Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Hans Georg Lehmann<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> <strong>lebenslanges</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong><br />
Begleitbuch zur <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation<br />
1945 - 2004 (D-Dok.)<br />
Bonn 2005<br />
1
Hans Georg Lehmann<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> <strong>lebenslanges</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong><br />
Begleitbuch zu Hans Georg Lehmann (Hg.): D-DOK.<br />
<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales (DVD mit Booklet)<br />
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2004.<br />
ISBN 3-8012-0342-5<br />
Ladenpreis 49,80 Euro<br />
Ich lerne,<br />
<strong>als</strong>o bin ich<br />
(Disco, ergo sum)<br />
2
Typografische Gestaltung: Asiye Öztürk M.A., Tibor Haunit, Miriam Schmidt<br />
Forschungsprojekt "<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales" an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn,<br />
gefördert vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF).<br />
Bonn 2005<br />
© Hans Georg Lehmann<br />
Lehrern <strong>und</strong> Lehrerinnen, Hochschullehrern <strong>und</strong> Hochschullehrerinnen sowie<br />
Dozenten <strong>und</strong> Dozentinnen ist gestattet, dieses Buch unter Quellenangabe für<br />
Zwecke des Unterrichts, der Forschung <strong>und</strong> der Lehre zu nutzen. In der schulischen<br />
<strong>und</strong> außerschulischen politischen Bildung wird dies ausdrücklich gewünscht.<br />
Ausdrucke <strong>und</strong> Vervielfältigung bedürfen der Genehmigung des Autors.<br />
F<strong>und</strong>stelle: www.d-dok.de/e-Book<br />
3
Ad Fontes<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>lebenslanges</strong> <strong>und</strong> <strong>neues</strong><br />
<strong>Lernen</strong> ist während der<br />
Entstehung der „<strong>Deutschland</strong>-<br />
Dokumentation 1945-2004“<br />
(D-Dok.) konzipiert worden<br />
<strong>und</strong> wird deshalb <strong>als</strong><br />
Begleitbuch dazu vorgestellt.<br />
Als Lernkonzept ist<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> eigenständig.<br />
Die D-Dok. liefert <strong>als</strong> größte<br />
historisch-politische <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftliche<br />
digitale Quellenbibliothek zu<br />
<strong>Deutschland</strong> nach 1945 dafür<br />
authentische, mehrsprachige<br />
Dokumente. Ihre subjektive<br />
Auswahl verbürgt je nach<br />
Themen- <strong>und</strong><br />
Fragestellungen quantitative<br />
<strong>und</strong> qualitative Weite, Breite<br />
<strong>und</strong> Multiperspektivität.<br />
Hans Georg Lehmann<br />
4
Inhaltsverzeichnis<br />
Zur Einführung........................................................................................................ 12<br />
Einleitung ................................................................................................................ 15<br />
1. Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Kontext der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.<br />
Informationszeitalter - PISA-Studien I <strong>und</strong> II - Alltäglicher Narzissmus - Schein<br />
<strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens ........................................................... 18<br />
1.1. Die informationelle Revolution: Konturen des globalen Informationszeitalters<br />
<strong>und</strong> der Wissensgesellschaft ................................................................................ 18<br />
1.2. Die PISA-Studien I <strong>und</strong> II der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
<strong>und</strong> Entwicklung (OECD): Konsequenzen für <strong>Deutschland</strong> .................................. 20<br />
1.3. <strong>Deutschland</strong> im Informationszeitalter: Abstieg zu einem bildungspolitischen<br />
Entwicklungsland oder Absturz in ein schwarzes Loch?....................................... 26<br />
1.4. Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch im Informationszeitalter: Fehlfunktionen des<br />
körperlich-emotionalen Selbst <strong>und</strong> die Unfähigkeit, sich selbst zu lieben ............. 29<br />
1.5. Alltäglicher Narzissmus in der Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft:<br />
Massenmedien <strong>als</strong> Spiegelbild <strong>und</strong> intersubjektive Ersatzobjekte ........................ 35<br />
1.6. Die geschlossene Gesellschaft in <strong>Deutschland</strong>: Familie, Bildung, Ausbildung<br />
<strong>und</strong> Beruf <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg........................................................... 38<br />
1.7. Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens: Steht eine<br />
Bildungskatastrophe bevor?.................................................................................. 41<br />
1.8. Das Menetekel von Erfurt: Die Fassade der scheinbar heilen Welt oder die<br />
Singularität des Grauens?..................................................................................... 44<br />
2. Inhalt, Datenerfassung, Formatierung <strong>und</strong> Leitmotiv der D-Dok.<br />
Quellen <strong>als</strong> Spiegel <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der Quellenbibliothek.................. 47<br />
