen Sammelband von Ansgar Klein <strong>und</strong> Frank Nullmeier (Hrsg.): Masse-Macht-<br />

Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen. Opladen 1999. Seiten 200 - 218. Vgl. auch<br />

Claudia Benthien, Anne Fleig <strong>und</strong> Ingrid Kasten (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle.<br />

Wien/Köln 2000; Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> die Erforschung des<br />

Ichs. München 1997; Agneta H. Fischer (Ed.): Gender and Emotion. Social Psychological<br />

Perspectives. Cambridge u.a. 2000; Catherine A. Lutz (Ed.): Language and the Politics of Emotion.<br />

Cambridge 1993; Claudia Wassmann: Emotionen. Wie Gefühle unser Denken <strong>und</strong> Handeln<br />

beeinflussen. Darmstadt 2002; Nancy J. Chodorow: Die Macht der Gefühle. Subjekt <strong>und</strong> Bedeutung in<br />

Psychoanalyse, Geschlecht <strong>und</strong> Kultur. Stuttgart u.a. 2001; Carola Meier-Seethaler: Gefühl <strong>und</strong><br />

Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. München 2000; June Crawford, Susan Kippax,<br />

Jenny Onyx: Emotion and Gender. Constructing Meaning from Memory. London 1992. - Ist es nicht<br />

auffällig, dass über diese Thematik fast nur Frauen forschen?<br />

166


6.3. Idealtypische Charakterologie III: Vornehmlich computergestütztes<br />

Suchen, Finden <strong>und</strong> Problemlösen <strong>als</strong> technologisch-mathematisches<br />

F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen Bildung (NPB)<br />

Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet primär digital-computergestützt - online<br />

<strong>und</strong>/oder offline. Sie unterscheidet sich so von der traditionellen analogen politischen<br />

Bildung, die derzeit, aber sicher nicht auf Dauer, Printmedien bevorzugt. Auch NPB<br />

kann nicht auf sie verzichten.<br />

Während bei 6.1. die Fachwissenschaften im Vordergr<strong>und</strong> stehen, <strong>und</strong> bei 6.2.<br />

insbesondere Psychologie, Soziologie <strong>und</strong> Pädagogik, übernehmen bei 6.3. die<br />

Mathematik <strong>und</strong> Informatik die Schlüsselaufgaben. Jede "fertige" Mathematik, die<br />

standardisierte Ergebnisse liefert <strong>und</strong> sie auf Formeln oder Routine-Aufgaben<br />

verkürzt, ist für die NPB ebenso unbrauchbar wie eine Geschichtswissenschaft, die<br />

Jahreszahlen, Fakten <strong>und</strong> Inhalte "paukt" <strong>und</strong> abfragt - dem Auswendiglernen von<br />

mathematischen Formeln vergleichbar. Eine "entdeckende" <strong>und</strong> "werdende"<br />

Mathematik dagegen, die zu ihren Wurzeln zurückkehrt <strong>und</strong> insofern <strong>Quellenarbeit</strong><br />

leistet, wird neben der Psychologie zum wichtigsten Verbündeten NPB werden.<br />

Bahnbrechender Wegbereiter einer so verstandenen Mathematik war Georg Pólya<br />

(1887 - 1985). Er legte auf "praktisches Können" mehr Wert <strong>als</strong> auf den "Besitz von<br />

Kenntnissen". Mathematik sollte Fähigkeiten fördern, Probleme zu lösen, die einen<br />

"gewissen Grad von Unabhängigkeit, Urteilsfähigkeit, Einsicht, Originalität <strong>und</strong><br />

schöpferischer Tätigkeit" verlangten. Eine Schlüsselstellung nahm hierbei für ihn die<br />

Heuristik <strong>als</strong> "Untersuchung der Mittel <strong>und</strong> Methoden" des Problem- <strong>und</strong><br />

Aufgabenlösens ein (4.3.). Pólya hat "zehn Gebote" für Lehrer/innen aufgestellt mit<br />

der Bitte, "keine andere Autorität" <strong>als</strong> die "eigene gut verarbeitete Erfahrung" <strong>und</strong> das<br />

"eigene wohlüberlegte Urteil" anzuerkennen:<br />

167


ZEHN GEBOTE FÜR LEHRER<br />

1.Man soll sich für seinen Gegenstand interessieren.<br />

2. Man soll seinen Gegenstand kennen.<br />

3. Man soll über das Wesen des <strong>Lernen</strong>s Bescheid wissen: Die beste Art, etwas zu<br />

erlernen, ist, es selbst zu entdecken.<br />

4. Man soll versuchen, von den Gesichtern seiner Schüler ihre Reaktionen<br />

abzulesen, versuchen, ihre Erwartungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten zu erkennen, sich in<br />

ihre Lage zu versetzen.<br />

5. Man soll ihnen nicht nur Kenntnisstoff, sondern auch praktisches Können, geistige<br />

Einstellungen, methodische Arbeitsgewohnheiten vermitteln.<br />

6.Man soll sie erraten lernen lassen.<br />

7. Man soll sie beweisen lernen lassen.<br />

8. Man soll auf solche Schritte bei der Lösung der Aufgabe, die man gerade<br />

durchnimmt, achten, die bei der Lösung zukünftiger Aufgaben nützlich sein könnten -<br />

man soll versuchen, das allgemeine Schema freizulegen, das der gegebenen<br />

konkreten Situation zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

9. Man soll nicht gleich sein ganzes Geheimnis preisgeben - man soll die Schüler<br />

raten lassen, ehe man es preisgibt - man lasse sie soviel wie irgend möglich selbst<br />

herausfinden.<br />

10. Man lege nahe, aber man zwinge nicht auf. 165<br />

Eine Mathematik, wie Pólya sie empfiehlt, ist eine unerschöpfliche Lebensquelle <strong>und</strong><br />

eine "produktive Kunst". Sie bietet offene, d. h. nicht eindeutig definierte<br />

Problemstellungen an <strong>und</strong> fördert heuristische Problemlösefähigkeiten. Damit wird<br />

Mathematik zu einer Entdeckungsreise, die Kreativität, Eigentätigkeit <strong>und</strong> Phantasie<br />

fördert.<br />

Zu einer Zeit, <strong>als</strong> Mathematiker noch Latein konnten <strong>und</strong> zur Philosophischen<br />

Fakultät gehörten, meinte der berühmte Leopold Kronecker (1823 - 1891): "Nos<br />

mathematici sumus isti veri poetae sed quod fingimus nos et probare decet." 166 Und<br />

165<br />

Georg Pólya: Vom Lösen mathematischer Aufgaben. Einsicht <strong>und</strong> Entdeckung. <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Lehren.<br />

Band 2.<br />

Basel 1967. Seite 175. Vgl. auch Band 1. Basel 1966. Seiten zit. 12f. Ferner Georg Pólya: Mathematik<br />

<strong>und</strong> plausibles Schließen. Band l: Induktion <strong>und</strong> Analogie in der Mathematik. Band 2: Typen <strong>und</strong><br />

Strukturen plausibler Folgerung. Basel 1988; Schule des Denkens. Vom Lösen mathematischer<br />

Probleme. Tübingen/Basel 1995. Vgl. auch Lutz Führer: Pädagogik des Mathematikunterrichts. Eine<br />

Einführung in die Fachdidaktik für Sek<strong>und</strong>arstufen. Braunschweig 1997; Peter Gallin <strong>und</strong> Urs Ruf:<br />

Dialogisches <strong>Lernen</strong> in Sprache <strong>und</strong> Mathematik. 2 Bände. Seelze 1998; Heinrich Winter:<br />

Entdeckendes <strong>Lernen</strong> im Mathematikunterricht. Einblicke in die Ideengeschichte <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

für die Pädagogik. Braunschweig 1991; Albrecht Beutelspacher: In Mathe war ich immer schlecht.<br />

Braunschweig 1996; Robert Kanigel: Der das Unendliche kannte. Braunschweig 1993.<br />

166<br />

"Wir Mathematiker sind die wahren Dichter, nur müssen wir, was unsere Phantasie beflügelt, noch<br />

beweisen."<br />

168


in der Tat: Nicht nur das Dichten, auch das Lösen einer mathematischen Aufgabe ist<br />

ein schöpferischer Akt, sofern sie mehr <strong>als</strong> nur Routine erfordert. Dazu gehören<br />

Kreativität <strong>und</strong> Phantasie, <strong>und</strong> insofern ist Mathematik keineswegs so trocken <strong>und</strong> so<br />

abstrakt, wie viele in der Schule vermittelt bekommen haben.<br />

Für den Königsberger <strong>und</strong> Göttinger Professor David Hilbert (1862 - 1943) war die<br />

Mathematik die "verbindende Brücke" zwischen Theorie <strong>und</strong> Praxis, <strong>und</strong> dies, obwohl<br />

er sich mit dem "Unendlichen" befasste, das für ihn "wie keine andere Frage von<br />

jeher so tief das Gemüt des Menschen bewegt" <strong>und</strong> deshalb "wie kaum eine andere<br />

Idee auf den Verstand so anregend <strong>und</strong> fruchtbar gewirkt" habe. 167 Bereits um 1903<br />

hatte Hilbert bei Problemlösungen von Integralgleichungen den unendlichdimensionalen<br />

Euklidischen Raum eingeführt, der <strong>als</strong> Hilbert-Raum nach ihm<br />

benannt ist: Gr<strong>und</strong>lage seiner "Spektraltheorie", danach der Quantenmechanik sowie<br />

der Schrödingergleichung. 168 In der mathematischen Logik entwickelte Hilbert das<br />

"Entscheidungsproblem", das klären sollte, ob Aussagen richtig oder f<strong>als</strong>ch sind. Es<br />

hat zu Gödels Unvollständigkeitssatz (1931: Über formal unterscheidbare Sätze der<br />

Principia Mathematica <strong>und</strong> verwandter Systeme) 169 <strong>und</strong> zu den formalen Sprachen<br />

geführt, die heute neben der Booleschen Algebra Gr<strong>und</strong>lagen der Informatik <strong>und</strong><br />

Computertechnik sind.<br />

Eine solche entdeckende Mathematik ist die schöpferische Wissenschaft von<br />

Menschen für Menschen. Aber manche von ihnen haben eben, wie David Hilbert<br />

bedauert hat, "einen Gesichtskreis vom Radius Null <strong>und</strong> nennen ihn ihren<br />

Standpunkt". Zur Horizonterweiterung machte er mit seinen Studierenden lange<br />

Wanderungen, auf denen er mit ihnen über Mathematik, Bildung, Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft sowie über ihre Zusammenhänge diskutierte. Und so könnte es durchaus<br />

sein, dass in den Wäldern bei Göttingen, die Hilbert so sehr liebte, schon etwas<br />

Ähnliches wie Neue Politische Bildung (NPB) konturenhaft entstanden ist. Aber dies<br />

ist nicht verbürgt <strong>und</strong> folglich "Phantasie". Sie reicht nach Hilbert nicht aus, sich die<br />

erforderliche mathematische "Klarheit" zu verschaffen.<br />

Zu Kronecker, der Hegel studierte, Vorlesungen Schellings hörte <strong>und</strong> eine Vorliebe für alte Sprachen<br />

hatte, vgl. Hans Reichardt (Hrsg.): Nachrufe auf Berliner Mathematiker des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Heidelberg 1988.<br />

167<br />

David Hilbert: Über das Unendliche (1925). In: Hilbertiana. Fünf Aufsätze von David Hilbert.<br />

Darmstadt 1964. Seiten 79- 108, zit. 81.<br />

168<br />

Wellengleichung der nichtrelativistischen Quantenmechanik <strong>als</strong> zeitlicher Zustandsentwicklung<br />

unbeachteter Systeme, 1926 von Erwin Schrödinger (1887 - 1961) veröffentlicht.<br />

169<br />

Alle widerspruchsfreien axiomatischen Formulierungen der Zahlentheorie enthalten<br />

unentscheidbare Aussagen. - Kurt Gödel (1906 - 1978) stürzte Logik <strong>und</strong> Mathematik im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in eine Krise, da er nachwies, dass es innerhalb einen vorgegebenen Zweigs der<br />

Mathematik immer Aussagen gibt, die mit Hilfe der Regeln <strong>und</strong> Axiome dieses Zweigs weder zu<br />

beweisen noch zu widerlegen sind. Sie sind richtig, aber ihre Richtigkeit lässt sich nicht beweisen. Vgl.<br />

dazu das auch für Nichtmathematiker verständliche Buch von Ernest Nagel <strong>und</strong> James R. Newman:<br />

Der Gödelsche Beweis. 7. Auflage. München 2003.<br />

169


Für die <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> die NPB ist die "entdeckende" Mathematik unentbehrlich.<br />

Zwar können sie derzeit keine - oder noch keine! - Reise in den Grenzwert des<br />

"Unendlichen" anbieten, aber doch schon fast "astronomische" Informations- <strong>und</strong><br />

Abenteuerreisen in das Unbekannte: in eine terra incognita, die es zu entdecken, zu<br />

enträtseln gilt. Von selbst gewählten Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen ausgehend,<br />

sind heuristische Problemlösungsstrategien zu entwickeln: das Suchen <strong>und</strong> Finden<br />

spezieller Informationen in einem Meer von Informationen, in dem man unterzugehen<br />

oder zu ertrinken droht. Schwimmen allein reicht nicht aus, man muss schon tauchen<br />

können, um Tiefen <strong>und</strong> Untiefen auszuloten. Dies erfordert Teilbereiche technischer<br />

<strong>und</strong> mathematischer Kompetenz (4.3.) - ohne Spielräume einzuengen, ohne<br />

Antworten vorwegzunehmen. Sie darf sich auch nicht nur in Routine-Suchanfragen<br />

erschöpfen, wie sie in der Technischen Kurzanleitung der DVD-D-Dok. im Booklet<br />

aufgeführt sind.<br />

Der bereits zitierte Göttinger Spötter Georg Christoph Lichtenberg (4.4.) hat sich<br />

darüber beschwert, "wie unwissend" die studierende Jugend auf Universitäten<br />

komme, da ein Viertel "sanft einschlafe", wenn er "nur zehn Minuten rechne oder<br />

geometrisiere". Offensichtlich bevölkerten schon dam<strong>als</strong> wie heute die "fertigen"<br />

Mathematiker/innen die Schulen. Bitte gehen Sie ihnen aus dem Wege <strong>und</strong> suchen<br />

Sie einen Ausweg, indem Sie mit den Fächern Informatik, Physik oder auch Chemie<br />

kooperieren. Sonst schaden Sie der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der NPB mehr <strong>als</strong> ihnen zu<br />

nutzen. Denn wenn ihre Schüler/innen abschalten oder einschlafen, werden sie keine<br />

Probleme lösen: Informationen zu sammeln, herauszufiltern, auszuwerten <strong>und</strong> zu<br />

generalisieren (4.3. - 4.7.).<br />

6.4. Idealtypische Charakterologie IV: Persönlichkeitsbildung nach Artikel<br />

2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>als</strong> verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament<br />

der Neuen Politischen Bildung (NPB)<br />

Neue Politische Bildung (NPB) orientiert sich am Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz mit<br />

der erklärten Zielsetzung, zur Selbstentfaltung der "Persönlichkeit" beizutragen (4.2.-<br />

2.). Das Menschenbild des Gr<strong>und</strong>gesetzes ist das Leitbild, das lebenslange <strong>Lernen</strong><br />

das Leitmotiv. Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung <strong>als</strong> Persönlichkeitsbildung wird folglich <strong>als</strong><br />

lebenslanger Lernprozess verstanden. Er beginnt mit der Geburt, endet mit dem<br />

Tode: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich, nicht: Ich konsumiere, <strong>als</strong>o bin ich.<br />

Die Voraussetzungen dafür bietet die freiheitlich-demokratische Ordnung: Sie<br />

ermöglicht den Zugang zu vielfältigen Informationsquellen, die das jeweilige Ich <strong>und</strong><br />

das dazu gehörende körperlich-emotionale Selbst befähigen, individuelles Potenzial<br />

bis an die Grenzen des Möglichen auszuschöpfen - sofern es gelingt, die eigenen<br />

Wurzeln freizulegen. Etwas aus sich selbst machen, Chancen dazu wahrnehmen, die<br />

170


den Menschen - schon <strong>als</strong> Kind - zum Selbstzweck machen <strong>und</strong> nicht<br />

instrumentalisieren - sei es ideologisch, sei es ökonomisch, sei es parteipolitisch.<br />

Neue Politische Bildung (NPB) ist insofern Bildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsbildung, aber<br />

keine Ausbildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsausbildung des Menschen: keine<br />

Funktionalisierung für politische, gesellschaftliche, ideologische, wirtschaftliche,<br />

"nützliche" Zwecke, keine e-education, keine e-instruction. Es geht zuallererst um<br />

menschliche Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, um Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit des<br />

Menschen. Dies sind Begriffe, die oft missverständlich benutzt werden, manchmal<br />

auch ideologisch besetzt oder indoktriniert sind. Dazu wird noch unter 6.5. Stellung<br />

genommen.<br />

NPB erhält mit Artikel 2 Absatz 1 GG, in dem sie verankert ist, ein<br />

verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament. Ihre Legitimation bezieht sich explizit<br />

auf diese Verfassungsnorm, betrachtet aber das Gr<strong>und</strong>gesetz auch <strong>als</strong> Ganzes oder<br />

in Teilen <strong>als</strong> ihren Gegenstand.<br />

Schon in den 50er Jahren hatte im zeitbedingten Kontext der Adenauer-Ära Theodor<br />

Wilhelm unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger das Partnerschaftskonzept ("Seid<br />

nett zueinander") <strong>als</strong> Aufgabe demokratischer politischer Pädagogik verfochten. Sie<br />

war eine Antwort auf die NS-Indoktrination, aber zugleich implizit eingebettet in das<br />

Wertgefüge des Gr<strong>und</strong>gesetzes. 170<br />

Die mit Hermann Giesecke beginnende Konfliktdidaktik (Erstauflage 1965) sah - vor<br />

allem in den späteren Auflagen - "in unserem Staat mit seiner Basis des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes <strong>und</strong> der Verfassungen" die Voraussetzungen dafür geschaffen, den<br />

historischen Prozess der "Demokratisierung" (u. a. der Emanzipation) weiter<br />

voranzutreiben. "Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist <strong>als</strong>o keineswegs das Ende<br />

des Demokratisierungsprozesses. Ihre Realität ist vielmehr eine ständige<br />

Herausforderung, die jeweils konkreten Möglichkeiten weiterer Demokratisierung <strong>als</strong><br />

Aufgabe zu thematisieren <strong>und</strong> praktisch in Angriff zu nehmen." 171 Ernst-August Roloff<br />

radikalisierte diesen Ansatz, indem er Schüler dazu aufforderte, ihre im Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

fixierten Selbstbestimmungsrechte gegen die schulische Fremdbestimmung<br />

durchzusetzen. 172<br />

170 Friedrich Oetinger: Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft <strong>als</strong> pädagogische<br />

Aufgabe. Stuttgart 1951. (Überarbeitet: Partnerschaft. Die Aufgabe politischer Erziehung. Stuttgart<br />

1953.)<br />

171 Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung. 6. Auflage München 1971. Seiten 211f.<br />

("Kritik der Kritik") - Seit der 7. Auflage 1972, einer Neubearbeitung, orientiert sich Giesecke an der<br />

Kritischen Theorie, nicht mehr wie vorher an der liberalen Konflikttheorie. Vgl. Ralf Dahrendorf:<br />

Konflikt <strong>und</strong> Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. München 1972.<br />

172 Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik. Band 1:<br />

Sozialwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen. Band 2: Didaktische Beispielsanalysen für die Sek<strong>und</strong>arstufe I.<br />

Göttingen 1972 - 1974.<br />

171


Für Bernhard Sutor ist das Gr<strong>und</strong>gesetz "Legitimations- <strong>und</strong> Konsensbasis<br />

politischer Bildung", allerdings mit der Einschränkung, dass "die Bildungsziele nicht<br />

unmittelbar aus ihm abgeleitet werden können". Er entwickelt eine "politische<br />

Anthropologie", die sich am aristotelischen Gemeinwohl (zoon politikon) orientiert<br />

<strong>und</strong> im Menschenbild des Gr<strong>und</strong>gesetzes, insbesondere der im Artikel 1 verankerten<br />

Menschenwürde, wurzelt. 173 Werner J. Patzelt betrachtet den "Bürger" <strong>als</strong><br />

"eigentlichen Schwachpunkt unserer Demokratie", da ein "latenter<br />

Verfassungskonflikt" bestehe: "zwischen der tatsächlichen Funktionsweise unseres<br />

verfassungsmäßigen parlamentarischen Regierungssystems <strong>und</strong> jenen<br />

Vorstellungen, anhand welcher die Bürger beurteilen, ob ihr Regierungssystem<br />

ordnungsgemäß funktioniert." 174 Er plädiert dafür, dieses Defizit des "Verfassungs-<br />

<strong>und</strong> Politikverständnisses" der Bürger auszugleichen. Carl Deichmann tritt daher für<br />

eine neu konzipierte Institutionenk<strong>und</strong>e in der politischen Bildung ein. 175<br />

Aus Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz folgt, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />

nur innerhalb der "verfassungsmäßigen Ordnung" geschützt ist, die "Rechte anderer"<br />

zu beachten sind (neminem laedere) <strong>und</strong> sie an das "Sittengesetz" geb<strong>und</strong>en ist.<br />

Diese drei Verfassungsgebote verpflichten ipso iure die Neue Politische Bildung<br />

(NPB), <strong>und</strong> darüber hinaus auch die aus der Gr<strong>und</strong>rechtsnorm abgeleiteten, bereits<br />

vorgestellten <strong>und</strong> belegten Forderungen nach Leistung <strong>und</strong> Toleranz (4.2.-2.). Mit<br />

anderen Worten: Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung heißt nicht Rückzug auf sich selbst,<br />

Anspruchs- <strong>und</strong> Konsumdenken sowie Bindungslosigkeit, sondern<br />

Persönlichkeitsbildung innerhalb der freiheitlich-demokratischen Ordnung, um sie <strong>als</strong><br />

conditio sine qua non zu erhalten <strong>und</strong> weiterzuentwickeln. Eine solche Selbst- <strong>und</strong><br />

Ich-Entfaltung erfordert auch die Erziehung zu Über- Ich-Werten, die oft <strong>als</strong><br />

sek<strong>und</strong>äre oder bürgerliche Tugenden abgewertet werden: Leistung, Disziplin,<br />

Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein, Treue, Fleiß, Toleranz, Pünktlichkeit,<br />

Zuverlässigkeit, Heimat- <strong>und</strong> Vaterlandsliebe, Verantwortungsbewusstsein.<br />

Nicht derzeit verfassungskonform sind andere Zielsetzungen der Neuen Politischen<br />

Bildung (NPB): Die Abschaffung der Schulaufsicht <strong>als</strong> Bürokratie, die kontrolliert,<br />

reglementiert <strong>und</strong> straft, zugunsten einer tatsächlich beratenden, unterstützenden<br />

<strong>und</strong> helfenden, staatlich finanzierten Schulpflegschaft (Artikel 7 Abs. 1 GG); die<br />

Einführung der offenen Ganztagsschule (vor allem im Primarbereich) <strong>als</strong><br />

Regelschule <strong>und</strong> die Wiederzulassung von Vorschulen, die Förderung privater,<br />

kirchlicher u. a. Ersatzschulen <strong>als</strong> Alternativen zum staatlichen Schulwesen (Artikel 7<br />

Abs. 4 bis 6 GG); die Einführung eines staatlichen Kinderschutzes, sofern Eltern ihr<br />

173<br />

Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Ein Beitrag zur Wiedergewinnung eines<br />

Minimalkonsenses im Streit um den Politikunterricht. Hannover 1976. Seiten zit. 38, 43ff.<br />

174<br />

Werner J. Patzelt: Die Bürger - Schwachstelle unseres Gemeinwesens? Ein latenter<br />

Verfassungskonflikt. In: Gotthard Breit <strong>und</strong> Siegfried Schiele (Hrsg.): Handlungsorientierung im<br />

Politikunterricht. Bonn 1998. Seiten 69- 100, zit. 91.<br />

175<br />

Carl Deichmann: Mehrdimensionale Institutionenk<strong>und</strong>e in der politischen Bildung. Schwalbach<br />

1996.<br />

172


Elternrecht zuungunsten ihrer Kinder missbrauchen oder sie <strong>als</strong> ihr "Eigentum"<br />

betrachten (Artikel 6 Abs. 2-3 GG); <strong>und</strong> nicht zuletzt die Abschaffung des<br />

Berufsbeamtentums an Schulen <strong>und</strong> Hochschulen (Artikel 33 Abs. 4-5 GG).<br />

6.5. Individuum est ineffabile: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong><br />

politisch-ideologische Instrumentalisierung von Geschichts- <strong>und</strong><br />

Politikdidaktik<br />

Politische Bildung (PB) hat sich in der alten BRD vor allem mit drei Ideologien <strong>und</strong><br />

ihren Ablegern auseinandergesetzt: dem Kommunismus (Bolschewismus),<br />

insbesondere in seiner staatlichen Ausprägung <strong>als</strong> Marxismus-Leninismus, dem<br />

Faschismus <strong>und</strong> dem Nation<strong>als</strong>ozialismus. Als Formen des Totalitarismus <strong>und</strong><br />

totalitärer Herrschaft galten sie in der Regel <strong>als</strong> ausschließlich politische Phänomene<br />

mit der Folge, dass bei ihnen übersehen wurde, wie stark pseudoreligiös sie<br />

verbrämt sind. 176<br />

In der BRD war politische Bildung teilweise selbst instrumentalisiert <strong>und</strong> ideologisiert.<br />

Dies soll wegen der zentralen Rolle, die Geschichte in der NPB spielt, am Beispiel<br />

einer ausgewählten Geschichtsdidaktik <strong>und</strong> curricularen Vorgaben für den politischen<br />

Unterricht kurz beleuchtet werden.<br />

In ihrer einführenden Geschichtsdidaktik befürwortet Annette Kuhn (Bonn) die "Idee<br />

der Mündigkeit", die "gesellschaftlich verwirklichte Identität des Ichs" <strong>und</strong> einen "am<br />

Lernziel Emanzipation orientierten Geschichtsunterricht". Die Operationalisierung soll<br />

aus Abhängigkeiten befreien, zu Selbstbestimmung, Kommunikation, Ideologiekritik,<br />

Parteinahme, Identifikationserweiterung u.a. befähigen. "Das historische <strong>Lernen</strong> kann<br />

<strong>als</strong> Prozeß der Identifikationsgewinnung bezeichnet werden; denn Identität<br />

konstituiert sich erst in der Zeit <strong>und</strong> durch die Identifizierung mit <strong>und</strong> Abgrenzung von<br />

dem historischen Anderen. Emanzipation heißt im historischen <strong>Lernen</strong> Abbau<br />

irrationaler <strong>und</strong> Aufbau rationaler Identitäten." 177 Diese Lernziele korrespondieren<br />

offensichtlich mit denjenigen, die in der NPB vertreten werden. Doch unterscheiden<br />

sie sich f<strong>und</strong>amental voneinander.<br />

Annette Kuhn bekennt sich zur Kritischen Theorie, führt namentlich Horkheimer,<br />

Adorno <strong>und</strong> Habermas auf (Frankfurter Schule). "Die Geschichtsdidaktik deckt sich<br />

nicht nur in ihrer Zielsetzung mit der Erkenntniskritik in der radikalisierten Form der<br />

176<br />

So die neue Blickrichtung der Forschung: Zwischen Politik <strong>und</strong> Religion. Studien zur Entstehung,<br />

Existenz <strong>und</strong> Wirkung des Totalitarismus. Herausgegeben von Klaus Hildebrand. München 2003.<br />

177<br />

Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. 2. Auflage München 1977. Seiten 13, 23,<br />

64, 70ff., zit. 72.<br />

173


Frankfurter Schule. Sie geht auch von einer gemeinsamen Prämisse aus." 178 Kuhn<br />

übernimmt damit Prämissen <strong>und</strong> setzt Parteinahmen voraus, die das jeweilige<br />

Individuum behindern, über sich selbst zu bestimmen <strong>und</strong> eigene Identität zu<br />

entwickeln. Die erstrebte "Befreiung des Subjekts" führt so letztendlich zur<br />

Bevorm<strong>und</strong>ung des lernenden "Objekts" durch eine "Gesellschaftstheorie", die a<br />

priori festgeschrieben ist, <strong>und</strong> die viel beschworene "Schülerorientierung" bleibt<br />

abstrakt. Mit Recht ist daher bemängelt worden, "daß im Konzept Annette Kuhns die<br />

Subjektivität des Einzelnen, verstanden <strong>als</strong> die Möglichkeit, selbstbestimmt zu<br />

lernen, überhaupt keine Rolle spielt". 179 Zwar ist in diesem Handbuch im Abschnitt<br />

4.5. zu Hermeneutik <strong>und</strong> Quellenkritik teilweise auch Jürgen Habermas zustimmend<br />

zitiert worden, aber damit ist keine Rezeption der Kritischen Theorie <strong>als</strong> Ganzes<br />

verb<strong>und</strong>en - anders <strong>als</strong> bei Annette Kuhn, die sich mit ihr seit 1968 identifiziert. Dies<br />

wirkt sich auch auf die Frauengeschichte aus, um die sich Kuhn bleibende<br />

Verdienste erworben hat. Sie steht allerdings unter einer "unabdingbaren"<br />

Voraussetzung: "Ohne feministische Geschichtstheorie keine rational-kritische<br />

Identitätsgewinnung durch Frauengeschichte." 180<br />

Auch <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> Hermeneutik haben bei Annette Kuhn einen anderen<br />

Stellenwert <strong>als</strong> in der NPB. "In einem Geschichtsunterricht auf Quellenbasis",<br />

schreibt Hans-Jürgen Pandel zutreffend, "erzeugen die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen mit<br />

dem historischen Wissen den Gegenstand ihres <strong>Lernen</strong>s selbst. Wenn so im<br />

schulischen Kommunikationsprozeß der Gegenstand der Kommunikation durch die<br />

Kommunikationsteilnehmer erzeugt wird, verbietet sich auch eine strategisch<br />

instrumentelle Verwendung von Quellen auf ein einseitig gesetztes Erkenntnisziel<br />

hin. Ein kommunikativer Geschichtsunterricht kann die Freiheitsgrade, die Lehrern<br />

wie Schülern beim Umgang mit den Quellen unseres heutigen Wissens verbleiben,<br />

nur um den Preis der Dogmatisierung aufgeben." 181 Annette Kuhn sieht dieses Risiko<br />

offensichtlich auch, lehnt aber ab, auf Bedenken einzugehen, dass <strong>Quellenarbeit</strong><br />

"durch vorgängige Prämissen, durch ideologisch befrachtete Erkenntnisinteressen<br />

verengt" werden könnte. 182 Wer von "historischen Quellen" ausgeht, um geschichtlich<br />

178 Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik...Seite 20.<br />

179 Jochen Hering: Geschichte erfahrbar. Zur Wiederentdeckung des erzählenden<br />

Geschichtsunterrichts. Dortm<strong>und</strong> 1985. Seiten 100ff., zit. 102.<br />

180 Annette Kuhn: Identitätsgewinnung durch Frauengeschichte - Gefahren, Grenzen, Möglichkeiten.<br />

In: Geschichtsdidaktik 10, 1985, Seiten 117 - 128, zit. 117.<br />

181 Hans-Jürgen Pandel: Quellen - eine endlose Geschichte. Ein Versuch, die Quellendiskussion<br />

weiterzuführen <strong>und</strong> vor Fehlentwicklungen zu warnen. In: Stationen einer Hochschullaufbahn.<br />

Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Udo Arnold, Peter Meyers, Uta<br />

C. Schmidt. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 112 - 126, zit. 115. Vgl. dazu auch Peter Schulz-Hageleit:<br />

Emanzipation <strong>und</strong> Geschichtsbewusstsein. Anregungen für die Wiederaufnahme <strong>und</strong> Fortsetzung<br />

einer Diskussion. In: Festschrift Kuhn. Seiten 52- 61.<br />

182 Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. München 1977. Seite 8. Zur<br />

Hermeneutik: Seiten 56ff. - Zur "fachdidaktischen Curriculumentwicklung" <strong>und</strong> ihrer Umsetzung vgl.<br />

Annette Kuhn <strong>und</strong> Gerhard Schneider: Geschichtsunterricht 5-10. München/Wien 1981. Mit einem<br />

Fragebogen (Seiten 168 - 177) macht Kuhn Ernst mit der von ihr geforderten "schülerorientierten <strong>und</strong><br />

themenspezifischen Bedingungsanalyse" (Seite 9).<br />

174


aufzuklären, muss auch bereit sein, darüber zu reflektieren, um was für eine Auswahl<br />

von Quellen es sich handelt, <strong>und</strong> auf welchen Prämissen sie beruht.<br />

Die hessischen Rahmenrichtlinien Sek<strong>und</strong>arstufe I Gesellschaftslehre (1972/73)<br />

sollten Schülern ermöglichen, "ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten <strong>und</strong> an<br />

gesellschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken. Dementsprechend bildet die<br />

Befähigung zur Selbst- <strong>und</strong> Mitbestimmung das oberste Lernziel der<br />

Gesellschaftslehre." Es wird mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz, der hessischen Verfassung <strong>und</strong><br />

mit der Zielsetzung begründet, ungleiche Lebenschancen aufzuheben . 183<br />

Über dieses politisch-pädagogische Konzept hinaus gehen die nordrheinwestfälischen<br />

"Richtlinien für den Politischen Unterricht" (1973) <strong>als</strong> Curriculum. Es ist<br />

theoretisch durchkonstruiert, in seinen Lernzielen für die politische Bildung<br />

verbindlich <strong>und</strong> wird in einem Theorieband der Schörken-Kommission begründet. 184<br />

Das "didaktische Strukturgitter" des Blankertz- <strong>und</strong> Habermas-Interpreten Gösta<br />

Thoma ist so engmaschig <strong>und</strong> das Curriculum so geschlossen, dass entgegen den<br />

Ankündigungen der Kommission detailliert in einem "Bannkreis fremdbestimmter<br />

Leitbilder" vorgeschrieben wird, wie jemand mündig, selbstbestimmt <strong>und</strong> emanzipiert<br />

zu sein hat. Es ist der "totale Perfektionismus" für den "staatlich geplanten Bürger". 185<br />

Das Curriculum, das sich an der Kritischen Theorie orientiert, ist in der 2. Auflage der<br />

Richtlinien teilweise revidiert <strong>und</strong> entschärft worden, ohne die ursprüngliche<br />

Konzeption aufzugeben. Kultusminister Girgensohn <strong>und</strong> die Schörken-Kommission<br />

trugen damit der öffentlichen Kritik Rechnung. Sie haben aber auch viel Zustimmung<br />

erfahren. Während Hartmut von Hentig ein im Wesentlichen positives Urteil abgab,<br />

sprach Christian Graf von Krokow überschwänglich von einer "Pioniertat": den<br />

"besten Richtlinien für den politischen Unterricht, die es in <strong>Deutschland</strong> je gab". 186<br />

Stärker instrumentalisiert <strong>als</strong> die "kritische Didaktik" Kuhns ist die "materialistische<br />

Geschichtsdidaktik", die Parteinahme <strong>als</strong> "Entscheidung für die Interessen benachteiligter Gruppen,<br />

Schichten, Klassen" begreift: Horst W. Jung <strong>und</strong> Gerda von Staehr: Historisches <strong>Lernen</strong>. Didaktik der<br />

Geschichte. Köln 1983. Seiten 78ff. (Emanzipation), 94ff. (Identität), 252ff. (materialistische<br />

Geschichtsdidaktik).<br />

183 Der Hessische Kultusminister (Hrsg.): Rahmenrichtlinien Sek<strong>und</strong>arstufe I Gesellschaftslehre. 1.<br />

Auflage 1972. Seite 7. Entschärft ist die 2. Auflage 1973.<br />

184 Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Richtlinien für den Politischen<br />

Unterricht. 1. Auflage Düsseldorf 1973. 2., entschärfte Auflage: Richtlinien für den Politik-Unterricht.<br />

Düsseldorf/Stuttgart 1974. - Rolf Schörken (Hrsg.): Curriculum "Politik". Von der Curriculumtheorie zur<br />

Unterrichtspraxis. Opladen 1974.<br />

185 So Christian Tomuschat: Der staatlich geplante Bürger. Verfassungsrechtliche Bemerkungen zu<br />

den Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes Nordrhein-Westfalen. In: Recht im Dienst des<br />

Friedens. Festschrift für Eberhard Menzel zum 65. Geburtstag am 21. Januar 1976. Berlin 1975.<br />

Seiten 21 - 40, zit. 37 <strong>und</strong> 39. Vgl. dazu auch Josef Isensee: Freiheit ohne Pflichten? - Zum<br />

verfassungsrechtlichen Status des Bürgers im Staat des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Münster 1983. Seiten 7f.<br />

186 Walter Gagel <strong>und</strong> Rolf Schörken (Hrsg.): Zwischen Politik <strong>und</strong> Wissenschaft. Politikunterricht in der<br />

öffentlichen Diskussion. Opladen 1975. Seiten zit. 21f. (Hartmut von Hentig), 132 (Christian Graf von<br />

Krockow in der ZEIT Nr. 2 vom 3. Januar 1975). Walter Gerschler hat die Reaktionen der<br />

175


Die Begriffe Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit, wie sie in der NPB <strong>und</strong> in<br />

der Geschichtsdidaktik Annette Kuhns sowie den hessischen <strong>und</strong> nordrheinwestfälischen<br />

Richtlinien verwendet werden, haben nichts miteinander zu tun. Es<br />

sind Homonyma, die gleich lauten, sich aber inhaltlich in ihrer Bedeutung<br />

unterscheiden. Der Weg des selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene<br />

Kompetenzerwerb sind in der Didaktik (4.) beschrieben worden <strong>und</strong> können<br />

abschließend überprüft <strong>und</strong> evaluiert werden (5.). Dies ist kein Bildungsprogramm mit<br />

verbindlichen Vorgaben, sondern ein historisch-politisches Bildungsangebot. Es ist<br />

offen, nirgends festgelegt. Für die Neue Politische Bildung (NPB) ist daher ein<br />

durchkonstruiertes geschlossenes Curriculum ein Unding, ein detailliert<br />

vorgeschriebener Lehrplan eine Zwangsjacke.<br />

Den <strong>Lernen</strong>den bleibt es überlassen, sich vorgeschlagenen idealtypischen Fragen zu<br />

stellen <strong>und</strong> sie jeweils individuell zu beantworten oder auch nicht. Die Arbeit mit <strong>und</strong><br />

an den Quellen, sofern sie eine Spiegelfunktion in der D-Dok. ausüben, kann den<br />

jeweils <strong>Lernen</strong>den den Weg zu Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit ebnen,<br />

kurzum - sich selbst zu suchen <strong>und</strong> zu sich zu finden. Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

bietet dazu verfassungsrechtlich den Bezugsrahmen <strong>und</strong> markiert zugleich die<br />

Schranken. Das Individuum ist nicht, wird nicht <strong>und</strong> darf nicht programmiert werden:<br />

Individuum est ineffabile.<br />

6.6. Veränderung in der demokratischen Ordnung: Ideologische oder<br />

utopische Elemente in der Neuen Politischen Bildung (NPB)?<br />

Wer andere der Ideologie bezichtigt, ist oft blind für eigene Ideologieanfälligkeit.<br />

Deshalb ist unverzichtbar, danach zu fragen, ob <strong>und</strong> inwieweit die hier vorgestellte<br />

Neue Politische Bildung (NPB) theorielastig oder ideologisiert ist.<br />

Das Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel ist das Konzept des lebenslangen <strong>Lernen</strong>s (4.1.).<br />

Es leitet sich aus dem Selbstverständnis des globalen Wandels (Global Change) im<br />

Informationszeitalter <strong>und</strong> in der Wissensgesellschaft (1.1.) ab, ist aber nicht von einer<br />

rezipierten Gesellschaftstheorie übernommen worden - wie "Emanzipation" <strong>als</strong><br />

oberster Richtwert für Lernziele, Qualifikationen <strong>und</strong> Instrument ihrer Auswahl in<br />

Didaktiken <strong>und</strong> Curricula, die sich an der Frankfurter Schule orientieren. Bisher hat<br />

noch niemand behauptet, auch nicht in den <strong>neues</strong>ten Veröffentlichungen, 187 das<br />

Öffentlichkeit dokumentiert auf den Seiten 105 - 132.<br />

187 Uli Wessely: Politische Bildung in der globalen Wissensgesellschaft. In: Aus Politik <strong>und</strong><br />

Zeitgeschichte 7-8 vom 16. Februar 2004. Seiten 32 - 38 mit Literaturangaben <strong>und</strong> Internethinweisen.<br />

- Eine Übersicht bietet Günther Dohmen: Das lebenslange <strong>Lernen</strong>. Leitlinien einer modernen<br />

Bildungspolitik. (Gutachten für das B<strong>und</strong>esministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung <strong>und</strong><br />

Technologie.) Bonn 1996. Siehe vor allem Seiten 14ff. (Entstehung, Konzeption, Kritik), 44ff.<br />

176


lebenslange <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Antwort auf die Herausforderungen des<br />

Informationszeitalters <strong>und</strong> der Wissensgesellschaft sei eine ideologische<br />