2.1. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> deutsche, vor allem staatliche Politik 1945 - 2004 <strong>als</strong> Inhalt -<br />
Die Sonderrolle des Deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der<br />
Reichstagskuppel.................................................................................................. 47<br />
2.2. Ausgewählte Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen 1945 -<br />
2004: Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen (Repertorium)......... 49<br />
5
2.3. Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung: Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre Rechtschreibung<br />
- Digitalisierung - Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung - manuelle Korrektur -<br />
Haftungsausschluss.............................................................................................. 51<br />
2.4. Formatierung <strong>und</strong> Software der PDF-Dokumente: Dokumentendatum -<br />
Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname <strong>und</strong> Datei-Koeffizient -<br />
Quellennachweis - Volltextsuche .......................................................................... 53<br />
2.5. Die D-Dok. <strong>als</strong> deutschsprachige Datenbank mit eingemischten englisch-,<br />
französisch-, spanisch- <strong>und</strong> türkischsprachigen Dokumenten .............................. 67<br />
2.6. Begriff <strong>und</strong> Authentizität der Quelle <strong>als</strong> Spiegel: Quellen sind der Stoff, aus<br />
dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird ......................................................... 69<br />
2.7. Die Dokumentenauswahl der D-Dok.: Ihr Anspruch, deutsche Geschichte <strong>und</strong><br />
Politik zu spiegeln ................................................................................................. 71<br />
2.8. Die Spiegelfunktion der fördernden Umwelt in der primären Sozialisation: Die<br />
Entstehung des Selbst <strong>und</strong> des denkenden Ichs .................................................. 75<br />
2.9. Sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong> identitätsstiftende Sozialisation: Ergänzende<br />
Spiegelfunktionen durch historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />
Quellen.................................................................................................................. 77<br />
2.10. Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum): Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Leitmotiv<br />
der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. ......................................................................... 80<br />
3. Schranken, Kritik, Voraussetzungen <strong>und</strong> Modelle der <strong>Quellenarbeit</strong> in<br />
<strong>Deutschland</strong><br />
Hürden - Didaktikerstreit - Lehrpläne <strong>und</strong> Frontalunterricht - Drei Vorschläge 83<br />
3.1. Die erste Hürde: <strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong> - ein kritischer Rückblick....... 83<br />
3.2. Die zweite Hürde: Neue Medien <strong>als</strong> Arbeitsinstrumente <strong>und</strong> Hilfsmittel:<br />
Chancen, Abwehrhaltungen, Grenzen <strong>und</strong> Risiken .............................................. 86<br />
3.3. Die dritte Hürde: Interdisziplinär lehren, forschen <strong>und</strong> lernen<br />
Politische Bildung <strong>als</strong> Beispiel............................................................................... 88<br />
3.4. Der Didaktikerstreit: <strong>Quellenarbeit</strong> im Fadenkreuz der Kritik <strong>und</strong> Polemik ..... 89<br />
3.5. Tua res agitur: Die Frau im Didaktikerstreit <strong>und</strong> im "Problem <strong>Quellenarbeit</strong>" -<br />
eine Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder eine Nichtexistenz?............... 94<br />
6
3.6. Voraussetzungen der <strong>Quellenarbeit</strong>: Lehrpläne entrümpeln, Freiräume nutzen<br />
<strong>und</strong> tradierte, frontal-belehrende Unterrichtsmethoden durch alternativ-offene<br />
ergänzen oder ersetzen ........................................................................................ 96<br />
3.7. Drei Modelle zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Vergleich: Rudolf Renz (1971) - Wolfgang<br />
Hug (1977/1980) - Hans-Jürgen Pandel (2000) .................................................... 99<br />
4. Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s mit Quellen<br />
Weitgehend selbstbestimmte, computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der<br />
verfassungsrechtliche Auftrag der Persönlichkeitsentfaltung nach Artikel 2<br />
Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz...........................................................................................105<br />
4.1. Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum)<br />
Weitgehend selbstbestimmtes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> vornehmlich primärer,<br />
aktiver Lernprozess..............................................................................................105<br />
4.2. Wozu <strong>und</strong> warum lernen?<br />
Zwei ausgewählte interdependente Teillernziele: Neue Politische Bildung (NPB)<br />
<strong>und</strong> Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz..................108<br />
4.3. Was recherchieren <strong>und</strong> wie selektieren?<br />
Fragestellungen <strong>und</strong> Teilbereiche technischer <strong>und</strong> mathematischer Kompetenz:<br />
Vorauswahl <strong>und</strong> Auswahl von Informationen durch die <strong>Lernen</strong>den mit den<br />
Lehrenden <strong>als</strong> fördernde <strong>und</strong> fordernde Umwelt..................................................113<br />
4.4. Welche Informationen wie zu Wissen verarbeiten?<br />
Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess: Quellen erklären, quellenkritisch auswerten <strong>und</strong><br />
auf ihre Spiegelfunktion überprüfen .....................................................................120<br />
4.5. Was verstehen <strong>und</strong> wie hermeneutisch deuten zwischen "Fremdheit <strong>und</strong><br />
Vertrautheit"?<br />
Quelleninterpretation <strong>als</strong> hermeneutische Spirale in Auseinandersetzung mit<br />
Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas..............................................128<br />
4.6 Sind Hypothesen <strong>als</strong> Verallgemeinerungen möglich?<br />
Die Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen: Verknüpfungen von binären Variablen nach<br />
ihrem Wahrheitsgehalt .........................................................................................133<br />
4.7. Wie Hypothesen aus dem inhaltlich-subjektiven Quellenverständnis ableiten?<br />
Tendenziell-approximative Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen..................138<br />
7
5. Evaluation der <strong>Quellenarbeit</strong> an Schulen: "Spieglein, Spieglein, an der<br />
Wand..."<br />
Primat der Praxis - Lernprogramm der D-Dok. - Standards, Methoden <strong>und</strong><br />
Indikatoren - Spiegelszene ...................................................................................142<br />
5.1. Der Primat der Praxis in der Evaluation: Kontrolliertes Bewerten <strong>und</strong><br />
Verwerten von Informationen <strong>als</strong> Handlungswissen -<br />
Schule <strong>als</strong> konkretes Beispiel ..............................................................................142<br />
5.2. Evaluation an allgemein bildenden Schulen: Das Schulprogramm in<br />
<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> das Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> ....................145<br />
5.3. Der Spiegel <strong>und</strong> die Unberechenbarkeit der Schulaufsicht: <strong>Quellenarbeit</strong> mit<br />
der D-Dok. <strong>als</strong> "Untergr<strong>und</strong>arbeit" an deutschen Schulen? .................................148<br />
5.4. Gegenstand <strong>und</strong> Zweck der schulinternen Evaluation: Standards, Methoden<br />
<strong>und</strong> "weiche" Indikatoren auswählen ...................................................................150<br />
5.5. Das Kaleidoskop von Antworten, Eindrücken, Meinungen, Empfindungen:<br />
Konkrete Beispiele <strong>als</strong> Bewertungskriterien.........................................................153<br />
5.6. Die Spiegelszene <strong>als</strong> Abschied <strong>und</strong> Neuanfang: Ein Tag der Besinnung? Ein<br />
Tag der Abrechnung? Ein Tag der Freude? Ein Tag der Trauer? Ein Tag der<br />
Rache? Ein Tag des Loslassens?........................................................................156<br />
6. Politische Bildung (PB) <strong>und</strong> Neue Politische Bildung (NPB)<br />
Eine Abgrenzung <strong>und</strong> ein Kurzporträt.................................................................162<br />
6.1. Idealtypische Charakterologie I: Vorrangig Arbeit mit Quellen <strong>als</strong><br />
fachwissenschaftlich-rationales F<strong>und</strong>ament der<br />
Neuen Politischen Bildung (NPB) ........................................................................163<br />
6.2. Idealtypische Charakterologie II: Vorzugsweise Arbeit an den Quellen <strong>als</strong><br />
psychologisch-emotionales F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen Bildung (NPB) ...164<br />
6.3. Idealtypische Charakterologie III: Vornehmlich computergestütztes Suchen,<br />
Finden <strong>und</strong> Problemlösen <strong>als</strong> technologisch-mathematisches F<strong>und</strong>ament der<br />
Neuen Politischen Bildung (NPB) ........................................................................167<br />
6.4. Idealtypische Charakterologie IV: Persönlichkeitsbildung nach Artikel 2 Absatz<br />
1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>als</strong> verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament der Neuen<br />
Politischen Bildung (NPB) ....................................................................................170<br />
8
6.5. Individuum est ineffabile: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong> politischideologische<br />
Instrumentalisierung von Geschichts- <strong>und</strong> Politikdidaktik................173<br />
6.6. Veränderung in der demokratischen Ordnung: Ideologische oder utopische<br />
Elemente in der Neuen Politischen Bildung (NPB)? ............................................176<br />
7. Adressen für die Praxis I: Schulische <strong>und</strong> außerschulische politische<br />
Bildung<br />
Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, Sek<strong>und</strong>arbereiche I <strong>und</strong> II sowie<br />
Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung........................................................................182<br />