Fehlleistung.<br />

Unbestritten ist, dass das lebenslange <strong>Lernen</strong> utopische Elemente enthält. Der<br />

Leitspruch "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum), drückt Erwartungshaltungen<br />

<strong>und</strong> ein Bemühen aus, die auf die Zukunft gerichtet <strong>und</strong> insofern utopisch sind. Sie<br />

richten sich gegen einen weit verbreiteten Trend in der Gegenwart: "Ich konsumiere,<br />

<strong>als</strong>o bin ich" (Consumo, ergo sum). Dieser "historische" Weg zu sich selbst ist<br />

langwierig, meist steinig <strong>und</strong> schmerzlich, <strong>und</strong> er ist offen: Er begleitet den Menschen<br />

<strong>als</strong> Selbstzweck zu sich selbst, aber er verspricht kein Heil, kein Ideal, keinen<br />

Glückszustand, er verbürgt auch keinen Erfolg.<br />

Voraussetzung für die erstrebte Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz ist eine politische demokratische Ordnung, die den freien Zugang zu<br />

multiperspektivischen Informationsquellen gewährleistet. "Freiheitliche<br />

Gr<strong>und</strong>einstellung kann in einem Leben jedoch nur richtig wachsen, wenn dem<br />

Menschen selbst von Anfang an in der Ausübung der Freiheit soweit wie möglich<br />

Raum gelassen wird." 188 Darüber entscheiden die frühen, auch schulischen<br />

Lebensjahre. Frei entfalten kann sich daher nur, wer keinen elterlichen, schulischen<br />

<strong>und</strong> staatlichen Bevorm<strong>und</strong>ungen oder anderen Manipulationen in seiner<br />

Sozialisation unterworfen ist.<br />

Verhängnisvoll sind vor allem narzisstische Selbst-, Ersatz- <strong>und</strong> idealisierte Objekte,<br />

die <strong>als</strong> "Idole" <strong>und</strong> Ideologien (Rechts- oder Linksextremismus, "Weltanschauung",<br />

Heilslehren), <strong>als</strong> Größen- <strong>und</strong> Allmachtsphantasien oder <strong>als</strong> Weltverbesserungsideen<br />

Lücken des Selbst füllen <strong>und</strong> reparieren. Sie können, sobald sich das unfertige<br />

Individuum mit ihnen primär oder sek<strong>und</strong>är identifiziert hat, aus<br />

Selbsterhaltungsgründen nicht aufgegeben werden, ohne es zu bedrohen: durch<br />

Tendenzen der Selbstauflösung (Fraktionierung) <strong>und</strong> des Selbstverlustes<br />

(Depressivität <strong>und</strong> Depression), die in extremen Ausnahmen zu Terrorismus, Suizid<br />

oder Amok führen können (1.4., 1.5., 1.8.). Uneingeschränkt zugestimmt wird daher<br />

im Endergebnis, wenngleich unter einem anderen Blickwinkel Bernhard Sutor, der<br />

gefordert hat: "Politische Bildung im öffentlichen Schulwesen darf sich nicht einseitig<br />

einer sozial- oder politikwissenschaftlichen Theorie verschreiben, sondern muß die<br />

Pluralität der Forschungsansätze, Theoriebildungen <strong>und</strong> Aussagen beachten." 189<br />

(Selbstgesteuertes <strong>und</strong> selbstorganisiertes <strong>Lernen</strong>), 61ff. (Lerngesellschaft), 98ff. (Literaturangaben).<br />

188<br />

Hartwig Ihlenfeld: Pflicht <strong>und</strong> Recht zum Besuch öffentlicher Schulen nach deutschem B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />

Landesrecht. Hamburg 1971. Seite 83.<br />

189<br />

Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Ein Beitrag zur Wiedergewinnung eines<br />

Minimalkonsenses im Streit um den Politikunterricht. Hannover 1976. Seite 106. - Das<br />

Überwältigungs- oder Indoktrinierungsverbot wurde 1976 <strong>als</strong> 1.Punkt im Beutelsbacher Konsens<br />

verankert; vgl. dazu Siegfried Schiele <strong>und</strong> Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der<br />

politischen Bildung. Stuttgart 1977.<br />

177


Dieser didaktische Leitsatz Sutors ist eine conditio sine qua non der Neuen<br />

Politischen Bildung (NPB).<br />

Bis zu meinem 65. Lebensjahr hatte ich Bernhard Sutor (Mainz, dann Eichstätt) in<br />

meinen Lehrveranstaltungen nicht nur <strong>als</strong> "konservativen" Interpreten der politischen<br />

Bildung vorgestellt, sondern <strong>als</strong> "Reaktionär" angeprangert <strong>und</strong><br />

"Gesellschaftsveränderungen" gefordert. Die Arbeit an der D-Dok. hat einen<br />

Lernprozess ausgelöst <strong>und</strong> einen Gesinnungswandel herbeigeführt, so dass ich jetzt,<br />

gemessen an meinen früheren Kategorien, selbst zum "Reaktionär" geworden bin.<br />

Mittlerweile meide ich solche Klassifikationen. Ich kann nicht ausschließen, dass es<br />

sich um eine Alterserscheinung handelt, der ich zum Opfer gefallen bin.<br />

Wenn ich die Kontroversen zur politischen Bildung Revue passieren lasse <strong>und</strong> in<br />

ihnen nachlese, sehe ich vieles unter einem neuen Blickwinkel <strong>und</strong> finde<br />

ausgerechnet bei Sutor Berührungspunkte zur hier vorgestellten Neuen Politischen<br />

Bildung (NPB): in seiner politischen Anthropologie, die sich am Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

orientiert, ohne es zu dogmatisieren; in seinen Forderungen nach einem breiten<br />

Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Fachwissen mit Fähigkeiten "zur Synopse <strong>und</strong> Reduktion des Vielfältigen<br />

auf das Gr<strong>und</strong>legende"; in seinem Respekt vor der Schülerpersönlichkeit, die<br />

gebiete, auf die autoritäre Steuerung von Lernprozessen, die nicht zu erzwingen<br />

seien, zu verzichten; in seiner Utopie vom "wahren Wesen" des Menschen, dem<br />

Politik dienen soll u.a. Sutor geht - anders <strong>als</strong> ich - vom "Gemeinwohl" <strong>und</strong> der<br />

aristotelisch-christlichen Sozialphilosophie (bonum commune) aus, <strong>und</strong> wenn er auch<br />

gelegentlich moralisiert, was zu den Berufskrankheiten von Didaktikern gehört, so<br />

präsentiert er doch stets ein materialreiches, sorgfältig belegtes, nirgends<br />

geschlossenes, allgemein verbindliches Konzept von Normen, Inhalten <strong>und</strong> Zielen, er<br />

wägt Pro <strong>und</strong> Contra ab - kurzum er ist offen <strong>und</strong> tolerant, nicht doktrinär, er<br />

missioniert nicht, er verkündet keine Heilslehren, <strong>und</strong> dies <strong>als</strong> Professor für Didaktik<br />

der Sozialk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> christliche Soziallehre an der Katholischen Universität Eichstätt!<br />

Dies korrespondiert mit seiner didaktischen Zielsetzung, zur politischen<br />

gewissenhaften Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> Beteiligung durch "möglichst<br />

unvoreingenommene Information" beizutragen. 190<br />

Die 68er-Didaktiker hatten nicht unvoreingenommene Information, sondern<br />

unrealistische "Gesellschaftsveränderung" auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sollte<br />

nach Hermann Giesecke, der seine innovative Konfliktdidaktik seit der 7. Auflage<br />

190 Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Seiten 64, 77f.,106f., 110f., 112f. Vgl. dazu<br />

auch Bernhard Sutor: Didaktik des politischen Unterrichts. Eine Theorie der politischen Bildung.<br />

Paderborn 1971. Vor allem Seiten 56ff. (Gemeinwohl), 106ff. (Demokratieverständnis); Politik. Ein<br />

Studienbuch zur politischen Bildung. Paderborn 1974. Vor allem Seiten 35ff. (Anthropologische<br />

Voraussetzungen), 51ff. (Gemeinwohl), 62ff. (Ideologie). Neubearbeitung <strong>als</strong>: Neue Gr<strong>und</strong>legung<br />

politischer Bildung. 2 Bände. Paderborn 1984. Zu den Kontroversen der 70er <strong>und</strong> 80er Jahre aus der<br />

Sicht Sutors: Politische Bildung im Streit um die "intellektuelle Gründung" der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

<strong>Deutschland</strong>. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 45 vom 11. November 2002. Seiten 17 - 27.<br />

178


(1972) an die Kritische Theorie angepasst hatte, in den politischen Bildungsprozess<br />

"einprogrammiert" werden, <strong>und</strong> Ernst-August Roloff sah in der "Würde des<br />

Menschen" nach dem Gr<strong>und</strong>gesetz einen uneingelösten Erziehungsauftrag: "Abbau<br />

von Herrschaft (Fremdbestimmung) <strong>und</strong> zunehmende Selbstbestimmung<br />

(Emanzipation)." 191 In Schwarz-Weiß konfrontiert Roloff zwei "Lager", zwischen<br />

denen Multiplikatoren nicht frei auswählen könnten, sondern sich gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

entscheiden müssten: "Entweder Behrmann, Sutor, Maier, Hennis, Assel, Andreae<br />

usw. oder Giesecke, Mollenhauer, Schmiederer, Hilligen, Fischer, von Friedeburg,<br />

von Oertzen u.a." 192 Ignoriert wird, dass zwischen diesen dualistisch-manichäistisch<br />

sortierten Interpreten der politischen Bildung beträchtliche, teilweise f<strong>und</strong>amentale<br />

Unterschiede bestehen.<br />

Während Giesecke <strong>und</strong> Roloff beanspruchen, unerfüllte Gebote des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

einzufordern, gehen antagonistisch-marxistische Ansätze weit darüber hinaus: Rolf<br />

Schmiederer unterscheidet im "spätkapitalistischen" System zwischen Herrschenden,<br />

die den Status quo zementieren <strong>und</strong> Schule dafür instrumentalisieren, <strong>und</strong> den<br />

Unterdrückten/Beherrschten, die ihn verändern wollen. Hans-Jochen Gamm,<br />

Johannes Beck u.a. diagnostizieren eine Erziehung in der "Klassengesellschaft",<br />

fordern eine "Kritische Schule" mit "Herrschaftsabbau", "Demokratisierung",<br />

"Schülerkollektiv", die Abschaffung der Pädagogik im Interesse der "unterdrückten"<br />

Schüler u.v.a. mehr. 193<br />

Was haben die Erziehungs- <strong>und</strong> Weltverbesserungsideen konkret verändert? Sie<br />

haben einen Sturm im Wasserglas ausgelöst, die politische Bildung radikalisiert,<br />

Hoffnungen geweckt <strong>und</strong> Illusionen genährt - aber geendet haben sie in<br />

Frustrationen, in der Bildungsmisere <strong>und</strong> im Katzenjammer. Die auf "Emanzipation"<br />

<strong>und</strong> "Chancengleichheit" programmierten Uhren sind längst auf den Rückwärtsgang<br />

geeicht. In keinem anderen vergleichbaren Industriestaat gibt es weltweit weniger<br />

Chancengleichheit <strong>als</strong> in <strong>Deutschland</strong>, hängen Bildung <strong>und</strong> Beruf so vom sozialen<br />

Status ab (1.6. <strong>und</strong> 1.7.). So war es, <strong>und</strong> so ist es heute noch. Soll es so bleiben?<br />

Die weltpolitischen Veränderungen der Jahre 1989/1990 haben Versatzstücke der<br />

Kritischen Theorie mit in den Abgr<strong>und</strong> gerissen, soweit sie den Marxismus,<br />

wenngleich noch nicht oder nur teilweise die abgestandene Psychoanalyse Freuds<br />

191<br />

Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik. Band 1:<br />

Sozialwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen. 2. Auflage Göttingen 1972. Seite 127.<br />

192<br />

Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Band 2: Didaktische Beispielanalysen für die<br />

Sek<strong>und</strong>arstufe I. Göttingen 1974. Seite 159.<br />

193<br />

Rolf Schmiederer: Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie <strong>und</strong> Didaktik des<br />

politischen Unterrichts. Frankfurt a. M. 1971. Seiten 9, 41 (Gemäßigt heißt es hier, politische Bildung<br />

solle Voraussetzungen schaffen für die Selbstbestimmung <strong>und</strong> Selbstverwirklichung des Menschen in<br />

der Demokratie), 32ff. (Zielsetzungen ); Hans-Jochen Gamm: Kritische Schule. Eine Streitschrift für<br />

die Emanzipation von Lehrern <strong>und</strong> Schülern. München 1970; Ders. (Hrsg.): Erziehung in der<br />

Klassengesellschaft. München 1972; Johannes Beck u.a. (Hrsg.): Erziehung in der<br />

Klassengesellschaft. München 1970.<br />

179


etreffen. Dieser Wandel scheint an den 68er-Didaktikern vorübergegangen zu sein.<br />

Die von ihnen versprochene, bei Habermas entlehnte Qualifikation "Ideologiekritik"<br />

(4.5.) gilt nicht für die eigenen Ideologien, sondern nur für fremde. Daher ablehnen<br />

sie ab, ihre Theorien auf den Prüfstand zu stellen, sie zu evaluieren oder sich von<br />

ihnen zu "emanzipieren". Ideologisch sind die anderen, nicht sie selbst.<br />

Annette Kuhn bekennt sich in ihrer Autobiographie nach wie vor zu ihrer<br />

Geschichtsdidaktik: "Meine Einführung drückt für mich noch heute meine<br />

fachdidaktische Gr<strong>und</strong>position aus, die ich mit anderen Kollegen der 68er-Bewegung<br />

teilte." 194 Die "Emanzipation" von der Frankfurter Schule ist <strong>als</strong>o nicht gelungen. Kuhn<br />

hinterlässt eine "feministische" Frauengeschichte mit theoretischen Versatzstücken<br />

aus 2. <strong>und</strong> 3. Hand. Ob sie Frauen wirklich hilft, zu ihren Quellen <strong>und</strong> damit zu ihrer<br />

Identität zu finden? Damit Frauen nicht nur sich sehen, sondern sich auch selbst<br />

besser wahrnehmen? Tua res agitur (3.5.). Und ist es nicht so, dass didaktische<br />

Konzepte oft mehr über ihre Urheber/innen unbeabsichtigt preisgeben, <strong>als</strong> ihr<br />

Gegenstand erahnen lässt? Dies gilt auch für dieses Begleitbuch zur D-Dok.<br />

Veränderungen schreibt auch die Neue Politische Bildung (NPB) auf ihre Fahnen,<br />

allerdings unter einem anderen Vorzeichen <strong>als</strong> die 68er-Didaktiker. Veränderungen<br />

der Gesellschaft <strong>und</strong> von anderen zu fordern, ist leicht, aber es ist schwer, sich<br />

selbst zu ändern: im Stillen, im Kleinen, im Selbst. Unter dieser Umkehrfunktion geht<br />

es in der Demokratie <strong>und</strong> in der Teilhabe an ihr um das lebenslange <strong>Lernen</strong>: sich zu<br />

suchen <strong>und</strong> zu finden auf dem Weg zu sich selbst im Hier <strong>und</strong> Jetzt. Dazu können<br />

Geschichte <strong>und</strong> Politik dienen, Neue Politische Bildung (NPB) kann dazu verhelfen.<br />

Ist es eine Utopie?<br />

Vielleicht auch ein Traum?<br />

Eine Sehnsucht?<br />

Eine Vision?<br />

Aber ist es deshalb eine Ideologie?<br />

Eine Doktrin?<br />

Eine Illusion?<br />

Oder ein Trauma?<br />

Friedrich Engels hat 1888 die Thesen über Feuerbach aus dem Nachlass von Karl<br />

Marx (geschrieben im Frühjahr 1845) <strong>als</strong> "genialen Keim der neuen<br />

Weltanschauung" überarbeitet herausgegeben. 195 Sie haben die Welt verändert, aber<br />

194 Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in <strong>Deutschland</strong>. Berlin 2003.<br />

Seiten 156ff., zit. 162. - Theoriebasis für Kuhns Frauengeschichte ist ihre Geschichtsdidaktik, vgl.<br />

Seiten 164ff., vor allem 173. Aus Intoleranz wurde Frauengeschichte <strong>als</strong> Prüfungsthema an der<br />

Universität Bonn vom Prüfungsamt meistens abgelehnt.<br />

195 Im Anhang zu seiner Schrift: Ludwig Feuerbach <strong>und</strong> der Ausgang der klassischen deutschen<br />

Philosophie (1888). Berlin 1970. Seite 73f. Abgedruckt in: Marx-Engels Werke. Band 3. Berlin 1969.<br />

Seiten 533-535. Vgl. Seiten 5ff. <strong>und</strong> MEW Band 21. Seite 264. Siehe auch Ernst Bloch:<br />

Weltveränderung oder Die elf Thesen von Marx über Feuerbach. In: Das Prinzip Hoffnung (1954).<br />

Berlin 1960. Seiten 270 - 312.<br />

180


nicht die Menschen. "Die Lehre von Marx" - so Lenin im März 1913 - "ist allmächtig,<br />

weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen <strong>und</strong> harmonisch, sie gibt den Menschen<br />

eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei<br />

Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt." 196 Aber<br />

gescheitert ist der Marxismus, genauer der Marxismus-Leninismus nicht an<br />

Kapitalismus <strong>und</strong> Bürgertum, nicht an Aberglauben <strong>und</strong> "Reaktion", nicht an Krieg,<br />

Bürgerkrieg, Hunger, Not oder Gewalt, sondern an den Menschen, die ihn abgelehnt<br />

haben. Er hat sie zeitweilig in den Bann ziehen, wie eine Religion faszinieren, aber<br />

nicht dauerhaft für sich gewinnen können.<br />

Lag dies nicht schon in der Logik der berühmten letzten 11. These über Feuerbach<br />

begründet? Sie lautet: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert;<br />

es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Marx hatte sie von den übrigen Thesen<br />

durch einen horizontalen Strich getrennt, um vermutlich ihre Schlüsselstellung<br />

hervorzuheben. Aber gefordert hatte er in seiner Schlussfolgerung nur, die Welt zu<br />

verändern, nicht jedoch von den Menschen, sich mit ihr <strong>und</strong> in ihr zu ändern. Dies<br />

hat sich <strong>als</strong> verhängnisvolle Fehlleistung erwiesen.<br />

Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />

an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen gelingt<br />

(<strong>Quellenarbeit</strong>), verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />

Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />

196<br />

Wladimir Iljitsch Lenin: Drei Quellen <strong>und</strong> drei Bestandteile des Marxismus (März 1913). In: Werke.<br />

Band 19. Berlin 1977. Seiten 3 - 9, zit 3.<br />

181


7. Adressen für die Praxis I: Schulische <strong>und</strong><br />

außerschulische politische Bildung<br />

Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, Sek<strong>und</strong>arbereiche I<br />

<strong>und</strong> II sowie Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

Als größte <strong>und</strong> umfassendste digitale Quellenbibliothek zu <strong>Deutschland</strong> nach 1945<br />

bietet die D-Dok. fünfsprachige Informationen erster Hand von fast astronomischem<br />

Ausmaß an. Sie dienen <strong>als</strong> Rohstoff für mögliches Wissen, sind aber noch kein<br />

Wissen. Um es mit anderen Worten noch einmal zu wiederholen: Die Entwicklung<br />

von Wissen <strong>und</strong> die von ihm abhängige Wissensgesellschaft im Informationszeitalter<br />

(1.1. <strong>und</strong> 2.6.) setzen Informationen <strong>als</strong> Rohstoff voraus.<br />

Erst wenn Menschen mit der DVD-Datenbank arbeiten <strong>und</strong> ihre Informationen<br />

verarbeiten, entsteht aus Rohstoff <strong>als</strong> möglichem Wissen lebendiges Wissen: durch<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Recherchen, durch die Sammlung <strong>und</strong> Selektion von<br />

Informationen, durch Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess zwischen "Fremdheit <strong>und</strong><br />

Vertrautheit" (Gadamer), vielleicht auch durch Hypothesenbildung <strong>als</strong> Verknüpfung<br />

tendenziell-approximativer Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen.<br />

Gemäß ihrem Selbstverständnis <strong>als</strong> Datenbank für die fächerübergreifende politische<br />

Bildung <strong>und</strong> den Schwerpunkt, den sie setzt, wendet sich die digitale<br />

Quellenbibliothek vornehmlich an Lehrer/innen der allgemein bildenden Schulen.<br />

7.1. Zielgruppe <strong>als</strong> Schwerpunkt: Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer an allgemein<br />

bildenden Schulen<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer sind faul. Sie arbeiten nur halbtags <strong>und</strong> haben auch noch<br />

viel zu viele Ferien. Im öffentlichen Dienst brauchen sie sich um ihre "Jobs" nicht zu<br />

sorgen. Sie feiern deshalb oft krank <strong>und</strong> werden für das, was sie leisten, auch noch<br />

sehr gut bezahlt.<br />

So etwa lauten verkürzt gängige Parolen, die über Lehrer/innen in der Öffentlichkeit -<br />

nicht nur an Stammtischen - kursieren. Politiker haben mit dazu beigetragen, das<br />

ohnehin ramponierte Lehrerimage zusätzlich zu schädigen. So soll der damalige<br />

niedersächsische Ministerpräsident <strong>und</strong> jetzige B<strong>und</strong>eskanzler Schröder (SPD)<br />

erklärt haben, Lehrer seien "faule Säcke", <strong>und</strong> der Vorsitzende der CDU-<br />

Landtagsfraktion Baden-Württemberg Günther H. Oettinger behauptete, Lehrer über<br />

182


50 seien "faule H<strong>und</strong>e". 197 Wie kann man von einer Berufsgruppe Leistung <strong>und</strong><br />

Engagement erwarten, wenn man sie so gesellschaftlich, politisch <strong>und</strong> häufig auch<br />

administrativ diskriminiert <strong>und</strong> abwertet? Und wie sollen so kollektiv abqualifizierte<br />

Lehrer/innen ihr narzisstisches Selbstwertgefühl im Gleichgewicht halten? Über die<br />

Hälfte von ihnen fühlt sich nicht nur beruflich belastet oder überfordert, ein gutes<br />

Drittel von ihnen hat bereits resigniert - mit steigender Tendenz.<br />

Die 3. TIMMS (Third International Mathematics and Science Study)-Studie hatte<br />

schwerwiegende Mängel offen gelegt, weil deutsche Schulen neben<br />

Spitzenleistungen einen überproportional hohen Anteil "sehr leistungsschwacher"<br />

Schüler im Vergleich zu Nachbarländern aufgewiesen haben. 198 Dennoch vollzog sich<br />

erst im Zeichen des PISA-Schocks <strong>und</strong> des Lehrermangels ein Umdenken. So hat<br />

NRW-Schulministerin Ute Schäfer (SPD) jetzt eine Image-Kampagne für den<br />

Lehrerberuf gestartet. Referendare <strong>und</strong> Referendarinnen für Haupt-, Real- <strong>und</strong><br />

Berufsschulen erhalten Sondereinstellungstermine für den Vorbereitungsdienst.<br />

Die Realität sieht anders aus <strong>als</strong> die über Lehrer/innen verbreiteten Zerrbilder,<br />

wenngleich sie auch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Nur 9,4% der Lehrer/innen an<br />

allgemein bildenden Schulen halten bis zum 65. Lebensjahr <strong>als</strong> normalem<br />

Renteneintrittsalter durch. 36,2% gehen in den vorzeitigen Ruhestand, u. a. wegen<br />

Schwerbehinderung, aber 54,3% werden wegen Dienstunfähigkeit frühpensioniert. 199<br />

Darunter befinden sich zweifelsohne viele schwarze Schafe <strong>und</strong> auch "faule Säcke"<br />

(Gerhard Schröder). Sie missbrauchen ihren Beamtenstatus oder nutzen<br />

Sonderrechte des öffentlichen Dienstes aus, während die engagierten Lehrer/innen<br />

sich aufreiben, überfordern <strong>und</strong> so Opfer ihrer selbst werden. Leistung <strong>und</strong><br />

Motivation lohnen sich im deutschen Schulsystem meistens nicht <strong>und</strong> führen zum<br />

Burnout-Syndrom. Wer computergestützten Unterricht wagt, muss häufig befürchten,<br />

von den PC-Analphabeten, wenn sie im Kollegium in der Überzahl sind, gemobbt zu<br />

werden.<br />

Fast die Hälfte der deutschen Lehrer/innen ist um die 50 Jahre alt. Diese<br />

Überalterung bedeutet nicht, dass sie deshalb schlechter unterrichten <strong>als</strong> ihre<br />

jüngeren Kollegen/innen - obwohl ihnen dieses Vorurteil anhaftet. 200 Zutreffend ist<br />

197 Schröder in einem umstrittenen Interview mit der Schülerzeitung "Die Wühlmaus" des Zevener St.-<br />

Viti-Gymnasiums. Schröder korrigierte <strong>und</strong> entschuldigte sich später. Die Staatsanwaltschaft<br />

Verden/Aller hat das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt, da es sich um keinen strafrechtlichen<br />

Fall einer Beleidigung oder einer Volksverhetzung handele (Berliner Zeitung vom 16. Juni <strong>und</strong> 20. Juli<br />

1995). Zur Äußerung Oettingers vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. März 1999.<br />

198 Wilfried Bos <strong>und</strong> Jürgen Baumert: Internationale Schulleistungsforschung <strong>als</strong> Instrument externer<br />

Evaluation des Bildungswesens in <strong>Deutschland</strong> am Beispiel von TIMMS/III. In: Bernhard von<br />

Rosenbladt (Hrsg.): Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im<br />

Bildungssystem. Münster/München u.a. 1999. Seiten 63 - 92, zit. 89.<br />

199 Klassenkrampf. Warum Lehrer <strong>und</strong> Schüler versagen. In: Der Spiegel Nr. 46 vom 10. November<br />

2003. Seiten 46 - 68, zit. Zahlenangaben 47. Das durchschnittliche Pensionsalter liegt bei 59 Jahren.<br />

200 Stephan Lüke: Schulklima wichtiger <strong>als</strong> Lehrer-Alter. Fast die Hälfte aller Lehrer in Nordrhein-<br />

183


aber, dass ältere Lehrer/innen eher Frontalunterricht praktizieren <strong>als</strong> jüngere <strong>und</strong><br />

weniger aufgeschlossen sind für neue, offene oder alternative Lernmethoden. Wenn<br />

sie auch vornehmlich traditionell "lehren": Können sie deshalb nichts Neues "lernen"?<br />

Als ich einen Workshop über mein Projekt "<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation" am 6./7.<br />

Juni 2002 vorbereitete <strong>und</strong> Lehrer/innen allgemein bildender Schulen in Bonn dazu<br />

einlud, hagelte es Absagen. Das hatte ich nicht erwartet. Ich bat Schulleiter/innen<br />

telefonisch um Unterstützung <strong>und</strong> stieß bei Gymnasien <strong>und</strong> Gesamtschulen auf<br />

offene Ohren, jedoch bei Re<strong>als</strong>chulen <strong>und</strong> vor allem Gr<strong>und</strong>schulen auf fre<strong>und</strong>liche,<br />

aber deutliche Vorbehalte gegenüber computergestütztem Unterricht. Ich nahm nach<br />

alten Teilnehmerlisten meiner Seminare mit ehemaligen Lehramtsstudierenden<br />

Kontakt auf: Sie waren zwar nicht arbeitslos, aber zwei von ihnen schon<br />

frühpensioniert. Andere jammerten über ihren beruflichen Stress <strong>und</strong> ihre<br />

Krankheiten. Und die restlichen fragten mich, ob sie auf dem Workshop etwas<br />

vortragen müssten, wenn sie teilnähmen, weil sie keine Zeit hätten, sich darauf<br />

vorzubereiten.<br />

Ich brachte am 6./7. Juni 2002 nach vielen Telefonaten zwar 38 Teilnehmer/innen<br />

zusammen, darunter engagierte Gymnasiallehrer/innen aus Bonn <strong>und</strong> Leipzig, aber<br />

die Real- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schullehrer/innen hatten abgesagt, oft in letzter Minute. Von den<br />

bei mir früher Studierenden kamen nur jene, die in die Schulaufsicht <strong>und</strong> in<br />

Schulbuchverlage gegangen waren, aber keine Lehrer/innen - trotz meines<br />

Angebots, die Reise- <strong>und</strong> Übernachtungskosten zu tragen.<br />

Offensichtlich stimmt die statistische Faustregel, die besagt, dass nur etwa 10 bis<br />

maximal 15% aller deutschen Lehrer/innen aufgeschlossen für Innovationen sind <strong>und</strong><br />

davon wiederum nur etwa die Hälfte auch tatsächlich fähig, sie von der Theorie in die<br />

Praxis umzusetzen. Diese 5 - 7% reduzieren sich nochm<strong>als</strong> auf jene wenigen<br />

Lehrer/innen, die bereit sind, sich außerhalb der Laufbahnregeln <strong>und</strong><br />

St<strong>und</strong>endeputate des öffentlichen Dienstes zu engagieren - <strong>als</strong> Realisten, Träumer<br />

<strong>und</strong> Utopisten zugleich. Es ist eine verschwindende Minderheit. Wo <strong>und</strong> wie sind<br />

einzelne Lehrer/innen in ihr zu finden?<br />

Könnte <strong>und</strong> müsste im Zeitalter des Internets nicht gelingen, neben deutschen auch<br />

ausländische Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen für <strong>Quellenarbeit</strong> zu gewinnen, damit sie<br />

internationalisiert wird? Dazu dienen die folgenden Aufrufe in den fünf Sprachen der<br />

Datenbank. Sie werden zugleich auf der Webseite der D-Dok. (www.d-dok.de)<br />

veröffentlicht.<br />

Ausländische Hilfe ist auch deshalb geboten, weil in <strong>Deutschland</strong> derzeit<br />

Historytainment <strong>und</strong> Politainment Hochkonjunktur haben, aber keine Geschichte <strong>und</strong><br />

politische Bildung. <strong>Quellenarbeit</strong>, wie sie hier vertreten wird, ist das Gegenteil von<br />

Westfalen hat ihren 50. Geburtstag hinter sich. In: General-Anzeiger vom 25. März 2004. Seite 5.<br />

184


Historytainment, das Geschichte mit Unterhaltung vermarktet, das Gegenteil von<br />

Politainment, das Politik multimedial inszeniert, <strong>und</strong> die D-Dok. ist das Gegenteil<br />

jener aufwändigen, populären „Dokumentationen“, die tagtäglich über die deutschen<br />

Bildschirme flimmern.<br />

Wenn Sie eine Sprache können, gleichgültig welche, die in den folgenden Aufrufen<br />

nicht berücksichtigt ist, dann bitte ich Sie, das deutschsprachige Original zu<br />

übersetzen, die Übersetzung mit Ihrem Namen, Land <strong>und</strong> Wohnort zu versehen <strong>und</strong><br />

<strong>als</strong> Dateianlage zu einer E-Mail an h.lehmann@uni-bonn.de zur Veröffentlichung auf<br />

der Webseite kostenlos freizugeben.<br />

7.2. Aufruf an Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland: Deutsch -<br />

Englisch - Französisch - Spanisch - Türkisch<br />

Deutsch (Originaltext)<br />

An Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland<br />

Aufruf zur <strong>Quellenarbeit</strong><br />

Können Sie sich vorstellen, Ihren Unterrichtsstil <strong>und</strong> Ihre damit verb<strong>und</strong>enen Lern-<br />

<strong>und</strong> Lehrgewohnheiten quellenkritisch zu überprüfen, zu ändern <strong>und</strong> damit vielleicht<br />

auch sich selbst?<br />

Sind Sie neugierig <strong>und</strong> deshalb motiviert, weitgehend selbstbestimmt lebenslang <strong>und</strong><br />

neu zu lernen?<br />

Sind Sie bereit, die neuen Medien in Ihr <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> damit in Ihren Unterricht zu<br />

integrieren?<br />

Falls ja, dann könnten <strong>und</strong> sollten Sie <strong>Quellenarbeit</strong> in einem Ihrer Unterrichtsfächer<br />

erproben, evaluieren <strong>und</strong> daraus die emotionalen, logischen <strong>und</strong> praktischen<br />

Konsequenzen ziehen.<br />

Allume!<br />

Allumage prématuré?<br />

Allumage raté?<br />

Retard à l'allumage?<br />

Allumé?<br />

185


Englisch (Übersetzt von Berenike N. J. Oesterle, D-50939 Köln)<br />

To the Teachers in the Interior and Exterior<br />

Proclamation to Work with Source Material<br />

Can you imagine to change your way of teaching, your learning-methods and maybe<br />

even yourself by source material research?<br />

Are you curious and highly motivated to study your way a life long and by new<br />

means?<br />

Are you willing to incorporate the new media in your lessons?<br />

So you could and should make source material research part of one of your classes<br />

and draw the emotional, logic and practical conclusions based upon the learning<br />

experience.<br />

Allume!<br />

Allumage prématuré?<br />

Allumage raté?<br />

Retard à l’allumage?<br />

Allumé?<br />

Französisch (Übersetzt von Dr. Alexander Behrens, D-53175 Bonn)<br />

Aux instituteurs et institutrices<br />

en Allemagne et à l’étranger<br />

Proclamation pour l’étude des sources<br />

Pensez-vous de temps en temps à la possibilité de changer votre style<br />

d’enseignement ainsi que les habitudes qu’avez vous prises en tant qu’élève et<br />

instituteur? Pratiquez-vous dans ce contexte l’étude des sources? Pensez-vous de<br />

temps en temps à la possibilité de changer peut-être vous-même?<br />

Avez-vous assez de curiosité et de motivation pour apprendre pendant tout la vie et<br />

d’une façon indépendante et neuve?<br />

Est-ce que vous êtes prêt à intégrer les "nouveaux médias" dans vos méthodes<br />

d’apprendre et d’enseigner?<br />

186


Si la réponse est oui: éprouvez et évaluez les possibilités qui s’ouvrent à l’école par<br />

l’étude des sources. Il faut en tirer les conséquences logiques, émotionnelles et<br />

pratiques.<br />

Allume!<br />

Allumage prématuré?<br />

Allumage raté?<br />

Retard à l’allumage?<br />

Allumé?<br />

Spanisch (Übersetzt von Berenike N. J. Oesterle, D-50939 Köln)<br />

A los profesores y profesoras en el interior y el exterior<br />

Proclamación para trabajar con fuentes<br />

¿Pueden imaginarse cambiar su estilo de dar clases y através del estudio de las<br />

fuentes también examinar y modificar su hábito de aprender y enseñar y así talvez<br />

también su mismo?<br />

¿Están curiosos y por eso motivados a aprender autodeterminadamente y para toda<br />

su vida de una manera nueva?<br />

¿Están dispuestos de integrar los medios nuevos en su estilo de enseñar?<br />

Entonces podrían y deberían integrar el estudio de las fuentes en una de sus<br />

asignaturas y con respecto a los resultados sacar las consecuencias emocionales,<br />

lógicas y prácticas.<br />

Allume!<br />

Allumage prématuré?<br />

Allumage raté?<br />

Retard à l’allumage?<br />

Allumé?<br />

Türkisch (Übersetzt von Asiye Öztürk M. A., D-53121 Bonn)<br />

Yurtiçinde ve yurtdışındaki bütün öğretmenlere çağrı<br />

Tarihi kaynaklarımızla çalışalım!<br />

187


Ders verme şeklinizi ve buna bağlı olan öğrenme ve öğretme alışkanlığınızı gözden<br />

geçirip, onları ve muhtemelen kendinizi de değiştirmeyi düşünebilir misiniz?<br />

Meraklı, ve dolayısıyla özerk, sürekli ve yeniden öğrenmeye hazır mısınız?<br />

Yeni iletişim araçlarını öğrenmenize ve dersinize entegre etmeye hazır mısınız?<br />

Cevabınız evetse, tarihi kaynaklarla çalışmayı derslerinizde deneyebilir,<br />

değerlendirebilir ve ona göre mantıklı ve pratik sonuca varabilirsiniz!<br />

Allume!<br />

Allumage prématuré?<br />

Allumage raté?<br />

Retard à l'allumage?<br />

Allumé?<br />

7.3. Zwei Wege zur <strong>Quellenarbeit</strong>: Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong><br />

schulische Voraussetzungen<br />

Es gibt zwei Wege, <strong>Quellenarbeit</strong> in der Schule zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu erproben. Der<br />

erste, intellektuelle Weg erfordert Kopfarbeit, beschränkt sich somit auf<br />

fachwissenschaftliche <strong>und</strong> rationale Fähigkeiten (I. Stufe). Der zweite, steinige, meist<br />

schmerzliche Weg führt in die Tiefen des Selbst <strong>als</strong> Variable emotional-körperlicher<br />

Fähigkeiten (II. Stufe). Diese unterscheiden sich gr<strong>und</strong>legend vom Denken, hängen<br />

aber mit ihm zusammen; denn es wurzelt in frühkindlichen Gefühlen <strong>und</strong> entstammt<br />

somit dem "Bauch". Auch Kinder sind keine Kopfgeburten, sondern Bauchgeburten.<br />

Sie entstehen im Unterleib <strong>und</strong> kommen aus dem Unterleib.<br />

Nach dem mehrfach zitierten englischen Kinderpsychologen Winnicott, der neben<br />

René A. Spitz ("Vom Säugling zum Kleinkind", 1965) gr<strong>und</strong>legende Beiträge zur<br />

primären Sozialisation geliefert hat, ist es ebenfalls einem britischen Psychiater <strong>und</strong><br />

Verhaltensforscher gelungen, den Einfluss der Gefühle auf die Entwicklung des<br />

Gehirns <strong>und</strong> auf das menschliche Denken nachzuweisen: Hatte Peter Hobson<br />

(London) früher die These verfochten, dass Autismus stets auf angeborene<br />

genetische Defekte zurückzuführen sei <strong>und</strong> so Eltern autistischer Kinder einen<br />

Freispruch erster Klasse verschafft, so vertritt <strong>und</strong> belegt er jetzt, dass frühkindliche<br />

Vernachlässigung oder angeborene Blindheit Autismus hervorrufen können. Das<br />

Innenleben der Menschen, so Hobson, spiegelt wider, was sich zwischen ihnen vor<br />

allem vorsprachlich (präverbal) abgespielt hat <strong>und</strong> verinnerlicht (introjiziert) worden<br />

188


ist. Alles menschliches Denken wurzelt daher im frühkindlichen Austausch <strong>und</strong> seiner<br />

Umwelt. 201<br />

Nicht aus angeborenen, sondern aus nachgeburtlichen familiären Gründen sind viele<br />

Kinder in ihrem Selbst so geschädigt, dass sie später in der Schule stören, versagen,<br />

desinteressiert - kurzum nicht oder nur wenig lernfähig sind. Nach Susanne Gaschke<br />

brauchen Schulen infolgedessen zusätzlich zum Fachunterricht "mehr Menschen für<br />

die Menschen, die sie erziehen", <strong>und</strong> deshalb fordert sie, die Schule müsse "einen<br />

Familienersatz organisieren". 202<br />

Wenn Familie versagt, können sie Lehrer/innen jedoch nicht ersetzen. Als "fördernde<br />

Umwelt" (Winnicott) dagegen haben sie ex post begrenzte <strong>und</strong> ergänzende<br />

Möglichkeiten, Spiegelfunktionen auszuüben (2.9.). Diese sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong><br />

identitätsstiftende Sozialisation soll jedoch nicht die Eltern oder die Familie ersetzen<br />

<strong>und</strong> damit neue Abhängigkeiten schaffen, sondern sie abschaffen: durch das<br />

lebenslange, weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong>. Endziel ist daher, den Lehrer/die<br />

Lehrerin überflüssig zu machen. Sobald sie ihren Auftrag, zum selbstbestimmten<br />

<strong>Lernen</strong> anzuleiten <strong>und</strong> zu motivieren, erfüllt haben, werden sie nicht mehr benötigt.<br />

Wer selbstorganisiert lernt, braucht weder Lehrer/innen noch Belehrungen - sie sind<br />

überflüssig geworden.<br />

Welchen der beiden vorgeschlagenen Wege Sie auswählen, um <strong>Quellenarbeit</strong> zu<br />

erproben, hängt nicht nur subjektiv von Ihnen selbst ab, sondern auch von objektiven<br />

Gegebenheiten an Ihrer Schule. B<strong>und</strong>esbildungs- <strong>und</strong> -forschungsministerin<br />

Bulmahn, die nicht für Schulen zuständig ist, bemängelt rückblickend: "Wir haben<br />

jahrzehntelang minutiös die Rahmenbedingungen des <strong>Lernen</strong>s <strong>und</strong> Lehrens in<br />

unserem Land festgelegt. Wir haben Haushaltspläne aufgestellt <strong>und</strong> Mittel verteilt,<br />

Lehrpläne <strong>und</strong> Rahmenrichtlinien vorgegeben, Ausbildungsordnungen für Lehrer <strong>und</strong><br />

Prüfungsrichtlinien für Schüler entworfen." 203 Der von ihr befürwortete Wechsel von<br />

einer Input- zu einer Output-Steuerung erfordert, "unseren Schulen endlich mehr<br />

Selbständigkeit (zu) geben. Wir müssen weg von staatlicher Gängelung, weg von<br />

einer ungeheueren Zahl von Erlassen <strong>und</strong> Verordnungen. Der Staat muss die Ziele<br />

vorgeben, doch die Schulen müssen selbst entscheiden können, wie sie diese Ziele<br />

erreichen." 204 Dies ist leicht gesagt, doch schwer umzusetzen. Außer in Diktaturen<br />