7.1. Zielgruppe <strong>als</strong> Schwerpunkt: Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer an allgemein bildenden<br />
Schulen................................................................................................................182<br />
7.2. Aufruf an Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland: Deutsch - Englisch -<br />
Französisch - Spanisch - Türkisch .......................................................................185<br />
7.3. Zwei Wege zur <strong>Quellenarbeit</strong>: Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong> schulische<br />
Voraussetzungen .................................................................................................188<br />
7.4. Ausstieg <strong>und</strong> Neueinstieg: Ein Alptraum oder ein archaischer Traum von<br />
großer Magie?......................................................................................................191<br />
7.5. Primarbereich: Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, insbesondere Theorie <strong>und</strong><br />
Praxis des Peschel-Unterrichts <strong>und</strong> der Ganztagsgr<strong>und</strong>schule nach<br />
B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn ..................................................................................195<br />
7.6. Elektronische Medien <strong>und</strong> Computer Literacy:<br />
Zielkonzepte <strong>und</strong> Beispiele in der Gr<strong>und</strong>schule (1. - 4. Klasse)...........................199<br />
7.7. <strong>Quellenarbeit</strong> im Sachunterricht der Gr<strong>und</strong>schule: Selbstbestimmtes Suchen<br />
<strong>und</strong> Finden, handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Problemlösen.............................205<br />
7.8. Diagnostik I im Primarbereich: Individuelle Fähigkeiten oder Retardierungen<br />
<strong>und</strong> familiäre Umwelt ...........................................................................................214<br />
7.9. Diagnostik II im Primarbereich: Geschlechtsspezifische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />
Rollenerwartungen...............................................................................................215<br />
7.10. Diagnostik III im Primarbereich: Migrantenbezogene, vor allem deutschtürkische<br />
Schul- <strong>und</strong> Integrationsprobleme..........................................................215<br />
7.11. Die erste Lernprobe: Die Vorstellung der D-Dok. in einer 4. Klasse der<br />
Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid..............................................................219<br />
9
7.12. Durchsicht <strong>und</strong> "Überprüfung": Die Gr<strong>und</strong>schulteile 7.5. - 7.10. im Urteil der<br />
Fachleiterin Gisela Arnold....................................................................................223<br />
7.13. Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II, insbesondere Gymnasien: Idealtypische<br />
Fragestellungen, Aufzählungen <strong>und</strong> Vorschläge..................................................225<br />
7.14. Außerschulische politische Bildung in der Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung:<br />
Neue Politische Bildung (NPB) <strong>als</strong> Alternative .....................................................239<br />
8. Adressen für die Praxis II<br />
Forschung <strong>und</strong> Lehre - Politik <strong>und</strong> Medien - Behörden <strong>und</strong> Gerichte -<br />
Bibliotheken <strong>und</strong> Archive - Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen ...........................243<br />
8.1. Hochschullehre auf dem Prüfstand: Nicht-direkte Lehrmethoden anstelle<br />
direkter an Universitäten ......................................................................................243<br />
8.2. Digitalisierung <strong>als</strong> Mehrwert: Die D-Dok. <strong>als</strong> Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Hilfsmittel<br />
für Recherchen in Lehre <strong>und</strong> Forschung..............................................................245<br />
8.3. Politiker/innen <strong>und</strong> Journalist/innen: Akteure <strong>und</strong> Vermittler von Politik im<br />
Informationszeitalter?...........................................................................................246<br />
8.4. Politikvermittlung <strong>und</strong> Politainment: Medien inszenieren Politik, Quellen<br />
spiegeln sie ..........................................................................................................247<br />
8.5. Digitale Angebote: Behörden <strong>und</strong> Gerichte, Bibliotheken <strong>und</strong> Archive,<br />
Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen ..........................................................................249<br />
9. Dank <strong>und</strong> Kritik ..................................................................................................252<br />
10. Der Autor ..........................................................................................................253<br />
10
Verzeichnis der Abbildungen<br />
Abbildung 1: Prozentualer Anteil von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern unter<br />
Kompetenzstufe I <strong>und</strong> auf Kompetenzstufe V: Gesamtskala<br />
Lesen der PISA-Studie<br />
Abbildung 2: Mittelwerte <strong>und</strong> Streuungen der Testwerte in den<br />
Teilnehmerstaaten: Gesamtskala Lesen der PISA-Studie<br />
Abbildung 3: Reichstagskuppel <strong>als</strong> Titelbild (Fotografiert von Joachim Liebe,<br />
Berlin; in einer bearbeiteten Fassung von Jens Vogelsang,<br />
Aachen)<br />
Abbildung 4: Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext -<br />
Dateiname - Quellennachweis<br />
Abbildung 5: Dokumentendaten - Dokumentendatum<br />
Abbildung 6: Dokumententitel<br />
Abbildung 7: Dokumentenuntertitel<br />
Abbildung 8: Dokumentenvortitel<br />
Abbildung 9.1. Leerzeile im Dokumententext<br />
Abbildung 9.2. Leerzeile im Dokumententext<br />
Abbildung 10: Leerzeilen im Dokumententext<br />
Abbildung 11: Hervorhebungen im Dokumententext<br />
Abbildung 12: Aufzählungen mit Tabstopps im Dokumententext<br />
Abbildung 13: Fußnoten im Dokumententext<br />
Abbildung 14: Seitenzahlen der PDF-Dokumente<br />
Abbildung 15: Dateiname <strong>und</strong> Quellennachweis<br />
Abbildung 16: Datei mit Datum, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname<br />
Abbildung 17: Liste der Datei-Koeffizienten<br />
Abbildung 18: Dateiname <strong>und</strong> Betreff<br />
Abbildung 19: Quellennachweis <strong>als</strong> F<strong>und</strong>stellenangabe<br />
Abbildung 20: Interpretationsregeln <strong>und</strong> Interpretationsschritte für Quellen<br />
nach Hans-Jürgen Pandel (Quelleninterpretation. Die<br />
schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts.<br />
2000. Seite 180)<br />
Abbildung 21: Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen<br />
Abbildung 22: Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> elektronische Schaltungen nach<br />
DIN<br />
Abbildung 23: Gebietsdarstellungen (Schnittmengen) der Booleschen<br />
Gr<strong>und</strong>funktionen<br />
11
Zur Einführung<br />
Mitte Juli 2004 ist im Verlag J. H. W. Dietz Nachf. in Bonn die von mir<br />
herausgegebene "D-DOK. <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales" (fortan D-Dok.) <strong>als</strong> digitale Quellenbibliothek (DVD mit<br />
Booklet) erschienen. Dieses Begleitbuch ist Bestandteil des vom B<strong>und</strong>esministerium<br />
für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) geförderten Projekts <strong>und</strong> bereits im Booklet<br />
(Seite 6) der DVD (ISBN 3-8012-0342-5; Ladenpreis Euro 49,80) angekündigt.<br />
Weit über die Möglichkeiten, die der Umfang des Booklets ( 32 Seiten) geboten hat,<br />
will <strong>und</strong> soll dieses Begleitbuch<br />
– die D-Dok. <strong>und</strong> die <strong>Quellenarbeit</strong> in das Informationszeitalter <strong>und</strong> die in ihm<br />
entstehende Wissensgesellschaft einordnen;<br />
– die gegenwärtige Krise <strong>und</strong> den Umbruch von Bildung <strong>und</strong> politischer Bildung in<br />
<strong>Deutschland</strong> offen legen;<br />
– die Editionsgr<strong>und</strong>sätze der Dokumentenauswahl, ihrer Datenerfassung,<br />
Formatierung <strong>und</strong> Spiegelfunktion darlegen <strong>und</strong> dokumentieren;<br />
– über das Leitmotiv des lebenslangen <strong>und</strong> die Ziele des neuen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong><br />
an Quellen (<strong>Quellenarbeit</strong>) informieren <strong>und</strong> sie begründen;<br />
– Hürden, Voraussetzungen <strong>und</strong> didaktische Modelle des neuen <strong>Lernen</strong>s <strong>als</strong><br />
weitgehend selbstbestimmte computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> vorstellen <strong>und</strong><br />
Möglichkeiten, sie an Schulen zu evaluieren;<br />
– das Konzept der "Neuen Politischen Bildung" (NPL) idealtypisch<br />
charakterisieren <strong>und</strong> sie von der bisherigen politischen Bildung (PB) abgrenzen;<br />
– Zielgruppen aufführen, an die sich die D-Dok. wendet: in der schulischen <strong>und</strong><br />
außerschulischen politischen Bildung (Praxis I), aber auch in Forschung, Lehre,<br />
Politik, Medien, Behörden, Archiven, Bibliotheken u.a. (Praxis II);<br />
– in den Anmerkungen ergänzende Informationen liefern, F<strong>und</strong>stellen belegen<br />
<strong>und</strong> weiterführende wissenschaftliche Literatur nennen.<br />
Geschichte <strong>und</strong> Politik der Staaten hängen hauptsächlich von ihrem geistigen<br />
Potenzial, ihren materiellen Ressourcen, ihrer geografischen Lage, ihrer Infrastruktur<br />
<strong>und</strong> vom Kulturkreis ab, dem sie angehören. Die individuelle Lebensgeschichte der<br />
Menschen wird von genetisch-vorgeburtlichen Dispositionen <strong>und</strong> dem damit<br />
zusammenhängenden familiären "Erbe" bestimmt, aber wesentlich auch von den<br />
durch Sozialisation verinnerlichten Objektbeziehungen geprägt - den gespeicherten<br />
intrapsychischen Selbst- <strong>und</strong> den interpsychischen Objekt-Repräsentanzen.<br />
In der I. Stufe beginnt das hier vertretene Konzept des lebenslangen <strong>Lernen</strong>s mit der<br />
vornehmlich rational-fachwissenschaftlich orientierten <strong>Quellenarbeit</strong>: nach<br />
selbstbestimmten ausgewählten Fragestellungen mit staatlichen <strong>und</strong><br />
gesellschaftlichen Quellen, in denen sich die Vergangenheit in der Gegenwart
spiegelt. Dieser Lernprozess unterscheidet sich bereits wesentlich vom "fertigen"<br />