201 Peter Hobson: Wie wir denken lernen. Gehirnentwicklung <strong>und</strong> die Rolle der Gefühle.<br />

Düsseldorf/Zürich 2003. Vgl. auch die von Hobson mitverfassten Artikel: Individual Differences in<br />

Young Children's IQ: A Social-developmental Perspective; Imitation and Identification in Autism. In:<br />

Journal of Child Psychology & Psychiatry 40, 1999, Seiten 455 - 464 <strong>und</strong> 649 - 659. Siehe dazu auch<br />

die Trilogie von Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen;<br />

Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre; Die emotionale Welt des Kindes.<br />

Frankfurt a. M. 1999 - 2001.<br />

202 Susanne Gaschke: Die Keller-Kinder. Pflegefall Familie. In: DIE ZEIT vom 1. April 2004. Seite 1.<br />

203 B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn am 18. Februar 2003 über nationale Bildungsstandards <strong>als</strong> Teil eines<br />

umfassenden Qualitätsmanagementsystems für die Schulen: www. bmbf.de/pub/mr-20030218.pdf.<br />

204 Bulmahn am 13. Dezember 2002: Fördern <strong>und</strong> Fordern - Perspektiven für das deutsche<br />

189


<strong>und</strong> autoritären Regierungssystemen gab <strong>und</strong> gibt es bisher weltweit keine staatliche<br />

Bürokratie, die Lehrer/innen stärker geknebelt, bevorm<strong>und</strong>et oder gegängelt hat <strong>als</strong><br />

die deutsche. 205 Jetzt sollen sie aus der ihnen aufoktroyierten Unmündigkeit<br />

entlassen <strong>und</strong> selbstständig werden, sich an den geplanten nationalen<br />

Bildungsstandards orientieren <strong>und</strong> neue Lehr- <strong>und</strong> Lernformen entwickeln, sie auch<br />

evaluieren.<br />

Solange an Ihrer Schule Lehrpläne <strong>und</strong> Richtlinien Ihren Unterricht bevorm<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> die Schulaufsicht darüber mit Argusaugen wacht, ist das weitgehend<br />

selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an Quellen aussichtslos, weil unmöglich.<br />

Ausnahmen bestätigen diese Regel: Wenn Ihr Schulleiter bzw. Ihre Schulleiterin <strong>und</strong><br />

die Schulkonferenz Ihnen Freiräume gewähren, Unterricht offen oder frei zu<br />

gestalten (3.6.). Oder die neuen Bildungsstandards treten in Kraft, die sich darauf<br />

beschränken, fachspezifische Kompetenzen einzuführen, die mindestens vermittelt<br />

werden müssen.<br />

Ist Ihre Schule oder sind Sie selbst von Schulbüchern abhängig? Deutsche<br />

Schulbuchverlage sind häufig die Kammerdiener der Schulaufsicht. Obwohl<br />

unabhängig <strong>und</strong> finanziell gut ausgestattet, setzen sie beflissen um, was ihnen die<br />

Bildungsbürokratie vorschreibt <strong>und</strong> ihnen dann auch "genehmigt". So preist der Klett-<br />

Verlag Schulbücher in Geschichte <strong>und</strong> Politik damit an, Lehrpläne der Länder<br />

"konsequent" umzusetzen, sie speziell für sie zu entwickeln oder sie ihnen<br />

anzupassen. 206 Klett. Ich weiß, es geht auch um Geld, Umsatz <strong>und</strong> den Kotau. Aber<br />

ich weiß nicht, ob Klett weiß, dass dieser vorauseilende Gehorsam <strong>und</strong> seine<br />

einträgliche Ehrerbietung nach oben auch viele Impulse von unten, anders <strong>und</strong><br />

individuell zu unterrichten, im Keime erstickt, auch wenig dazu beiträgt, dass<br />

<strong>Lernen</strong>de sich kreativ entfalten können.<br />

Der Cornelsen-Verlag fährt mit einem aufwändigen Edutainment-Sprachprogramm<br />

Schüler/innen durch britische Landschaften — ein teurer Spaß für 74,95 Euro. 207 Die<br />

CD-ROM begleitet das Englischbuch "G 2000" für die fünfte bis zehnte Klassenstufe,<br />

Bildungswesen: www.bmbf.de/pub/mr-20021213.pdf.<br />

205 In den deutschen Ländern gibt es darüber hinaus ein Durcheinander von Lehr- <strong>und</strong> Rahmenplänen<br />

sowie von Schulstrukturen, so dass man von einem deutschen Schulsystem <strong>und</strong> der Wahrung<br />

einheitlicher Bildungs- <strong>und</strong> Lebensverhältnisse in <strong>Deutschland</strong> nicht mehr sprechen kann. Vgl.<br />

Bildungsbericht für <strong>Deutschland</strong>: Erste Bef<strong>und</strong>e (Zusammenfassung). Federführung: Deutsches<br />

Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Frankfurt a. M./Berlin 2003. Seiten 4f.<br />

206 "Erinnern <strong>und</strong> Urteilen" setzt den "bayrischen Lehrplan konsequent um"; "Geschichte <strong>und</strong><br />

Geschehen" wurde speziell für einen neuen, bald überflüssigen Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe<br />

in Baden-Württemberg entwickelt; die neu bearbeitete Reihe "Sozialwissenschaften für die<br />

Sek<strong>und</strong>arstufe II" folgt Lehrplan <strong>und</strong> Richtlinien für Nordrhein-Westfalen. Erfreulicherweise bietet der<br />

Klett-Verlag auch Quellenhefte (Quellen zur Geschichte <strong>und</strong> Politik), Übungs- <strong>und</strong> Arbeitsmaterialien,<br />

Lesebücher, Wandkarten, audiovisuelle Medien <strong>und</strong> narrative Zugänge zum Geschichtsunterricht an,<br />

die b<strong>und</strong>esweit sehr gute Unterrichtshilfen für Geschichte <strong>und</strong> Politik bieten.<br />

207 English Coach 2000 (Klasse 5-10) zum Lehrwerk English G 2000. CD-ROM WIN 95.<br />

190


jeder Ort bezieht sich inhaltlich direkt auf ein Kapitel im Schulbuch. Schulbuchverlage<br />

wollen so offensichtlich Schulbücher in das Informationszeitalter hinüberretten. Ob<br />

dies gelingt, bleibt abzuwarten. Denn Schulbücher, die "fertiges Wissen" nach<br />

Lehrplänen <strong>und</strong> Richtlinien liefern, sind nicht nur teuer, altmodisch <strong>und</strong> schon<br />

veraltet, wenn sie erscheinen, sie werden auch dann überflüssig, wenn Lehrer/innen<br />

<strong>und</strong> Schüler/innen frei sind, sich ihre Lernziele <strong>und</strong> Lerninhalte selbst zu setzen, ihre<br />

Arbeits- <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enblätter selbst zu entwerfen. Die althergebrachten Schulbücher<br />

haben dann ausgedient - nicht aber analoge <strong>und</strong> digitale Lernbücher, die Material-<br />

<strong>und</strong> Aufgabensammlungen, Lernhilfen, interaktive fehlerspezifische Rückmeldungen<br />

zum selbstständigen Üben u.a. bieten. Schulbücher, die "fertige" Meinungen<br />

verbreiten, werden so nicht abgeschafft, sie werden überflüssig.<br />

7.4. Ausstieg <strong>und</strong> Neueinstieg: Ein Alptraum oder ein archaischer Traum<br />

von großer Magie?<br />

Der zweite Weg wurzelt in den Tiefen des körperlich-emotionalen Selbst. Allerdings<br />

konfrontiert Sie dies mit den Blockaden Ihrer Seele, mit Ihren Ängsten, Abgründen,<br />

vielleicht sogar schwarzen Löchern (1.4.). Deshalb ist dieser Weg am Anfang<br />

schwer, auch riskant. Doch nur er befähigt zu einem wirklichen Neuanfang: aus der<br />

Schule auszusteigen, um neu in sie einzusteigen.<br />

Der Geschichtsdidaktiker Schulz-Hageleit hat den "Mangel an produktiver<br />

Freiheitserfahrung" offen gelegt, an dem alle guten Vorschläge, Pläne <strong>und</strong><br />

Programme bisher gescheitert sind, Schule tatsächlich zu verändern: "Wenn wir die<br />

gewohnten Bahnen der Chronologie <strong>und</strong> des Frontalunterrichts verlassen, werden<br />

Ängste ausgelöst. Diese Ängste müssen aufgenommen <strong>und</strong> bearbeitet werden,<br />

andernfalls wird es nie eine wirkliche Änderung geben." 208 Schulz-Hageleit ist, soweit<br />

ersichtlich, der einzige Didaktiker, der damit bewusst Konflikte aufdeckt, die andere<br />

unbewusst zudecken oder schönreden - mit immer wieder neuen, jedoch alten,<br />

längst gescheiterten Vorschlägen, Bildung <strong>und</strong> Schule in <strong>Deutschland</strong> zu<br />

reformieren. Frontalunterricht ist zwar seit langem verpönt, aufreibend, kräftezehrend<br />

<strong>und</strong> ineffizient — er gewährt aber auch Sicherheit <strong>und</strong> Schutz: Wer vorn im<br />

Mittelpunkt steht <strong>und</strong> belehrt, bestimmt <strong>und</strong> entscheidet allein darüber, was, wie <strong>und</strong><br />

warum - meist unreflektiert - gelehrt wird, kann sich auch darauf vorbereiten.<br />

Vom Baum der Erkenntnis nicht nur in der Evaluation, sondern auch in der<br />

EVAluation gegessen <strong>und</strong> deshalb seine "Unschuld" verloren hat der Schweizer<br />

208 Peter Schulz-Hageleit: Geschichtsdidaktik <strong>und</strong> Psychoanalyse oder Mea Res Agitur? In: Hans<br />

Georg Kirchhoff: Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Bochum 1986. Seiten 147 - 174, zit. 153.<br />

Schulz-Hageleit weist auch auf "Berührungszonen zwischen Geschichte <strong>und</strong> Lebensgeschichte" hin<br />

(Seite 156).<br />

191


Strittmatter. Er listet fünf zentrale Ängste auf, die in der Evaluation <strong>und</strong> bei der<br />

EVAluation entstehen: 1. Ängste vor narzisstischen Kränkungen; 2. Ängste andere<br />

narzisstisch zu kränken; 3. Ängste vor Urteilen <strong>und</strong> Unsicherheiten; 4. Ängste vor der<br />

Unberechenbarkeit kollegialen Verhaltens <strong>und</strong> nicht zuletzt 5. Ängste vor der<br />

Unberechenbarkeit von Behörden. 209<br />

Aus persönlichen, nicht vorrangig schulischen Gründen ist vorher zu prüfen, wo<br />

emotionale Grenzen liegen: Schranken, Blockaden, Sperren, die Sie nicht<br />

überschreiten dürfen, ohne Ihr narzisstisches Gleichgewicht zu gefährden oder gar<br />

zu verlieren. Dies lässt sich in der Entspannung (z.B. auch in der Meditation, nach<br />

Yoga-Übungen, während des Autogenen Trainings ) klären, indem Sie sich<br />

angsterzeugende Vorstellungen eingeben:<br />

Sie gehen unvorbereitet in Ihre Klasse?<br />

Sie stehen vorn, wissen nicht, was Sie erwartet?<br />

Informationen verunsichern, überfordern, überfluten Sie?<br />

Schwimmen Sie?<br />

Drohen Sie zu ertrinken?<br />

Ihre Schüler/innen starren Sie an?<br />

Sie wirken hilflos <strong>und</strong> inkompetent?<br />

Was passiert jetzt?<br />

Stockt der Atem?<br />

Bricht der Angstschweiß aus?<br />

Verlieren Sie den Halt?<br />

Flüchten Sie oder halten Sie stand?<br />

Werden Sie erregt, hektisch, aggressiv, panisch, beginnen zu stottern?<br />

Schämen Sie sich, fühlen Sie sich bloßgestellt, blamiert, exhibitioniert?<br />

Oder behalten Sie einen kühlen Kopf?<br />

Wird Ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen?<br />

Drohen Ohnmacht, Selbstfraktionierung, Depersonalisation <strong>und</strong> Selbstverlust?<br />

Es ist kein Alptraum, dem Sie sich in der Entspannung ausgeliefert haben. Er kann<br />

die Realität werden, die Sie erleben, wenn Sie mit dem Internet oder mit Quellen in<br />

der Schule arbeiten.<br />

Es könnte aber auch ein Traum von großer Magie sein. Die Phantasien, die Sie dann<br />

überwältigen, machen Sie allmächtig, grenzenlos, unwiderstehlich, schwerelos,<br />

einzigartig, zeitlos, unendlich. Es ist ein "ozeanisches Gefühl" (Freud), ein<br />

archaischer Traum, keine irdische Wirklichkeit. Und doch verändert er die Realität tief<br />

209 Anton Strittmatter: "Wer in den Apfel der EVAluation beißt, verliert seine Unschuld." Über Ängste<br />

bei der Einführung von Selbstevaluation. In: Der Blick in den Spiegel. Herausgegeben von Edwin<br />

Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz. Innsbruck/Wien/München 1999. Seiten 281-284.<br />

192


greifend, weil sie ihm nicht standhalten kann. Er löst sie auf - wie im Gedicht Hugo<br />

von Hofmannsth<strong>als</strong>: 210<br />

Vom dünnen Quellenwasser aber fingen<br />

Sich riesige Opale in den Händen<br />

Und fielen tönend wieder ab in Ringen.<br />

Dann warf er sich mit leichtem Schwung der Lenden —<br />

Wie nur aus Stolz — der nächsten Klippe zu;<br />

An ihm sah ich die Macht der Schwere enden.<br />

In seinen Augen aber war die Ruh<br />

Von schlafend- doch lebendgen Edelsteinen.<br />

Er setzte sich <strong>und</strong> sprach ein solches Du<br />

Zu Tagen, die uns ganz vergangen scheinen,<br />

Daß sie herkamen trauervoll <strong>und</strong> groß:<br />

Das freute ihn zu lachen <strong>und</strong> zu weinen.<br />

Er fühlte traumhaft aller Menschen Los,<br />

So wie er seine eignen Glieder fühlte.<br />

Ihm war nichts nah <strong>und</strong> fern, nichts klein <strong>und</strong> groß.<br />

Und wie tief unten sich die Erde kühlte,<br />

Das Dunkel aus den Tiefen aufwärts drang,<br />

Die Nacht das Laue aus den Wipfeln wühlte,<br />

Genoß er allen Lebens großen Gang<br />

So sehr — daß er in großer Trunkenheit<br />

So wie ein Löwe über Klippen sprang.<br />

Cherub <strong>und</strong> hoher Herr ist unser Geist —<br />

Wohnt nicht in uns, <strong>und</strong> in die obern Sterne<br />

Setzt er den Stuhl <strong>und</strong> läßt uns viel verwaist:<br />

Doch Er ist Feuer uns im tiefsten Kerne<br />

— So ahnte mir, da ich den Traum da fand —<br />

Und redet mit den Feuern jener Ferne<br />

Und lebt in mir wie ich in meiner Hand.<br />

210<br />

Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 23f. (Ein<br />

Traum von großer Magie, Auszug).<br />

193


Brennt Ihre Schule?<br />

Sonst reden Sie mit dem Feuer <strong>und</strong> zünden Sie sie - im Traum - jetzt an!<br />

Brennt sie bis auf die Gr<strong>und</strong>mauern nieder?<br />

Oder noch besser: Sie liegt in Schutt <strong>und</strong> Asche?<br />

Dann ist Ihr archaischer Traum zu Ende <strong>und</strong> Ihre Realität beginnt: Ihre alte Schule<br />

steht unverändert wie gewohnt. Aber Sie selbst haben sich unsichtbar geändert. Aus<br />

Ihrer alten Schule sind Sie ausgestiegen <strong>und</strong> steigen jetzt in eine neue Schule ein.<br />

Sie wird nicht wieder zu erkennen sein zu Tagen, die fort sind - "für immer fort, <strong>und</strong><br />

ganz vergangen".<br />

Ihre Schule hat im Traum nicht gebrannt?<br />

Nicht brennen wollen?<br />

Obwohl Sie selbst Hand angelegt <strong>und</strong> Feuer gelegt haben?<br />

Oder haben Sie im Traum nicht daran gedacht?<br />

Vielleicht nur gezündelt?<br />

Mit dem Feuer gespielt?<br />

Das Feuer sogar gelöscht?<br />

So dass nicht Ihre Schule ab- <strong>und</strong> ausgebrannt ist, sondern Sie selbst ab- <strong>und</strong><br />

ausgebrannt sind - burnout?<br />

Dann ist nicht nur der Traum für immer zu Ende, sondern auch Ihr Feuer?<br />

Der Ofen ist aus?<br />

Es beginnt Ihr Alptraum, der kein Traum, sondern Ihre Realität in der Schule<br />

ist?<br />

Jeder Tag, jede St<strong>und</strong>e eine Qual, eine Schinderei, eine Pein?<br />

Wie lange halten Sie noch durch?<br />

Sie sind nur erschöpft, Ihre Brennvorräte noch nicht verbraucht?<br />

Oder sind Sie "fertig", am Ende?<br />

Und machen oder müssen trotzdem weitermachen?<br />

Das Geld?<br />

Ihre Familie?<br />

Ihre Versorgung? Die Pension?<br />

Ihre Kinder?<br />

Versagensgefühle?<br />

Ihre Kollegen <strong>und</strong> Kolleginnen, die Sie, wenn Sie ausfallen, vertreten - müssen?<br />

Ihre Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen, die Sie mit Ihrem Gequassel langweilen oder<br />

nerven?<br />

Ihre Krankheiten?<br />

Dienstunfähigkeit?<br />

Die Schulaufsicht?<br />

Das Ges<strong>und</strong>heitsamt? Der Amtsarzt?<br />

Ein weißer Zwerg - nur noch eine Fassade?<br />

Ein toter Stern - bereits kollabiert?<br />

194


Oder ein schwarzes Loch?<br />

Sie verschlingen <strong>und</strong> vernichten alle Energien in Ihrer Umgebung (1.3., 1.4.)<br />

<strong>und</strong> ruinieren Ihre Schule?<br />

7.5. Primarbereich: Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, insbesondere<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis des Peschel-Unterrichts <strong>und</strong> der<br />

Ganztagsgr<strong>und</strong>schule nach B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn<br />

Die wichtigste Schule für die D-Dok. ist die Gr<strong>und</strong>schule oder noch besser, die seit<br />

September 2003 neu eingeführte fakultative offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schule. Anders <strong>als</strong><br />

ich vertreten dagegen meine Mitarbeiter/innen an der Universität Bonn die<br />

Auffassung, dass die Datenbank frühestens im Sek<strong>und</strong>arbereich I verwendet werden<br />

kann, besser noch erst im Sek<strong>und</strong>arbereich II an Gymnasien in den Leistungskursen<br />

sowie danach an den Universitäten in den geistes- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen<br />

Studiengängen. Auch meine Frau, die Re<strong>als</strong>chullehrerin ist, hält für "völlig<br />

ausgeschlossen", die D-Dok. im Primarbereich irgendwie zu nutzen.<br />

Ich bleibe vorerst bei meiner These, solange sie nicht widerlegt ist: dass die<br />

Datenbank nur dann das Schulwesen verändern kann, wenn es gelingt, sie von<br />

Anfang an bereits in der Gr<strong>und</strong>schule zu verankern; falls dies misslingt, wird die D-<br />

Dok. wenig bewirken - wie so viele andere digitale Arbeits- <strong>und</strong> Lernhilfen, die sich<br />

anpreisen, aber im Endergebnis nur werbewirksame Versprechungen gemacht<br />

haben, ohne sie einzulösen. 211<br />

Die Gr<strong>und</strong>schule ist die einzige Schule, die alle schulpflichtigen Kinder erfasst statt<br />

auszusortieren — nach Leistungen, Fähigkeiten, Begabungen, nach dem sozialen<br />

Status, nach Wünschen oder Einflussnahmen von Familien oder Lehrenden. Neben<br />

dem Elternhaus ist daher die Gr<strong>und</strong>schule die wichtigste Lebens- <strong>und</strong> Lernstätte für<br />

alle Kinder ab in der Regel sechs Jahren. Sie ist darüber hinaus die einzige<br />

schulische Schnittstelle, die den frühesten Zugang zu ihren Quellen ermöglicht — an<br />

<strong>und</strong> mit ihnen, wie das Konzept der <strong>Quellenarbeit</strong> lautet.<br />

Der Troisdorfer Lehrer Falko Peschel hat vier Jahre lang eine Klasse mit "Offenem<br />

Unterricht" durch ihre Gr<strong>und</strong>schulzeit begleitet, ohne sie zu "belehren" oder über sie<br />

211 Vgl. dazu Jörg Becker: Neue Medien <strong>und</strong> Internet. Herausforderungen an die Pädagogik. In: Aus<br />

Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 50/2001. Seiten 23 - 30, zit. 23: "Stets <strong>und</strong> ständig wurde bei der<br />

Einführung jedes neuen Mediums argumentiert, dass nun die gesamte Erziehung revolutioniert werde,<br />

dass Erziehung ohne dieses neue Medium nicht mehr denkbar sei, dass die Schule gefordert sei, auf<br />

diesem Gebiet technisch <strong>und</strong> didaktisch auf- <strong>und</strong> nachzuholen - kurz, dass zur jeweils neuen Moderne<br />

dieses ebenfalls neue Medium einfach dazugehöre." Mit Recht fragt Becker danach, ob Internet auch<br />

menschliche Gr<strong>und</strong>bedürfnisse nichtmaterieller Art befriedige <strong>und</strong> ob es dazu beitrage, Identität oder<br />

Autonomie zu bewahren oder wiederzugewinnen (Seite 29).<br />

195


zu bestimmen. Der Verzicht auf einen lehrer- oder materialorientierten Unterricht<br />

gewährte den Gr<strong>und</strong>schulkindern inhaltliche <strong>und</strong> methodische Freiheiten, so dass sie<br />

ihre Lernthemen <strong>und</strong> ihre Lernwege selbst, nicht nur virtuell auswählen konnten. Er<br />

führte zu hohen, effektiven Leistungen, die offenbar auch Peschel selbst verblüfft<br />

haben.<br />

Peschel hat nicht nur ein theoretisch f<strong>und</strong>iertes, sondern zugleich auch ein<br />

praxisorientiertes Konzept vorgelegt. Lehrer/innen sind dabei Partner von Kindern,<br />

aber nicht ihre Vorgesetzten. Nach einer Bestandsaufnahme setzt er sich kritisch mit<br />

modernen Unterrichtsformen (wie z. B. Freie Arbeit, Wochenplan-, Stations-,<br />

Werkstatt- <strong>und</strong> Projektunterricht) auseinander <strong>und</strong> konkretisiert seine<br />

fachdidaktischen Vorschläge am Beispiel des Sprach-, Mathematik- <strong>und</strong><br />

Sachunterrichts in der Gr<strong>und</strong>schule. 212<br />

Ob <strong>und</strong> inwieweit die theoretischen Prämissen Peschels dem konkreten "Offenen<br />

Unterricht" entsprechen, ob Anspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit übereinstimmen, vermag ich<br />

nicht zu beurteilen, da mir hierfür die "Quellen" <strong>und</strong> die praktische Kompetenz fehlen.<br />

Gr<strong>und</strong>schullehrer <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schullehrerinnen, mit denen ich darüber gesprochen<br />

habe, haben wiederholt Zweifel am Peschel-Unterricht angemeldet <strong>und</strong> ihn <strong>als</strong><br />

theoretische Fiktion bemängelt, die mit der Wirklichkeit an Gr<strong>und</strong>schulen wenig oder<br />

nichts zu tun habe. Zwar kann ich mich dazu nicht äußern, bekenne jedoch, dass<br />

Peschels angeblich "praxiserprobtes Konzept" des Offenen Unterrichts sich gut mit<br />

der noch nicht praxiserprobten <strong>Quellenarbeit</strong> an Gr<strong>und</strong>schulen verknüpfen ließe <strong>und</strong><br />

so beide Konzepte mit- <strong>und</strong> voneinander lernen könnten.<br />

Besonderheiten gelten für die neuen Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen. B<strong>und</strong>esbildungsministerin<br />

Bulmahn hat sie am 8. September 2003 auf der "Startkonferenz zum<br />

Investitionsprogramm" in Berlin <strong>als</strong> "das größte b<strong>und</strong>esweite Schulprogramm, dass<br />

es in <strong>Deutschland</strong> je gegeben hat", vorgestellt <strong>und</strong> so charakterisiert:<br />

"An Ganztagsschulen ist mehr Zeit. Mit Ganztagsschulen können wir Ernst machen<br />

mit einer Pädagogik der Vielfalt, die das einzelne Kind mit seinen Stärken <strong>und</strong><br />

Schwächen in den Mittelpunkt stellt. Also keine Einrichtungen, wo Kinder aufbewahrt<br />

werden, sondern Schulen, wo Kinder mit Freude <strong>und</strong> Neugier lernen. Wo ihr<br />

Wissensdurst geweckt <strong>und</strong> am Leben erhalten wird. Natürlich darf die<br />

Ganztagsschule deshalb nicht einfach eine Verlängerung der üblichen Schule von<br />

fünf auf acht St<strong>und</strong>en sein. Individuelle Förderung braucht eben nicht nur einen<br />

212 Vgl. Falko Peschel: Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive <strong>und</strong> ein praxiserprobtes<br />

Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische<br />

Überlegungen. Baltmannsweiler 2002; Ders.: Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive <strong>und</strong> ein<br />

praxiserprobtes Konzept in der Evaluation. Baltmannsweiler 2003; Ders.: Hohe Fachleistungen ohne<br />

Belehrung. Ein radikales Konzept offenen Unterrichts in der Evaluation. In: Angelika Speck-<br />

Hamdan/Hans Brügelmann/Maria Fölling-Albers/Sigrun Richter (Hg.): Jahrbuch Gr<strong>und</strong>schule 4, 2003,<br />

Seiten 143-148.<br />

196


anderen Zeitrahmen, sondern erfordert auch eine andere Organisation des<br />

Unterrichts.<br />

Ganztagsschulen geben den notwendigen Freiraum für neue Unterrichtsmethoden.<br />

Sie schaffen wichtige Voraussetzungen für ein besseres <strong>Lernen</strong>. Wir müssen endlich<br />

Abschied nehmen vom <strong>Lernen</strong> im verordneten Gleichschritt, wir müssen weg vom<br />

starren 45-Minuten-Takt, weg von der alten St<strong>und</strong>enplanwirtschaft. Die<br />

Ganztagsschule ist dafür genau der richtige Ort. Hier können sich Phasen des<br />

<strong>Lernen</strong>s im Unterricht <strong>und</strong> St<strong>und</strong>en für Spiel <strong>und</strong> Freizeit ergänzen. Hier stehen<br />

Gruppenarbeit <strong>und</strong> Einzelarbeit nicht einfach unverb<strong>und</strong>en nebeneinander, sondern<br />

ergänzen sich.<br />

In unseren Kindern stecken unzählige Talente. Wir wollen die Kinder fördern <strong>und</strong><br />

ihnen die Chance geben, ihre Talente zu entdecken! In Ganztagsschulen haben<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mehr Zeit, um sich selbst <strong>neues</strong> Wissen zu erschließen <strong>und</strong><br />

das Erlernte aktiv <strong>und</strong> praktischhandelnd anzuwenden. Im Chemielabor, im<br />

Schulgarten oder in der Theater-AG, die in eigener Regie Shakespeares<br />

Sommernachtstraum aufführt. Das hilft nicht nur denen, die mit bestimmten<br />

Lerninhalten Schwierigkeiten haben, das nutzt auch den Leistungsstärkeren, die ihr<br />

Wissen einsetzen <strong>und</strong> deshalb auch weiter entwickeln können.<br />

Wer gelernt hat, sich auszutauschen <strong>und</strong> mit anderen zusammenzuarbeiten, der lernt<br />

auf ganz konkrete Weise, was es heißt, Verantwortung für sich selbst, aber auch für<br />

andere zu übernehmen. Die Ganztagsschule kann ein Rahmen sein für eigene Ideen<br />

<strong>und</strong> individuelle Interessen, für Sport <strong>und</strong> Musik, für den Umgang mit den neuen<br />

Medien in der PC-Werkstatt genauso wie für das Mitwirken an einem<br />

Naturschutzprojekt in der nahen Umgebung. Dafür muss sich die Ganztagsschule<br />

nach außen öffnen. Sie muss Sportvereinen, Musikschulen oder Elterninitiativen die<br />

Möglichkeit geben, an der Gestaltung der Schule mitzuwirken.<br />

Schulen müssen mitten im Leben stehen <strong>und</strong> in ihrem Umfeld starke Partnerschaften<br />

aufbauen. Alles andere entspricht längst nicht mehr den Anforderungen unserer<br />

Gesellschaft. Schulen müssen über ihr Schulprogramm, ihr pädagogisches Konzept<br />

oder ihre finanziellen Mittel selbst entscheiden können. Sie müssen das Recht<br />

haben, selbst zu entscheiden, mit welchen Partnern sie zusammenarbeiten wollen.<br />

Wir müssen die Schulen in die Selbständigkeit entlassen!" 213<br />

Wenn diese Zielvorstellungen nicht Wunschdenken bleiben, sondern tatsächlich<br />

umgesetzt werden sollten, dann markieren sie keinen Wandel, sondern den Bruch<br />

mit dem bisher von oben reglementierten <strong>und</strong> bevorm<strong>und</strong>eten staatlichen<br />

Schulwesen vor <strong>und</strong> seit 1945 in <strong>Deutschland</strong>. So beeindruckend das Konzept der<br />

213 Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 69 vom 8. September 2003.<br />

Dokument Nr. 69-2 (Online-Version, auch in der Dokumentation).<br />

197


Ganztagsschule ist, die auch auf die Sek<strong>und</strong>arbereiche I <strong>und</strong> II ausgedehnt werden<br />

soll: Zweifel sind vorerst aus mehreren Gründen angebracht, ob es gelingt, Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis miteinander in Einklang zu bringen:<br />

-1. Die B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> mit ihr Edelgard Bulmahn sind nicht für das Schulwesen<br />

zuständig, sie zahlen aber − das Investitionsprogramm, das mit den B<strong>und</strong>esländern<br />

abgesprochen ist, beläuft sich auf insgesamt vier Milliarden Euro;<br />

-2. Manche Kultusminister/innen bzw. Senator/innen in den B<strong>und</strong>esländern haben<br />

noch nicht begriffen, was die St<strong>und</strong>e geschlagen hat: dass es vorrangig darum geht,<br />

die ohnehin knappen staatlichen Ressourcen dort gezielt einzusetzen, wo sie am<br />

meisten nützen − in die frühestmögliche, individuelle Förderung von Kindern; denn<br />

sie sind in einem so rohstoffarmen Land das höchste Gut, das <strong>Deutschland</strong> zu bieten<br />

hat, wenn es nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft haben will; 214<br />

-3. Die von B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Landesregierungen bislang eingeleiteten <strong>und</strong><br />

versprochenen Bildungsreformen, darunter der sozialliberalen Koalition seit 1969<br />

(Chancengleichheit, Gesamtschule versus dreigliedrigem Schulsystem, Brandt:<br />

"Bildungschancen für alle"), haben nur zu politisch oder parteipolitisch motivierten<br />

schulorganisatorischen <strong>und</strong> Lehrplan-Änderungen geführt, aber zu keinem fachlichinhaltlichen<br />

oder pädagogisch-didaktischen Kurswechsel. Die Folgen: Es gibt heute<br />

kein deutsches Schulsystem, sondern nur ein Durcheinander in ihm, <strong>und</strong> in keinem<br />

anderen vergleichbaren Land entscheidet der soziale Status so vorrangig über den<br />

Bildungserfolg (1.6.);<br />

-4. Abzuwarten bleibt, ob es der für <strong>Deutschland</strong> charakteristischen<br />

Bildungsbürokratie/Schulaufsicht gelingt, Terrain <strong>und</strong> Zeit zurück zu gewinnen: durch<br />

Kommissionen, Berichte, Expertenbefragungen, interne <strong>und</strong> externe Gutachten,<br />

Erlasse, Verordnungen, "Inspektoren", reglementierte Evaluierungen. Dann dürfte es<br />

letztendlich wie bisher weitgehend beim Alten bleiben − von der doppelten Zeche<br />

214 In NRW sind im November 2003 schon 235 offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen an den Start gegangen;<br />

allerdings überwertet Schulministerin Ute Schäfer (SPD) m. E. die Zielsetzung, "die Vereinbarkeit von<br />

Familie <strong>und</strong> Beruf zu verbessern <strong>und</strong> gleichzeitig für Kinder ein attraktives Angebot in den Schulen<br />

einzurichten, mit dem ihre Fähigkeiten besser entwickelt <strong>und</strong> gefördert werden können". (GA-Interview<br />

im General-Anzeiger vom 7. November 2003. Seite 5.) Ihre Kollegin Doris Ahnen (SPD), seit Januar<br />

2004 KMK-Vorsitzende, sieht dagegen das "Geheimnis des Erfolges" der Ganztagsschulen in<br />

Rheinland-Pfalz in ihrer "Freiheit" <strong>und</strong> "Selbstständigkeit", die zugleich auch vergleichbare Standards<br />

<strong>und</strong> regelmäßige Überprüfung erfordern; vgl. GA-Interview vom 9. Januar 2004. Seite 3. Stephan<br />

Lüke: Die Ganztagsschule trägt ihre Handschrift; "In 20 Jahren ist die Ganztagsschule die Regel". In:<br />

General-Anzeiger vom 3./4. Januar <strong>und</strong> vom 9. Februar 2004. Jeweils Seite 5.<br />

Anfang September 2004 gibt es in NRW 641 Ganztagsschulen <strong>und</strong> dazu 703 mit Ganztagsangeboten;<br />

vgl. dazu <strong>und</strong> die Übersicht über die einzelnen B<strong>und</strong>esländer in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 16. September<br />

2004. Seite 83 (Jan Friedmann: Ganz ist nicht genug. Vor zwei Jahren startete die B<strong>und</strong>esregierung<br />

ihre Kampagne für Ganztagsschulen. Was ist daraus geworden? Eine Zwischenbilanz ).<br />

198


abgesehen, die der Staat nicht nur für vermeintliche "Bildungsreformen", sondern<br />

auch für eine kostspielige, teilweise überflüssige Bürokratie zu zahlen hat;<br />

-5. Ob <strong>und</strong> inwieweit durch die geplanten b<strong>und</strong>esweiten Bildungsstandards nicht<br />

wieder Lerninhalte <strong>und</strong> Lernmethoden festgeschrieben werden? Sie dürfen nur<br />

Zielvorgaben enthalten, die mindestens erreicht <strong>und</strong> regelmäßig evaluiert werden<br />

müssen;<br />

-6. Ob sich Gr<strong>und</strong>schullehrer/innen, die über die erforderliche Eigeninitiative <strong>und</strong><br />

Selbstständigkeit verfügen, finden <strong>und</strong> engagieren werden, um die neuen<br />

Ganztagsschulen mit Leben zu erfüllen? Es handelt sich nicht um eine von ihnen<br />

selbst verschuldete, sondern eine ihnen jahrzehntelang von oben aufoktroyierte <strong>und</strong><br />

verordnete Unmündigkeit. Als bislang bevorm<strong>und</strong>ete "Objekte" werden sie<br />

beträchtliche Umstellungsschwierigkeiten haben, zu selbstständigen "Subjekten" zu<br />

werden, wie die neuen Ganztagsschulen, der Offene Unterricht <strong>und</strong> auch<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> sie voraussetzen. Dies wird neue Konzepte für die Lehrer-Fort- <strong>und</strong> -<br />

Weiterbildung sowie ihre Praxis erfordern;<br />

-7. Ob Ganztagsschulen nicht nur Schulinvestitionen erleichtern, sondern vorrangig<br />

der Schulentwicklung dienen? Die Realität sieht derzeit so aus, dass viele Länder die<br />

zur Verfügung gestellten B<strong>und</strong>esgelder in erster Linie für Erweiterungsbauten,<br />

Sanierungsarbeiten <strong>und</strong> Nachmittagsbetreuungen verwenden. Daher warnt die<br />

Gewerkschaft Erziehung <strong>und</strong> Wissenschaft (GEW) vor "Halbtagsschulen mit<br />

Suppenküche <strong>und</strong> Verwahrangebot". Der Nachweis, dass Ganztagsschulen den<br />

Unterricht verändern <strong>und</strong> das <strong>Lernen</strong> an Schulen verbessern, steht noch aus.<br />

7.6. Elektronische Medien <strong>und</strong> Computer Literacy: Zielkonzepte <strong>und</strong><br />

Beispiele in der Gr<strong>und</strong>schule (1. - 4. Klasse)<br />

In der Gr<strong>und</strong>schule, vorzugsweise in den neuen Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen, lassen sich<br />

mit der D-Dok. zwei Zielkonzepte testen, die mit einigen praktischen Vorschlägen<br />

konkretisiert werden:<br />

-1. Geburtshelferdienste für die Wissensgesellschaft leisten<br />

Die elektronischen Medien, darunter TV, Computer, Internet, Handy, sind längst in<br />

die Kinderzimmer eingezogen. Spiele <strong>und</strong> Unterhaltung gelten <strong>als</strong><br />

Lieblingsbeschäftigungen: Zeichentrickserien, Gameboys, Hollywood- <strong>und</strong><br />

Actionsfilme, Daily Soaps, Casting-Shows, PC- <strong>und</strong> Videospiele, Mystery-Serien<br />

sowie nach 23 Uhr, sofern die Kinder über einen eigenen Fernseher verfügen (6 - 13-<br />

Jährige: 55% in den neuen, 28% in den alten B<strong>und</strong>esländern), auch<br />

199


jugendgefährdende Filme, darunter Gewalt- <strong>und</strong> Sch<strong>und</strong>darstellungen, vor allem an<br />

Wochenenden. Marktführer bei Kindern ist die RTL-Senderfamilie.<br />

Da exzessiver Medienkonsum für viele Kinder ein Statussymbol ist <strong>und</strong><br />

"Medienhelden" für sie Identifikationsfiguren sind, setzen sie ihre Eltern oft unter<br />

Druck, ihnen neuen Medienkitzel zu finanzieren: Consumo, ergo sum. Für diese<br />

"Medienkinder", die Walter Wüllenweber 1994 noch <strong>als</strong> "Fernsehkinder" vorgestellt<br />

hatte, gelten nicht mehr Familienangehörige, insbesondere die Eltern <strong>als</strong><br />

intersubjektive Bezugsobjekte, sondern die neuen Massenmedien sind <strong>als</strong><br />

Vergnügungs- <strong>und</strong> Bewusstseinsindustrie zu ihren narzisstischen Ersatzobjekten<br />

geworden (1.5.). Damit hängen emotionale Entwicklungsstörungen <strong>und</strong> häufig auch<br />

Schulversagen zusammen.<br />

Die informationelle Revolution (1.1.) hat somit längst im Kinderzimmer stattgef<strong>und</strong>en,<br />

allerdings außerhalb der Schule <strong>und</strong> unter einem negativen Vorzeichen. Christian<br />

Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in<br />

Hannover, spricht von "Medienverwahrlosung". Er macht sie mitverantwortlich für<br />

Schulversagen <strong>und</strong> Jugenddelinquenz. Daraus leitet er "geschlechtsbezogene<br />

Divergenzen" zwischen Jungen, vor allem bei Migranten, <strong>und</strong> den davon weniger<br />

betroffenen Mädchen ab. Pfeiffer plädiert dafür, "das für unser Land typische<br />

Missverhältnis, dass Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mehr Zeit vor ihren Fernsehern <strong>und</strong> PC-<br />

Bildschirmen verbringen <strong>als</strong> im Schulunterricht, durch eine deutliche Erhöhung der<br />

Zahl von Ganztagsschulen nachhaltig" zu verändern. 215 Sie seien vor allem für<br />

Familien hilfreich, die ihren Kindern aus finanziellen oder sonstigen Gründen<br />

nachmittags keine attraktive Alternative zur "Medienverwahrlosung" bieten könnten.<br />

Vorschlag: Stellen Sie Ihrer Gr<strong>und</strong>schulklasse die D-Dok. vor. Erforderlich dazu ist<br />

nur ein Exemplar, ein DVD-Laufwerk <strong>und</strong> ein Beamer, der den Bildschirm für alle<br />

sichtbar auf eine Wand oder Leinwand projiziert. Überlassen Sie dieses Arrangement<br />

den Kindern <strong>und</strong> beobachten Sie, was geschieht: Alles erinnert an eine<br />

Filmvorführung. Aber das - auch technische - Interesse wird in Enttäuschung<br />

umschlagen, sobald sich die DVD öffnet: Sie überflutet die Kinder mit Informationen,<br />

mit denen sie nichts anfangen können, <strong>und</strong> sie bietet, anders <strong>als</strong> erwartet, keine<br />

Unterhaltung. Insofern ist diese DVD genau das Gegenteil von dem, was Kinder -<br />

aber nicht nur sie - in der Regel von einer DVD erwarten.<br />

Jetzt ist Ihre St<strong>und</strong>e gekommen, Geburtshelferdienste <strong>und</strong> Überzeugungsarbeit für<br />

ein alternatives, <strong>neues</strong> Medienverständnis zu leisten: dass es nicht nur darum geht,<br />

Unterhaltung - passiv - zu konsumieren, sondern auch darum, Informationen - aktiv -<br />

zu verarbeiten. Vielleicht gelingt es Ihnen, den Unterschied zwischen Information <strong>und</strong><br />

Wissen zu vermitteln: dass die in der D-Dok. oder im Internet gespeicherten<br />

215 Christian Pfeiffer: Medienverwahrlosung <strong>als</strong> Ursache von Schulversagen <strong>und</strong> Jugenddelinquenz?<br />

(2003) In: Hans-Jürgen Kerner <strong>und</strong> Erich Marks (Hrsg.): Internetdokumentation<br />

www.praeventionstag.de, 7 Seiten, zit. Seite 6.<br />

200


Informationen "tot" sind, aber "lebendig" werden, wenn Menschen sich mit ihnen<br />

auseinandersetzen: sie aussuchen, sie befragen, sie zu eigenen Kenntnissen <strong>und</strong><br />

Erfahrungen verarbeiten; dass <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Konzentration erforderlich sind, um sich in<br />

einer verwirrenden Vielfalt von Informationen zurechtzufinden; dass dazu Arbeit <strong>und</strong><br />

Leistung gehören <strong>und</strong> sie deshalb in der Schule <strong>und</strong> gefordert sind.<br />

Wenn es gelingt, diese Medienakzeptanz zu wecken, die zugleich Voraussetzung für<br />

Medienkompetenz ist, sind Weichen für das künftige Leben <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> der Ihnen<br />

anvertrauten Gr<strong>und</strong>schulkinder gestellt. Diese pädagogische Leistung kann nicht<br />

hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist der Sprung von der quantitativen - passiven<br />

- Konsumentenmentalität <strong>und</strong> oft auch "Medienverwahrlosung" (Christian Pfeiffer) hin<br />

zur qualitativen - aktiven - Teilhabe an der Wissensgesellschaft - vom Consumo,<br />

ergo sum zum Disco, ergo sum (2.10. <strong>und</strong> 4.1.).<br />

Eine DVD ist für Kinder, aber auch für Erwachsene in der Regel ein<br />

Speichermedium, das der Unterhaltung, dem Spiel <strong>und</strong> dem Spaß dient. Die DVD<br />

der D-Dok. ist genau das Gegenteil: Ihr Unterhaltungswert tendiert gegen Null.<br />

Allenfalls die Original-Ton-Dokumente lassen sich (passiv) abspielen <strong>und</strong> so<br />

"konsumieren". Mit der D-Dok. in der Gr<strong>und</strong>schule arbeiten heißt, sich selbst <strong>und</strong> den<br />

Kindern klar zu machen, was dies bedeutet: Das Spiel ist aus! "Les jeux sont faites"<br />

(Sartre). The plays are made!<br />

Der bereits zitierte Troisdorfer Gr<strong>und</strong>schullehrer Falko Peschel betrachtet den<br />

Computer <strong>als</strong> "Werkzeug" im "Offenen Unterricht". Er unterscheidet zwischen dem<br />

Computer zu Hause, der <strong>als</strong> Spielgerät <strong>und</strong> Konsumartikel genutzt wird, <strong>und</strong> dem<br />

Computer in der Schule, der das "selbstgesteuerte <strong>und</strong> selbstregulierte <strong>Lernen</strong> der<br />

Kinder" unterstützt. Peschel wendet sich daher mit Recht dagegen, den PC<br />

"lehrgangsmäßig" oder "computerzentriert" <strong>als</strong> Lehrerersatz zu verwenden <strong>und</strong><br />

spricht sich auch gegen ein "<strong>Lernen</strong> durch Spaß" aus. Er hat den Computer direkt im<br />

ersten Gr<strong>und</strong>schuljahr eingesetzt, aber den Kindern nichts gezeigt. Der Lehrer "muss<br />

die Schüler arbeiten lassen können. Er kann ihnen Werkzeuge (wie den Computer)<br />

anbieten, aber er darf ihnen kein vorstrukturiertes (Lehrgangs-) Material geben, das<br />

die eigene Auseinandersetzung der Kinder mit dem Stoff verbaut. Er muss auch nicht<br />

alle ihre Zwischenschritte beim <strong>Lernen</strong> verstehen. Aber wenn er will, darf er fragen.<br />

Er darf sich Sachen erklären lassen. Er darf auch selber mitprobieren. Er darf<br />

Vorschläge machen. Er darf Lösungen vergleichen. Er darf Impulse geben. Aber er<br />

muss wirklich loslassen können <strong>und</strong> den Lernweg seines Gegenübers akzeptieren,<br />

so verschlungen ihm dieser auch manchmal erscheinen mag." 216 Laut Peschel kamen<br />

216 Falko Peschel: Was haben Computer, Offener Unterricht <strong>und</strong> Mengenlehre gemeinsam? Oder:<br />

Was muss passieren, damit Lehrer Schülern endlich vertrauen? Manuskript im Druck, 6 Seiten, zit.<br />

Seite 2. Vgl. dazu auch Falko Peschel: Vom Edutainment zur kreativen Herausforderung: Der<br />

Computer <strong>als</strong> Werkzeug des Offenen Unterrichts. In: Frank Thissen (Hg.): Multimedia-Didaktik in<br />

Wirtschaft, Schule <strong>und</strong> Hochschule. Berlin 2003. Seiten 9 - 25; Falko Peschel: Demokratie lernen im<br />

offenen Unterricht. Wider eine Inszenierung demokratischer Alibiaktionen in der Schule. In: Karlheinz<br />

201


auch motorisch zurückgebliebene <strong>und</strong> lernbehinderte Kinder mit dem Computer gut<br />

zurecht. Sie sollen ein "geregeltes Arbeitsverhalten" entwickelt haben. Sogar "schwer<br />

erziehbare Kinder" hätten sich so in die Klasse integrieren lassen.<br />

-2. Computer Literacy entwicklungsstufengemäß erarbeiten<br />

Zum Standard der Gr<strong>und</strong>schule gehört, in das Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Rechnen<br />

einzuführen. Als vierte neue, globale Kulturtechnik kommt Computer Literacy hinzu:<br />

Die Fähigkeit, mit Computern ebenso selbstverständlich umzugehen wie<br />

lesekompetente Menschen mit Schriftgut.<br />

Auf die Gr<strong>und</strong>schule bezogen, heißt dies: So wie Analphabeten das analoge Lesen<br />

sowie das manuelle Schreiben <strong>und</strong> Rechnen lernen müssen, um sich diese<br />

Kulturtechniken anzueignen, so geht es jetzt zusätzlich darum, sie dazu auch digital<br />

zu befähigen. Dabei ist von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung, dass Computer (Laptop,<br />

Notebook) <strong>und</strong> Internet in den regulären Unterricht für alle Kinder integriert <strong>und</strong> nicht<br />

in Informatikkurse <strong>und</strong> Arbeitsgemeinschaften für einige Schüler/innen abgedrängt<br />

oder in einem PC-Raum ausgelagert werden. Dieser häufigen Fehlentwicklung lässt<br />

sich gegensteuern, wenn die Weichen bereits in Primarbereich gestellt sind: dass<br />

Computer/Laptop/Notebook <strong>und</strong> Internetanschluss in jeden Klassenraum gehören<br />

("Verkabelung") <strong>und</strong> der Umgang mit ihnen in den jeweiligen Regelunterricht<br />

fächerübergreifend integriert wird.<br />

Computer Literacy in der Gr<strong>und</strong>schule verhindert von Anfang an die "digitale Teilung"<br />

(digital divide), die ein weltweites Phänomen ist. So nutzten im Jahre 2000 54,3 %<br />

der US-Bevölkerung das Internet, dagegen in Lateinamerika nur 2,3 % <strong>und</strong> in Afrika<br />

südlich der Sahara, die Manuel Castells <strong>als</strong> "vierte Welt" <strong>und</strong> "schwarze Löcher des<br />

informationellen Kapitalismus" bezeichnet hat (1.1.), nur 0,4% der Bevölkerung.<br />

In <strong>Deutschland</strong>, <strong>als</strong>o innerstaatlich-gesellschaftlich gesehen, ist diese digitale Teilung<br />

vor allem familiär bedingt, bei Kindern vom sozialen, finanziellen <strong>und</strong> Bildungs-<br />

Status abhängig. Die Gr<strong>und</strong>schule kann diese Defizite früh kompensieren, indem sie<br />

Schülern/innen unabhängig von ihrer sozialen <strong>und</strong> familiären Herkunft ermöglicht, am<br />

Informationszeitalter teilzuhaben, statt von ihm abgekoppelt zu werden.<br />

Zur Computer Literacy in der Gr<strong>und</strong>schule gehören:<br />

1. Technisch-handwerkliche Fertigkeiten (Know-how) mit dem PC<br />

Wer weiß, wie schwer es ungeübten Erwachsenen, aber zum Teil auch Jugendlichen<br />

später fällt, mit Maus <strong>und</strong> Tastatur umzugehen, wird zustimmen, dass leichter <strong>und</strong><br />

Burk/Angelika Speck-Hamdan/Hartmut Wedekind (Hg.): Kinder beteiligen - Demokratie lernen?<br />

Frankfurt a. M. 2003. Seiten 142 - 150.<br />

202


angstfrei lernt, wer früh damit beginnt. Dabei geht es allerdings nicht um aufwändige<br />

multimediale Showeffekte, mit denen Kinder oft verblüffen, sondern darum, wie<br />

Technik für besseres <strong>Lernen</strong> zu nutzen ist. Gr<strong>und</strong>sätzlich heißt dies: Inhalt geht vor<br />

Form. Dies fällt Kindern dann schwer, wenn sie durch Medienkonsum eine hohe<br />

sinnliche Bild-Lesefähigkeit (Viewing Literacy) erworben haben, aber noch keine<br />

Lesekompetenz (Reading Literacy).<br />

2. Schreiben, Korrigieren <strong>und</strong> Rechnen lernen mit dem PC<br />

Der Computer ist ein abwechslungsreiches zusätzliches <strong>und</strong> alternatives Schreib-,<br />

Korrigier- <strong>und</strong> Rechenwerkzeug zu Tafel, Heft <strong>und</strong> Papier. Er darf jedoch nicht das<br />

handschriftliche Mitschreiben <strong>und</strong> Rechnen völlig ersetzen, sondern nur ergänzen.<br />

Sonst entstehen Defizite, die sich erst später manifestieren: Wenn Studierende sehr<br />

gute Computerkenntnisse haben, aber weder die Rechtschreibung noch die<br />

Zeichensetzung beherrschen. Diese Rechtschreibschwäche, soweit sie nicht auf<br />

Legasthenie beruht, ist auf ein Versagen der Gr<strong>und</strong>schule zurückzuführen.<br />

Der Computer bietet bei Rechtschreibung (Orthografie), Korrekturen <strong>und</strong><br />

Textentstehung mannigfaltige Vorteile gegenüber der Papierversion: Fehler können<br />

auf dem Bildschirm jederzeit spurenlos gelöscht <strong>und</strong> verbessert, Texte überarbeitet<br />

<strong>und</strong> ergänzt werden - bis ihr gewünschter Endzustand erreicht ist. Als Lehrer/in ist<br />

die Maschine viel geduldiger <strong>als</strong> der Mensch. Sie ist zwar störanfällig, macht bei<br />

Rechtschreibfehlern, so häufig sie sich auch wiederholen, keine Vorwürfe, sondern<br />

zeigt sie geduldig durch Rückmeldung so lange an, bis sie korrigiert sind: durch die<br />

automatische Rechtschreibkontrolle, bei Suchfunktionen mit der D-Dok. durch die<br />

Trefferquote. Dabei ist es dem Computer - anders <strong>als</strong> Lehrer/in - gleichgültig, wie oft<br />

jemand f<strong>als</strong>ch schreibt, wie schnell, wann, wo <strong>und</strong> warum jemand lernt - kurzum der<br />

PC ist flexibler <strong>und</strong> interaktiv einsetzbar. Der Leistungsdruck lässt nach.<br />

Beispiele für Rechtschreibkontrollen mit Suchbegriffen in der D-Dok.; in Klammern ist<br />

die Trefferquote angegeben. Zielsetzungen: 1. Schreiben lernen mit dem PC:<br />

Singular <strong>und</strong> Plural von Gr<strong>und</strong>begriffen, 2. Kontrolle der Orthografie, 3.<br />

Fehlerkorrektur, 4. Aufbau <strong>und</strong> Erweiterung des Gr<strong>und</strong>wortschatzes.<br />

Deutsch:<br />

Mutter (343x), Mama (7x), Plural Mütter (293x); Rechtschreibfehler: Muttär (0x), Mutr<br />

(0x), Muter (2x: B<strong>und</strong>esberggesetz), Mitter (0x), Müter (0x); Rechtstrunkierung zur<br />

Erweiterung des Gr<strong>und</strong>wortschatzes: Mutter* (604x), z.B. Muttersprache (83x),<br />

Mutterschutz (15), Mütter* (357).<br />

Vater (225x), Papa (6x), Plural Väter (229x); Rechtschreibfehler: Vatter (0x), Vatr<br />

(0x), Vätr (0x); Rechtstrunkierung Vater* (868x), z.B. Vaterland (342x),<br />

Vaterlandsliebe (21x).<br />

203


Großvater (16x), Grosvater (0x), Großvatter (0x), Opa (2x), Großmutter (7x), Oma<br />

(3x), Grossmutter (0x).<br />

Kind (656x), Kinder (1551x); Rechtschreibfehler: Gind (0x), Kint (0x);<br />

Rechtstrunkierung Kind* (2302), z.B. Kindheit (50x).<br />

Katze (15x), Katse (0x), H<strong>und</strong> (12x), Hunt (0x), Pferd (18x), Pfärd (0x), Färd (0x).<br />

Englisch:<br />

(zur Zeit in NRW ab 3., in Baden-Württemberg ab 1. Klasse, im Saarland nur<br />

Französisch; die Trefferquote ändert sich mit <strong>und</strong> ohne Koeffizient ENG.)<br />

mother (12x), father (6x), grandmother (2x), grandfather (2x), child (ohne Koeffizient<br />

23x, mit Koeffizient ENG 20x), children (56x), grandchildren (6x); Rechtschreibfehler<br />

mosser (0x), fater (0x), faser (0x).<br />

Da es sich um eine historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Datenbank<br />

handelt, sind z.B. Begriffe wie Vaterland (342x) oder Mutterschutz (19x) vertreten,<br />

aber nicht Vaterhaus (0x) oder Muttermal (0x).<br />

Mathematik:<br />

Die vier Gr<strong>und</strong>rechenarten mit dem PC lernen: Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren<br />

<strong>und</strong> Dividieren mit dem Rechner (bei Zubehör) oder mit der numerischen Tastatur.<br />

Wenn die eingegebenen Zahlen <strong>und</strong> Operationen stimmen, stimmt auch das<br />

Resultat.<br />

Es gibt spezielle Rechtschreib- <strong>und</strong> Rechenprogramme, die auf Rechtschreib- <strong>und</strong><br />

Rechenkontrollen in der Gr<strong>und</strong>schule spezialisiert <strong>und</strong> deshalb diesbezüglich der D-<br />

Dok. überlegen sind. Aber auch hier ist der Computer nur ein Instrument, der das<br />

Denken nicht abnimmt: Ob etwas richtig oder f<strong>als</strong>ch geschrieben oder gerechnet<br />

worden ist, muss das Kind selbst herausfinden.<br />

3. Suchen <strong>und</strong> Finden eingegebener Begriffe:<br />

Bei geöffnetem Dokument lässt sich mit Strg +f der gesuchte Begriff, wenn er<br />

fehlerfrei eingegeben wird, im Dokument farbig markieren <strong>und</strong> so schnell an Ort <strong>und</strong><br />

Stelle identifizieren. Um Wortzusammensetzungen auszuschließen, sollte in der<br />

Regel nach dem ganzen Wort (Option) gesucht werden. Dieser Suchvorgang<br />

erfordert Sorgfalt <strong>und</strong> Übung. Er trainiert die Rechtschreibung <strong>und</strong> ist wichtig für<br />

künftige höhere "Weihen" im Computer Based Training and Learning (CBT + L)<br />

sowie im Web Based Training and Learning (WBT + L).<br />

204


7.7. <strong>Quellenarbeit</strong> im Sachunterricht der Gr<strong>und</strong>schule: Selbstbestimmtes<br />

Suchen <strong>und</strong> Finden, handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Problemlösen<br />

Bei der Erprobung der D-Dok. ist der Sachunterricht aus fünf Gründen das<br />

Zentralfach der Gr<strong>und</strong>schule: 217 1. Es verzahnt das Leben, die natürliche <strong>und</strong> soziale<br />

Umwelt sowie das natur-, sozial- <strong>und</strong> kulturwissenschaftliche <strong>Lernen</strong> des Kindes<br />

miteinander; 2. Es dient der Allgemeinbildung <strong>und</strong> zugleich der Selbstentfaltung der<br />

Persönlichkeit des Kindes, die sich am Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz orientieren<br />

soll (4.2. <strong>und</strong> 6.4.); 3. Es ist komplex-vieldimensional <strong>und</strong> deshalb geeignet,<br />

Unterricht fächerübergreifend <strong>und</strong> somit interdisziplinär statt singulär zu gestalten; 4.<br />

Es bietet wegen seines Fächerverb<strong>und</strong>es einen breiten Spielraum, individuelle<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Interessen des einzelnen Kindes durch <strong>Quellenarbeit</strong> anzuregen, zu<br />

entfalten <strong>und</strong> zu fördern, aber auch Retardierungen zu diagnostizieren; 5. Es<br />

ermöglicht in Ansätzen bereits Problemlösen mit fächerübergreifenden<br />

Kompetenzen.<br />

Aus den genannten Gründen entspricht der Sachunterricht weitgehend den<br />

Forderungen nach Scientific Literacy im Gr<strong>und</strong>schulalter: einer exemplarisch an<br />

modernen sozial-, kultur-, natur- <strong>und</strong> technikwissenschaftlichen Kernfragen<br />

orientierten Persönlichkeit des Kindes. Da insofern Sachunterricht nicht nur<br />

zeitgemäß, sondern zukunftweisend ist, bleibt unerklärlich <strong>und</strong> befremdlich, weshalb<br />

es in einzelnen B<strong>und</strong>esländern Bestrebungen gibt, dieses zentrale Fach in der<br />

St<strong>und</strong>entafel der Gr<strong>und</strong>schule zu kürzen <strong>und</strong> in der Lehrerausbildung zu entwerten<br />

oder gar abzuschaffen. 218 Wenn es den Sachunterricht nicht schon gäbe, müsste er<br />

speziell für die Gr<strong>und</strong>schule erf<strong>und</strong>en oder neu eingeführt werden.<br />

Computergestützter Sachunterricht erfordert den Verzicht auf Frontalunterricht, bei<br />

dem lehrerzentriert unterrichtet wird. Wenn Sie für alle bestimmen, was zu lehren, zu<br />

reproduzieren <strong>und</strong> später abzufragen ist, werden Eigeninitiativen <strong>und</strong> Spontaneität<br />

der Kinder im Keime erstickt <strong>und</strong> damit ihre "Quellen" verschüttet. Wenn Sie dagegen<br />

"<strong>Quellenarbeit</strong>" helfend begleiten, werden Sie zur "fördernden Umwelt" (Winnicott:<br />

217 Ähnlich argumentiert Ingrid Prote: Politische Bildung <strong>und</strong> Erziehung in der Gr<strong>und</strong>schule. In:<br />

Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Bonn 1997. Seiten 157 - 172. Sie betrachtet<br />

den Sachunterricht <strong>als</strong> "zentralen Lernbereich der Gr<strong>und</strong>schule", der integrativ nach den Prinzipien<br />

des "offenen Unterrichts" <strong>als</strong> Antwort auf die "veränderte Kindheit" <strong>und</strong> den "familialen Wandel" (Seite<br />

158) durchgeführt werden sollte.<br />

218 Darüber berichtet die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts e.V. (GDSU) in ihrer<br />

Ausarbeitung vom April 2003: Sachunterricht in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> in der Lehrerbildung. 2 Seiten. -<br />

Die GDSU, gegründet 1992, besteht aus Lehrenden aus Hochschulen, Lehreraus- <strong>und</strong><br />

Lehrerweiterbildung sowie Schulen; sie will die Didaktik des Sachunterrichts in Forschung <strong>und</strong> Lehre<br />

fördern sowie die Belange des Schulfaches vertreten. F<strong>und</strong>stelle: www.sachunterricht-online.de/gdsu.<br />

205


Facilitating Environment: 2.8.). Deshalb sollten Kinder Freiräume haben, selbst<br />

gewählte Begriffe aus ihrem Alltag, ihrem Umfeld <strong>und</strong> Erfahrungsbereich abzufragen,<br />

zu suchen, zu finden <strong>und</strong> in Ansätzen zu verarbeiten. Kinder lernen am besten das,<br />

was sie selbst bestimmen <strong>und</strong> wofür sie Lösungen finden können. Falls sie keine<br />

Eigeninitiative entfalten, machen Sie ihnen Vorschläge, die geeignet sind, einen<br />

Lernprozess einzuleiten. Dabei geht es noch nicht um inhaltliches <strong>Lernen</strong>, sondern<br />

darum, Neugier zu wecken: das Suchen <strong>und</strong> Finden, das richtige Schreiben der<br />

Suchbegriffe sowie den Umgang mit Zahlen zu üben.<br />

-1. Vorschläge für Suchoptionen in der D-Dok. in den Aufgabenbereichen:<br />

a. Raumbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/Geografie (umfeldorientiert: Heimat,<br />

B<strong>und</strong>esland, <strong>Deutschland</strong>, Europa, Welt)<br />

Ist der Ort oder ist die Stadt enthalten, in der sich die Schule befindet?<br />

Die Kreisstadt?<br />

Nachbarorte?<br />

Die Landeshauptstadt?<br />

Beispiele: Neckarwestheim (4x), Ludwigsburg (18x), Sindelfingen (4x), Stuttgart<br />

(228x).<br />

Was für Großstädte in <strong>Deutschland</strong> kennt ihr?<br />

In Europa?<br />

In der Welt?<br />

Trefferquote?<br />

Hauptstädte in europäischen Staaten?<br />

Wie oft kommt die Hauptstadt, wie oft der Staat vor?<br />

Beispiele: Bukarest (72x), Rumänien (351x); Oslo (84x), Norwegen (238x); Zagreb<br />

(20x), Kroatien (123x); Lissabon (99x), Portugal (359x).<br />

Hauptstädte asiatischer, afrikanischer <strong>und</strong> lateinamerikanischer Staaten?<br />

Trefferquoten?<br />

Beispiele: Tokio (58x), Japan (482); Peking (89x), China (433x); Bagdad (37x), Irak<br />

(257); Nairobi (35x), Kenia (31x); Harare (14x), Simbabwe (36x); Lima (10x), Peru<br />

(31x); Quito (3x), Ecuador (17).<br />

b. Zeitbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/ Geschichte (personenorientiert) 219<br />

219<br />

Kerstin Michalik (Hg.): Geschichtsbezogenes <strong>Lernen</strong> im Sachunterricht. Bad Heilbrunn 2004 (mit<br />

vielen Unterichtsbeispielen <strong>und</strong> -vorschlägen).<br />

206


Namensgeber/in der Schule in der D-Dok. zu finden?<br />

Beispiele: Anne Frank (12x), Goethe (149x), Pestalozzi (9x), Rousseau (6x),<br />

Montessori (0x), Brecht (54x).<br />

Welche Namen von Personen, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, habt<br />

ihr schon gehört?<br />

Beispiele: Napoleon (16x), Marx (310x), Bismarck (78x), Ebert (95x), Hindenburg<br />

(11x), Lenin (170x), Hitler (444x), Stalin (149x).<br />

Deutsche <strong>und</strong> ausländische Politiker/innen seit 1945?<br />

Hinweis zur Namensuche: Die Suchmaschine zeigt alle Personen mit diesem Namen<br />

in der Datenbank an. Wer folglich Schmidt, Kohl oder Schröder eingibt, erhält nicht<br />

nur Trefferquoten zu den Politikern <strong>und</strong> B<strong>und</strong>eskanzlern Helmut Schmidt, Helmut<br />

Kohl oder Gerhard Schröder, sondern auch zu anderen Personen, die diesen<br />

Familien- <strong>und</strong> oft auch den gleichen Vornamen führen. Wer konkret gemeint ist, kann<br />

nur an Ort <strong>und</strong> Stelle durch <strong>Quellenarbeit</strong> geklärt werden.<br />

Deutsche B<strong>und</strong>eskanzler?<br />

Beispiele: Adenauer (835x), Erhard (322x), Kiesinger (120x), Brandt (545), Schmidt<br />

(589), Kohl (1055x), Schröder (723x).<br />

B<strong>und</strong>espräsidenten?<br />

Beispiele: Heuss (207x), Lübke (110x), Heinemann (179x), Scheel (243x), Carstens<br />

(118x) usw.<br />

Kennt ihr Namen von Politikern aus der ehemaligen DDR?<br />

Beispiele: Ulbricht (418x), Grotewohl (222x), Stoph (276x), Sindermann (59x),<br />

Honecker (707x) usw.<br />

Ausländische Politiker/innen?<br />

Und zu welchem Staat gehören sie?<br />

Beispiele: Eisenhower (68x), Thatcher (45x), Bush (215x), Chirac (99x), Clinton<br />

(120x), Blair (54x), Gorbatschow (396x).<br />

Welche von den gesuchten <strong>und</strong> gef<strong>und</strong>enen Politiker/innen sind auf einem Foto<br />

abgebildet <strong>und</strong>/oder auszugsweise im Original-Ton zu hören?<br />

207


Koeffizienten FOT <strong>und</strong>/oder TON einschalten <strong>und</strong> ermitteln. Auch diese Bild- <strong>und</strong><br />

Tondokumente sind Originalquellen, die zu suchen <strong>und</strong> zu finden, später zu<br />

interpretieren sind. Die sinnliche Qualität dieser Quellen kann den Zugang zu ihnen<br />

vor allem bei Kindern erleichtern, da sie Viewing Literacy meistens durch Fernsehen<br />

erworben haben.<br />

c. Institutionen: Suchen <strong>und</strong> Finden im sozialen <strong>und</strong> kulturellen Erfahrungsbereich<br />

des Kindes/Sozialwissenschaften (juristisch orientiert)<br />

Familie <strong>als</strong> Sozialgefüge?<br />

Beispiele: Familie (1116x), Familie* (2183x), z.B. Familienpolitik (73x), Kinderrechte<br />

(7x), Elternrecht (22x).<br />

Schule <strong>als</strong> Sozialgefüge?<br />

Beispiele: Schule (599x), Schule* (1162x), z. B. Schulpflicht (70x), Gr<strong>und</strong>schule<br />

(77x), Volksschule (22x), Schulrecht (12x).<br />

Vornamen in der Klasse?<br />

Ist mein eigener Vorname zu finden? (Die Wahrscheinlichkeit, neben den Vornamen<br />

von Deutschen auch die von Ausländern zu finden , ist groß.)<br />

Beispiele: Robert (196x), Iwan (20x), Achmed (3x), Erich (679x), Miriam (2x), Ali<br />

(31x), Osman (4x), Leyla (1x), Sarah (3x), Robin (15x), Giuseppe (7x), Ernst (1310x),<br />

Ernesto (3x), José (48x).<br />

Ausländer/innen in der Klasse?<br />

Beispiele: Türken (102x), türk* (627x); Araber (21x), arab* (397x); Chinesen (26x),<br />

chines* (206x); Japaner (37x), japan*(586x); Amerikaner (333x), amerik*(2217x);<br />

Italiener (71x), italien*(845x); Afrikaner (18x), afrikan* (246x); Polen (1211x),<br />

poln*(529x); Franzosen (251x), franz* (1685x); Slowaken (38x), slowak* (178x).<br />

d. Natur- <strong>und</strong> umweltbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/ Naturwissenschaften<br />

(ökologisch orientiert)<br />

Ernährung <strong>und</strong> Haushalt?<br />

Beispiele: Lebensmittel (192x), Lebensmittel* (464x), Ernährung (414x), Ernährung*<br />

(540x), Haushalt (779x), Konsum (150x), Verbraucher (414x), Verbraucherpolitik<br />

(25x), Ges<strong>und</strong>heit (937x), Obst (97x), Gemüse (111x), Fleisch (146x),<br />

Chemie+Ernährung = Chemie Ernährung = Konjunktion = UND = AND (25x).<br />

208


Umwelt <strong>und</strong> Natur?<br />

Beispiele: Umweltschutz (620x), Umweltrecht (32x), Umwelt* (1822x), Nachhaltigkeit<br />

(135x), Wald* (327x), Kiefer (12x), Fichte (14x),Waldschäden (25x), Tierschutz (43x),<br />

Pflanzenschutz (60x), Artenvielfalt (56x), Boden* (1712x), z.B. Bodenschutz (18x),<br />

Wasser* (972x), Luft*(1284x), z.B. Luftverschmutzung (58x), Verkehr (1036x), Auto<br />

(122x), Benzin (57x), Smog (7x), Ozon (11x), Naturschutz (177x), Heizung (46x),<br />

Wohnung (533x), Erdöl (136x), Kohle (333x), Braunkohle (108x), Klima* (916x),<br />

Klimaschutz (91x).<br />

e. Technologien: Suchen <strong>und</strong> Finden im Erfahrungsbereich des Kindes/Technik <strong>und</strong><br />

Gesellschaft (medienorientiert)<br />

Computer <strong>und</strong> Bildung?<br />

Beispiele: Computer (160x), PC (43x), EDV (53x), Computer+Bildung (92x),<br />

Computer+Schule (44x), Computer+Verwaltung (48x), Computer+Post (27x),<br />

Informatik (44x), Technik (1060x), Mathematik (80x), Mathematik+Technik (47x),<br />

Physik (71x), Physik+Technik (40x).<br />

Fernsehen <strong>und</strong> andere Medien?<br />

Beispiele: Fernseher (21x), Fernseh* (762x), Medien (692x), Medien*(796x), z.B.<br />

Mediengesellschaft (15x), Telefon (74x), Telekommunikation (212x), Post (577x), Fax<br />

(7x), SMS (5x), E-mail (36x), Information (964x), Informations* (4443x), z.B.<br />

Informationszeitalter (41x), Wissen* (4409x), z.B. Wissensgesellschaft (75x),<br />

Multimedia (60x).<br />

-2. Lernbezogene inhaltliche Vorschläge: Quellenauswahl <strong>und</strong> Ansätze der<br />

Informationsverarbeitung durch Lesekompetenz (Reading Literacy)<br />

Ging es bislang um das Schreiben, Korrigieren <strong>und</strong> Rechnen mit dem PC, vor allem<br />

um Rechtschreibkontrollen, <strong>und</strong> danach um das Suchen <strong>und</strong> Finden von Begriffen<br />

<strong>und</strong> ihren Kombinationen mit Trefferquoten, so geht es jetzt erstm<strong>als</strong> darum,<br />

inhaltliche Konsequenzen zu ziehen: Nach von der Klasse mehrheitlich<br />

vorgeschlagenen oder mit ihr ausgehandelten Fragestellungen Quellen exemplarisch<br />

aus der D-Dok. auszuwählen <strong>und</strong> in Ansätzen zu interpretieren. Angesichts der<br />

verwirrenden Vielzahl hoher Trefferquoten sind die Kinder überfordert, sie heuristisch<br />

selbst zu selektieren. Das sollten in der Gr<strong>und</strong>schule Lehrer/innen <strong>als</strong> "fördernde<br />

Umwelt" übernehmen (4.3.).<br />

Anfänge einer Lesekompetenz (Reading Literacy) können dann erworben werden,<br />

wenn damit begonnen wird, Informationen nicht nur zu suchen <strong>und</strong> zu finden,<br />

209


sondern zu verarbeiten. Auf den Zwölf-Punkte-Fragenkatalog unter 4.4. - 1-12 wird<br />

verwiesen. Gr<strong>und</strong>schulkinder der Klasse 4 sollten nach den von ihnen<br />

vorgeschlagenen Themen <strong>und</strong> anhand der von Ihnen dazu ausgewählten Quellen<br />

fähig sein, einzelne - nicht alle - Fragen dieses Fragenkatalogs zu beantworten.<br />

Ausgenommen bleiben quellen- <strong>und</strong> ideologiekritische Fragestellungen sowie nach<br />

der Quellenauthentizität (4.4.-4.), die Gr<strong>und</strong>schulkinder überfordern. Dies ist<br />

allerdings strittig! So kommen Clotilde Pontecorvo <strong>und</strong> Hilda Girardet bei<br />

Fünftklässlern (4. Jahrgangsstufe) zu dem Schluss, dass sie mit Hilfe nicht nur fähig<br />

seien, eine historische Quelle über die Hunnen zu reproduzieren, sondern auch<br />

quellenkritisch zu verarbeiten - "very close to the procedures of historical<br />

reasoning". 220 Am Beispiel Ihrer Klasse könnten Sie dies konkret überprüfen, auch<br />

individuell bei einzelnen oder in einer Gruppe von Kindern. Es geht dabei um die<br />

Gr<strong>und</strong>satzfrage: Wie weit kann sich der Sachunterricht an wissenschaftlichen<br />

Zielsetzungen orientieren, ohne den "Kindbezug" zu verlieren? 221<br />

-3. Anfänge des Problemlösens im Anschluss an das Suchen <strong>und</strong> Finden: Drei<br />

Beispiele<br />

Weisen Sie die Kinder darauf hin, dass ihre bisherigen Such- <strong>und</strong> Findarbeiten<br />

Probleme aufwerfen, die sie übersehen <strong>und</strong> Sie ignoriert haben. Wer z.B. Fichte<br />

eingibt, erhält 14 Treffer - aber ist damit immer der Baum <strong>und</strong> nicht vielleicht auch<br />

eine Person mit diesem Namen gemeint? Also bitten Sie sie, anhand der 14<br />

F<strong>und</strong>stellen zu überprüfen, wann <strong>und</strong> warum ein Mensch, darunter der Philosoph<br />

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), oder das Nadelgehölz gemeint ist. Zu schwer?<br />

Nein, die Kinder sollen jetzt nicht nur mechanisch suchen, sondern mit Köpfchen<br />

finden, was gleich lautet <strong>und</strong> gleich geschrieben wird, sich aber inhaltlich in der<br />

Bedeutung unterscheidet (Homonyma).<br />

Was ist die Hauptstadt <strong>Deutschland</strong>s? Berlin: 4898 Treffer! Ist Berlin deshalb so<br />

häufig vertreten, weil es die Hauptstadt ist oder auch aus anderen Gründen? Was ist<br />

mit Bonn: 2736 Treffer. Suchbegriffe B<strong>und</strong>eshauptstadt 42x, B<strong>und</strong>esstadt 12x,<br />

Hauptstadt 594x. Jetzt zeigt es sich, ob die Gr<strong>und</strong>schulkinder das Suchen <strong>und</strong><br />

Finden gelernt haben, darunter auch mit Konjunktionen: Berlin+Hauptstadt (490x),<br />

Bonn+Berlin (1521x), Hauptstadt+<strong>Deutschland</strong>+Berlin (360x) usw. Wer suchet, der<br />

findet die entscheidenden Quellen, etwa Artikel 2 des Einigungsvertrags vom 31.<br />

August 1990 <strong>und</strong> den Bonn-Berlin-Beschluss des Deutschen B<strong>und</strong>estages vom 20.<br />

Juni 1991.<br />

220 Clotilde Pontecorvo/Hilda Girardet: Arguing <strong>und</strong> Reasoning in Understanding Historical Topics. In:<br />

Cognition and Instruction 11, 1993. Nr. 3 - 4. Seiten 365 - 395, zit. 392.<br />

221 Vgl. dazu Elard Klewitz: Sachunterricht zwischen Wissenschaftsorientierung <strong>und</strong> Kindbezug.<br />

Antrittsvorlesung 10. Juni 1993. Humboldt-Universität Heft 58. Berlin 1996. - Zu Geschichte <strong>und</strong><br />

Konzeptionen des Sachunterrichts Bernd Feige: Der Sachunterricht <strong>und</strong> seine Konzeptionen.<br />

Historische, aktuelle <strong>und</strong> internationale Entwicklungen. Bad Heilbrunn 2004.<br />

210


Sie sollten den Kindern solches Wissen nicht mitteilen, sondern ihnen zunächst<br />

vorenthalten, um ihre Neugier zu wecken <strong>und</strong> ihren Ehrgeiz anzuspornen. Dies kann<br />

kreative Kräfte in ihnen freisetzen, damit sie sich aus vielen Informationsquellen ihr<br />

Wissen selbst erarbeiten. Dazu brauchen sie Zeit, Geduld, Köpfchen <strong>und</strong> Übung.<br />

Lassen Sie ihnen dafür Zeit. Kinder sind neugierig, aber auch ungeduldig. Und helfen<br />

Sie ihnen - auch in der Gruppenarbeit - nur dann, wenn sie wirklich nicht mehr weiter<br />

wissen, <strong>als</strong>o nicht von vornherein, sondern erst im Nachhinein.<br />

Wer Schröder eingibt, erhält 723 Treffer, darunter auch den Politiker <strong>und</strong> derzeitigen<br />

B<strong>und</strong>eskanzler Gerhard Schröder. Ist es nicht merkwürdig, dass Gerhard Schröder<br />

schon unter dem alten Konrad Adenauer B<strong>und</strong>esminister war <strong>und</strong> bei ihm <strong>als</strong><br />

Außenminister Karriere machte? Er blieb dies auch unter dem neuen B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Erhard. Als Willy Brandt Außenminister wird, muss Gerhard Schröder dieses Amt<br />

zwar aufgeben, wurde aber Verteidigungsminister! Manche der bei mir<br />

Politikwissenschaft Studierenden wussten nicht warum, <strong>und</strong> vielleicht wissen Sie es<br />

auch nicht. Aber Ihre Gr<strong>und</strong>schulkinder werden das Problem lösen: durch<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok., durch Bildvergleiche <strong>und</strong> vielleicht auch durch<br />

Rechenaufgaben mit Geburtsdaten - <strong>als</strong>o fächerübergreifend im Sachunterricht.<br />

-4. Handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Konsequenz des Sachunterrichts: Beispiele für<br />

die fünf Aufgabenbereiche 222<br />

Ist es gelungen, die Neugier, das Staunen <strong>und</strong> die Offenheit der Gr<strong>und</strong>schulkinder zu<br />

fördern?<br />

Damit sie ihre unmittelbare Erfahrungswelt nicht nur sinnlich-bildlich wahrnehmen,<br />

sondern auch begrifflich-abstrakt zu erfassen <strong>und</strong> zu erschließen vermögen: durch<br />

Suchen <strong>und</strong> Finden, in Ansätzen auch durch Lesekompetenz <strong>und</strong> Problemlösen?<br />

Welche Konsequenzen lassen sich ziehen, um diese Fähigkeiten in der Praxis zu<br />

erproben?<br />

Gibt es später in den Sek<strong>und</strong>arbereichen I <strong>und</strong> II ein Fach, das so prädestiniert ist,<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis miteinander zu verknüpfen, wie der Sachunterricht in der<br />

Gr<strong>und</strong>schule?<br />

Angenommen, die Kinder interessieren sich im raum-geografiebezogenen<br />

Lernbereich (7.7.-1a.) für eine Sehenswürdigkeit ( z.B. Denkmal, Gebäude, Kirche,<br />

Landschaft, Ortsteil, Dorf) oder Stadt ihrer Heimat, vielleicht auch für ein Land<br />

ausländischer Mitschüler/innen. Dann bietet sich an, dass sie Informationen darüber<br />

sammeln, auch extern, <strong>und</strong> sie zu einer analogen oder digitalen Dokumentation<br />

verarbeiten, vielleicht mit dazu verfügbaren Karten <strong>und</strong> Bildern. Dasselbe ist bei<br />

Politiker/innen, historischen Persönlichkeiten oder Institutionen eigener Wahl im zeit-<br />

222<br />

Siehe dazu Astrid Kaiser (Hg.): Praxisbuch handelnder Sachunterricht. Bände 1 - 3.<br />

Baltmannsweiler 1999 -2000.<br />

211


geschichtsbezogenen (7.7.-1b.) sowie im institutionell-sozialwissenschaftlichen<br />

Lernbereich (7.7.-1c.) zu empfehlen <strong>und</strong> machbar. An diese Materialzusammenstellungen<br />

dürfen keine hohen Ansprüche gestellt werden. Als<br />

Arbeitsergebnisse lassen sie sich auswerten, dokumentieren, ausdrucken oder<br />

multimedial präsentieren, z.B. <strong>als</strong> Audioproduktion mit Interviews <strong>und</strong> verbindenden<br />

Texten (Reportage).<br />

Auch Namensgeber oder Namensgeberin der Schule bieten Lernansätze aus dem<br />

Erfahrungsbereich. Ist es z.B. eine Anne-Frank-Gr<strong>und</strong>schule, so stellen sich wie von<br />

selbst historisch-politische Fragen:<br />

Wer war Anne Frank?<br />

Warum ist die Schule nach ihr benannt?<br />

Was gibt es für Quellen von ihr <strong>und</strong> über sie?<br />

Drängt sich <strong>Quellenarbeit</strong> - das Tagebuch der Anne Frank - nicht geradezu auf?<br />