Wissen <strong>und</strong> von "vorgefertigten" Interpretationen <strong>und</strong> Meinungen, wie sie in der<br />
Regel Schul- <strong>und</strong> Sachbücher sowie die wissenschaftliche Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />
anbieten <strong>und</strong> vermitteln wollen.<br />
In der II. Stufe geht es darum, die rational-fachwissenschaftliche mit der internemotionalen<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> zu verknüpfen ("verlinken") <strong>und</strong> so einen<br />
lebensgeschichtlichen Bezug zwischen ihnen - zwischen außen <strong>und</strong> innen -<br />
herzustellen: an den Quellen des lernenden Individuums. So können Geschichte <strong>und</strong><br />
Politik in uns verinnerlicht werden, sei es <strong>als</strong> positive, sei es <strong>als</strong> negative Bilanz.<br />
Diese Quellen- <strong>und</strong> Spurensuche ist mühselig, beschwerlich, zeitaufwändig, steinig,<br />
oft schmerzlich, sehr oft durch Vorurteile, Verdrängungen, Ängste, Tabus, Zwänge<br />
<strong>und</strong> andere Schranken blockiert.<br />
Die III. <strong>und</strong> letzte Stufe ist eine produktive Utopie <strong>und</strong> ein Grenzfall, deshalb<br />
außergewöhnlich selten: Die lebenslange <strong>Quellenarbeit</strong> mündet <strong>und</strong> gründet in den<br />
Wurzeln des existenziellen Selbst, auf dem Narzissmus, Triebe, Ich <strong>und</strong> Über-Ich<br />
aufbauen. Dies gelingt nur, wenn die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben<br />
<strong>und</strong> das lernende Individuum befähigt wird, Verstrickungen <strong>und</strong> Fesseln seiner<br />
äußeren <strong>und</strong> inneren Lebensgeschichte rational zu erkennen <strong>und</strong> sie emotional<br />
aufzuarbeiten. Es ist eine neue, aber schwere Geburt.<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>, wie sie hier vertreten wird, ist das Gegenteil von Historytainment, das<br />
Geschichte mit Unterhaltung vermarktet, das Gegenteil von Politainment, das Politik<br />
multimedial inszeniert, <strong>und</strong> die D-Dok. ist das Gegenteil jener aufwändigen populären<br />
„Dokumentationen“, die über die deutschen Bildschirme flimmern.<br />
Die Anregungen, die ich zur <strong>Quellenarbeit</strong> unterbreite, sind erstens unverbindlich,<br />
zweitens oft subjektiv <strong>und</strong> drittens bewusst idealtypisch. Sie bieten so einen zwar nur<br />
theoretisch-abstrakten <strong>und</strong> assoziativen Bezugsrahmen, aber zugleich auch einen<br />
breiten Frei- <strong>und</strong> Spielraum. Um sie zu konkretisieren <strong>und</strong> in der Praxis zu erproben,<br />
ist deshalb erforderlich, sie je für den Zweck, dem sie dienen sollen, didaktisch<br />
aufzubereiten.<br />
In <strong>Deutschland</strong> befinden sich Bildung, Bildungspolitik <strong>und</strong> Bildungswesen,<br />
insbesondere Schulen <strong>und</strong> Hochschulen, derzeit in einer schweren Krise <strong>und</strong> in<br />
einem Umbruch. Lehrer/innen <strong>und</strong> Hochschullehrer/innen stehen unter Zeit-, Arbeits-<br />
<strong>und</strong> Erfolgsdruck, den Staat <strong>und</strong> Gesellschaft auf sie ausüben, um Bildungs- <strong>und</strong><br />
Unterrichtsreformen einzufordern; doch fehlen oft die dafür erforderlichen<br />
personellen, organisatorischen, fachlich-didaktischen, rechtlichen, zeitlichen <strong>und</strong><br />
nicht zuletzt auch finanziellen Voraussetzungen, unter denen sie gedeihen könnten.<br />
Ich hoffe dennoch, es finden sich allen widrigen Zeit- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen zum<br />
Trotz engagierte Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen sowie Hochschullehrer <strong>und</strong><br />
13
Hochschullehrerinnen, die sich den Herausforderungen der <strong>Quellenarbeit</strong> stellen <strong>und</strong><br />
die D-Dok. in der Praxis erproben werden. Impulse dazu erhoffe ich auch aus dem<br />
Ausland, das von der für <strong>Deutschland</strong> charakteristischen staatlich-bürokratischen<br />
Reglementierung des Bildungswesens größtenteils verschont geblieben ist.<br />
Als Autor ermuntere ich dazu, dieses Buch, über dessen Urheberrechte ich verfüge,<br />
unter Quellenangabe für Zwecke des Unterrichts, der Forschung <strong>und</strong> der Lehre zu<br />
nutzen <strong>und</strong> weiter zu entwickeln, es aber auch kritisch zu prüfen, zu bemängeln <strong>und</strong><br />
in Frage zu stellen.<br />
Der Verlag J. H. W. Dietz Nachf. wird künftig allen Käuferinnen <strong>und</strong> Käufern der D-<br />
Dok. kostenlos ein Exemplar dieses Begleitbuches zur Verfügung stellen.<br />
Bonn, Anfang Februar 2005 Hans Georg Lehmann<br />
14
Einleitung<br />
Auf der DVD der D-Dok. (<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales. Bonn 2004. Ladenpreis 49,80 Euro) sind historischpolitische<br />
<strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen <strong>und</strong> Daten mit weit über 100.000<br />
abrufbaren Textseiten sowie sie ergänzenden Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumenten<br />
gespeichert. Diese multimediale Datenbank bietet daher die größte <strong>und</strong><br />
umfassendste digitale Quellenbibliothek über <strong>Deutschland</strong> nach 1945.<br />
Die Dokumentation erstreckt sich über 60 Jahre deutscher Geschichte <strong>und</strong> Politik.<br />
Mit dem letzten Kriegsjahr 1945 beginnend, endet die Datenbank in der Gegenwart<br />