Welche Unterrichtsmaterialien für Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen gibt es darüber im<br />

Internet?<br />

Haben die Gr<strong>und</strong>schulkinder im natur- <strong>und</strong> umweltbezogenen Lernbereich (7.7.-1d.)<br />

<strong>als</strong> Schwerpunkt Ernährung <strong>und</strong> Konsum gewählt? Dann könnten sie Obst <strong>und</strong><br />

Früchte mitbringen, die sie im Unterricht oder während der Pausen nach ihren<br />

Vorstellungen verarbeiten <strong>und</strong> verbrauchen, z.B. <strong>als</strong> Obstsalat oder eigenhändig<br />

gepresste Säfte. Dies ist <strong>Quellenarbeit</strong> in der Praxis: So wie die D-Dok. historischpolitische<br />

<strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen anbietet, die <strong>als</strong> Rohstoff zu Wissen<br />

zu verarbeiten sind, so werden jetzt Getränke, Säfte, Salate <strong>und</strong> andere kleine<br />

Gerichte aus Rohstoffen selbst hergestellt - nach eigenen Kreationen, ohne<br />

chemische oder unbekannte Zusätze. Dann wissen die Kinder, was sie trinken oder<br />

verzehren. Natürlich könnten sie, wie meistens geschieht, "fertige" Getränke oder<br />

"Fast Food" kaufen. Sinn <strong>und</strong> Ziel von <strong>Quellenarbeit</strong> ist es jedoch, Wissen selbst zu<br />

erarbeiten <strong>und</strong> Obstsäfte oder kleine Salate selbst herzustellen - statt "fertiges"<br />

Wissen <strong>und</strong> "fertige" Gerichte zu konsumieren. Dies kann der "McDonaldisierung"<br />

nicht nur des Wissens, sondern auch der Ernährung von Kindern vorbeugen,<br />

vielleicht auch dazu beitragen, dass sie sich bewusster ernähren <strong>und</strong> in der Lage<br />

sind, sich zeitweilig selbst zu verpflegen.<br />

Natur <strong>und</strong> Umwelt eignen sich <strong>als</strong> Unterrichtsthemen dazu, das Umweltbewusstsein<br />

der Kinder zu schärfen <strong>und</strong> sie nachhaltig zum Umweltschutz anzuleiten. 223 Er beruht<br />

auf dem Gedanken, dass Umwelt aktive <strong>und</strong> verantwortungsbewusste Menschen<br />

braucht, die sich engagieren, um sie nachhaltig zu bewahren statt sie zu belasten<br />

223 Ute Stoltenberg: Nachhaltigkeit lernen mit Kindern. Wahrnehmung, Wissen <strong>und</strong> Erfahrungen von<br />

Gr<strong>und</strong>schulkindern unter der Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung. Bad Heilbrunn 2002; Hans<br />

Baier/Steffen Wittkowske (Hg.): Ökologisierung des Lernortes Schule. Bad Heilbrunn 2001<br />

(Schulgarten <strong>als</strong> Lernort für Umgang <strong>und</strong> Kontakt mit der Natur); Hedwig Wilken: Kinder werden<br />

Umweltfre<strong>und</strong>e. Umweltbildung in Kindergarten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schule. München 2002 (Zur Gestaltung von<br />

Umweltfesten).<br />

212


oder gar zu zerstören. Zu einer solchen Umwelterziehung <strong>und</strong> besseren<br />

Umweltwahrnehmung tragen ein Waldspaziergang <strong>als</strong> kleine "Exkursion" in das<br />

Umfeld, die Pflege des Schulgartens (sofern vorhanden), Baumpatenschaften u.ä.<br />

bei. Der Tag der offenen Tür oder das Schulfest lassen sich <strong>als</strong> "Umweltfest"<br />

gestalten. Sie beziehen so generationenübergreifend auch Erwachsene,<br />

insbesondere Eltern, mit ein. Lernziel einer solchen "Umweltbildung" ist die<br />

frühzeitige "ökologische Mündigkeit" von Kindern.<br />

Im technischen Lernbereich (7.7.-1e.) empfiehlt es sich im Sachunterricht, Hardware<br />

<strong>und</strong> Software des Computers <strong>und</strong> seine Konfiguration zu behandeln. Es genügt, die<br />

Gr<strong>und</strong>einheiten <strong>und</strong> ihre Hauptfunktionen zu erläutern: Zentraleinheit, Tastatur,<br />

Monitor, Endgeräte wie Drucker sowie Betriebssysteme <strong>und</strong> Programme. Wichtiger<br />

<strong>als</strong> technische Details sind Einblicke in die Auswirkungen der Elektronischen<br />

Datenverarbeitung (EDV) <strong>und</strong> damit von Technik auf Mensch, Gesellschaft, Bildung,<br />

Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Umwelt - nicht zuletzt auch auf die Schule. 224<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis lassen sich generationenübergreifend verknüpfen: Ermuntern Sie<br />

die Gr<strong>und</strong>schulkinder oder geben Sie ihnen <strong>als</strong> Aufgabe mit nach Hause<br />

("Hausaufgabe"), den Eltern <strong>und</strong> Großeltern gelegentlich vorzuführen, was sie mit<br />

dem Computer können. Dies korrespondiert mit dem obersten Lernziel, zum<br />

lebenslangen <strong>Lernen</strong> zu motivieren. Und können nicht auch Erwachsene von Kindern<br />

lernen - statt immer nur umgekehrt? Wenn Vater <strong>und</strong>/oder Mutter keine Zeit oder kein<br />

Interesse an den Computerfortschritten ihres Sprösslings haben, so bieten sich die<br />

Großeltern - sofern vorhanden - dazu an, dass die Enkel sie ihnen demonstrieren.<br />

Dies trägt zu generationenübergreifenden Kontakten <strong>und</strong> Denkanstößen bei.<br />

Vielleicht "staunen" Opa <strong>und</strong> Oma darüber, was sich aus Computer <strong>und</strong> Internet alles<br />

"hervorzaubern" lässt, <strong>und</strong> sie lernen mit. Ein "Gewinn" wäre auch, wenn Großeltern<br />

sich finanziell an der PC-Ausstattung der Enkel beteiligen, statt ihnen beliebte, aber<br />

fragwürdige Computerspiele zu schenken. 225<br />

Aufgeschlossene "alte Menschen" lassen sich in die Klasse einladen <strong>und</strong> "erzählen"<br />

Kindern: aus ihrer Lebens- <strong>und</strong> Erfahrungswelt, aus ihrer Schulzeit. So kann z.B.<br />

regionale oder lokale Alltagsgeschichte konkret generationenübergreifend<br />

nacherlebt, nicht nur abstrakt vermittelt werden. 226 Die Chancen, frühere <strong>und</strong> eigene<br />

224 Kornelia Möller: Technisches <strong>Lernen</strong> in der Gr<strong>und</strong>schule. Wege zum konstruktiven Denken im<br />

Sachunterricht. In: Gr<strong>und</strong>schule Heft 2, 2002. Seiten 51-54; Wolfgang Biester (Hg.): Denken über<br />

Natur <strong>und</strong> Technik. Zum Sachunterricht in der Gr<strong>und</strong>schule. Bad Heilbrunn 1991.<br />

225 Waldemar Grosch: Computerspiele im Geschichtsunterricht. Geschichte am Computer. Band 2.<br />

Schwalbach/Taunus 2002 fällt ein negatives Urteil, da Computerspiele süchtig machen können <strong>und</strong><br />

Geschichte "verbiegen" (Seite 8). Vgl. dazu auch Vadim Oswalt: Multimediale Programme im<br />

Geschichtsunterricht. Geschichte am Computer. Band 1. Schwalbach/Taunus 2002.<br />

226 Waltraut Holl: Alte Menschen erzählen Kindern. Erfahrungen in Gr<strong>und</strong>schulprojekten mit<br />

historischer Thematik. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht 38, 1987, Seiten 541-552. -<br />

Eigene Lebenserfahrungen der Lehrer/innen fließen mit ein in den Unterricht; vgl. Karl Pellens:<br />

Schülernaher Geschichtsunterricht. Freiburg i. Brsg. 1975. Seite 34ff.<br />

213


Lebenswelten selbstständig zu erk<strong>und</strong>en, sind an Ganztagsschulen mit ihren<br />

Nachmittagsangeboten größer <strong>als</strong> an konventionellen Gr<strong>und</strong>schulen.<br />

7.8. Diagnostik I im Primarbereich: Individuelle Fähigkeiten oder<br />

Retardierungen <strong>und</strong> familiäre Umwelt<br />

PC- <strong>und</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> schließen Frontalunterricht nicht gr<strong>und</strong>sätzlich aus. Sie<br />

erleichtern aber, den Unterricht offener <strong>und</strong> differenzierter zu gestalten <strong>und</strong> so<br />

blockierte Energien freizusetzen. Gr<strong>und</strong>schulkinder erhalten Spielraum, sich Themen<br />

zuzuwenden, die sie interessieren, <strong>und</strong> Lehrer/innen gewinnen Zeit, dieses<br />

individuelle Ausgangsniveau zu berücksichtigen.<br />

Aus Frontalunterricht, bei dem nur eine/r spricht <strong>und</strong> bestimmt <strong>und</strong> alle anderen<br />

zuhören oder abschalten, entsteht so eine neue Unterrichtsqualität <strong>und</strong> -forschung:<br />

Individuelle Fähigkeiten oder Retardierungen einzelner Kinder lassen sich<br />

diagnostizieren <strong>und</strong> binnendifferenziert testen, z.B. in Gruppen- oder Partnerarbeit.<br />

Da die Kinder noch nicht aussortiert sind, eignet sich die Gr<strong>und</strong>schule am besten<br />

dazu, kreativitätsfördernde <strong>und</strong> kreativitätshemmende Faktoren so frühzeitig wie<br />

möglich wahrzunehmen. Daraus lassen sich gezielte Förder- oder Stützmaßnahmen<br />

ableiten.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich verfügt jedes Kind über ein "schlafendes" kreatives Potenzial, das es<br />

zu "wecken" gilt. Kreativitätserziehung <strong>und</strong> die Entfaltung der Persönlichkeit des<br />

Kindes nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz (4.2.) gehören daher mit zu den<br />

Hauptaufgaben der Gr<strong>und</strong>schule. Nach <strong>neues</strong>ten Forschungen haben Säuglinge das<br />

absolute Gehör, das verkümmert <strong>und</strong> deshalb verschwindet - eine Begabung, die bei<br />

Erwachsenen, auch Musikern, äußerst selten <strong>und</strong> mysteriös ist. "Viele Menschen<br />

können ihr kreatives Potential nicht entfalten, weil sie durch die Art ihrer Erziehung in<br />

der Familie <strong>und</strong> ihre Erfahrungen bei der Ausbildung <strong>und</strong> im Beruf systematisch<br />

blockiert worden sind <strong>und</strong> heute noch - z.T. unbewußt - blockiert werden." 227 Solche<br />

"geistigen Trampelpfade" zu erkennen <strong>und</strong> zu überwinden, lässt sich üben <strong>und</strong><br />

trainieren.<br />

Wie ausgeführt, vermögen Lehrer/innen <strong>und</strong> Schule die Familie <strong>als</strong> "fördernde<br />

Umwelt" (Winnicott) zwar nicht zu ersetzen, aber doch nachträglich kompensatorisch<br />

zu wirken, wenn sie zielgerichtet intervenieren. Aber lassen sich so Familiendefizite,<br />

vor allem körperlich-emotionale des Narzissmus, nachträglich ausgleichen oder<br />

wenigstens mindern (1.4., 2.8.-2.9.)? Katharina z.B., etwas mehr <strong>als</strong> ein Jahr alt,<br />

spricht nur wenige Worte, "liest" aber, indem sie ihre familiäre Umgebung nachahmt<br />

227<br />

Reinhard Sellnow: Die mit den Problemen spielen...Ratgeber zur kreativen Problemlösung. Stiftung<br />

Mitarbeit (Hg.). Bonn 1997. Seite 14.<br />

214


<strong>und</strong> ein Stück Zeitung so hält, <strong>als</strong> lese sie. Eine solche primäre Identifikation<br />

verschafft Katharina einen enormen schulischen Vorsprung, so dass sich das<br />

Problem der sozial <strong>und</strong> familiär benachteiligten Kinder wie von selbst stellt: "ihnen<br />

liest niemand vor, sie sehen niemand lesen". 228<br />

In der Tat hängt der Schulerfolg wesentlich von der Familienbiografie ab:<br />

Benachteiligt sind Kinder von Alleinerziehenden, aus sozialen (so genannten<br />

Stieffamilien) sowie aus Adoptiv- <strong>und</strong> Pflegefamilien gegenüber Kindern aus<br />

traditionellen Familien mit beiden leiblichen Eltern. 229 Diese <strong>neues</strong>ten<br />

Untersuchungen erhärten den Bef<strong>und</strong> der PISA-Studien I <strong>und</strong> II, dass die soziale<br />

Herkunft den schulischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg in <strong>Deutschland</strong> weitgehend<br />

vorherbestimmt (1.6.). Durch frühzeitige Computer Literacy kann Gr<strong>und</strong>schule,<br />

insbesondere die Ganztagsschule, wenigstens verhindern, dass familiär bedingte<br />

Ungleichheiten durch die digitale Trennung oder Spaltung (digital divide) im<br />

Informationszeitalter noch weiter verstärkt werden (1.1. <strong>und</strong> 7.6.-2.).<br />

7.9. Diagnostik II im Primarbereich: Geschlechtsspezifische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

Rollenerwartungen<br />

Geschlechtsspezifische Präferenzen beim <strong>Lernen</strong> lassen sich vermutlich in der<br />

Gr<strong>und</strong>schule früher <strong>und</strong> besser diagnostizieren <strong>als</strong> später in den Sek<strong>und</strong>arbereichen<br />

I <strong>und</strong> II oder gar Universitäten. Bestätigen sich z.B. in Ihrer Klasse Bef<strong>und</strong>e, dass<br />

Jungen mehr an Geschichte <strong>und</strong> Politik interessiert seien <strong>als</strong> Mädchen? 230 Oder<br />

hängt dies weniger vom Fach selbst <strong>als</strong> vielmehr von konkreten historischen <strong>und</strong><br />

politischen Themen ab, z. B. Krieg, Außenpolitik <strong>und</strong> Wirtschaft bei Jungen sowie<br />

Lebens- <strong>und</strong> Zukunftsfragen bei Mädchen?<br />

Klischeehaft wäre, Weiblichkeit mit "unpolitisch" <strong>und</strong> Männlichkeit mit "politisch" zu<br />

verknüpfen. Dagmar Richter (Braunschweig), Expertin für geschlechtsspezifisches<br />

politisches <strong>Lernen</strong>, betont daher mit Recht: "Das Individuum ist nicht abstrakt <strong>und</strong><br />

körperlos, sondern Mädchen <strong>und</strong> Jungen haben eine je unterschiedliche subjektiv-<br />

228 Mechthild Dehn u.a.: Lesen lernen - Lesenlehren. In: Handbuch Lesen. Im Auftrag der Stiftung<br />

Lesen <strong>und</strong> der Deutschen Literaturkonferenz. München 1999. Seiten 570 - 584, zit. 573. Vgl. dazu<br />

auch Mechthild Dehn: Bilderbuch, Zeitung <strong>und</strong> Autoatlas. Zur Entwicklung eines Begriffs vom Lesen.<br />

In: Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift 5, 1991, Heft 41. Seite 3.<br />

229 Elisabeth Schlemmer: Familienbiografien <strong>und</strong> Schulerfolg von Kindern. In: Aus Politik <strong>und</strong><br />

Zeitgeschichte B19 vom 3. Mai 2004. Seiten 26 - 32, zit. 30f.<br />

230 Hans Müller: Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts. Schülerverhalten <strong>und</strong> allgemeiner<br />

Lernerfolg durch Gruppenunterricht. Stuttgart 1972. Seiten 97ff., zum Gruppenunterricht Seiten 64ff.;<br />

Bodo von Borries: Geschlechtsspezifisches Geschichtsbewusstsein <strong>und</strong> koedukativer<br />

Geschichtsunterricht. In: Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65.<br />

Geburtstag. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 89 - 111, vor allem Seiten 90ff.<br />

215


emotionale Einstellung zum eigenen Körper." 231 Diese geschlechtstypische<br />

Körpererfahrung <strong>und</strong> das damit zusammenhängende Selbstwertgefühl beeinflussen<br />

politische Lernprozesse.<br />

Nach der PISA-Studie I erzielen Mädchen im Bereich der Lesekompetenz bessere<br />

Leistungen <strong>als</strong> Jungen. Umgekehrt erreichen Mädchen in Mathematik <strong>und</strong> Physik in<br />

allen Schulformen schwächere Ergebnisse <strong>als</strong> Jungen. Individuelle mathematischnaturwissenschaftliche<br />

Begabungen bei Mädchen werden gelegentlich vielleicht<br />

deshalb nicht wahrgenommen <strong>und</strong> gefördert, weil sie festgelegten<br />

Rollenerwartungen widersprechen. Wenn Mädchen sich im mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Bereich wenig zutrauen, liegt es manchmal nicht an ihren<br />

Fähigkeiten <strong>als</strong> vielmehr an ihrer Selbsteinschätzung, dass Jungen "besser" sind <strong>als</strong><br />

sie. Dementsprechend klassifizieren sie Lehrer/innen <strong>und</strong> Eltern. 232 "Viele Mädchen<br />

glauben daher inzwischen selbst, sie könnten mit Mathe nichts anfangen, halten gute<br />

Ergebnisse für Zufallstreffer, trauen sich im Unterricht aus Angst, sich wieder eine<br />

Blöße zu geben, kaum noch nachzufragen. Jungen dagegen wachsen in der<br />

Annahme auf, sie seien gut in Mathematik. Stimmt das Selbstbild nicht mit den<br />

Leistungen überein, haben sie entweder Pech gehabt oder es liegt am Lehrer oder<br />

der eigenen Faulheit." 233<br />

Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> in der Gr<strong>und</strong>schule ermöglicht vor allem im<br />

Sachunterricht, individuelle Interessen <strong>und</strong> Fähigkeiten, aber auch Schwächen von<br />

Gr<strong>und</strong>schulkindern frühzeitig zu beobachten, zu beschreiben <strong>und</strong> zu beurteilen. 234<br />

Durch innere Differenzierung lassen sich daraus Konsequenzen ziehen, sei es durch<br />

Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit, sei es durch Stützmaßnahmen z.B. bei Sprach-<br />

, Schreib- <strong>und</strong> Leseschwäche, sei es durch Förderung individueller Neigungen.<br />

231<br />

Dagmar Richter: Geschlechtsspezifische Zusammenhänge politischen <strong>Lernen</strong>s. In: Wolfgang<br />

Sander (Hg.): Handbuch der politischen Bildung. Bonn 1997. Seiten 403 - 414, zit. 409. - Weshalb die<br />

Diskriminierung von Frauen erfordert, "eine didaktische Position Kritischer Theorie" zu vertreten <strong>und</strong><br />

sie mit "Zielen der Emanzipation, Mündigkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmung" zu identifizieren, vermag Richter<br />

m. E. nicht schlüssig zu begründen: Dagmar Richter: Geschlechtsdifferente Aspekte<br />

handlungsorientierten <strong>Lernen</strong>s. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.): Handlungsorientierung im<br />

Politikunterricht. Bonn 1998. Seiten 170 - 176, zit. 170. Vgl. dazu auch Sibylle Reinhardt: Männlicher<br />

oder weiblicher Politikunterricht? Fachdidaktische Konsequenzen einer sozialen Differenz. In: Sibylle<br />

Reinhardt/Elke Weise (Hrsg.): Allgemeine Didaktik <strong>und</strong> Fachdidaktik. Fachdidaktiker behandeln<br />

Probleme ihres Unterrichts. Weinheim 1997. Seiten 37 - 66; Astrid Kaiser u.a.: Projekt<br />

geschlechtergerechte Gr<strong>und</strong>schule. Berichte aus der Praxis. Opladen 2003.<br />

232<br />

Vgl. Hildegard Macha: Rekrutierung von weiblichen Eliten. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 10<br />

vom 1. März 2004. Seiten 25 - 32, zit. 28.<br />

233<br />

Stephan Lüke: Von Mädchen, IT-Berufen <strong>und</strong> einem Defizit. Die nordrhein-westfälische<br />

Frauenministerin Birgit Fischer will die Dominanz der Männer in den Berufen der<br />

Informationstechnologie brechen. In: General-Anzeiger vom 5. Juli 2004. Seite 5.<br />

234<br />

Eckhardt Preuß/Ulrike Itze/Herbert Ulonska (Hg.): <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Leisten in der Gr<strong>und</strong>schule. Bad<br />

Heilbrunn 1999; Dietmar von Reeken (Hg.): Handbuch Methoden im Sachunterricht. Baltmannsweiler<br />

2003.<br />

216


Es wäre sicher verfrüht <strong>und</strong> voreilig, aus dem Interesse am Computer oder an<br />

Gesetzestexten schon auf technische oder normativ-juristische Fähigkeiten zu<br />

schließen; doch spricht nichts dagegen, Gruppen zu bilden, die sich an vornehmlich<br />

technischen, historischen, geografischen, sozial- <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen oder<br />

auch geschlechtsspezifischen Neigungen von Kindern orientieren. Daraus lassen<br />

sich hypothetisch später Leistungsbeurteilungen ableiten, die <strong>als</strong> Wegweiser für die<br />

Einschulung in den Sek<strong>und</strong>arbereich I dienen können. Dabei fließen auch<br />

geschlechtsspezifische Verhaltensweisen <strong>und</strong> Rollenmuster mit ein: Mädchen wird<br />

hauptsächlich ein Anpassungs- <strong>und</strong> Kooperations-, Jungen dagegen vornehmlich ein<br />

Dominanzprogramm zugeschrieben. 235<br />

7.10. Diagnostik III im Primarbereich: Migrantenbezogene, vor allem<br />

deutsch-türkische Schul- <strong>und</strong> Integrationsprobleme<br />

Ungelöst <strong>und</strong> für viele Gr<strong>und</strong>schulen unlösbar ist das Migrantenproblem, das im<br />

Amtsdeutsch SNDH heißt - "Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache". Der Anteil<br />

ausländischer Gr<strong>und</strong>schulkinder beträgt in städtischen Ballungszentren bis zu 50 <strong>und</strong><br />

60%, in Ausnahmefällen - wie in Berlin oder Köln - liegt er sogar darüber.<br />

Unterrichtssprache Deutsch!<br />

In NRW muss jedes zehnte Kind einen Deutschkurs besuchen, bevor es eingeschult<br />

wird, damit es den Unterricht überhaupt verstehen kann. Die Sprachkurse, die auf<br />

den Schulbeginn vorbereiten sollen, dauern sechs Monate, gezielte<br />

Sprachförderkurse zehn Monate. Das Angebot ist flächendeckend, reicht aber<br />

dennoch nicht aus, um die Voraussetzungen für einen geregelten Unterricht in der<br />

deutschen Sprache zu schaffen - nicht nur bei ausländischen, sondern auch bei<br />

deutschen Kindern, die ihre Sprache schlecht beherrschen.<br />

Mit der Einschulung beginnt die soziale Ausgrenzung vieler Ausländerkinder schon<br />

aus sprachlichen Gründen, wenn sich ihre Familien - wie z.B. in türkischen Vierteln -<br />

gettoisiert haben <strong>und</strong> eine Integration in <strong>Deutschland</strong> ablehnen - aus welchen<br />

Gründen auch immer. Migrantenkinder geraten deshalb in einen Circulus vitiosus,<br />

aus dem es offenbar kein Entrinnen gibt: Er beginnt in den Familien, in denen Kinder<br />

selbst in der dritten Generation kein oder nur gebrochen Deutsch lernen; er setzt sich<br />

in den Schulen fort, in die solche Kinder gehen müssen, ohne dem Unterricht folgen<br />

zu können; <strong>und</strong> er endet in Arbeitslosigkeit oder Hilfstätigkeiten, weil sie keinen<br />

Schulabschluss haben, oft <strong>als</strong> Teufelskreis auch im Außenseitertum <strong>und</strong><br />

Extremismus, ausnahmsweise sogar im Terrorismus. Denn wer nicht deutsch spricht<br />

235 Schlaue Mädchen. Dumme Jungen. Sieger <strong>und</strong> Verlierer in der Schule. In: Der Spiegel Nr. 21 vom<br />

17. Mai 2004. Seiten 82 - 95 (Titel), zit. 85. Vgl. dazu auch Doris Bischof-Köhler: "Von Natur aus<br />

anders." Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. Stuttgart 2002. (aus biologischer Sicht)<br />

217


<strong>und</strong> liest, kann sich nicht bilden <strong>und</strong> ausbilden in <strong>Deutschland</strong>, hat keine Berufs- <strong>und</strong><br />

Aufstiegschancen, keine Perspektiven.<br />

Das Migranten- <strong>und</strong> das damit zusammenhängende Schulproblem in <strong>Deutschland</strong> ist<br />

komplexer <strong>als</strong> oben verkürzt dargestellt. Anders <strong>als</strong> westeuropäische, auch<br />

osteuropäische <strong>und</strong> afrikanische Ausländer/innen, die in <strong>Deutschland</strong> leben <strong>und</strong> ihre<br />

kulturelle, sprachliche <strong>und</strong> religiöse Identität wahren, aber Deutsch lernen <strong>und</strong> zur<br />

Integration bereit sind, herrscht bei vielen Ausländern/innen aus dem orientalischislamischen<br />

Kulturkreis, insbesondere Türken/innen, der Wille zur Abschottung statt<br />

zur Integration vor. Manche türkischen Familien, vor allem in Köln <strong>und</strong> Berlin (z. B.<br />

Kreuzberg, z. T. auch in Wedding <strong>und</strong> Tiergarten), leben freiwillig im Getto. Sie hören<br />

<strong>und</strong> sehen nur türkische Programme <strong>und</strong> sondern sich ethnisch ab - trotz intensiver,<br />

auch finanzieller deutscher Bemühungen, sie zu integrieren, ohne jedoch ihre<br />

kulturelle, auch religiöse Identität in Frage zu stellen.<br />

Türkische Kinder, in der 3. Generation in <strong>Deutschland</strong> geboren, werden oft durch<br />

Wertvorstellungen familiär geprägt, wie sie vor dreißig oder fünfzig Jahren in der<br />

Türkei galten <strong>und</strong> dem Geist der Demokratie <strong>und</strong> Toleranz widersprechen. Dieses<br />

ethnische <strong>und</strong> geistige Getto programmiert ihre soziale Perspektivlosigkeit <strong>und</strong><br />

Exklusion. Als Kinder sind sie Opfer ihrer Familien, <strong>als</strong> Erwachsene gehören sie zur<br />

"gastarbeitertypischen" Reservearmee aus Ungelernten <strong>und</strong> Arbeitslosen (1.7). Ihre<br />

Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> ihre individuellen<br />

Fähigkeiten haben sie nie entfalten können, weil ihnen der Zugang zu ihnen versperrt<br />

blieb. Die Gr<strong>und</strong>schule konnte nicht kompensatorisch wirken, weil sie <strong>als</strong> Kinder nicht<br />

oder kaum Deutsch gelernt haben <strong>und</strong> deshalb gettoisiert blieben — wie ihre<br />

Ursprungsfamilien auch. In ihnen herrschen häufig starke interfamiliäre Spannungen<br />

mit psychosomatischen Störungen; denn die Kinder, die in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> damit<br />

einem anderen Kulturkreis aufwachsen, werden oft gezwungen, sich dem strengen<br />

patriarchalischen Regiment des Vaters, das manchmal auch die Mutter verinnerlicht<br />

hat <strong>und</strong> unterstützt, zu unterwerfen.<br />

Als langjähriger Leiter der Abteilung Politikwissenschaft am Seminar für Orientalische<br />

Sprachen der Universität Bonn (1992-2001) studierten bei mir großenteils Ausländer,<br />

vornehmlich türkische. Die türkischen Studenten hatten oft Sprachprobleme, so dass<br />

ich mich gefragt habe, wie sie ein deutsches Abitur hatten bestehen können, sie<br />

standen aber auch mit dem Türkischen <strong>und</strong> Englischen auf dem Kriegsfuß. Anders<br />

dagegen verhielt es sich häufig mit türkischen Studentinnen: Sie waren sprachlich<br />

<strong>und</strong> intellektuell ihren männlichen türkischen Kommilitonen nicht nur überlegen,<br />

sondern in Einzelfällen auch ihren deutschen haushoch überlegen <strong>und</strong> brannten<br />

förmlich vor Ehrgeiz <strong>und</strong> Leistungsbereitschaft. Meistens handelte es sich um<br />

Türkinnen aus Bayern, so dass ich manchmal gewitzelt habe, eine ausländische<br />

Familie in <strong>Deutschland</strong> müsse wohl nach Bayern ziehen, wenn sie ihren Kindern zu<br />

guten Deutschkenntnissen <strong>und</strong> zu einer guten Schulbildung verhelfen wolle. Wenn<br />

es sich auch um subjektive <strong>und</strong> vielleicht Zufallsbef<strong>und</strong>e handelt, die sich nicht<br />

218


verallgemeinern lassen: Immerhin ist Bayern in der nationalen PISA-Studie<br />

Spitzenreiter in <strong>Deutschland</strong> (1.2); <strong>und</strong> bei den türkischen Studentinnen wirkt sich<br />

offenbar eine geschlechtsspezifische Komponente aus: dass sie ihre familiär-<br />

patriarchalisch bedingte Diskriminierung gegenüber Jungen durch intellektuelle<br />

Leistungen unbewusst kompensieren wollen <strong>und</strong> damit gegen die ihnen<br />

aufoktroyierte traditionelle türkische Frauenrolle aufbegehren.<br />

In die D-Dok. sind türkischsprachige Originalquellen nebst deutschen Übersetzungen<br />

aufgenommen, die das türkisch-deutsch-europäische Verhältnis <strong>und</strong> die Lage der<br />

türkischen "Gemeinde" in <strong>Deutschland</strong> exemplarisch spiegeln sollen. Sie werden in<br />

diese vornehmlich deutschsprachige Datenbank integriert, um zu dokumentieren,<br />

dass Ausländer in <strong>Deutschland</strong> wahrgenommen werden <strong>und</strong> dort mit anderen leben<br />

können, ohne ihre Identität, ihre Sprache, ihre Religion, ihre Kultur, ihre Wurzeln<br />

aufgeben oder verleugnen zu müssen.<br />

Gleichberechtigt <strong>und</strong> chancengleich individuell entfalten können sich Ausländer/innen<br />

jedoch nur dann, wenn sie die Demokratie in <strong>Deutschland</strong> respektieren <strong>und</strong> die<br />

deutsche Sprache erlernen, um sich zu integrieren - statt sich abzuschotten, damit<br />

ins Abseits zu stellen oder gar Intoleranz, Hass <strong>und</strong> Terror zu predigen. Je schlechter<br />

junge Türken in <strong>Deutschland</strong> integriert sind, um so mehr neigen sie dazu, sich<br />

islamisch-f<strong>und</strong>amentalistischen Überzeugungen zu verschreiben oder politischnationalistischen<br />

Organisationen wie "Milli Görüº" (Nationale Sicht) oder<br />

"Bozkurtcular" (Graue Wölfe) anzuschließen. Integration heißt nicht Assimilierung im<br />

Gastland, verbietet aber auch, Gastrechte zu missbrauchen <strong>und</strong> auszubeuten.<br />

Ob <strong>und</strong> inwieweit es gelingt, die angebotenen fremdsprachlichen Quellen in der D-<br />

Dok. für die geschilderte migrantenspezifische Integration fruchtbar zu machen, ist<br />

keine theoretische, sondern eine praktische Frage. Es ist auch kein schulisches oder<br />

Bildungsproblem allein, sondern längst eine ungelöste nationale <strong>und</strong> darüber hinaus<br />

eine europäische Aufgabe. Die Politik schiebt sie vor sich her <strong>und</strong> manövriert damit<br />

die Schulen in eine Sackgasse. Schon heute ist an vielen Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Hauptschulen<br />

mit hohem Migrantenanteil das Unterrichten in deutscher Sprache unmöglich — <strong>und</strong><br />

wird dennoch gefordert. Wenn Familien <strong>und</strong> Staat so versagen, kann auch Schule<br />

nichts daran ändern.<br />

7.11. Die erste Lernprobe: Die Vorstellung der D-Dok. in einer 4. Klasse<br />

der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid<br />

Die Abschnitte 7.5. - 7.10. habe ich ohne Schulerfahrung unter Auswertung der<br />

zitierten Literatur geschrieben. Da ich mich auch in Forschung <strong>und</strong> Lehre nicht mit<br />

dem Primarbereich befasst habe, liegt nahe, dass ich die Realitäten verkenne, die an<br />

Gr<strong>und</strong>schulen herrschen. Daher habe ich eine mir bekannte, erfahrene<br />

219


Gr<strong>und</strong>schullehrerin gebeten, die Abschnitte 7.5. - 7.10. kritisch durchzusehen, <strong>und</strong><br />

mich einer Lernprobe in einer Gr<strong>und</strong>schule gestellt.<br />

In einer "Lehrprobe", so meinten meine häuslichen <strong>und</strong> außerhäuslichen<br />

Kritikerinnen, <strong>und</strong> belehrten mich, was ich dabei alles beachten müsse. Nein, in einer<br />

Lernprobe, widersprach ich. Von einer "Lernprobe" hatten die Re<strong>als</strong>chullehrerinnen<br />

noch nichts gehört. Meine Frau mutmaßt, dass es so etwas gar nicht gebe <strong>und</strong> von<br />

mir erf<strong>und</strong>en worden sei, um die mir lästigen Fragen nach meinen pädagogischen<br />

Qualifikationen abzuschütteln.<br />

Dennoch hat die erste <strong>und</strong> bisher einzige Lernprobe mit der D-Dok. stattgef<strong>und</strong>en:<br />

Am 20. Juli 2004 in einer 4. Klasse der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid. Der<br />

Bonner General-Anzeiger hatte über offene Unterrichtsformen, über die Abkehr vom<br />

starren 45-Minutenschema, über den bevorzugten PC-Unterricht an dieser Schule<br />

<strong>und</strong> ihre Lehrerin Brigitte Dörpinghaus berichtet. 236 Anwesend war auch der Verfasser<br />

dieses Artikels, der Journalist Stephan Lüke.<br />

Zum ersten Male seit einem Schulpraktikum während meines Lehramtsstudiums,<br />

<strong>als</strong>o vor etwa 45 Jahren, stand ich zwar nicht mehr vor, sondern inmitten einer<br />

Klasse. Die Kinder schauten mich erwartungsvoll an. Ich hatte keinen<br />

Unterrichtsentwurf vorbereitet, damit alles offen bleibt.<br />

Ich will euch meine DVD mit Texten, Bildern <strong>und</strong> Tönen zeigen, so begann ich,<br />

nachdem ich mich <strong>und</strong> den Zeitungsartikel kurz vorgestellt hatte. Wie erwartet,<br />

wussten die Kinder, was eine DVD ist. Mehr <strong>als</strong> die Hälfte von ihnen verfügte, wie ich<br />

erfragte, über einen eigenen Fernseher.<br />

Zu einer Panne kam es gleich am Anfang. Mit dem Laufwerk der bereitgestellten<br />

PC's ließ sich die D-Dok. nicht starten. Brigitte Dörpinghaus besorgte kurzfristig<br />

einen Laptop, einen Beamer <strong>und</strong> einen Projektionsbildschirm. Dann erst begann -<br />

beträchtlich verspätet - die eigentliche Lernprobe.<br />

Die Kinder, um den Laptop geschart, bestimmten selbst, welche Bilder (Datei-<br />

Koeffizient: FOT) sie öffnen <strong>und</strong> betrachten wollten. Die erste Überraschung: Aus<br />

779 Bild-Dokumenten fischten sie ein Foto heraus, das B<strong>und</strong>espräsident von<br />

Weizsäcker am 2. November 1987 mit Prinzessin Diana zeigt. Von Lady Di trennten<br />

sie sich nur ungern, von mir gebeten, zu den Ton-Dokumenten überzugehen. Von<br />

den Politikern beeindruckte die Kinder vor allem Ernst Reuters Stimme (13 von 407<br />

Ton-Dokumenten) <strong>und</strong> das Pathos, mit dem er vor der Bedrohung Berlins warnte.<br />

236 Stephan Lüke: Der Spaß der Kinder hat sie alle überzeugt. Frontalunterricht <strong>und</strong> starre Regeln<br />

gehören in der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid der Vergangenheit an. Stattdessen<br />

entscheiden die Schüler über ihr Pensum <strong>und</strong> lernen am PC. In: General-Anzeiger vom 17. Februar<br />

2004. Seite 5.<br />

220


Der nächste Wunsch der Kinder, den ich nicht erfüllen konnte <strong>und</strong> wollte, hieß:<br />

"Lieder" - <strong>als</strong>o Unterhaltung. Der Ruf nach panem et circenses war unüberhörbar.<br />

Die Kinder begannen zu agieren. Ich hatte sie mit dazu verleitet, indem ich ihnen die<br />

D-Dok. über Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente, <strong>als</strong>o über die bei ihnen durch Fernsehen<br />

eingeübte Viewing Literacy, hatte nahe bringen wollen.<br />

Daher habe ich die Kinder mit neuen Fakten konfrontiert <strong>und</strong> sie insoweit belehrt:<br />

dass die D-Dok. keine McDonald-DVD sei, dass sie keine Spiele kenne <strong>und</strong> weder<br />

Madonna noch Michael Jackson, sondern allenfalls Marschmusik <strong>als</strong><br />

Hintergr<strong>und</strong>musik bieten könne; dass deshalb Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente nur<br />

Geschriebenes ergänzen <strong>und</strong> veranschaulichen sollen, dass das Lesen von <strong>und</strong> das<br />

<strong>Lernen</strong> mit Schriftlichem im Mittelpunkt stehe <strong>und</strong> dies Arbeit von ihnen erfordere.<br />

Um Schreiben, Lesen <strong>und</strong> Rechnen zu lernen, seien sie in der Schule, <strong>und</strong> nicht um<br />

zu spielen <strong>und</strong> sich zu unterhalten — dies könnten sie zu Hause tun.<br />

Die zweite Überraschung: Die Kinder hörten nicht nur die Botschaft, sie nahmen sie<br />

offensichtlich mehrheitlich auch an, obwohl ich nicht umhin gekommen war, sie zu<br />

belehren, <strong>und</strong> ich dies hatte vermeiden wollen. Manchen stand die Enttäuschung<br />

aber ins Gesicht geschrieben, da sie sich von der DVD Unterhaltung, Musik, Spiel<br />

<strong>und</strong> Spaß versprochen hatten.<br />

Wie von mir vorgeschlagen, mit der Rechtschreibung zu beginnen, gab ein Junge<br />

statt "Vater" f<strong>als</strong>ch "Vatter" ein. Trefferquote 0. Nach Verbesserung "Vater": 225<br />

Treffer. Die dritte Überraschung: Die Kinder haben, wenngleich auf Befragen, die -<br />

nicht immer, aber weitgehend zutreffende - Regel aufgr<strong>und</strong> der angezeigten <strong>und</strong><br />

teilweise geöffneten Dateien aufgestellt: Bei Rechtschreibfehlern gibt es keine<br />

Treffer, <strong>und</strong> Vater hat auch etwas mit Paragrafen zu tun. Mehr kann <strong>und</strong> ist von<br />

Gr<strong>und</strong>schulkindern nicht zu erwarten.<br />

Ist die Heimatstadt Remscheid in der D-Dok. zu finden? Das interessierte die Kinder,<br />

die Wert darauf legten, den Laptop selbst zu bedienen, <strong>und</strong> sich auf der Tastatur gut<br />

auskannten. Remscheid: 3 Treffer. Hackenberg (Stadtteil): 0 Treffer. Solingen: 32<br />

Treffer. Düsseldorf: 198 Treffer. Die vierte Überraschung: Die Kinder haben die<br />

Schlussfolgerungen aus diesen Trefferzahlen selbst gezogen; allerdings hatten sie<br />

anfangs nur geraten, <strong>und</strong> ich musste wiederholt nachfragen, bis sie stichhaltige<br />

Begründungen lieferten. So hatten sie auf die Frage: "Weshalb hat Remscheid 3,<br />

aber Solingen 32 Treffer?", zunächst spontan geantwortet: "Dort ist mehr los",<br />

"Solingen ist größer", "Es ist bekannter" u. a. Erst <strong>als</strong> ich darauf hinwies, was der<br />

Computer ausgespuckt hatte, verarbeiteten sie Informationen zum<br />

fremdenfeindlichen "Brandanschlag". Die Kinder ließen sich auch nicht verwirren, <strong>als</strong><br />

ich fragte, weshalb Düsseldorf, <strong>als</strong>o dem Namen nach ein Dorf, so häufig in der D-<br />

Dok. zu finden sei, aber ihr Stadtteil Hackenberg nicht.<br />

221


Damit endete die Lernprobe, da mich die Kinder darauf aufmerksam machten, dass<br />

ich die St<strong>und</strong>e mit etwa 20 Minuten mehr <strong>als</strong> überzogen hatte. Die Abkehr vom 45-<br />

Minutentakt hatte für sie offensichtlich Toleranzgrenzen, die zu beachten waren.<br />

Die fünfte Überraschung betrifft mich <strong>als</strong> <strong>Lernen</strong>den: Zwar haben die Kinder den<br />

Verlauf der Lernprobe weitgehend selbst bestimmt, doch habe ich wiederholt<br />

interveniert. Ich bin nicht ohne Belehrungen ausgekommen, obwohl ich auf sie hatte<br />

verzichten wollen. Mit anderen Worten: Interventionen <strong>und</strong> Belehrungen sind ebenso<br />

wie Frontalunterricht gelegentlich unvermeidlich <strong>und</strong> je nach Zielsetzungen auch<br />

sinnvoll, sofern sie nicht zur Routine <strong>und</strong> zur Unterrichtsregel werden - wie heute oft<br />

in den Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II.<br />

Meine studentischen Mitarbeiter/innen an der Universität Bonn, die ich gebeten hatte,<br />

die D-Dok. mit mir an der Gr<strong>und</strong>schule in Remscheid vorzustellen, schützten alle<br />

Ausreden vor, um mich nicht begleiten zu müssen - auch jene, die am 20. Juli 2004<br />

Dienst hatten. Der Hauptgr<strong>und</strong>: Sie halten die D-Dok. <strong>und</strong> ihre Quellentexte für<br />

Gr<strong>und</strong>schulkinder für zu schwer <strong>und</strong> deshalb für ungeeignet <strong>und</strong> unbrauchbar. Vor<br />

Gymnasiallehrern/innen in Bonn dagegen hatten sie die D-Dok. mit mir vorgestellt,<br />

einmal auch allein.<br />

Fazit: Es liegt nicht an den Kindern, es liegt an den Erwachsenen, wenn<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> nicht oder nur sehr schwer an Gr<strong>und</strong>schulen wird Fuß fassen können.<br />

Als Erwachsene bestimmen sie darüber, was Kinder zu lernen haben, <strong>und</strong><br />

Lehrern/innen wird oft minutiös vorgeschrieben, was sie ihnen zu lehren haben.<br />

Jahrzehntelang in der Schul-, Hochschul- <strong>und</strong> Referendarzeit eingeübte<br />

Lehrmethoden, die meistens zur Routine erstarrt sind, <strong>und</strong> nicht zuletzt eine<br />

Bildungspolitik <strong>und</strong> Schulbürokratie, die Lehrer/innen zur Unselbstständigkeit<br />

"erzogen" <strong>und</strong> von Richtlinien/Lehrplänen abhängig gemacht haben, lassen sich nur<br />

Schritt für Schritt reformieren. Denn es handelt sich nicht allein um geistigintellektuelle<br />

Umstellungen, sondern um eingefleischte emotionale Einstellungen, die<br />

in der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen verankert sind <strong>und</strong> sich deshalb nur<br />

langfristig <strong>und</strong> langsam werden ändern lassen.<br />

Vermutlich werden sich nur einzelne engagierte Lehrer/innen finden, die es wagen,<br />

die D-Dok. an Gr<strong>und</strong>schulen zu erproben. Vielleicht gehört die Gr<strong>und</strong>schullehrerin<br />

<strong>und</strong> Lehrbeauftragte Brigitte Dörpinghaus dazu, der ich zum Abschied ein<br />

Freiexemplar der D-Dok. überreicht habe, aber sicher nicht die Schulleiterin der<br />

angeblich auf computergestützten Unterricht spezialisierten Gr<strong>und</strong>schule<br />

Hackenberg in Remscheid. Als ich ihr die D-Dok. zeigte, war sie an ihr<br />

desinteressiert, <strong>und</strong> zwei Minuten hatte ich Zeit, sie ihr "vorzustellen".<br />

222


7.12. Durchsicht <strong>und</strong> "Überprüfung": Die Gr<strong>und</strong>schulteile 7.5. - 7.10. im<br />

Urteil der Fachleiterin Gisela Arnold<br />

Gisela Arnold (Bad Münstereifel) ist langjährige Gr<strong>und</strong>schullehrerin <strong>und</strong> Fachleiterin<br />

für Sachunterricht seit 1993 am Studienseminar Düren, jetzt Studienseminar<br />

Vettweiß. Sie hatte bei mir Ende der 70er Jahre ein SI-Examen abgelegt. Auf der<br />

Suche nach kritischer Begleitung im Primarbereich erinnerte ich mich jetzt an sie.<br />

Daher nahm ich telefonisch Kontakt mit ihr auf.<br />

Ich berichtete ihr, dass ich mich im Begleitbuch zur D-Dok. erstm<strong>als</strong> mit der<br />

Gr<strong>und</strong>schule befasse <strong>und</strong> mit 68 Jahren nicht wisse, ob ich mich auf einem Abweg,<br />

einem Irrweg oder einem Holzweg befände. Gisela Arnold bot mir von selbst an, die<br />

fraglichen Manuskriptteile zu lesen - <strong>als</strong> hätte sie geahnt, weshalb ich sie anrufe.<br />

Also schickte ich ihr die Abschnitte 7.5. - 7.10. per Post am 22. Juli 2004 mit der Bitte<br />

um "Durchsicht" zu.<br />

In ihrer zweiseitigen Stellungnahme <strong>und</strong> ihren Randnotizen stellte Gisela Arnold<br />

vorab klar, dass sie sich "aus zeitlichen Gründen" nicht in der Lage gesehen habe,<br />

das Manuskript "Satz für Satz" durchzugehen. "Ich kenne die D-Dok-DVD nicht <strong>und</strong><br />

kann deshalb nichts über die Eignung der Dokumente für Gr<strong>und</strong>schulkinder sagen,<br />

weder in inhaltlicher noch in sprachlicher Hinsicht." 237 Die DVD, die ich ihr angeboten<br />

hatte, konnte sie nicht prüfen, da ihr dafür das Laufwerk fehlte. Nach ihren<br />

Randnotizen besitzen Gr<strong>und</strong>schulen zu vielleicht 20-30% einen Beamer, <strong>und</strong> die in<br />

den Klassen vorhandenen PCs haben keine DVD-Laufwerke. Dies ist ein finanzielltechnisches<br />

Ausstattungsproblem.<br />

Zusammenfassend schreibt Gisela Arnold: "Ihre Aussagen zu den Tendenzen,<br />

Schulen, Lehrpersonen sowie Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern mehr Selbstständigkeit<br />

<strong>und</strong> Verantwortung zu übertragen für die Organisation von Lernumgebungen <strong>und</strong> für<br />

den Lernprozess selbst, entsprechen sicher dem aktuellen Konzept, wenn die<br />

Realisierung natürlich auch sehr unterschiedlich weit voran geschritten ist. Neu sind<br />

die Tendenzen allerdings in der Gr<strong>und</strong>schule nicht: im Prinzip waren sie schon in den<br />

Richtlinien <strong>und</strong> Lehrplänen für die Primarstufe von 1985 enthalten." Und sie fügt<br />

hinzu: "Kinder sollen recherchieren lernen im Sinne von Informationen sammeln <strong>und</strong><br />

Informationsquellen auswerten, ausdrücklich dabei auch neue Medien nutzen.<br />

Insoweit stimme ich Ihrer Argumentation voll zu <strong>und</strong> ich sehe sie auch in absoluter<br />

Übereinstimmung mit den amtlichen Vorgaben <strong>und</strong> den aktuellen Tendenzen in der<br />

Didaktik des SU (GDSU). Allerdings handelt es sich nicht um eine Fähigkeit, die an<br />

beliebigem Material <strong>und</strong> unter beliebiger Fragestellung erlernt werden kann, da der<br />

Sachunterricht durch die verbindlichen Aufgabenschwerpunkte <strong>und</strong><br />

Unterrichtsgegenstände sowie durch die verbindlichen Anforderungen des Lehrplans<br />

an Richtwerte geb<strong>und</strong>en ist." Gisela Arnold schlägt mir daher vor, die<br />

237 Zweiseitige Stellungnahme vom 5. August 2004; aus ihr wird auch im Folgenden zitiert.<br />

223


verfahrensorientierten Ziele mit inhaltlichen Zielen zu verknüpfen: Quellen<br />

kindorientiert <strong>und</strong> lehrplanorientiert exemplarisch den "Lehrpersonen wenigstens<br />

beispielhaft" nahe zu bringen <strong>und</strong> "die Einsatzmöglichkeit von Quellen aus der D-<br />

Dok. anhand des LP SU zu konkretisieren". Nur so ergäben sich "Kaufargumente für<br />

die DVD".<br />

Anders <strong>als</strong> zuvor hatte sich der Lehrplan 1985 für den Sachunterricht in NRW bereits<br />

durch Offenheit ausgezeichnet, da er Freiheiten einräumte, individuelle<br />

Schwerpunkte zu setzen. 238 Der neue Lehrplan-Entwurf 2003 ermöglicht darüber<br />

hinaus forschend-entdeckendes, fächerübergreifendes, medienorientiertes <strong>und</strong><br />

reflektierendes <strong>Lernen</strong> zur aktiven Wissensvermittlung. Sie krankt aber nach wie vor<br />

daran, dass die Unterrichtsgegenstände innerhalb der Aufgabenschwerpunkte<br />

verbindlich sind. Somit stehen nicht Fragestellungen der Kinder, deren individuelle<br />

<strong>und</strong> kindgerechte Fähigkeiten gefördert werden sollen, im Mittelpunkt des<br />

Sachunterrichts. Auch ist nicht das aktiv-forschende <strong>Lernen</strong> zur "Welterk<strong>und</strong>ung"<br />

entscheidend, sondern eher die passiv-vermittelnde Rolle, <strong>als</strong>o die Rezeption im<br />

Sachunterricht. 239<br />

Dies widerspricht dem Gr<strong>und</strong>anliegen des neuen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an Quellen. Meine<br />

in der Tat unverbindlichen <strong>und</strong> bewusst auch idealtypischen Fragestellungen an die<br />

verbindlichen Vorgaben des LP SU eines B<strong>und</strong>eslandes - <strong>und</strong> warum NRW? -<br />

anzupassen, zu konkretisieren <strong>und</strong> demgemäß auch Quellen auszuwählen,<br />

vorzuschlagen oder gar festzulegen, lehne ich daher <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok. wie<br />

auch <strong>als</strong> Autor dieses Begleitbuches ab. Folglich habe ich, von kleinen Korrekturen<br />

abgesehen, die ursprüngliche Fassung der Manuskriptteile 7.5. - 7.10. in dieses<br />

Buch übernommen.<br />

Die Vorschläge Arnolds, <strong>Quellenarbeit</strong> lehrplan- <strong>und</strong> richtlinienverbindlich für den<br />

Sachunterricht inhaltlich aufzubereiten, sozusagen "den amtlichen Vorgaben <strong>und</strong> den<br />

aktuellen Tendenzen" anzupassen, legen offen, wie unfrei Lehrer/innen entgegen<br />

öffentlicher Bek<strong>und</strong>ungen in der Unterrichtsgestaltung noch heute bleiben. Sie sind<br />

jahrzehntelang zur Unselbstständigkeit nicht nur erzogen, sondern heute noch<br />

verpflichtet, obgleich sich vieles gelockert hat. Dies wird die Lehrerfortbildung nur<br />

wenig <strong>und</strong> dann auch nur langfristig ändern können.<br />

238 Der Kultusminister des Landes NRW: Richtlinien <strong>und</strong> Lehrplan Sachunterricht. Köln 1985. Vgl.<br />

dazu Ewald Kurowski u.a.: Kommentar zum Lehrplan. Heinsberg 1986. Seiten vor allem 38-42<br />

(Theorie), 80-127 (Praxis); Astrid Kaiser: Einführung in die Didaktik des Sachunterrichts.<br />

Hohengehren 1996; Hanna Kiper: Sachunterricht - Kindorientiert. Hohengehren 1997.<br />

239 Zur Überarbeitung der Richtlinien <strong>und</strong> Lehrpläne, die sich derzeit in der Erprobung befinden, sowie<br />

zur Stellungnahme des Gr<strong>und</strong>schulverbandes zum Lehrplanentwurf Sachunterricht (04.03)<br />

http://www.gr<strong>und</strong>schulverband-nrw.de. Die Texte sind über den Ritterbach-Verlag in Frechen online<br />

abrufbar.<br />

224


Folgender Passage Gisela Arnolds stimme ich nachträglich zu: "Die Aussagen zur<br />

Ganztagsschule finde ich problematisch, weil das, was derzeit in den Gr<strong>und</strong>schulen<br />

realisiert wird, den Namen Ganztags'schule' nicht verdient. Die jeweilige Ausformung<br />

der Angebote am Nachmittag folgt nicht einem inhaltlichen Konzept oder den<br />

Bedürfnissen der Kinder, sondern ist abhängig von den außerschulischen Anbietern<br />

<strong>und</strong> für viele Kommunen ein Sparmodell, da sie gleichzeitig die Hortplätze verringern<br />

<strong>und</strong> das eingesparte Geld keineswegs für die Aufgestaltung des<br />

Nachmittagsangebotes komplett einsetzen." Diesen wichtigen Sachverhalt hatte ich<br />

übersehen, weil ich ihn nicht kannte.<br />

Zweifel hat Gisela Arnold auch geweckt, ob der von Falko Peschel beschriebene<br />

beeindruckende "Offene Unterricht" in seinen Veröffentlichungen (7.5., 7.6.) den<br />

Tatsachen entspricht oder möglicherweise idealisiert <strong>und</strong> geschönt wiedergegeben<br />

ist. "Die von Herrn Peschel herabgewürdigten Unterrichtsformen wie 'Werkstatt' <strong>und</strong><br />

'Wochenplan' sind in der Tat keine vollkommen 'offenen' Formen, bieten aber für die<br />

Hinführung zu selbstständigem, eigenverantwortlichen Arbeiten mit Medien<br />

verschiedener Art: Sachbüchern, Lexika, Wörterbüchern - auch am PC mit Software<br />

oder mit einer Kinder-Suchmaschine - sehr gute Möglichkeiten. Öffnung von<br />

Unterricht ist nicht nur eine Frage der Unterrichtsmethode, die sich <strong>als</strong> entweder<br />

Frontalunterricht oder 'Peschel'-Unterricht darstellt, sondern es gibt ein sehr viel<br />

größeres Spektrum, das ich aber in diesem Zusammenhang nicht darstellen kann."<br />

Ich frage mich inzwischen, ob der "Offene Unterricht", wie ihn Peschel schildert, nicht<br />

zu schön ist, um wahr zu sein. Dies kann ich auch für das hier vertretene Konzept<br />

des weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an Quellen nicht ausschließen,<br />

zumal es noch nicht praktisch erprobt worden ist.<br />

7.13. Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II, insbesondere Gymnasien: Idealtypische<br />

Fragestellungen, Aufzählungen <strong>und</strong> Vorschläge<br />

Wegen der Kontroversen darüber, ob sich die D-Dok. <strong>und</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> im<br />

Primarbereich sinnvoll einsetzen lassen oder nicht, sind die Ausführungen darüber<br />

nicht nur relativ, sondern auch insgesamt umfangreich ausgefallen. Daher werden im<br />

Folgenden die Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II an allgemein bildenden Schulen<br />

zusammengefasst <strong>und</strong> stark verkürzt behandelt.<br />

Die idealtypischen Fragestellungen orientieren sich am vorgestellten "offenen", wenig<br />

präzisierten Lernprogramm (5.2.) <strong>und</strong> an der Zielsetzung, den tradierten<br />

Frontalunterricht, soweit er sich im Lehren von <strong>und</strong> im Belehren mit "fertigem"<br />

Wissen erschöpft, durch das weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> in der Klasse zu<br />

ersetzen. Dabei geht es, wie schon bei den PISA-Tests, nicht darum, abfragbares,<br />

insbesondere faktisches Wissen zu mehren <strong>und</strong> zu reproduzieren, sondern vorrangig<br />

225


darum, sich je nach Fragestellungen eigenes Wissen selbst zu erarbeiten. Dazu stellt<br />

die D-Dok. einen riesigen Informationspool aus zuverlässigen Quellen bereit. Sie gilt<br />

es zu erschließen, auszuwerten <strong>und</strong> so individuelle Fähigkeiten von Lehrern/innen<br />

<strong>und</strong> Schülern/innen zu fördern, je nach Fragestellungen selbstständig nach<br />

Problemlösungen zu recherchieren: sie zu suchen, zu finden, aus ihnen Schlüsse zu<br />

ziehen <strong>und</strong> sie im Alltag anzuwenden, damit sie in uns Gestalt gewinnen.<br />

Ein solches Wissen aus Quellen <strong>als</strong> Rohstoff ist lebendig - anders <strong>als</strong> gespeichertes,<br />

abfragbares Wissen, das wir "fertig" übernommen (rezipiert) haben. Es dient meist<br />

nicht dem Leben, sondern hauptsächlich Prüfungen, Klausuren, Benotungen <strong>und</strong><br />

Gedächtnisleistungen (oft nur dem Prüfungs-Kurzzeitgedächtnis) - kurzum der<br />

Reproduktion. Nur wer selbst lernt, gewinnt etwas eigenständig-kreativ für sich<br />

selbst: geistig-intellektuell, psychisch-emotional <strong>und</strong> körperlich-somatisch. Denn ein<br />

vor allem aus, mit <strong>und</strong> an den Quellen erarbeitetes Wissen erfasst den Menschen<br />

ganzheitlich, wenn es in den Tiefen des Selbst (1.4.) gründet <strong>und</strong> deshalb dazu<br />

befähigt, sich selbst zu lieben.<br />

Es folgen idealtypische Fragestellungen <strong>und</strong> Vorschläge, die einer inhaltlichdidaktisch-methodischen<br />

Konkretisierung vor Ort je nach Sek<strong>und</strong>arstufe, Schule <strong>und</strong><br />

Klasse bedürfen. Die Auswahl <strong>und</strong> die Bestandsaufnahme zu den 13 Teillernzielen<br />

des Lernprogramms (5.2.) beschränken sich auf Aufzählungen. Sie überschneiden<br />

sich gelegentlich <strong>und</strong> haben meist "Package"- <strong>und</strong> Syndrom-Charakter, d. h. sie<br />

enthalten Bündel von Themen <strong>und</strong> Symptomen, die eine quellenkritische Erarbeitung<br />

erfordern.<br />

Abgeraten wird vom Projekt-Unterricht <strong>und</strong> ähnlich ehrgeizigen Unternehmungen. 240<br />

Sie überfordern - von Ausnahmen abgesehen - Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen <strong>und</strong><br />

erfüllen oft nur Werbe-, Alibi- <strong>und</strong> Show-Funktionen.<br />

Medienakzeptanz <strong>und</strong> Medienkompetenz (5.2.-1.):<br />

Medien <strong>als</strong> virtuelle Welt <strong>und</strong> Demiurg der Wirklichkeit?<br />

Die Bewusstseins- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie der Medien <strong>als</strong> Spiegelbild der<br />

Informationsgesellschaft?<br />

Medien <strong>als</strong> narzisstische Selbst- <strong>und</strong> Ersatzobjekte?<br />

Schüler/innen <strong>als</strong> "Fernsehkinder"?<br />

Annahme <strong>und</strong> Erprobung neuer Medien in der Klasse?<br />

Freiwilliger, vorgeschriebener oder erzwungener Medieneinsatz?<br />

Technisch-finanzielle Ausstattung der Schule, z.B. DVD-Laufwerke, Beamer?<br />

Nutzung <strong>und</strong> Bereitstellung multimedialer Dienste?<br />

240 Zu 15 Jahren Projekterfahrung vgl. Peter Knoch: Der schwierige Umgang mit Geschichte in<br />

Projekten. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht 38, 1987. Seiten 527 540, Literaturangaben<br />

Seiten 537 - 539.<br />

226


Medienkompetenz von Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen?<br />

Internetanschluss <strong>und</strong> Internetnutzung in der Klasse?<br />

Medienkonsum: Durchschnittliche Fernsehdauer pro Tag? Am Wochenende?<br />

Eigener Fernseher: Prozentualer Anteil in der Klasse?<br />

Lieblingssender? Lieblingssendungen?<br />

Medienverwahrlosung?<br />

Computer Literacy, Reading Literacy, Viewing Literacy <strong>und</strong> Scientific Literacy?<br />

Einzelfälle: TV-, Handy- oder Internet-Sucht?<br />

Technische Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten am PC?<br />

Digitale Spaltung in der Klasse?<br />

Familiärer <strong>und</strong>/oder sozialer Hintergr<strong>und</strong>?<br />

Relative digitale Chancengleichheit?<br />

PC-Arbeit: lehrerbestimmt durch Frontalunterricht; schulbuchbestimmt;<br />

schülerorientiert?<br />

Medien <strong>und</strong> Politik?<br />

Vermitteln oder inszenieren Medien Politik?<br />

Unterhaltungs- <strong>und</strong> Informationswert von Historytainment <strong>und</strong> Politainment: z.B. im<br />

ZDF, bei Phoenix?<br />

Parteien- <strong>und</strong> Mediendemokratie?<br />

Medien <strong>und</strong> politische Meinungsbildung, z.B. Wahlverhalten?<br />

Medienpräsenz <strong>und</strong> Einschaltquoten?<br />

Medien <strong>und</strong> Gewalt?<br />

Politik in Talkshows?<br />

Das Sabine-Christiansen-Syndrom?<br />

Bad News are Good News?<br />

Meinungsfreiheit <strong>und</strong> heimliche Zensur?<br />

"Traumberufe" in den Medien?<br />

Propaganda <strong>und</strong> Medien, z.B. im Ost-West-Konflikt, im Nord-Süd-Konflikt?<br />

Medien <strong>und</strong> Werbung?<br />

Nachricht/Information <strong>und</strong> Kommentar/Deutung?<br />

Narzissmus <strong>und</strong> Selbstbespiegelung in den Medien?<br />

Sex and Crime in Medien <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funkanstalten?<br />

Medien in der Rechtsprechung?<br />

Ökonomische Gr<strong>und</strong>lagen der Medien?<br />

Öffentlich-rechtliche <strong>und</strong> private R<strong>und</strong>funkanstalten, vor allem Fernsehsender?<br />

Medien <strong>als</strong> vierte Gewalt?<br />

Bildung <strong>und</strong> Computerspiele?<br />

Schülerzeitung?<br />

Neue Politische Bildung (5.2.-2.):Vgl. auch Geschichtsunterricht<br />

Psychologisierung <strong>und</strong> Emotionalisierung der politischen Bildung?<br />

"Politik wird mit dem Kopf gemacht"?<br />

Emotionen <strong>und</strong> Affekte in der Politik?<br />

227


Politik <strong>als</strong> öffentlicher <strong>und</strong>/oder privater Sektor?<br />

Politik, Parteipolitik <strong>und</strong> Ideologie?<br />

Politischer Narzissmus?<br />

Politik <strong>und</strong> Sex?<br />

Politische Prostitution <strong>und</strong> Korruption?<br />

Politischer Lobbyismus, vor allem in Parlamenten?<br />

B<strong>und</strong>estagabgeordnete - Volksvertreter, Parteimitglieder, Lobbyisten?<br />

Politik <strong>als</strong> Verwaltung? Verwaltete Politik?<br />

Politische Institutionen <strong>und</strong> öffentlicher Dienst, vor allem Beamte?<br />

Parteipolitik, Sex <strong>und</strong> Postenschacher?<br />

Besatzungszonen, BRD, DDR <strong>und</strong> geeintes <strong>Deutschland</strong>: Ausgewählte Beispiele?<br />

Variablen <strong>und</strong> Konstanten der Außenpolitik: Konkrete Themen?<br />

Interdependenzen zwischen Innen- <strong>und</strong> Außenpolitik?<br />

Zwischen Politik <strong>und</strong> Wirtschaft?<br />

Zwischen Politik <strong>und</strong> Staatsrecht/Völkerrecht?<br />

Zwischen Politik <strong>und</strong> sozialer Sicherung/Sozialpolitik?<br />

Zwischen Politik <strong>und</strong> Umwelt, Ernährung, Ges<strong>und</strong>heitsfragen?<br />

Zwischen Politik <strong>und</strong> Verfassungswandel bzw. Regierungssystem?<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzänderungen - wann, welche, warum, wie?<br />

Verfassungsrecht <strong>und</strong> Verfassungswirklichkeit in der BRD <strong>und</strong> in der DDR?<br />

Sozi<strong>als</strong>taatliche Gr<strong>und</strong>lagen?<br />

Soziale Sicherung <strong>und</strong> alternde Gesellschaft?<br />

Wirtschaftspolitische Leitlinien <strong>und</strong> Modelle?<br />

Wirtschaft, Sozialpolitik <strong>und</strong> Gesellschaft?<br />

Konjunktur, Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard?<br />

Arbeitslosigkeit, Steuern <strong>und</strong> soziales Netz?<br />

Demografie <strong>und</strong> Renten?<br />

Agenda 2010 - Kontext, Konflikte, Konsequenzen?<br />

Kalter Krieg/Ost-West-Konflikt <strong>und</strong> internationale Politik?<br />

B<strong>und</strong>eswehr <strong>und</strong> Sicherheit?<br />

Politischer Extremismus <strong>und</strong> Terrorismus?<br />

Berlin-Status, Berlin-Konflikt <strong>und</strong> Berlin-Regelung?<br />

Hauptstadtfrage: Bonn <strong>und</strong> Berlin?<br />

West- <strong>und</strong> Ostintegration- politisch, rechtlich, wirtschaftlich, sozial?<br />

BRD <strong>und</strong> DDR im Vergleich: Ausgewählte Beispiele?<br />

Deutsch-deutscher Konflikt: Ausgewählte Beispiele?<br />

Bilaterale <strong>und</strong> multilaterale Beziehungen der BRD <strong>und</strong> DDR: Ausgewählte Beispiele?<br />

Internationale <strong>und</strong> deutsche <strong>Deutschland</strong>politik?<br />

Deutsche Identität: in der BRD, in der DDR, im geeinten <strong>Deutschland</strong>, in Europa?<br />

Staatsrecht <strong>und</strong> Völkerrecht in den deutsch-deutschen Beziehungen?<br />

Staatsangehörigkeit in den beiden deutschen Staaten?<br />

Gewaltenteilung horizontal <strong>und</strong> vertikal?<br />

Europäische Integration: Stationen, Hemmnisse, Fortschritte, Institutionen?<br />

Europäische Architektur <strong>und</strong> deutsche Einheit?<br />

228


Europapolitik <strong>und</strong> Supranationalität?<br />

Internationale Organisationen: <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> UNO, KSZE/OSZE, Europarat,<br />

EWG/EG/EU: Ausgewählte Beispiele?<br />

Internationale Rechtsprechung <strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong>?<br />

Nord-Süd-Konflikt in der deutschen <strong>und</strong> internationalen Politik: Ausgewählte<br />

Beispiele <strong>und</strong> Länder?<br />

Dritte <strong>und</strong> Vierte Welt im Informationszeitalter?<br />

"Entwicklungshilfe" der BRD <strong>und</strong> DDR?<br />

Politik <strong>und</strong> Recht in der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts:<br />

Ausgewählte Beispiele?<br />

Völkerrechtliche Doktrinen im Wandel?<br />

Rolle der Besatzungsmächte/Verbündeten?<br />

Beziehungsgeflecht zwischen Parlament, Regierung, Opposition, Verbänden,<br />

Wirtschaft?<br />

Politik <strong>und</strong> Parteipolitik <strong>als</strong> Beruf <strong>und</strong> "Berufskrankheit"?<br />

"Eitle Selbstbespiegelung im Gefühl der Macht" (Max Weber)?<br />

B<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Länder-Verhältnis? Föderalismus?<br />

Persönliche Biografie <strong>und</strong> politische Bildung?<br />

Indoktrination <strong>und</strong> Utopien in der politischen Bildung <strong>und</strong> in der Neuen Politischen<br />

Bildung?<br />

Geschichtsunterricht (5.2.-3.):Vgl. auch Neue Politische Bildung<br />

Zeitgeschichte - erinnern, rekapitulieren, wiederholen, aufarbeiten, vergessen,<br />

"bewältigen", verinnerlichen?<br />

Zeitgeschichte <strong>als</strong> Variable <strong>und</strong> Funktion von Raum <strong>und</strong> Zeit?<br />

Geschichte <strong>als</strong> Antagonismus von Abhängigkeit/Unterwerfung <strong>und</strong> Macht-<br />

/Herrschaftsausübung?<br />

Wiederholungszwang in der Geschichte?<br />

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis?<br />

NS-Zeit aus der Retrospektive nach 1945?<br />

"Der Tod ist ein Meister aus <strong>Deutschland</strong>"?<br />

Kontinuität <strong>und</strong> Diskontinuität von Personen, Vorgängen, Ideen, Ereignissen?<br />

Schlüsselbegriffe <strong>und</strong> -daten im historischen Wandel?<br />

Jahrestage <strong>und</strong> Gedenkreden, z.B. Byrnes-Rede, Marshall-Plan?<br />

Reden zu Geburtstagen <strong>und</strong> Todestagen von Politikern im Wandel?<br />

Politische/staatliche Geschichte <strong>und</strong> Lebens-/Alltags-/Kulturgeschichte?<br />

Lebensgeschichtlich-biografische Schlüsseldokumente?<br />

Familien- <strong>und</strong> Politikgeschichte?<br />

Tabuisierte Bereiche im Geschichtsunterricht <strong>und</strong> in der Familiengeschichte, z.B. NS-<br />

Zeit?<br />

Wirkungsgeschichte <strong>und</strong> Mentalitätsgeschichte: Ausgewählte Beispiele?<br />

Geschichte von oben <strong>und</strong> von unten: Staat, Gesellschaft, Alltagsgeschichte?<br />

Archivarbeit vor Ort, z.B. Stadtarchiv, Familiendokumente?<br />

229


Geschichte der BRD <strong>und</strong> DDR nach politischen, nach rechtlichen, nach<br />

wirtschaftlichen, nach sozialen Bezugsfeldern?<br />

Krieg <strong>und</strong> Frieden: Ausgewählte Beispiele?<br />

Flucht <strong>und</strong> Vertreibung? Deutsche <strong>und</strong> europäische Dimension?<br />

Männer- <strong>und</strong> Frauengeschichte?<br />

"Feminismus" <strong>und</strong> Geschichte?<br />

Psychoanalyse <strong>und</strong> Geschichte?<br />

Technikgeschichte?<br />

Nation<strong>als</strong>taatliche <strong>und</strong> europäische Geschichte?<br />

Gr<strong>und</strong>satzentscheidungen der Siegermächte nach 1945?<br />

Die Teilung <strong>Deutschland</strong>s?<br />

Wiederaufbau, Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialreformen?<br />

Entstehung der beiden deutschen Staaten?<br />

Ihre Außenpolitik?<br />

Ihre Sicherheits- <strong>und</strong> Bündnispolitik?<br />

Ihre Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik?<br />

Ihre Umweltpolitik?<br />

Ihre Familien-, Jugend- <strong>und</strong> Altenpolitik?<br />

Ihre Bildungs- <strong>und</strong> Kulturpolitik?<br />

Weltpolitische Zäsuren 1989/90?<br />

Deutsche Einheit <strong>und</strong> innere Einheit?<br />

Weltpolitischer <strong>und</strong> gesamteuropäischer Bezugsrahmen der deutschen Frage?<br />

Historische Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente <strong>als</strong> Ergänzung?<br />

Interpretation von Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumenten?<br />

Vermarktung von Geschichte: in Filmen, Spielen, "Dokumentationen", Soaps,<br />

"Realities", Quizsendungen, Magazinen, Historytainment?<br />

Fremdsprachenunterricht (5.2.-4.):<br />

Fähigkeiten der Decodierung?<br />

Fähigkeiten der Übersetzung?<br />

Der Aussprache?<br />

Der subjektiven <strong>und</strong> "objektiven" Wiedergabe?<br />

Des Interpretierens?<br />

Der Zusammenfassung?<br />

Des Verstehens zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit" (Gadamer)?<br />

Interdependenzen zwischen Übersetzung, Verstehen <strong>und</strong> Interpretation<br />

fremdsprachiger Texte?<br />

Lesekompetenz <strong>und</strong> Textverständnis <strong>als</strong> hermeneutische Spirale?<br />

Übersetzen <strong>und</strong> Dolmetschen?<br />

Kombination von deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachigen Quellen?<br />

Deutschsprachige Übersetzung der Originalquelle?<br />

Amtliche Übersetzung?<br />

230


Einsatz im bilingualen Unterricht, z.B. <strong>als</strong> Modul in Geschichte, in<br />

Sozialwissenschaften <strong>und</strong> anderen Fächern?<br />

Fremdsprache <strong>und</strong> historische <strong>und</strong> politische "Landesk<strong>und</strong>e"?<br />

Fremdsprachige Such- <strong>und</strong> Recherchemöglichkeiten?<br />

Vernetzung deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachiger Dokumente, z. B. bei Recherchen?<br />

Verständnis für andere Kulturen <strong>und</strong> Kulturkreise durch Fremdsprachen?<br />

Pronunciation durch Muttersprachler <strong>und</strong> "Ausländer", z.B. in englischsprachigen<br />

Ton-Dokumenten?<br />

Mathematik-, Informatik <strong>und</strong> naturwissenschaftlicher Unterricht (5.2.-5.):<br />

Mathematik <strong>als</strong> schöpferische Wissenschaft für den Menschen <strong>und</strong> seine<br />

gesellschaftliche Teilhabe?<br />

Unterschiede zwischen offener, entdeckender <strong>und</strong> fertiger Mathematik?<br />

Heuristische Problemlösungen zur Reduktion der Informationsmenge?<br />

Red<strong>und</strong>ante <strong>und</strong> innovative Informationen?<br />

Informationen <strong>als</strong> potenzielles Rohstoffwissen in der D-Dok.?<br />

Boolesche Suchoperationen <strong>als</strong> Formeln?<br />

Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> Schnittmengen, z.B. in der Mengenlehre?<br />

Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> Schaltungen, z.B. Schaltalgebra?<br />

Darstellung nach DIN?<br />

Mathematisch-naturwissenschaftlicher Schwerpunkt der Schule?<br />

EDV - Viren, Würmer, trojanische Pferde?<br />

Politik, Technik <strong>und</strong> Technikverständnis?<br />

Fächerübergreifender naturwissenschaftlicher Unterricht?<br />

Mathematik in der Neuen Politischen Bildung (NPB)?<br />

Physik in der NPB, z.B. Klimaschutz?<br />

Biologie in der NPB, z.B. Arten-, Tier- <strong>und</strong> Pflanzenschutz?<br />

Chemie in der NPB, z.B. Umweltschutz, Lebensmittelkonservierung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> Chemie?<br />

Hardware: Gr<strong>und</strong>einheiten des PC?<br />

Software: Betriebssysteme <strong>und</strong> Programme?<br />

Einfache Suche <strong>und</strong> Expertensuche mit der D-Dok.?<br />

Suche über den Index des Adobe Acrobat Reader 6?<br />

Datenmenge, Datenauswahl <strong>und</strong> Datenmessung?<br />

Die "Zehn Gebote für Lehrer" von Georg Pólya?<br />

Mathematisierung tendenziell-approximativer Abhängigkeitsverhältnisse von<br />

Variablen?<br />

Schwarze Löcher <strong>und</strong> ihre Parameter Masse, Drehimpuls, Ladung?<br />

Unendliche Dichte der Materie in schwarzen Löchern <strong>und</strong> ihre Singularität?<br />

Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch?<br />

Akkretion <strong>und</strong> Vernichtung von Energien in narzisstischen <strong>und</strong> schwarzen Löchern?<br />

Singularität im narzisstischen <strong>und</strong> im schwarzen Loch?<br />

Schwarze Löcher sozialer Exklusion in der Vierten Welt?<br />

231


Astrophysik: Hochenergetische Röntgenstrahlung mit Ionen-Emissionen?<br />

Gravitationskontraktion <strong>und</strong> Gravitationskollaps massereicher Sterne innerhalb <strong>und</strong><br />

außerhalb der Chandrasekhar-Grenze?<br />

Riemannsche Raum-Zeit-Krümmung <strong>und</strong> Einsteins Relativitätstheorie?<br />

Einsteinkreuze in Galaxien?<br />

Problemlösungen von Integralgleichungen nach David Hilbert <strong>und</strong> heute?<br />

Unendlichkeit - Zwangsvorstellung oder schöpferische Phantasie?<br />

Gödels Unvollständigkeitssatz <strong>und</strong> unentscheidbare Aussagen axiomatischer<br />

Formulierungen in der Zahlentheorie?<br />

Funktionalisierung politischer Entscheidungsprozess durch Verknüpfung von<br />

Parametern?<br />

Quellcode der verwendeten Suchmaschine swish-e in der D-Dok.?<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen der verwendeten Software?<br />

Nichtimplementierte Boolesche Operatoren in der D-Dok., vor allem<br />

Abstandsoperatoren?<br />

Kostenfreie oder entgeltliche Software <strong>als</strong> Alternative?<br />

Verbesserungen der bestehenden Software <strong>und</strong> ihre Implementierung?<br />

Überprüfung <strong>und</strong> Ergänzung der Testergebnisse in den "Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen" im DVD-<br />

Laufwerk der D-Dok.?<br />

Suchanfragen nach Zeitraum <strong>und</strong> Koeffizienten?<br />

Prozentuale Angaben in der Trefferquote <strong>und</strong> ihre Zuverlässigkeit, z.B. nach<br />

inhaltlichen, qualitativen Kriterien der Suchanfrage in der D-Dok.?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> (im engeren Sinne) <strong>und</strong> -dokumentation (5.2.-6.):<br />

Quellen <strong>und</strong> Daten <strong>als</strong> Rohstoff des Historikers <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlers?<br />

Quellen <strong>als</strong> Spiegel der Vergangenheit in der Gegenwart?<br />

"Objektivität" von Quellen <strong>und</strong> ihre subjektive Auswahl?<br />

Quellen <strong>als</strong> historisch-politische Spiegel <strong>und</strong> Selbstbespiegelung?<br />

Quellen sind der Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird?<br />

Vergleich historisch-politischer Dokumentationen (z.B. Phoenix, ZDF) mit der<br />

Quellendokumentation <strong>und</strong> -präsentation in der D-Dok.?<br />

Quellenpräsentation in Schulbüchern?<br />

Historytainment (z.B. im ZDF) <strong>als</strong> Gegenteil der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

Quellenauthentizität <strong>und</strong> Formatierung von Quellen?<br />

Chronologische <strong>und</strong> systematisch-inhaltliche Dokumentation von Quellen?<br />

Quellennachweis <strong>als</strong> Authentizitätsbeweis?<br />

PDF-Dokumentation von Quellen - Pro <strong>und</strong> Contra?<br />

Dateinamen <strong>als</strong> inhaltlicher Betreff?<br />

Begrenzter Zeichenvorrat bei WORD-Dateien?<br />

Zip-Dateien zur Speicherung, Dokumentation <strong>und</strong> Sicherung von Quellen?<br />

Primärquellen <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärquellen, z.B. Memoiren?<br />

Fachwissenschaftlich-interdisziplinäre Arbeit mit Quellen?<br />

Psychologisch-emotionale Arbeit an Quellen?<br />

232


Erkenntnisse aus Quellen <strong>als</strong> vornehmlich primärer aktiver Lernprozess?<br />

Unterschiede zum sek<strong>und</strong>ären, vornehmlich passiven Lernprozess aus<br />

Darstellungen/Sek<strong>und</strong>ärliteratur?<br />

Biographische Schnittstellen zwischen fachwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

lebensgeschichtlichen Quellen?<br />

Themenvorschläge <strong>und</strong> Fragestellungen - spontan; selbstbestimmt; mehrheitsfähig?<br />

Didaktik der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

Einbeziehung technisch-naturwissenschaftlicher Fragestellungen?<br />

Arbeit an biografisch-lebensgeschichtlich-emotionalen Quellen?<br />

Schnittstellen mit staatlichen Quellen?<br />

Historische Erinnerungsarbeit an historischen Gedenkstätten <strong>als</strong> Quellen?<br />

Formale <strong>und</strong> inhaltliche Quellenkritik?<br />

Vornehmlich primär-aktive <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är-rezipierende Lernprozesse?<br />

Induktiver statt deduktiver Unterricht mit Quellen?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> aktive Stillarbeit?<br />

Deskriptive <strong>und</strong> normative (z.B. Gesetze, Verträge) <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

Sinnvoller oder erforderlicher Frontalunterricht, z.B. <strong>als</strong> Zusammenfassung <strong>und</strong><br />

Fokussierung punktueller <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> St<strong>und</strong>entafel, vor allem Zeitprobleme mit dem 45-/50-Minutentakt?<br />

Weite, Breite <strong>und</strong> Multiperspektivität von Quellen?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> vor Ort: Familiendokumente, Archiv?<br />

Zeitzeugenarbeit mit Interviews <strong>und</strong> erfahrungsgeschichtliche Quellen (nach<br />

Friedhelm Boll)?<br />

Planspiele, Rollenspiele, Lernspiele oder szenische Spiele nach Quellen?<br />

Unterschiede zur Spiegelszene?<br />

Verteilte Rollen bei Interviews?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> Selbsttherapie, Identitätsfindung <strong>und</strong> Trauerarbeit?<br />

Marx <strong>und</strong> Engels <strong>als</strong> "Quellen" des Marxismus, des Kautskyanismus, des<br />