mit dem 31. Januar 2004. Schlussredaktion war am 20. Februar 2004.<br />
Die DVD dokumentiert <strong>und</strong> belegt vornehmlich staatliche Quellen <strong>und</strong> Daten in ihrer<br />
Vielfalt, in ihren zeitbedingten Abhängigkeiten <strong>und</strong> in ihrer chronologischen<br />
Reihenfolge - nach innen <strong>und</strong> nach außen. Berücksichtigt sind die letzten Monate<br />
Hitler-<strong>Deutschland</strong>s 1945 <strong>und</strong> die vier Besatzungszonen (1945 – 1949), die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> (BRD) <strong>und</strong> die Deutsche Demokratische Republik<br />
(DDR) seit 1949 sowie das geeinte <strong>Deutschland</strong> vom 3. Oktober 1990 bis zum 31.<br />
Januar 2004.<br />
Die D-Dok. ist fünfsprachig: Sie enthält digitalisierte Dokumente in deutscher ( ca.<br />
75%), in englischer, in französischer, einige auch in spanischer <strong>und</strong> in türkischer<br />
Sprache. Die Datenbank wird so in den europäischen <strong>und</strong> globalen Bezugsrahmen<br />
eingebettet.<br />
Leitmotiv ist das lebenslange <strong>Lernen</strong>. Darüber gibt es viele Veröffentlichungen,<br />
Konzepte <strong>und</strong> Appelle, aber sehr wenige konkrete für die Praxis. Ein solches<br />
Arbeitsinstrument <strong>und</strong> Hilfsmittel zum lebenslangen <strong>Lernen</strong> will die D-Dok. jungen,<br />
erwachsenen <strong>und</strong> nicht zuletzt auch alten Menschen bereitstellen, damit sie den<br />
Herausforderungen des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen sind.<br />
Die multimediale Datenbank bietet dazu mehrsprachige Informationen erster Hand<br />
<strong>als</strong> authentische Quellen von fast astronomischer Weite <strong>und</strong> Breite an. Lernziel ist,<br />
sie <strong>als</strong> Rohstoff zu eigenem Wissen zu verarbeiten - weitgehend selbstbestimmt mit<br />
<strong>und</strong> an den Quellen (<strong>Quellenarbeit</strong>). In Abänderung <strong>und</strong> Anpassung des<br />
cartesianischen Leitspruchs "Cogito, ergo sum" (Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich) an das<br />
Informationszeitalter lautet daher die Losung der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. "Ich<br />
lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum).<br />
Ursprünglich war beabsichtigt, dieses Begleitbuch zur D-Dok. zusammen mit der<br />
DVD-D-Dok. zu veröffentlichen. Dies hätte jedoch zu dem Fehlschluss verleiten<br />
können, dass es sich hierbei um eine "autorisierte" Interpretation der digitalen<br />
15
Quellenbibliothek handelt, auch den Vorschlägen, die ich unterbreite, einen nicht<br />
beabsichtigten verbindlichen Charakter verleihen können. Deshalb ist zwischen dem<br />
Autor, der ich in diesen Begleitbuch bin, <strong>und</strong> dem Herausgeber, der ich bei der DVD-<br />
D-Dok. bin, zu trennen.<br />
Alle Anregungen, die ich <strong>als</strong> Autor zur Datenbank mache, sind meine Vorschläge <strong>und</strong><br />
Gedanken zur Didaktik der weitgehend selbstbestimmten <strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-<br />
Dok. Wenn Sie sie nützlich <strong>und</strong> brauchbar finden, sollten Sie sie erproben. Aber<br />
vielleicht haben Sie bessere Ideen <strong>als</strong> ich. Also entwickeln Sie bitte andere, neue,<br />
alternative, um sie zu testen - denn darauf kommt es letzten Endes an: ob sie sich in<br />
der Praxis bewähren <strong>und</strong> sich realisieren lassen.<br />
Wenn Quellen Spiegel sind <strong>und</strong> die Quellenbibliothek eine Spiegelfunktion (2.) hat,<br />
so folgt daraus auch das Gebot, <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> "Blick in den Spiegel" selbstkritisch<br />
zu evaluieren (5.). Aus praktischen Erwägungen habe ich bei den vorgeschlagenen<br />
Standards, Methoden <strong>und</strong> Indikatoren viele Abstriche von der "richtigen", m. E. zu<br />
theoretischen <strong>und</strong> deshalb zumindest an Schulen problematischen wissenschaftlichempirischen<br />
Evaluation gemacht.<br />
Aber auch hier gilt der Gr<strong>und</strong>satz: Die D-Dok. ist offen <strong>und</strong> geöffnet für alternative<br />
Vorschläge <strong>und</strong> Methoden, <strong>und</strong> Sie sind frei, sie zu entwickeln <strong>und</strong> zu erproben. Ich<br />
werfe Fragen <strong>und</strong> Fragestellungen auf, beantworte sie aber in der Regel nicht, um<br />
sie offen zu lassen - Sie sind frei, Antworten zu suchen <strong>und</strong> zu finden oder auch<br />
nicht.<br />
Sie sind frei, neue Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen zu entwerfen, sie zu<br />
akzentuieren, zu f<strong>als</strong>ifizieren oder zu verifizieren, sie den Erfordernissen der Praxis<br />
anzupassen. Die DVD-D-Dok. ist ein Arbeitsinstrument <strong>und</strong> ein Hilfsmittel zum<br />
lebenslangen, weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> ein Angebot für die Praxis.<br />
Wer die Datenbank öffnet, begibt sich auf eine Entdeckungs- <strong>und</strong> Abenteuerreise in<br />
fast astronomische Weiten <strong>und</strong> Breiten: in das Unbekannte, in andere Länder, in<br />
fremde Sprachen - auf eine terra incognita.<br />
Wenn die DVD-D-Dok. auch nicht verbindlich ausgelegt werden kann <strong>und</strong> darf, so ist<br />
sie doch herausgeberbestimmt insofern, <strong>als</strong> es sich um eine digitale<br />