Revisionismus, der SPD, des Marxismus-Leninismus, der SED?<br />

Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz (5.2.-7.):<br />

Das Selbst <strong>und</strong> das Ich?<br />

Die Entstehung des körperlich-emotionalen Selbst?<br />

Intrapsychische <strong>und</strong> interpsychische Objekte in Subjekt?<br />

Ideal-Selbst <strong>und</strong> Ich-Ziele?<br />

Normaler <strong>und</strong> pathologischer Narzissmus?<br />

Die vom Objekt abgezogene Libido <strong>als</strong> sek<strong>und</strong>ärer Narzissmus nach Freud?<br />

Narzissmus <strong>als</strong> libidinöse Besetzung des Selbst nach Hartmann?<br />

Descartes <strong>und</strong> die Selbstgewissheit des denkenden Ichs?<br />

Politische Bildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsbildung nach Art. 2 Abs. 1 GG?<br />

Persönlichkeitsbildung <strong>und</strong> Informationsquellen in der Demokratie?<br />

Pflichten, Rechte <strong>und</strong> Teilhabe an ihr?<br />

233


Individuelle Selbst- <strong>und</strong> gesellschaftliche oder betriebliche Mitbestimmung, z.B. in<br />

Schule, Betrieb?<br />

Mündigkeit <strong>und</strong> "Emanzipation": Definitionen, Auslegungen, Doktrinen?<br />

Politische Handlungsorientierung?<br />

Engagement <strong>und</strong> Partizipation in Parteien, Gruppen, Institutionen?<br />

Selbstentfaltung - narzisstisch-familiäre <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är-schulische Voraussetzungen?<br />

Zusammenhänge zwischen Leistung <strong>und</strong> Selbstwertgefühl?<br />

Zwischen Leistungsdruck <strong>und</strong> Versagensängsten?<br />

Drogen- <strong>und</strong> Medikamentenkonsum <strong>als</strong> narzisstisches Defizit?<br />

Selbstentfaltung <strong>und</strong> Rollenverhalten in der Klasse?<br />

"Sek<strong>und</strong>ärtugenden" in der Klasse, z.B. Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin u.a.?<br />

Strafen <strong>und</strong> Belohnungen?<br />

Schüler-Rechte <strong>und</strong> - Pflichten?<br />

Kinderrechte <strong>und</strong> Kindpersönlichkeit?<br />

Klassenführung <strong>und</strong> Disziplin?<br />

Respektierung anderer, z.B. ihrer Rechte?<br />

Verfassungsrechtliche <strong>und</strong> "sittlich-moralische" Gr<strong>und</strong>orientierung?<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts: Menschenwürde, Menschen-<br />

/Bürgerrechte, Persönlichkeitsrecht?<br />

Gr<strong>und</strong>rechtsmündigkeit im Verfassungs- <strong>und</strong> Staatsrecht?<br />

Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG in Kommentaren <strong>und</strong> im Schrifttum?<br />

Der "Kernbereich der Persönlichkeit" <strong>und</strong> die "Menschenwürde" in der<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts?<br />

Individuelle Förderung (5.2.-8.):<br />

Bezugsperson <strong>und</strong> Mirroring in Familie (z.B. Mutter) <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schule (z.B.<br />

Klassenlehrer/in)?<br />

Familie <strong>und</strong> Schule <strong>als</strong> "fördernde Umwelt" (Winnicott)?<br />

Familiäre <strong>und</strong> schulische Voraussetzungen individueller Förderung?<br />

Diagnostik: Gehemmte, schüchterne, tonangebende <strong>und</strong> "stille" Kinder/Schüler?<br />

Diagnostik: Retardierte, "auffällige", behinderte, "altkluge" <strong>und</strong> selbstbewusste<br />

Schüler/innen?<br />

Frühzeitige Begabungsförderung <strong>und</strong> Kreativitätstraining in Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen?<br />

Offener Unterricht in Gr<strong>und</strong>schulen nach Peschel: Pro <strong>und</strong> Contra?<br />

Klassengröße <strong>und</strong> Klassenklima?<br />

Schulprogramm <strong>und</strong> Schulprofil/e?<br />

Förderschwerpunkte der Schule?<br />

Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Autorität der Lehrer/innen?<br />

Kooperation mit Kinderhorten/-gärten, mit der Gemeinde, mit dem Schulträger?<br />

Ganztagsschule - positive <strong>und</strong> negative Auswirkungen?<br />

Nachmittagsbetreuung oder -unterricht?<br />

234


Generationsübergreifendes <strong>Lernen</strong> (5.2.-9.)<br />

Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong> Schulerfolg/-versagen?<br />

Schule <strong>und</strong> Bildung in <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg?<br />

Lesekompetenz in der Familie <strong>und</strong> bei Kindern?<br />

Lehrer/innen <strong>als</strong> Lehrende <strong>und</strong>/oder <strong>Lernen</strong>de?<br />

Eltern/Großeltern <strong>als</strong> Helfer, <strong>als</strong> hilflose Helfer, <strong>als</strong> Ersatzlehrer?<br />

Nachhilfeunterricht - Ausmaß?<br />

PC- <strong>und</strong> Internetarbeit von Kindern/Schülern mit Eltern; mit Großeltern; mit<br />

Verwandten? Demonstrationseffekte?<br />

Spontaneität <strong>und</strong> Kreativität von Kindern?<br />

Familiäre Förderung von Medienkonsum, von Fernsehen, von Medienspielen, von<br />

Computer- <strong>und</strong> Internetarbeit?<br />

Oral History in der Schule?<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus in der I., II., III. <strong>und</strong> IV. Generation (Anita Eckstaedt)?<br />

Generationsübergreifendes historisches <strong>Lernen</strong>? 241<br />

Verschüttete oder tabuisierte Quellen zur Familiengeschichte?<br />

Generationskonflikte in der Familie; in der Politik; im Alter?<br />

Sek<strong>und</strong>äre Identifikation von Kindern/Schülern mit Eltern, Lehrern, Peer Groups?<br />

Pflege in der Familie; im Heim; bei Krankheiten?<br />

Kreativität <strong>und</strong> <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> im Alter?<br />

Wiederentdeckung der Kindheit im Alter?<br />

Vertreibung, Heimatverlust <strong>und</strong> Entwurzelung <strong>als</strong> Generationsproblem?<br />

Die Vertreibung der Kindheit bei Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen?<br />

Jugend- <strong>und</strong> Schönheitskult in der Werbung?<br />

"Sprachlosigkeit" verschütteter Quellen bei erwachsenen <strong>und</strong> alten Menschen?<br />

Die Wiederkehr des Verdrängten/Verleugneten im Ruhestand/Alter?<br />

Zementierung des Über-Ichs im Alter?<br />

Die Unfähigkeit zu altern: Abwehrmechanismen?<br />

Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> (5.2.-10.):<br />

Selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> "selbstreguliertes <strong>Lernen</strong>" (PISA-Studie)?<br />

Frontalunterricht <strong>als</strong> Regel-; <strong>als</strong> Ritual-, <strong>als</strong> Routine-Unterricht?<br />

Lehrende <strong>und</strong> Belehrte oder gemeinsam <strong>Lernen</strong>de?<br />

Wer bestimmt über Lehr-/Lernziele, Lehr-/Lerninhalte <strong>und</strong> Lehr-/Lernmethoden?<br />

241 Dazu bietet der Geschichtswettbewerb um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten viel<br />

Anschauungsmaterial: Forschendes <strong>Lernen</strong> im Geschichtsunterricht. Herausgegeben vom<br />

Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten <strong>und</strong> dem Ernst Klett<br />

Schulbuchverlag. Stuttgart 1996; www. Geschichtswettbewerb.de; Geschichtsbewusstsein <strong>und</strong><br />

Methoden historischen <strong>Lernen</strong>s. Herausgegeben von Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann, Hartmut<br />

Voit. Weinheim 1998. Seiten 246ff., 335ff. - Zur Oral History: Handbuch der Geschichtsdidaktik.<br />

Herausgeber Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Gerhard Schneider. Seelze<br />

Velber 1997. Seiten 236ff. (Dorothee Wierling) mit Literaturangaben.<br />

235


Basisdemokratische Mehrheitsfindung <strong>und</strong> Abstimmung darüber?<br />

Konsens- <strong>und</strong> Kompromissbereitschaft?<br />

Rolle der Schulleitung, des Kollegiums, der Eltern/Schulpflegschaft, der<br />

Schulaufsicht?<br />

Lehrpläne, Richtlinien <strong>und</strong> Vorschriften an der Schule, evt. Freiräume?<br />

Vorgeschriebenes fremdbestimmtes Lehren <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> an Schulen?<br />

<strong>Lernen</strong> zwischen Neigung <strong>und</strong> Zwang?<br />

Kooperation <strong>und</strong> Feedback in der Klasse?<br />

Kooperatives <strong>Lernen</strong>, z.B. in Gruppen?<br />

Binnendifferenzierung mit Quellentexten?<br />

Rollenverteilung zwischen Klasse-Lehrer/in?<br />

Disziplin <strong>und</strong> Selbstmotivation beim <strong>Lernen</strong>?<br />

Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> auf Vorrat?<br />

Selbstmotivation, Selbstkritik <strong>und</strong> Selbstkorrektur beim <strong>Lernen</strong>?<br />

Abfragbares, rekapitulierbares oder anwendungsbezogenes, handlungsorientiertes<br />

<strong>Lernen</strong>?<br />

Bildung, Wissen <strong>und</strong> Überleben <strong>als</strong> "Territorien des Selbst" (nach Maja Suderland)?<br />

Integration <strong>und</strong> Toleranz (5.2.-11.):<br />

Toleranzgebot <strong>und</strong> Indoktrinierungsverbot in der Neuen Politischen Bildung?<br />

Einstellungen zur deutschen Einheit?<br />

Einstellungen zum Bau <strong>und</strong> Fall der Mauer; zu Vaterland, Nation <strong>und</strong><br />

Nationalbewusstsein?<br />

Verhältnis Ost- Westdeutsche (Ossis - Wessis)?<br />

"Innere Mauern" in <strong>Deutschland</strong>?<br />

Identität - familiäre; personelle; nationale; europäische; supranationale?<br />

Politischer <strong>und</strong> religiöser Extremismus in der Klasse?<br />

Narzisstische Wut <strong>und</strong> Rache in Schulen: Ausgewählte Beispiele?<br />

Die Wurzeln von Wut <strong>und</strong> Hass?<br />

Minderheiten (z.B. Behinderte, Ausländer) <strong>und</strong> Einstellungen zu ihnen?<br />

Antisemitische Einstellungen <strong>und</strong> Akte in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> in Nachbarländern?<br />

Fremdenhass <strong>und</strong> Ausländer?<br />

Toleranz <strong>und</strong> F<strong>und</strong>amentalismus - politisch, religiös, national?<br />

Wahrnehmung ausländischer Mitschüler/innen?<br />

Identitäten <strong>und</strong> Vorurteile, z.B. zwischen Ost- <strong>und</strong> Westdeutschen?<br />

Zwischen Deutschen <strong>und</strong> Migranten?<br />

Zwischen Deutschen <strong>und</strong> Nachbarvölkern (z.B. Tschechen, Niederländern)?<br />

Migrantenkinder zwischen Integration <strong>und</strong> Abschottung?<br />

Integrationsbereitschaft <strong>und</strong> Deutschkenntnisse?<br />

Unterschiedlicher Fokus <strong>und</strong> unterschiedliche Sichtweisen der Migranten- <strong>und</strong> der<br />

deutschen Kinder?<br />

Asyl <strong>und</strong> Einwanderung in <strong>Deutschland</strong>?<br />

Vergleich mit europäischen Nachbarstaaten?<br />

236


Einstellungen zu Nachbarstaaten, z.B. Frankreich, Polen u.a.?<br />

Islamischer, christlicher <strong>und</strong> jüdischer F<strong>und</strong>amentalismus?<br />

F<strong>und</strong>amentalismus <strong>und</strong> Terrorismus?<br />

Geschlechts- <strong>und</strong> migrantenspezifische Lernprozesse (5.2.-12.):<br />

Rollenverteilung <strong>und</strong> Rollenerwartungen von Männern <strong>und</strong> Frauen in der Familie, in<br />

der Politik, in der Schule, im Alltag?<br />

Ichsyntone oder ichdystone Objektmanipulation an Säuglingen <strong>und</strong> Kindern durch<br />

Mutter/Vater?<br />

Gewerbliche <strong>und</strong> emotionale Prostitution von Frauen <strong>und</strong> Männern?<br />

Unterschiedliche Interessen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen, z.B. in historischen,<br />

naturwissenschaftlichen oder politischen Lernfeldern?<br />

Selbstwertgefühl bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen in Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften?<br />

Familiäre <strong>und</strong> schulische Hintergründe?<br />

Unterschiedliches Aggressionsverhalten bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen?<br />

Geschlechtsspezifisches Politik- <strong>und</strong> Geschichtsverständnis?<br />

Migration <strong>als</strong> Problem der I., II. <strong>und</strong> III. Generation?<br />

Einstellungen von Migranten: zum Aufnahmeland, zum Herkunftland der Familie?<br />

Zur deutschen Sprache <strong>und</strong> Kultur; zu Europa; zum Christentum?<br />

Einstellungen der deutschen Schüler/innen zu Migrantenkindern, zum Islam, zu<br />

Türken u.a.?<br />

Abschottung <strong>und</strong> Gettoisierung von Ausländern in <strong>Deutschland</strong>?<br />

Interfamiliäre Konflikte <strong>und</strong> psychosomatische Störungen bei Ausländer/innen?<br />

Die Frau im Christentum, im Judentum, im Islam <strong>und</strong> in anderen Religionen?<br />

Ausländer/innen <strong>als</strong> deklassierte Reservearmee von Ungelernten <strong>und</strong> Arbeitslosen?<br />

Geschlechtsspezifische Kompensation familiär-partriarchalischer Diskriminierung bei<br />

Ausländerinnen, vor allem Türkinnen?<br />

Schulinterne Evaluation ( 5.2.-13.):<br />

Evaluation <strong>als</strong> Blick in den Spiegel?<br />

Ergebnisse der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />

Handlungsorientiertheit?<br />

Verwertbarkeit der gesammelten Informationen?<br />

Evaluation im Alltag?<br />

In der Familie?<br />

In der Schule?<br />

Innovationen im Unterricht, z. B. in der politischen Bildung?<br />

Verhältnis zum Schulprogramm?<br />

Rolle der Schulaufsicht, der Schulleitung?<br />

Summative, evt. formative Evaluation?<br />

Indikatoren für die schulische Praxis?<br />

Weiche oder harte Indikatoren?<br />

237


Fragebogen <strong>und</strong> Befragungen?<br />

Dokumentation <strong>und</strong> Archivierung der Evaluation?<br />

Spiegelszene - brauchbar, riskant, innovativ?<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> Spiegelarbeit?<br />

Neue Paradigma <strong>und</strong> Referenzdesigns?<br />

Ich bin mir bewusst, dass diese stichwortartige Auflistung ausgewählter<br />

idealtypischer Fragestellungen <strong>und</strong> Vorschläge ohne inhaltliche Konkretisierungen<br />

neue Fragen aufwirft, sie aber nicht beantwortet. Es sind Fragen an Sie, aber keine<br />

Antworten für Sie. Es geht um fachwissenschaftliche <strong>und</strong> didaktische Denkanstöße<br />

<strong>und</strong> die hinter ihnen stehenden emotionalen-affektiven Einstellungen - um Arbeit mit<br />

<strong>und</strong> an den Quellen <strong>als</strong> Rohstoffinformationen.<br />

Wenn Sie <strong>als</strong> Lehrer/in "fertiges" Wissen vermitteln, werden Sie mit den<br />

ausgewählten idealtypischen Fragen <strong>und</strong> Aufzählungen nichts anfangen können, es<br />

sei denn, Sie erhalten auf h<strong>und</strong>erten von Seiten "fertige" Rezepte nebst<br />

Regieanweisungen für den Unterricht. Sie finden sie in Schulbüchern, Lehrplänen,<br />

Richtlinien, auf Arbeitsblättern, im Internet, aber nicht in der D-Dok. <strong>und</strong> in diesem<br />

Begleitbuch. Sich selbst ändern <strong>und</strong> damit Ihren Unterricht ändern können Sie erst<br />

dann, wenn Sie ausgetretene Trampelpfade verlassen <strong>und</strong> die Zeit, den Mut, das<br />

Engagement <strong>und</strong> nicht zuletzt die Selbstständigkeit haben, sich auf eine<br />

Entdeckungsreise in das Unbekannte zu wagen, um selbst zu lernen - neu <strong>und</strong><br />

lebenslang.<br />

Am 14. September 2004 ist die jährliche OECD-Studie "Bildung auf einen Blick"<br />

erschienen. 242 Sie hat dem deutschen Bildungs- <strong>und</strong> Schulwesen drei Jahre nach<br />

dem PISA-Schock (1.2.) wieder ein schlechtes Zeugnis ausgestellt <strong>und</strong> ihm - trotz<br />

eingeleiteter Reformen - einen enormen Nachholbedarf attestiert. Die dadurch <strong>und</strong><br />

durch die PISA-Studie II ausgelösten öffentlichen Diskussionen drohen erneut in<br />

Strukturfragen (dreigliedriges Schulwesen, Gesamtschulen, Ganztagschulen,<br />

"Einheitsschule") einzumünden <strong>und</strong> damit Fehler vergangener politischer,<br />

parteipolitischer, pädagogischer <strong>und</strong> ideologischer Streitigkeiten zu wiederholen -<br />

statt Debatten <strong>und</strong> Anstrengungen zu beflügeln, wie Unterricht an den bestehenden<br />

Schulen qualitativ verbessert werden kann. 20 - 30% der Schüler/innen benötigen<br />

privat finanzierte Nachhilfe. 243 Hat dies mit der bestehenden Schulstruktur oder nicht<br />

doch mehr mit der Qualität des derzeitigen Unterrichts an den Schulen zu tun?<br />

242 Education at a Glance 2004: OECD Briefing Notes for Germany (www.oecd.org).<br />

243 Darauf wird im Interview mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Doris Ahnen, über die<br />

jüngste Bildungsstudie, die Entwicklung insbesondere an den Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> die Debatte über das<br />

dreigliedrige Schulsystem hingewiesen. In: General-Anzeiger vom 18./19. September 2004. Seite 3<br />

("Wir brauchen nicht noch mehr Prüfungen").<br />

238


Ergänzende OECD-Dokumente über die Lehrerschaft in <strong>Deutschland</strong> sind am 22.<br />

September 2004 vorgestellt worden. 244 Darin beklagt ein internationales<br />

Expertenteam, darunter der schwedische Erziehungswissenschaftler Mats Ekholm,<br />

Generaldirektor der Bildungsagentur "Skolverket", dass die deutschen Lehrer/innen<br />

wenig leistungsmotiviert, unzureichend für die Schulpraxis ausgebildet <strong>und</strong> kaum an<br />

Weiterbildung interessiert seien. Obwohl sie - international gesehen - zu den<br />

bestbezahlten gehören ( nur die Schweiz zahlt mehr) <strong>und</strong> ihre Arbeitsbelastung im<br />

Mittelfeld liege, hätten sie nur eine geringe "Arbeitszufriedenheit". Im Beamtenstatus<br />

sieht die OECD eine große Hürde: Zwar hätte die Lehrerschaft so eine<br />

Arbeitsplatzgarantie, aber zugleich auch wenig Anreize, flexibel zu sein, mehr zu<br />

leisten, sich weiter zu bilden <strong>und</strong> sich zu verändern. Die in der Regel vierstufige<br />

Schulbürokratie - Ministerien/ Dezernenten/Schulräte/Schulleiter - gängele<br />

Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen gleichermaßen. Immerhin begrüßt die OECD auch<br />

die eingeleiteten Reformen in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> den Willen dazu.<br />

Nach dem Erscheinen der D-Dok. Mitte Juli 2004 hatte ich Schulen im Bonner Raum<br />

angeboten, die DVD mit studentischen Mitarbeitern vorzustellen. Das Interesse daran<br />

war gering. Als Schulleiter/innen hörten, dass die D-Dok. keine "fertigen"<br />

Unterrichtsmaterialien liefere, sondern selbstständige <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />

innerschulische Evaluation erfordere, reduzierte sich das Interesse auf ein<br />

Freiexemplar zur "Prüfung" der DVD.<br />

Eine Ausnahme von dieser Regel war Oberstudiendirektor Willy Nikolay, Leiter des<br />

Clara-Schumann-Gymnasiums in Bonn. Er will die D-Dok. an seiner Schule erproben<br />

<strong>und</strong> die Unterrichtssequenzen ins Internet stellen (Schulen ans Netz, Lehrer-online).<br />

7.14. Außerschulische politische Bildung in der Erwachsenen- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>als</strong> Alternative<br />

Außerschulische politische Bildung, die sich vornehmlich auf <strong>Quellenarbeit</strong> stützt, ist<br />

schwieriger <strong>und</strong> langwieriger <strong>als</strong> schulische politische Bildung. Denn häufiger <strong>als</strong> bei<br />

Kindern <strong>und</strong> Schülern sind bei Erwachsenen die Quellen <strong>und</strong> Wurzeln verschüttet,<br />

ausgetrocknet, verleugnet, verdrängt oder vernachlässigt. Da Erwachsene bereits auf<br />

eine eigene Lebensgeschichte zurückblicken, bringen sie oft auch ein Wissen mit,<br />

das "fertig" ist, <strong>und</strong> konzeptualisierte Einstellungen, auf die sie "fixiert" sind.<br />

244 Attracting, Developing and Retaining Effective Teachers - Country Note for Germany; OECD<br />

Recommends Reorientation of Teacher Policy in Germany (www. oecd.org 22. Sep. 2004). Vgl. dazu<br />

Martin Spiewak: Freiheit für die Pauker. Lehrer müssen lernen lehren. Doch ihre Ausbildung ist<br />

schlecht, ihre Abhängigkeit groß. Die OECD drängt auf konsequente Reformen. In: DIE ZEIT Nr. 40<br />

vom 23. September 2004. Seiten 41 - 42.<br />

239


Intellektualisierungen schützen vor allem Akademiker davor, ihren "Überzeugungen",<br />

darunter ihren politischen, auf den Gr<strong>und</strong> zu gehen. So vermögen sie zwar zu<br />

begründen <strong>und</strong> zu rationalisieren, weshalb sie Mitglied einer Partei, Stammwähler,<br />

Wahlverweigerer oder Politikverdrossene sind, doch sind sie sich oft über die<br />

verborgenen oder tabuisierten emotionalen Hintergründe solcher politischer<br />

Gr<strong>und</strong>haltungen im Unklaren. Gelegentlich ist es auch ein f<strong>als</strong>ches Selbst, das sie<br />

verinnerlicht haben <strong>und</strong> so in ihnen Gestalt geworden ist (1.4.).<br />

Friedhelm Boll, Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat wegweisend<br />

lebensgeschichtliche Erfahrungen in Interviews <strong>und</strong> "weitere<br />

erfahrungsgeschichtliche Quellen" ausgewertet, um "Zeitzeugenarbeit" mit<br />

Überlebenden des Nation<strong>als</strong>ozialismus <strong>und</strong> des Stalinismus in <strong>Deutschland</strong> zu<br />

leisten. Er brachte sie <strong>als</strong> lebende Quellen zum Reden, das sich in Interviews<br />

unterschiedlich artikulierte: <strong>als</strong> Last, <strong>als</strong> Befreiung, <strong>als</strong> Identitätsarbeit, <strong>als</strong><br />

Selbsttherapie, <strong>als</strong> Trauerarbeit, <strong>als</strong> deutsch-deutsche Erinnerungskultur, <strong>als</strong><br />

heilsame Wiederbegegnung mit <strong>Deutschland</strong>. 245<br />

In der Politischen Bildung (PB) überwiegt die Vermittlung oder Aneignung historischpolitischen<br />

<strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Wissens. Dies reicht nicht aus, um<br />

lebensgeschichtliche Bezüge herzustellen <strong>und</strong> sie mit Politik oder politischen<br />

Erfahrungsfeldern zu verknüpfen. Friedhelm Boll gelingt dies durch seinen<br />

bahnbrechenden Ansatz, biografisch-persönliche mit zeitgeschichtlich-politischen<br />

Quellen zu vergleichen <strong>und</strong> so Zeitzeugen- <strong>und</strong> Erinnerungsarbeit zu leisten. Anders<br />

<strong>als</strong> traditionelle politische Bildung vermag auch Neue Politische Bildung (NPB) dazu<br />

zu verhelfen, die Vergangenheit in der Gegenwart neu zu beleben: durch weitgehend<br />

selbstbestimmte Arbeit an <strong>und</strong> mit den Quellen, die <strong>als</strong> Rohstoffinformationen zu<br />

eigenem Wissen zu verarbeiten sind.<br />

Der Wissenschaftler, Publizist <strong>und</strong> SPD-Politiker Peter Glotz, 1939 in Eger (heute<br />

Cheb) geboren, mit seiner tschechischen Mutter im September 1945 nach Bayern<br />

245 Friedhelm Boll: Sprechen <strong>als</strong> Last <strong>und</strong> Befreiung. Holocaust-Überlebende <strong>und</strong> politisch Verfolgte<br />

zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Bonn 2003. Seiten 37ff.,<br />

59ff., 82ff., 99ff., 112ff., 335ff.<br />

Bei dieser Thematik geht es Maja Suderland (Territorien des Selbst. Kulturelle Identität <strong>als</strong> Ressource<br />

für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt a.M./New York 2004) in ihrer soeben<br />

erschienen Studie nicht um das <strong>Lernen</strong> für das Leben, sondern um das nackte Überleben. Die<br />

Soziologin an der Technischen Hochschule Darmstadt kommt zu dem Schluss, dass Bildung <strong>und</strong><br />

Wissen <strong>als</strong> individueller F<strong>und</strong>us kultureller Identität auch unter den Bedingungen des<br />

Konzentrationslagers <strong>und</strong> damit ständiger Todesnähe zum Überleben befähigten. Neu deutet<br />

Suderland die Kontroverse zwischen Jean Améry, der von einer "Abdankung" <strong>und</strong> den "Grenzen" des<br />

Geistes in Auschwitz III (Monowitz) spricht, während Primo Levi die Möglichkeiten des Intellektuellen<br />

betont, Identität auch in Auschwitz-Monowitz zu bewahren <strong>und</strong> so zu überleben. Suderland weist<br />

anhand biografischer Hintergründe <strong>und</strong> autobiografischer Texte von ehemaligen KZ-Häftlingen nach,<br />

dass ihre "Territorien des Selbst" der Zeit vor dem KZ-Aufenthalt entstammen, somit in ihrer Kindheit<br />

<strong>und</strong> Jugend verankert sind. Es war der "Blick nach innen", der <strong>als</strong> Reservat <strong>und</strong> Vergewisserung des<br />

Selbst das Überleben im Angesicht <strong>und</strong> im "Geruch des Todes" ermöglicht hat.<br />

240


vertrieben, kann auf eine ebenso wechselvolle wie beeindruckende Karriere<br />

zurückblicken: Wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität München,<br />

Landtagsabgeordneter (1970-1972), B<strong>und</strong>estagsabgeordneter (1972-1977, 1983-<br />

1996), Parlamentarischer Staatssekretär im B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong><br />

Wissenschaft (1974-1977), Senator für Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung in Berlin (1977-<br />

1981), B<strong>und</strong>esgeschäftsführer der SPD (1981-1987), Professor für<br />

Kommunikationswissenschaft, u.a. <strong>als</strong> Gründungsrektor der Universität Erfurt (1996-<br />

1999), zuletzt an der Universität St. Gallen. Sein Literaturverzeichnis umfasst<br />

h<strong>und</strong>erte von Büchern, Aufsätzen <strong>und</strong> vor allem auch Zeitungsaufsätze.<br />

Als zweites historisches Buch nach "Der Irrweg des Nation<strong>als</strong>taats" (1990) hat Glotz<br />

im Jahr 2003 <strong>als</strong> Selbstbetroffener "Die Vertreibung. Böhmen <strong>als</strong> Lehrstück"<br />

veröffentlicht. Er schildert darin, wie der "Mechanismus der Verfeindung" zwischen<br />

Deutsch-Böhmen <strong>und</strong> Tschechen seit 1848 seinen verhängnisvollen Lauf nimmt, so<br />

dass schließlich der wachsende Nationalismus auf beiden Seiten blutig endet. Glotz<br />

legt die persönlichen Gründe offen, die ihn bewogen haben, darüber zu schreiben:<br />

Jahrzehntelang habe er sich für seine Herkunft <strong>und</strong> seine Vertreibung nicht<br />

interessiert, sich an seine Umgebung anpassen <strong>und</strong> sich integrieren wollen; denn<br />

seine berufliche <strong>und</strong> politische Karriere, die er machen wollte, forderte von ihm alles,<br />

auch sich durchzusetzen; daher fand er keine Zeit, sich mit seiner Lebensgeschichte<br />

zu beschäftigen, wollte auch nicht <strong>als</strong> "Flüchtling" gelten. So hatte er einen<br />

"Identitätsverlust" erlitten. 246 Glotz in einem Streitgespräch: "Erst <strong>als</strong> ich älter wurde<br />

<strong>und</strong> anfing, die Dokumente meiner Mutter durchzusehen, nachdem sie gestorben<br />

war, kam ich überhaupt auf dieses Thema. Das wird übrigens bei vielen so sein. Es<br />

ist natürlich auch ein Generationsproblem." 247<br />

Die Jahre waren vergangen, aber die Zeit war stehen geblieben: Erst nach Arbeit mit<br />

<strong>und</strong> an Quellen, insbesondere Familiendokumenten, hatte der 6-jährige Junge, den<br />

Glotz so lange in sich verdrängt, verleugnet oder ignoriert - kurzum aus seinem<br />

Bewusstsein "vertrieben" hatte, in ihm Gestalt angenommen. Damit war Glotz zu<br />

seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er eckt seitdem öfter an, auch in seiner Partei, weil er<br />

sich nicht mehr wie früher anpasst. Er verficht sein Recht auf eigene Meinung, selbst<br />

wenn B<strong>und</strong>eskanzler Schröder oder Außenminister Fischer andere Ansichten<br />

vertreten.<br />

So sitzt Glotz zusammen mit Erika Steinbach (CDU), Vorsitzende des B<strong>und</strong>es der<br />

Vertriebenen (BdV), im Vorstand der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen", das<br />

246 Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen <strong>als</strong> Lehrstück. München 2003. Seite 10.<br />

247 Streitgespräch zwischen Micha Brumlik - Peter Glotz: Ein Zentrum gegen Vertreibungen? In: Neue<br />

Gesellschaft/Frankfurter Hefte 12/2003. Seiten 45 - 50, zit. 49; Petra Reski: Was vorbeji ist, ist vorbeji.<br />

Warum tun sich die Deutschen mit ihren Vertriebenen eigentlich so schwer? Eine Reise durch die Welt<br />

der Trachtenaufmärsche, Rübezahlgedichte <strong>und</strong> Opfer-Diskussionen. In: DIE ZEIT Nr. 47 vom 13.<br />

November 2003. Seite 43.Vgl. auch Dieter Bingen (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern?<br />

Historische Erfahrungen, Vergangenheitspolitik, Zukunftsoptionen. Wiesbaden 2003.<br />

241


eine Dokumentations-, Forschungs- <strong>und</strong> Begegnungsstätte werden soll. Er wird<br />

deshalb von vielen gescholten, teilweise mit "ewig Gestrigen" gleichgestellt.<br />

Übersehen wird dabei, dass Glotz sich wesentlich vom BdV unterscheidet, der<br />

allerdings ebenfalls betont, es gehe nicht nur um die Vertreibung der Deutschen,<br />

sondern um die europäische Dimension von Vertreibungen bis in die Gegenwart.<br />

Aber anders <strong>als</strong> manche Vertriebenenfunktionäre, die auf- <strong>und</strong> abrechnen wollen,<br />

anklagen oder in Ausnahmefällen sogar Entschädigungen fordern, will Glotz<br />

aufklären. Er ordnet die Vertreibung in ihren historischen Kontext ein <strong>und</strong> sieht darin<br />

ein "Lehrstück" des zerstörerischen Nationalismus auf beiden Seiten. Nur wer den<br />

Mut habe, seine "Verletzungen" offen zu bekennen, könne mit Verständigung<br />

rechnen, während "Versöhnungsgerede" oder "Versöhnungstourismus" nicht weiter<br />

führten. So hat Glotz die Vertreibung nicht nur <strong>als</strong> historisches Faktum, sondern auch<br />

persönlich-emotional verarbeitet. Daher wird ihm vorgeworfen, "dass seine<br />

dramatische Bilanz der europäischen Geschichte seinen eigenen persönlichen<br />

emotionalen Befindlichkeiten <strong>und</strong> nicht historischen Interessen entspringt". 248<br />

Die Neue Politische Bildung (NPB) geht von der These aus, dass intellektuelles<br />

Wissen <strong>und</strong> sein Erwerb allein nicht ausreichen, um sich <strong>als</strong> eigenständige<br />

Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG mit der dazu gehörenden Identität zu entfalten<br />

<strong>und</strong> so politisch mündig zu werden. Friedhelm Boll hat durch einfühlendes Zuhören<br />

Überlebenden zweier Diktaturen dazu verholfen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden<br />

<strong>und</strong> ihnen so eine Wiederbegegnung mit sich selbst <strong>und</strong> mit <strong>Deutschland</strong> ermöglicht.<br />

Peter Glotz ist ein Beleg dafür, dass jemand noch so sehr "politisch gebildet", noch<br />

so viel politisch wissen, noch so viel wissenschaftlich publizieren <strong>und</strong> darüber hinaus<br />

Kommunikationswissenschaftler sein kann, ohne deshalb mit sich selbst in seiner<br />

Lebensgeschichte kommunizieren zu müssen. Erst <strong>Quellenarbeit</strong>, u.a. mit<br />

Familiendokumenten, führte einen Wandel herbei.<br />

Karl Kautsky (1854 - 1938), ein anderer Sozialdemokrat, wie Glotz ein "Böhmak", hat<br />

seine Quellen - Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels - nicht tiefer gehend verstanden. Sein<br />

"Kautskyanismus" rezipierte, interpretierte <strong>und</strong> popularisierte sie, war aber auch aus<br />

anderen Quellen, u.a. sozialdarwinistischen, gespeist. Da er sehr viel veröffentlichte,<br />

vor allem im von ihm 1883 begründeten <strong>und</strong> bis 1917 geleiteten theoretischen SPD-<br />

Organ "Die Neue Zeit", wurde er nach dem Tode Engels' (1895) das geistige Haupt<br />

der internationalen Sozialdemokratie. 249 Jedoch blieb ihm, um ein Zitat Gadamers<br />

abzuwandeln, vieles fremd, was ihm vertraut schien (4.5.).<br />

248 Eva Hahn <strong>und</strong> Hans-Henning Hahn: Peter Glotz <strong>und</strong> seine Geschichtsbilder. In: Zeitschrift für<br />

Geschichtswissenschaft 52, 2004. Seiten 72 - 80, zit. 73.<br />

249 Jürgen Rojahn/Till Schelz/Hans-Josef Steinberg (Hg.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl Kautskys<br />

Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M./New York 1992. Vgl. auch Hans<br />

Georg Lehmann: Die Agrarfrage in der Theorie <strong>und</strong> Praxis der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />

Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus <strong>und</strong> Bolschewismus. Tübingen 1970. Seiten<br />

30ff., 191ff., 200ff., 253ff., 267ff. u.a.<br />

242


8. Adressen für die Praxis II<br />

Forschung <strong>und</strong> Lehre - Politik <strong>und</strong> Medien - Behörden <strong>und</strong><br />

Gerichte - Bibliotheken <strong>und</strong> Archive - Dokumentationen<br />

<strong>und</strong> Editionen<br />

In Forschung <strong>und</strong> Lehre will die D-Dok. <strong>als</strong> historisch-politische <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftliche Datenbank zur <strong>Quellenarbeit</strong> bevorzugt in folgenden<br />

Fachwissenschaften ermuntern: in den Geisteswissenschaften, vor allem in der<br />

Zeitgeschichte, in den Sprachwissenschaften <strong>und</strong> Übersetzungswissenschaften, in<br />

den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Politologie, Soziologie, in Rechts-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaft, auch in der Pädagogik, Didaktik <strong>und</strong> Psychologie. Die<br />

D-Dok. richtet sich folglich an alle Berufe, die damit in Zusammenhang stehen: vor<br />

allem an Hochschullehrer/innen, Dozent/innen <strong>und</strong> Studierende.<br />

Zu den Adressaten gehören auch Politiker/innen; denn sie artikulieren <strong>und</strong> bewirken<br />

im vornehmlich staatlich-öffentlichen Bereich, was sich in Quellen niederschlägt <strong>und</strong><br />

in der Datenbank dokumentiert wird. Journalist/innen <strong>und</strong> Medien vermitteln Politik,<br />

indem sie sie <strong>als</strong> Nachrichten verbreiten, kommentieren oder inszenieren.<br />

Die D-Dok. wendet sich darüber hinaus an Verwaltung <strong>und</strong> Rechtsprechung, soweit<br />

sie historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche, insbesondere normative Quellen<br />

nutzen <strong>und</strong> verwerten, z.B. Ministerien, Behörden <strong>und</strong> Gerichte auf den<br />

verschiedenen Ebenen. Bibliotheken sammeln in der Regel gedruckte primäre <strong>und</strong><br />

sek<strong>und</strong>äre Informationen, Archive dagegen vornehmlich ungedruckte primäre<br />

Informationen, <strong>als</strong>o unveröffentlichte Quellen.<br />

8.1. Hochschullehre auf dem Prüfstand: Nicht-direkte Lehrmethoden<br />

anstelle direkter an Universitäten<br />

<strong>Quellenarbeit</strong> in der universitären <strong>und</strong> außeruniversitären Lehre <strong>und</strong> ihren Fächern<br />

erfordert eine eigene Didaktik <strong>und</strong> Evaluation. Sie bleiben in diesem Begleitbuch<br />

ausgeklammert; denn es beschränkt sich im Wesentlichen auf Denkanstöße <strong>und</strong><br />

Anregungen für die schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung (7.).<br />

Nur angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt werden kann die hier vertretene These,<br />

dass direkte Lehrmethoden, wie sie seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert trotz gr<strong>und</strong>legend<br />

veränderter Umstände in Vorlesungen an deutschen Universitäten überwiegen,<br />

mitverantwortlich für den Frontalunterricht an Schulen sind, insbesondere an<br />

243


Gymnasien. Um so wichtiger wäre es, die Hochschullehre zu verändern <strong>und</strong> zu<br />

verbessern; denn an ihr krankt hauptsächlich der deutsche Universitätsbetrieb. Er<br />

befindet sich bildungspolitisch, personell, finanziell, organisatorisch <strong>und</strong> administrativ<br />

in einer schweren Krise <strong>und</strong> im Umbruch.<br />

Soweit Erprobungen vorliegen, haben sie bewiesen, "dass auch in der Hochschule<br />

nicht-direktive Lehrmethoden, die forschendes, entdeckendes, erfahrungsbezogenes<br />

<strong>Lernen</strong> fördern, die Effektivität von Lernprozessen in entscheidendem Maße<br />

steigern". 250 Sie <strong>und</strong> nicht Vorlesungen ermöglichen Studierenden über den<br />

fachwissenschaftlichen Informationswert hinaus, ihr Selbstwertgefühl positiv zu<br />

besetzen. "Fast alle Studenten, die man fragt, was sie vom Studium erwarten,<br />

bringen das Recht auf Anerkennung zur Sprache, jeder auf seine Weise. 'Ohne<br />

Anerkennung kann man nicht studieren', sagt der Hamburger Geschichtsstudent<br />

Christian Unger. Und Antje Ebersbach, Fachhochschülerin in Jena, berichtet, wie sie<br />

ihr Universitätsstudium aufgab, weil es an der Uni an Orientierung <strong>und</strong> Anerkennung<br />

mangelte. 'Da fehlt die Motivation, sich durchzukämpfen.' Diese Studierenden, auf<br />

deren Zukunft die marode Republik lastet, verlangen nicht Mitleid oder bloß Geld,<br />

sondern individuelle Aufmerksamkeit für das, was sie können. Sie möchten fachliche<br />

wie menschliche Zuwendung <strong>und</strong> Kritik. Wer sich nach ein paar Semestern noch<br />

nicht zurechtfindet, flüchtet ... Immer mehr Studenten fordern deshalb eine bessere<br />

Lehre; sie berichten ausdrücklich von dem beglückenden Gefühl: Ich hab was<br />

geschafft! <strong>und</strong> von dem Zorn über Dozenten, die ihnen diese Erfahrung verweigern;<br />

die sich nichts einfallen lassen, um der Ausbildung Qualität zu geben <strong>und</strong> <strong>als</strong>o allen<br />

Studierenden eine faire Chance. Dabei ist es an vielen US-Unis üblich, dass in<br />

kurzen Abständen, ob wöchentlich oder zweiwöchentlich, Lehrende <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>de<br />

miteinander überlegen, was einer gelernt hat, was daraus folgen könnte. Betreuung<br />

durchs Gespräch, nicht nur durch Leistungstests." 251<br />

Dies ist allerdings gegenwärtig an deutschen Universitäten nicht machbar; denn die<br />

meisten Lehrveranstaltungen sind überfüllt <strong>und</strong> das Lehrpersonal ist überlastet.<br />

Deshalb <strong>und</strong> aus anderen Gründen "taugt das amerikanische Hochschulwesen nur<br />

bedingt <strong>als</strong> Modell für die deutsche Hochschulpolitik", zumal sich beide am meisten<br />

"im Umgang mit Studierenden" unterscheiden. 252 So kommt an US-<br />

Spitzenuniversitäten ein Hochschullehrer auf etwa zehn Studierende, in <strong>Deutschland</strong><br />

dagegen hat ein Professor oft 100 Studierende "durchzuschleusen". Er kennt<br />

deshalb nur wenige persönlich <strong>und</strong> namentlich.<br />

250 Michele Barricelli/Ruth Benrath: "Cyberhistory" - Studierende, Schüler <strong>und</strong> Neue Medien im Blick<br />

empirischer Forschung. Ein hochschuldidaktisches Experiment. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Unterricht (GWU) 54, 2003. Seiten 337 - 353, zit. 353.<br />

251 Elisabeth von Thadden: Wie man in <strong>Deutschland</strong> studiert. Studenten wollen eine Ausbildung mit<br />

guten Karrierechancen. Die Universitäten wollen ein konkurrenzfähiges Profil. So sind alle auf der<br />

Suche. In: DIE ZEIT Nr. 48 vom 20. November 2003. Seiten 32 - 33, zit. 33.<br />

252 Hans W. Weiler: Hochschulen in den USA - Modell für <strong>Deutschland</strong>? In: Aus Politik <strong>und</strong><br />

Zeitgeschichte B 25/2004. Seiten 26 - 33, zit. 26 <strong>und</strong> 31.<br />

244


8.2. Digitalisierung <strong>als</strong> Mehrwert: Die D-Dok. <strong>als</strong> Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong><br />

Hilfsmittel für Recherchen in Lehre <strong>und</strong> Forschung<br />

Mit der D-Dok. wird eine Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> ein Hilfsmittel für Recherchen in der<br />

Lehre <strong>und</strong> Forschung an universitären <strong>und</strong> außeruniversitären Einrichtungen<br />

bereitgestellt. Welchen Mehrwert digitale Editionen gegenüber herkömmlichen<br />

analogen (gedruckten) bieten, lässt sich an zwei Beispielen demonstrieren: am<br />

Archiv der Gegenwart (AdG) <strong>und</strong> am Migne, Patrologia Latina (MPL).<br />

Der "Keesing" ist für alle, die sich mit Politik befassen, ein Begriff. Er erscheint seit<br />

1931, gegründet von Heinrich von Siegler, <strong>als</strong> Keesings Archiv, von 1945 - 1955 <strong>als</strong><br />

Keesing's Archiv der Gegenwart <strong>und</strong> seitdem <strong>als</strong> Archiv der Gegenwart (AdG). Es<br />

enthält, beginnend mit dem 1. Juli 1931, chronologisch nach Ländern geordnete<br />

weltweite Materialien zu Politik <strong>und</strong> auch Wirtschaft: Pressemeldungen, Nachrichten,<br />

Berichte über politische Ereignisse <strong>und</strong> wirtschaftliche Vorgänge, Quellen meist in<br />

Auszügen mit zusammenfassenden Zwischentexten, z.B. bei Reden. Fortlaufend<br />

aktualisiert <strong>und</strong> inzwischen auch mit einer englischen, französischen <strong>und</strong><br />

niederländischen Version erscheint das Archiv der Gegenwart im 74. Jahrgang 2004<br />

mit einem Gesamtumfang von schätzungsweise 55.000 Druckseiten - das ist etwa<br />

die Hälfte der in der D-Dok. digitalisierten Quellentexte. Bei ihr scheidet daher eine<br />

Druckversion von vornherein aus. Sie ist nur <strong>als</strong> digitale Bibliothek auf DVD denkbar -<br />

<strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong> 1945-2004 auf einer Scheibe.<br />

Die Bände des Archivs der Gegenwart füllen ein ganzes Regal. Das Bedürfnis, die<br />

Suche in ihnen zu erleichtern, veranlasste den Verlag, eine digitalisierte Version<br />

herauszugeben. Dies spart Platz <strong>und</strong> ermöglicht auch die Volltextsuche. Sie<br />

befriedigt allerdings wenig, da die Ergebnisse, die sie liefert, oft nicht überzeugen.<br />

Ich hoffe, die Software der D-Dok. bietet bessere <strong>und</strong> vielfältigere<br />

Recherchemöglichkeiten.<br />

Während der "Keesing" vornehmlich informiert, weniger dokumentiert, bietet der<br />

Migne, Patrologia Latina (MPL) in 221 Bänden eine Textsammlung lateinischer<br />

Kirchenväter zwischen 200 <strong>und</strong> 1216 n. Chr. Die nach ihrem Herausgeber Jacques-<br />

Paul Migne benannte Edition aus der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bewog den<br />

britischen Verleger Chadwyck-Healey, das Wagnis einzugehen, sie in den 1990er<br />

Jahren auf CD-ROM mit einer Volltextsuche auf den Markt zu bringen - zum Preis<br />

von 25.000 Pf<strong>und</strong> für die Einzelplatznutzung! 253 Die Investition hat sich für den<br />

253 Patrologia Latina cursus completus: sive bibliotheca universalis....accurante J.-P. Migne. Parisiis<br />

1844 - 1855, 1862-1865. 221 Bände. Vgl. dazu Helmut Altrichter: Quelleneditionen auf CD-ROM? In:<br />

Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Berichtsjahr 2001.<br />

245


Verleger offenbar gelohnt, obwohl sich das Angebot nur an Spezialisten unter<br />

Kirchenhistorikern <strong>und</strong> Theologen richtete.<br />

Die D-Dok. bietet nicht nur die Möglichkeit, Quellen im Volltext auszuwählen <strong>und</strong> mit<br />

ihnen zu arbeiten, sondern auch, in ihnen nach eigenen Suchbegriffen zu<br />

recherchieren <strong>und</strong> sie so auszuwerten - auf über weitaus mehr <strong>als</strong> 100.000<br />

gespeicherten Textseiten: sek<strong>und</strong>enschnell, schnörkellos, übersichtlich nach<br />

Trefferquoten. Welcher Name, welcher Begriff, welcher Vorgang taucht wo, wann,<br />

warum <strong>und</strong> in welchen Zusammenhängen auf? Die ermittelten Ergebnisse lassen<br />

sich für private Zwecke speichern, markieren <strong>und</strong> ausdrucken. Der Raumbedarf für<br />

die D-Dok., die gedruckt schätzungsweise 400 Bände umfassen dürfte, reduziert sich<br />

beinahe auf Null - auf eine DVD-Scheibe.<br />

Der Mehrwert der Digitalisierung für Lehre <strong>und</strong> Forschung hat die Deutsche<br />

Forschungsgemeinschaft (DFG) veranlasst, seit 1997 ein Förderprogramm zu<br />

finanzieren, das auch die retrospektive Digitalisierung umfasst. Berücksichtigt werden<br />

- je nach den Prioritäten - Bibliotheksbestände, Enzyklopädien, Lexika,<br />

Bibliographien, Wörterbücher <strong>und</strong> Quelleneditionen.<br />

8.3. Politiker/innen <strong>und</strong> Journalist/innen: Akteure <strong>und</strong> Vermittler von<br />

Politik im Informationszeitalter?<br />

In seinem berühmten Vortrag "Politik <strong>als</strong> Beruf" (1919) hat Max Weber Politik <strong>als</strong><br />

ernste <strong>und</strong> mühselige Arbeit beschrieben: <strong>als</strong> "ein starkes langsames Bohren von<br />

harten Brettern". Vom Politiker fordert er vornehmlich drei Qualitäten: Leidenschaft<br />

im Sinne von Sachlichkeit, Verantwortungsgefühl, Augenmaß <strong>als</strong> "Distanz zu den<br />

Dingen <strong>und</strong> Menschen". Weber hat auch schon Schattenseiten des politischen<br />

Machtkampfes <strong>und</strong> Interessenbetriebes gesehen: Pfründenschacher, Eitelkeit,<br />

Ämterpatronage, Unsachlichkeit, Verantwortungslosigkeit, insbesondere die "eitle<br />

Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht". 254<br />

Zu allen Zeiten waren Herrschende, Machthaber <strong>und</strong> <strong>als</strong> Politiker agierende<br />

Personen bemüht, ihre Handlungen <strong>und</strong> ihre dahinter stehenden Absichten ins<br />

rechte Licht zu setzen <strong>und</strong> so publikumswirksam zu vertreten. Die<br />

Parteiendemokratie, in <strong>Deutschland</strong> seit 1918, erforderte, politische Zielsetzungen,<br />

Handlungen <strong>und</strong> "Erfolge" öffentlich <strong>und</strong> kontinuierlich zu legitimieren, wenn Politiker<br />

gewählt oder wieder gewählt werden wollten. Diese Kommunikation zwischen<br />

Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. München 2002. Seiten 56 - 62, zit. 57.<br />

254 Nina Grunenberg/Christian Graf von Krockow/Robert Leicht: Politik <strong>als</strong> Beruf heute; Max Weber:<br />

Politik <strong>als</strong> Beruf. Düsseldorf 1986 (Diskurs Politik Heft 2). Seiten zit. 62-63, 71.<br />

246


Wählern <strong>und</strong> Gewählten beruhte auf dem Gr<strong>und</strong>gedanken, dass Politiker die Akteure<br />

sind, <strong>und</strong> Medien, insbesondere Zeitungen, die Vermittler, die Staatsbürger mit<br />

Informationen versorgen, damit sie sich eine politische Meinung bilden können. Die<br />

im Kaiserreich <strong>und</strong> in der Weimarer Politik weit verbreitete Presse der Parteien, z.B.<br />

das SPD-Organ "Vorwärts", druckte oft auszugsweise Politikerreden aus dem<br />

Reichstag nach <strong>und</strong> lieferte so Quelleninformationen pur — wie heute in <strong>Deutschland</strong><br />

nur noch die Wochenzeitung "Das Parlament" über den B<strong>und</strong>estag. Kurzum: Die<br />

Medien sollten die Politik beobachten, über sie berichten <strong>und</strong> sie vermitteln, sie aber<br />

nicht bestimmen oder inszenieren.<br />

Als 1950 die ARD, die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen<br />

R<strong>und</strong>funkanstalten der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>, gegründet wurde, ging sie von<br />

der Prämisse aus, dass R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> Medien staatlicher Kontrolle entzogen seien,<br />

sie die Interessen der "Allgemeinheit" vertreten <strong>und</strong> so zur politischen Willensbildung<br />

beitragen. "Alles in allem ist von der öffentlich-rechtlichen Gründungsidee nicht mehr<br />

viel übrig geblieben." 255 Unter dem Einfluss der Festangestellten <strong>und</strong> der Parteien<br />

beeinträchtigen Politik, Verwaltung <strong>und</strong> Kommerz die journalistische Unabhängigkeit,<br />

so dass ARD, ZDF <strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong>Radio längst nicht mehr, obgleich öffentlich<br />

finanziert, Medien für die "Allgemeinheit" <strong>und</strong> ihre Willensbildung sind: für<br />

Information, Politik, Kultur <strong>und</strong> Bildung.<br />

Im Informationszeitalter hat sich ein Wechsel von der Parteiendemokratie zur<br />

Mediendemokratie vollzogen. Nicht mehr Medien berichten über Politik, um sie zu<br />

vermitteln, sondern umgekehrt, die politischen Akteure beobachten die Medien <strong>und</strong><br />

passen sich ihnen an, um sich in ihnen publikumswirksam zu präsentieren <strong>und</strong> zu<br />

spiegeln. Politikvermittlung wird so zum Politainment: Politik <strong>und</strong> Unterhaltung<br />

verschmelzen zu einer Symbiose. 256<br />

8.4. Politikvermittlung <strong>und</strong> Politainment: Medien inszenieren Politik,<br />

Quellen spiegeln sie<br />

Politainment theatralisiert, personalisiert, verkürzt <strong>und</strong> fiktionalisiert Politik. Zwar ist<br />

Politik eine viel zu ernste Sache, <strong>als</strong> dass sie sich auf Unterhaltung reduzieren ließe,<br />

passt sich aber dennoch ihren Regeln an. Denn ohne dieses Politainment werden in<br />

den Massenmedien weder Politiker/innen noch ihre Politik wahrgenommen oder<br />

255 Thomas Assheuer: Kopfsprung ins Seichte. Der öffentlich-rechtliche R<strong>und</strong>funk steckt in der Krise.<br />

Immer stärker bedrohen Kommerz <strong>und</strong> Politik die journalistische Unabhängigkeit. Der Bildungsauftrag<br />

ist bloß noch lästiges Beiwerk, das Programm wird flott banalisiert. In: DIE ZEIT Nr. 3 vom 8. Januar<br />

2004. Seiten 11 - 13, zit. 13.<br />

256 Andreas Dörner: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M. 2001.<br />

247


ekannt. Sie existieren, überspitzt formuliert, nur innerhalb, aber nicht mehr<br />

außerhalb der Mediendemokratie.<br />

Um im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu bleiben, sind vor allem<br />

Spitzenpolitiker/innen darauf angewiesen, in den Massenmedien präsent zu bleiben.<br />

Dort zählt in erster Linie die schnelle <strong>und</strong> aller<strong>neues</strong>te Meldung vom Tage. Was<br />

gestern war, langweilt oft, ist verblasst. Was morgen, über den Tag hinaus geschieht,<br />

interessiert meist nur insoweit, <strong>als</strong> es heute Vorteile verspricht.<br />

Komplexe politische Sachverhalte, Entscheidungsprozesse <strong>und</strong><br />

Auseinandersetzungen werden oft auf den Augenblick verkürzt <strong>und</strong> so nicht<br />

nachvollziehbar. Entscheidend ist nicht mehr der Informationsgehalt, sondern die<br />

schnelle, unterhaltsame Abfolge neuer Meldungen in einer Art "Aktualitätenkino mit<br />

prominenter Besetzung". 257 Politik droht so zu einer Spielart des<br />

Unterhaltungsgewerbes zu werden, das den Marktgesetzen, den Einschaltquoten,<br />

der Kommerzialisierung, der Werbung <strong>und</strong> "Talkshowisierung" folgt. Thomas Meyer<br />

spricht daher von der "Theatralität der Politik in der Mediendemokratie". 258<br />

Die D-Dok. ist zwar ein Produkt des Informationszeitalters, aber nicht der<br />

Mediendemokratie. Politik <strong>und</strong> ihr Informationsgehalt werden daher nicht auf<br />

Minuten- oder Sek<strong>und</strong>en-Statements "eingedampft", sondern ungekürzt <strong>und</strong><br />

authentisch elektronisch in vornehmlich staatlichen Quellen <strong>als</strong> Rohstoff<br />

bereitgestellt. Sie sollen Politik aus historischer <strong>und</strong> sozialwissenschaftlicher<br />

Perspektive spiegeln <strong>und</strong> nach selbstbestimmten Fragestellungen recherchierbar <strong>und</strong><br />

nachvollziehbar machen.<br />

Politik wird damit in die Zeit <strong>und</strong> den Ort jener Auseinandersetzungen <strong>und</strong><br />

Entscheidungen zurückversetzt, die im Politainment marginalisiert werden: in das<br />

Parlament, in die Regierung, in die Parteien <strong>und</strong> in die Gesellschaft. Dies soll die<br />

Reichstagskuppel symbolisieren, die <strong>als</strong> Wahrzeichen des Deutschen B<strong>und</strong>estages<br />

auf dem Titelblatt der D-Dok. abgebildet ist.<br />

In der D-Dok. wird Politik zwar durch Spitzenpolitiker/innen vorgestellt, aber nicht<br />

medienwirksam inszeniert, sondern digitalisiert in Quellen, z.B. <strong>als</strong> ungekürzte<br />

Reden. Ihr Informationswert ist hoch, ihr Unterhaltungswert dagegen tendiert gegen<br />

Null, wenngleich es Spaß machen kann, in der Datenbank zu surfen.<br />

257 So Ulrich Sarcinelli: Das "Christiansen-Syndrom". Politik zwischen Medien- <strong>und</strong><br />

Verhandlungsdemokratie. In: Forschung & Lehre 8/2004, Seiten 422 - 424, zit. 422. Vgl. auch Klaudia<br />

Brunst: Leben <strong>und</strong> leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen. Essays, Analysen <strong>und</strong><br />

Interviews. Konstanz 2003.<br />

258 Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 53/2003. Seiten 12 - 19. Vgl. auch Thomas Meyer/Rüdiger<br />

Ontrup/Christian Schicha: Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen.<br />

Wiesbaden 2000. - Auch Protestk<strong>und</strong>gebungen werden mediengerecht inszeniert; vgl. Dieter Rucht<br />

(Hrsg.): Berlin, 1. Mai 2002. Zur Inszenierung politischer Rituale. Opladen 2003.<br />

248


Dennoch gibt es kein Politainment in der D-Dok. Gemäß ihren Zielsetzungen,<br />

vornehmlich staatliche Quellen zu dokumentieren, kommen Spitzenpolitiker/innen auf<br />

der obersten Ebene der Public Domain zu Wort: in der BRD Mitglieder vornehmlich<br />

der jeweiligen B<strong>und</strong>esregierungen, in der DDR der Staats- <strong>und</strong> Parteiführung, d.h.<br />

der SED. Original-Bild- <strong>und</strong> Original-Tondokumente treten ergänzend hinzu.<br />

Für Journalist/innen <strong>und</strong> Publizist/innen, die Politik für den Tag oder für den<br />

Augenblick inszenieren, ist die D-Dok. nicht brauchbar. Wer aber über den Tag<br />

hinaus recherchieren <strong>und</strong> schreiben will, auch historisches oder<br />

sozialwissenschaftliches Hintergr<strong>und</strong>wissen benötigt, für den ist die Datenbank ein<br />

riesiger Informationspool aus Quellen, auf die <strong>als</strong> Rohstoff zurückgegriffen werden<br />

kann.<br />

Dafür fehlt vielen Journalisten subjektiv <strong>und</strong> objektiv die Zeit. Auf der Jagd nach<br />

neuen <strong>und</strong> aller<strong>neues</strong>ten Meldungen stehen sie unter einem ernormen Druck. Sie<br />

müssen auch mit anderen Medien konkurrieren. Es ist ein mörderischer Job.<br />

Der Journalist Hendrik Lünenborg schreibt in seiner Rezension, die der NDR am 8.<br />

Januar 2005 im Info-Hörfunk über die D-Dok. <strong>als</strong> "F<strong>und</strong>grube für Interessierte"<br />

ausgestrahlt hat: "Auf multimediale Inszenierung haben Herausgeber Lehmann <strong>und</strong><br />

sein Team bewusst verzichtet." Und Lünenborg fügt hinzu: "Die <strong>Deutschland</strong>-<br />

Dokumentation ist <strong>als</strong>o das Gegenstück zum Historytainment. Wer sich wirklich für<br />

die jüngere deutsche Geschichte interessiert, der wird aber auch mit diesem<br />

vermeintlich trockenen Stoff seinen Spaß haben." 259 Hier hat ein Journalist die Zeit<br />

gef<strong>und</strong>en, <strong>Quellenarbeit</strong> zu leisten, statt die Pressemitteilungen der Universität Bonn<br />

vom 15. Juli 2004 oder der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vom 9. August 2004<br />

über die D-Dok. auszuschreiben.<br />

8.5. Digitale Angebote: Behörden <strong>und</strong> Gerichte, Bibliotheken <strong>und</strong><br />

Archive, Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen<br />

Mit dem Informationszeitalter hat ein Umstellungsprozess in Behörden <strong>und</strong> Gerichten<br />

begonnen; denn die Arbeitsvorgänge werden nicht mehr auf Papier, sondern nach<br />

<strong>und</strong> nach auf elektronischen Datenträgern gespeichert. So entstehen nur noch<br />

wenige Akten wie bisher, um so mehr aber virtuelle Akten. "Die Archivierung digitaler<br />

Angebote stellt neue Anforderungen an die Bibliothek - hier sind noch viele<br />

gr<strong>und</strong>legende Probleme zu lösen." 260 Und auf die Archive kommt "eine der wohl<br />

259<br />

NDR Info-Hörfunk. Das Forum - Thema Zeitgeschichte. 08. 01. 2005/ 19:20-19:50 Uhr<br />

(Manuskript).<br />

260<br />

Marianne Dörr: Fachinformation Geschichte im Internet. Angebote der Bayerischen<br />

249


größten Aufgaben ihrer Geschichte zu. Digitale Unterlagen sind von ihrer Natur her<br />

fragil <strong>und</strong> kurzlebig". 261<br />

Die D-Dok. ist <strong>als</strong> bislang größte <strong>und</strong> umfassendste Datenbank zur deutschen<br />

Geschichte <strong>und</strong> Politik nach 1945 bereits eine kleine Quellenbibliothek - auf einer<br />

Scheibe. Sie ist insoweit auch ein elektronisches Archiv, das allerdings vornehmlich<br />

staatliche gedruckte Dokumente speichert <strong>und</strong> deshalb den Gang ins Archiv nicht<br />

ersetzen kann. Die Digitalisierung ist nicht "fragil <strong>und</strong> kurzlebig", sondern meines<br />

Erachtens langlebiger <strong>und</strong> sicherer <strong>als</strong> eine ausgedruckte Papierversion der D-Dok.<br />

von etwa 400 Dokumentenbänden.<br />

Im Bibliotheksbereich federführend im elektronischen Zeitalter sind die Bayerische<br />

Staatsbibliothek (BSB) in München <strong>und</strong> die Staats- <strong>und</strong> Universitätsbibliothek<br />

Göttingen (SUB). Im Archivbereich am weitesten fortgeschritten bei der Erfassung<br />

<strong>und</strong> langfristigen Sicherung elektronischen Archivgutes sind offensichtlich die<br />

Staatlichen Archive Bayerns.<br />

Behörden <strong>und</strong> Gerichte sind darauf angewiesen, dass ihnen Gesetze <strong>und</strong> andere<br />

Rechtsnormen sowie die dazu gehörende Rechtsprechung nach dem <strong>neues</strong>ten<br />

Stand zugänglich sind. Dies erleichtern im Informationszeitalter wie nie zuvor digitale<br />

Rechtsbibliotheken. Dazu gehört u.a. die Datenbank der juris GmbH, die der größte<br />

Anbieter elektronischer Normen <strong>und</strong> Gerichtsentscheidungen in <strong>Deutschland</strong> ist. Die<br />

LexisNexis <strong>Deutschland</strong> GmbH macht B<strong>und</strong>esrecht, EU-Recht, alle 16 Landesrechte<br />

<strong>und</strong> dazu gehörende Leitsätze von Gerichtsurteilen auf einer CD-ROM nach dem<br />

jeweils aktualisierten Rechtsstand verfügbar; spätere Rechtsänderungen sowie die<br />

Volltexte von Gerichtsurteilen sind für K<strong>und</strong>en der CD-ROM kostenfrei im Internet<br />

abrufbar. "Das Deutsche B<strong>und</strong>esrecht" des Nomos-Verlags (Baden-Baden) ist eine<br />

Art "B<strong>und</strong>esgesetzblatt in Lose-Blatt-Form", das die in der BRD gültigen Gesetze <strong>und</strong><br />

Verordnungen des B<strong>und</strong>es nach Sachgebieten sammelt, erläutert <strong>und</strong> jeweils<br />

aktualisiert; es kann <strong>als</strong> gedruckte Loseblattsammlung, <strong>als</strong> CD-ROM oder über das<br />

Internet bezogen werden. 262<br />

Mit solchen Rechtsbibliotheken kann sich die D-Dok. <strong>als</strong> historisch-politische <strong>und</strong><br />

sozialwissenschaftliche Datenbank nicht messen. Aber in jenen Fällen, in denen es<br />

um zeitlich zurückliegende Verwaltungs- <strong>und</strong> Rechtsvorgänge geht, die nicht nach<br />

dem aktuellen, sondern nach ihrem dam<strong>als</strong> gültigen, datierbaren Rechtsstand zu<br />

Staatsbibliothek. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>.<br />

Berichtsjahr 2001. Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer<br />

Forschungseinrichtungen in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. München 2002. Seiten 63 - 68, zit. 67.<br />

261 Lothar Saupe/Karl-Ernst Lupprian: Das Internetangebot der Staatlichen Archive Bayerns im Jahr<br />

2001. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Berichtsjahr 2000.<br />

München 2001. Seiten 49 - 51, zit. 49.<br />

262 Weitere Informationen im Internet: www. nomos.de; www.lexisnexis.de; www.juris.de.<br />

250


ewerten <strong>und</strong> zu entscheiden sind, kann sie ergänzende Hilfestellungen leisten, z.B.<br />

bei Recherchen im historisch-sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong> normativen Umfeld.<br />

Die D-Dok. digitalisiert die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts auch<br />

dann, wenn seine Beschlüsse <strong>und</strong> Urteile nur noch rechtshistorisch bedeutsam sind,<br />

da sich die aktuellen Rechtsnormen geändert haben. Insofern ist die D-Dok. eine<br />

F<strong>und</strong>grube für jene Verwaltungsangehörigen <strong>und</strong> Juristen, vor allem<br />

Rechtshistoriker, die darauf angewiesen sind, auf Rechts- <strong>und</strong> Informationsquellen<br />

zurückzugreifen, die Vergangenes in der Gegenwart spiegeln.<br />

Gr<strong>und</strong>legend veränderte Rahmenbedingungen schafft das Informationszeitalter für<br />

Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die ich in der<br />

Editorengruppe des Auswärtigen Amts für die Herausgabe der "Akten zur Deutschen<br />

Auswärtigen Politik 1918 - 1945" (ADAP), <strong>als</strong> zeitweiliger Privatarchivar des<br />

B<strong>und</strong>eskanzlers Helmut Schmidt <strong>und</strong> jetzt <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok. gesammelt<br />

habe, fasse ich verkürzt in sechs Thesen zusammen:<br />

-1. EDV-Einsatz bietet bisher ungeahnte Möglichkeiten, praktisch unbegrenzte<br />

Informations- <strong>und</strong> Datenmengen (z.B. Massenquellen) authentisch <strong>und</strong> multimedial<br />

zu digitalisieren, virtuell zu veröffentlichen <strong>und</strong> dauerhaft zu sichern;<br />

-2. Im Unterschied zum analogen Buch <strong>und</strong> seinen konventionellen Registern sind<br />

digitale Bibliotheken nicht nur sehr Platz sparend <strong>und</strong> sehr kostengünstig, 263 sondern<br />

sie ermöglichen darüber hinaus, umfangreiche Informations- <strong>und</strong> Datenmengen zu<br />

verarbeiten, z.B. nach eigenen Fragestellungen auszuwählen, zu durchsuchen,<br />

auszuwerten <strong>und</strong> zu evaluieren;<br />

-3. Während ein gedrucktes Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen,<br />

somit "fertig" ist, sind elektronische Editionen immer prozesshaft, <strong>als</strong>o "unfertig" - mit<br />

ihrer Auswahl, mit ihren Zielsetzungen, mit ihren Ergebnissen, mit ihrer Hardware<br />

<strong>und</strong> Software;<br />

-4. EDV-Präsentation "demokratisiert" Informationen <strong>und</strong> den Zugang (open access)<br />

zu ihren vielfältigen F<strong>und</strong>stellen (z.B. Bibliotheken, Archive, Bücher, Zeitschriften,<br />

263 Für die Erarbeitung des druckfertigen Manuskripts der Edition "Akten der Reichskanzlei. Weimarer<br />

Republik" (Kabinette) ergab sich pro Band ein Durchschnittspreis von DM 520.000. Hinzu kamen<br />

Druckkosten pro Band von DM 80.000. Insgesamt betrugen die Gesamtkosten somit pro Band<br />

schätzungsweise DM 600.000. Vgl. dazu Friedrich P. Kahlenberg: Informationswert <strong>und</strong><br />

Voraussetzungen zeitgeschichtlicher Quelleneditionen. In: Lothar Gall/Rudolf Schieffer (Hrsg.):<br />

Quelleneditionen <strong>und</strong> kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica <strong>und</strong> der<br />

Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, 22./23. Mai<br />

1998. München 1999. Seite 115. - Die D-Dok. mit ihren weit über 100.000 abrufbaren Textseiten <strong>und</strong><br />

dieses Begleitbuch wurden vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) mit der<br />

Gesamtsumme von DM 886.130 gefördert.<br />

251


Zeitungen, Handschriften); dies begünstigt die Teilhabe an der Demokratie, sofern<br />

ihre Chancen wahrgenommen werden;<br />

-5. Weitgehend selbstbestimmte <strong>Quellenarbeit</strong> kann individuell dazu befähigen,<br />

historische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche mit lebensgeschichtlichen Quellen zu<br />

verknüpfen <strong>und</strong> so dazu verhelfen, nicht nur Zugang zu Geschichte <strong>und</strong> Politik zu<br />

finden, sondern auch zu sich selbst - zur eigenen Identität, zum wahren Selbst (1.4.).<br />

-6. <strong>Quellenarbeit</strong> erfordert <strong>lebenslanges</strong> <strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong>. Sie ermöglicht,<br />

Informationen <strong>als</strong> Rohstoff zu Handlungswissen <strong>und</strong> nicht zuletzt in emotionale<br />

Einsichten umzuwandeln. Sie werden so in uns zur Gestalt: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin"<br />

(Disco, ergo sum).<br />

9. Dank <strong>und</strong> Kritik<br />

(folgen)<br />

252


10. Der Autor<br />

11. Januar 2004<br />

Fragen an Sie, aber keine Antworten für Sie<br />

253


Hans Georg Lehmann<br />

1935 geboren in Mährisch Schönberg/heute Sumperk in Tschechien<br />

1946 Vertreibung aus der Tschechoslowakei<br />

1956-<br />

1962<br />

Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Germanistik,<br />

Rechtswissenschaft <strong>und</strong> Psychologie an den Universitäten<br />

München <strong>und</strong> Tübingen<br />

1963 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in Stuttgart-<br />

Tübingen: Fächer Geschichte, Wissenschaftliche Politik,<br />

Deutsch<br />

1966 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen<br />

1966-<br />

1974<br />

1974-<br />

1976<br />

1976-<br />

1979<br />

1980-<br />

2001<br />

1978-<br />

1987<br />

1992-<br />

2001<br />

Seit 2001 im Ruhestand<br />

im Auswärtigen Amt in Bonn: Editorengruppe für die<br />

Herausgabe der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik<br />

1918 - 1945 (ADAP)<br />

Habilitandenstipendium der Deutschen<br />

Forschungsgemeinschaft (DFG) <strong>und</strong> Lehrbefugnis für<br />

Politikwissenschaft in Bonn<br />

Dozent für Politikwissenschaft an der Pädagogischen<br />

Hochschule Rheinland, Abteilung Bonn<br />

Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn<br />

Privatarchivar <strong>und</strong> Mitarbeiter Helmut Schmidts<br />

Leiter der Abteilung Politikwissenschaft am Seminar für<br />

Orientalische Sprachen an der Universität Bonn<br />

254


Selbstständige Veröffentlichungen:<br />

Die Agrarfrage in der Theorie <strong>und</strong> Praxis der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />

Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus <strong>und</strong> Bolschewismus.<br />

Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1970.<br />

Italienische Übersetzung: Il dibattito sulla questione agraria nella socialdemocrazia<br />

tedesca e internazionale. Dal marxismo al revisionismo e al bolscevismo. Milano:<br />

Feltrinelli Editore1977.<br />

(Mithrsg.) Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918 - 1945. Aus dem Archiv des<br />

Auswärtigen Amts. Serie E (1941 - 1945). Bände 1 - 4. Göttingen: Vandenhoeck &<br />

Ruprecht 1969 - 1975.<br />

Deutscher Herold. Volks- <strong>und</strong> Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft 1921-1971.<br />

Essen: Hoppenstedts Wirtschafts-Archiv 1972.<br />

Der Reichsverweser-Stellvertreter. Horthys gescheiterte Planung einer Dynastie.<br />

Mainz: v. Hase & Koehler 1975.<br />

In Acht <strong>und</strong> Bann. Politische Emigration, NS-Ausbürgerung <strong>und</strong> Wiedergutmachung<br />

am Beispiel Willy Brandts. München: C. H. Beck 1976.<br />

Carlo Schmid Bibliographie. Herausgeber: Archiv der sozialen Demokratie (Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung). Bonn 1977.<br />

Der Oder-Neiße-Konflikt. München: C. H. Beck 1979.<br />

(Hrsg.) Die Europäische Integration in der interdisziplinären Lehrerbildung. Bonn:<br />

Europa Union 1981.<br />

Öffnung nach Osten. Die Ostreisen Helmut Schmidts <strong>und</strong> die Entstehung der Ost-<br />

<strong>und</strong> Entspannungspolitik. Bonn: Neue Gesellschaft 1984.<br />

Nation<strong>als</strong>ozialistische <strong>und</strong> akademische Ausbürgerung im Exil. Warum<br />

Rudolf Breitscheid der Doktortitel aberkannt wurde. Herausgeber: Der Präsident<br />

der Philipps-Universität Marburg. Marburg 1985.<br />

Die Oder-Neiße-Grenze aktuell <strong>und</strong> historisch. Herausgeber: Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung. Bonn 1985.<br />

Chronik der DDR. 1945/49 bis heute. 2. Auflage München: C. H. Beck 1988.<br />

255


Chronik der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. 1945/49 bis heute. 3. Auflage München:<br />

C. H. Beck 1989.<br />

<strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 -1995. Bonn: B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />

<strong>und</strong> Bouvier 1995. Nachdrucke Bonn 1996 -1999.<br />

<strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 - 2000. Bonn: B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />

<strong>und</strong> Bouvier 2000. Nachdrucke 2002 <strong>und</strong> 2004.<br />

(Hg.) D-DOK. <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht, Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Soziales. Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 2004 (DVD mit Booklet).<br />

Aufsätze zu zeitgeschichtlichen, politikwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

rechtswissenschaftlichen Themen in Zeitschriften <strong>und</strong> Sammelbänden:<br />

Hitlers Unterredung mit dem amerikanischen Publizisten Stoddard. In: Publizistik.<br />

Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Jg.16, 1971, H. 2, S. 194-200.<br />

Die Technik japanischer Landungsoperationen im Zweiten Weltkrieg. In: Marine-<br />

R<strong>und</strong>schau, Jg.68, 1971, H. 9, S. 527-539.<br />

Ernst Reuters Entlassung aus dem Konzentrationslager. In: Archiv für<br />

Sozialgeschichte, Bd. 13, 1973, S. 483-508.<br />

Gefangenen-Vernehmungen nach St. Nazaire <strong>und</strong> Dieppe. In: Marine-R<strong>und</strong>schau,<br />

Jg. 70, 1973, H. 3, S. 153-167.<br />

Unternehmen Panzerfaust. Der Putsch der SS in Budapest am 15.Oktober 1944. In:<br />

Ungarn-Jahrbuch. Zeitschrift für die K<strong>und</strong>e Ungarns <strong>und</strong> verwandte Gebiete, Bd. 5,<br />

1973, S. 215-231.<br />

Adenauer <strong>und</strong> der rheinische Separatismus 1918/19. Clives Intervention zugunsten<br />

Adenauers vom Januar 1935. In: Adenauer Studien III. Untersuchungen <strong>und</strong><br />

Dokumente zur Ostpolitik <strong>und</strong> Biographie, hrsg. von Rudolf Morsey <strong>und</strong> Konrad<br />

Repgen. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1974, S. 213-225. 2. Auflage ebenda.<br />

Das Kriegstagebuch des sowjetischen Majors der Staatlichen Sicherheit Sabalin<br />

(Brjansker Front). In: Wehrforschung, Nr. 2, 1974, S. 55-62.<br />

Leitmotive nation<strong>als</strong>ozialistischer <strong>und</strong> großjapanischer Wirtschaftspolitik. Funks<br />

Unterredung mit Matsuoka am 28. März 1941 in Berlin. In: Zeitschrift für Politik, Jg.<br />

21, 1974, H. 2, S. 158-167.<br />

256


Kommunistischer Widerstand in Frankreich, in Belgien <strong>und</strong> in den Niederlanden im<br />

Urteil des Reichssicherheitshauptamtes. In: Wehrforschung, Nr. 5, 1975, S. 144-151.<br />

Der analytische Bezugsrahmen eines internationalen <strong>und</strong> intergesellschaftlichen<br />

Konflikts am Beispiel der Genesis des Oder-Neiße-Konflikts. In: Das deutschpolnische<br />

Konfliktverhältnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Multidisziplinäre Studien<br />

über konfliktfördernde <strong>und</strong> konfliktmindernde Faktoren in den internationalen<br />

Beziehungen, hrsg. von Carl-Christoph Schweitzer <strong>und</strong> Hubert Feger. Boppard am<br />

Rhein:Verlag Harald Boldt 1975, S. 19-95.<br />

Die Entstehung des Oder-Neiße-Konfliktes im Spannungsfeld zwischen Ost <strong>und</strong><br />

West. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS<br />

PARLAMENT, Nr. B 43/76 vom 23. Oktober 1976, S. 21-38.<br />

Erster gesamtdeutscher Dialog. Die Ministerpräsidentenkonferenz in München. In:<br />

DAS PARLAMENT, Nr. 22 vom 4. Juni 1977, S. 14-15. Englische Übersetzung: The<br />

Conference that Marked the Parting of the Ways. In: The German Tribune, Nr. 791<br />

vom 12. Juni 1977, S. 4.<br />

Schulreform <strong>und</strong> Politik. Der Konflikt um die Kooperative Schule <strong>und</strong> ihre<br />

Orientierungsstufe. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung<br />

DAS PARLAMENT, Nr. B 36/78 vom 9. September 1978, S. 3-23.<br />

Europa im Unterricht. Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 8. Juni<br />

1978. In: Gegenwartsk<strong>und</strong>e. Zeitschrift für Gesellschaft, Wirtschaft, Politik <strong>und</strong><br />

Bildung, Jg. 27, 1978, H. 4, S. 437-446.<br />

Europäische Bildungspolitik im Vergleich. Staatenverbindungen, Institutionen <strong>und</strong><br />

Zwischenergebnisse. In: Hans Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration<br />

in der interdisziplinären Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 261-291.<br />

Die europäische Dimension im Unterricht. Eine Dokumentation für Lehrer. In: Hans<br />

Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration in der interdisziplinären<br />

Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 293-313.<br />

Sozialwissenschaftliche Auswahlbibliographie zur Europäischen Integration. In: Hans<br />

Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration in der interdisziplinären<br />

Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 315-371.<br />

Helmut Schmidt: A Biographical Political Profile. In: Wolfram F. Hanrieder (Ed.):<br />

Helmut Schmidt. Perspectives on Politics. Boulder/Colorado USA 1982, S. 227-236.<br />

Bespitzelt <strong>und</strong> ausgebürgert. Deutscher Widerstand im politischen Exil. In: DAS<br />

PARLAMENT Nr. 4-5 vom 29. Januar/5. Februar 1983, S. 11-12.<br />

257


Die deutsch-polnische Grenzfrage. Eine Einführung in den Oder-Neiße-Konflikt. In:<br />

Werner Plum (Hrsg.): Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> zu Polen. Bonn 1984, S. 37-54.<br />

Acht <strong>und</strong> Ächtung politischer Gegner im Dritten Reich. Die Ausbürgerung deutscher<br />

Emigranten 1933-45. In: Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933-45<br />

nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen. Hrsg. von Michael Hepp,<br />

eingeleitet von Hans Georg Lehmann <strong>und</strong> Michael Hepp. Bd. 1 (Listen in<br />

chronologischer Reihenfolge). München/New York/London/Paris: Verlag Saur 1985,<br />

S.IX-XXIII.<br />

Mit der Mauer leben? Die Einstellung zur Berliner Mauer im Wandel. In: Aus Politik<br />

<strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT B 33-34 vom 16.<br />

August 1986, S. 19-34.<br />

Die individuelle Ausbürgerung deutscher Emigranten 1933-1945 (mit Michael Hepp).<br />

In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht, Jg. 38, Heft 3 (März 1987), S. 163-<br />

172.<br />

Oder-Neiße-Linie <strong>und</strong> Heimatverlust. Interdependenzen zwischen Flucht/Vertreibung<br />

<strong>und</strong> Revisionismus. In: Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene in der westdeutschen<br />

Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung <strong>und</strong> Perspektiven für die künftige<br />

Forschungsarbeit. Hrsg. von Rainer Schulze, Doris von der Brelie-Lewien <strong>und</strong> Helga<br />

Grebing. Hildesheim 1987, S. 107-116.<br />

Wiedereinbürgerung, Rehabilitation <strong>und</strong> Wiedergutmachung nach 1945. Zur<br />

Staatsangehörigkeit ausgebürgerter Emigranten <strong>und</strong> Remigranten. In: Exilforschung.<br />

Ein internationales Jahrbuch Bd. 9 (Exil <strong>und</strong> Remigration), 1991, S. 90-103.<br />

Karl Kautsky <strong>und</strong> die Agrarfrage. In: Jürgen Rojahn, Till Schelz, Hans-Josef<br />

Steinberg (Hg.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der<br />

sozialistischen Arbeiterbewegung. Frankfurt/New York 1992, S. 100-115.<br />

Rückkehr nach <strong>Deutschland</strong>? Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von<br />

Remigranten. In: Rückkehr <strong>und</strong> Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im<br />

öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn <strong>und</strong> Patrik<br />

von zur Mühlen. Marburg 1997. S. 39-70.<br />

258

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!