Quellenbibliothek handelt. Sie ist eine Edition von Quellentexten mit sie ergänzenden<br />
Originalbild-(FOT) sowie Originalton-(TON) Dokumenten, sie ist jedoch in ihrer<br />
Spiegelfunktion thematisch nicht fokussiert, sondern breit <strong>und</strong> multiperspektivisch<br />
gestreut. Deshalb ist nicht zu befürchten, die <strong>Lernen</strong>den seien stofflich oder inhaltlich<br />
eingeengt. Die angebotenen Informationen sind nicht "fertig" <strong>und</strong> "geschlossen",<br />
sondern "unfertig" <strong>und</strong> "geöffnet". Sie konfrontieren das lernende Individuum damit,<br />
sie in ihrer quantitativen Themen- <strong>und</strong> Stofffülle nach selbstbestimmten qualitativen<br />
Fragestellungen zu Wissen zu verarbeiten.<br />
16
Die Entscheidung für eine Quellenbibliothek hatte Gr<strong>und</strong>satzcharakter. Es geht<br />
darum, das fremdbestimmte "Lehren" <strong>und</strong> "Belehren", das "Rezipieren",<br />
"Reproduzieren" <strong>und</strong> "Abfragen" durch das weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> zu<br />
ersetzen oder wenigstens alternativ zu erproben. Dazu eignen sich vorzugsweise<br />
Quellen. Denn sie sind der Rohstoff für die Geschichts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />
<strong>und</strong> immer "offen", sie neu zu befragen - je nachdem wer, wann, wo, warum <strong>und</strong> wie<br />
jemand in ihren Spiegel sieht.<br />
Offenbar lassen sich manche Probleme des deutschen Schul- <strong>und</strong> Bildungswesens<br />
auf eine veraltete, oft auch vernachlässigte "Lehre" an Universitäten <strong>und</strong><br />
Hochschulen zurückführen. So sind Vorlesungen, insbesondere Pflicht- <strong>und</strong><br />
"Schubladen"-Vorlesungen, die "fertiges", meist "Handbuch"-Wissen "vermitteln" <strong>und</strong><br />
anhäufen, geeignet, an Schulen fröhliche Wiederkehr zu feiern. Frontallehre<br />
verwandelt sich dann in den ineffizienten, noch häufig praktizierten Frontalunterricht.<br />
Anders <strong>als</strong> dieses "Lehren" <strong>und</strong> "Belehren" ist <strong>Lernen</strong> kein fremdbestimmter<br />
kumulativer, abfragbarer Vermittlungs- <strong>und</strong> Rezeptionsprozess, sondern ein aktiver,<br />
weitgehend selbstbestimmter Akt, der <strong>neues</strong> Wissen kreiert oder entdeckt statt<br />
"fertiges" zu reproduzieren oder einzuüben. Könnten so aus Lehrern <strong>und</strong> Lehrerinnen<br />
nicht <strong>Lernen</strong>de werden? Die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen beim <strong>Lernen</strong> begleiten? Sie<br />
fördern <strong>und</strong> fordern? Indem sie gemeinsam Fragestellungen erarbeiten? Sich<br />
Lernziele selbst setzen? Dazu Lerninhalte auswählen? Die dazu passenden<br />
Lernmethoden erproben? Und dafür Arbeitsblätter entwerfen?<br />
Warum brauchen <strong>Lernen</strong>de dazu Lehrpläne, (Rahmen)-Richtlinien, Curricula,<br />
Bildungsstandards oder Schulbücher? Sind Kultusbürokratie <strong>und</strong> Schulaufsicht<br />
erforderlich, damit sie von "oben" bestimmen, genehmigen <strong>und</strong> kontrollieren, was<br />
"unten" auszuführen ist? Warum können <strong>Lernen</strong>de nicht ihr Lernpensum selbst<br />
bestimmen? Es von Fall zu Fall korrigieren <strong>und</strong> ihre Lernergebnisse selbst<br />
evaluieren? Warum ihre organisatorischen Lernstrukturen <strong>und</strong> ihre sozialen<br />
Rahmenbedingungen der Klassenführung, der Lernabläufe <strong>und</strong> Lernplanung nicht<br />
selbst regeln - möglichst demokratisch nach Mehrheitsentscheidungen?<br />
Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />
an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen<br />
(<strong>Quellenarbeit</strong>) gelingt, verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />
Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />
Unveränderlich dagegen <strong>und</strong> deshalb eine Konstante in der Erscheinungen Flucht<br />
sind schriftliche Originalquellen, wenn sie gesichert datiert <strong>und</strong> authentisch<br />
wiedergegeben sind. Dann veralten sie nicht <strong>und</strong> behalten ihren "objektiven" Wert<br />
unabhängig von subjektiven <strong>und</strong> zeitlichen Faktoren. Denn Quellen sind "objektiv",<br />
ihre Auswahl dagegen ist subjektiv <strong>und</strong> zeitbedingt. Dies gilt auch für die<br />
Quellenbibliothek <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der D-Dok.<br />
17
1. Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Kontext der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />
der D-Dok.<br />
Informationszeitalter - PISA-Studien I <strong>und</strong> II - Alltäglicher<br />
Narzissmus - Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen<br />
Bildungswesens<br />
1.1. Die informationelle Revolution: Konturen des globalen<br />
Informationszeitalters <strong>und</strong> der Wissensgesellschaft<br />
In den westlichen Demokratien vollzieht sich gegenwärtig ein Umbruch – der<br />
Übergang vom Industriezeitalter <strong>und</strong> von der Industriegesellschaft zum<br />
Informationszeitalter <strong>und</strong> zur Wissensgesellschaft. 1 Hand in Hand damit geht<br />
schrittweise die „Dematerialisierung" der bisherigen Produktionskräfte <strong>und</strong> ihrer<br />
Hauptressourcen zur Wertschöpfung. Die Ökonomie wandelt sich zur Ökologie. Dies<br />
stellt das alte Profitdenken im Wirtschafts- <strong>und</strong> Arbeitsleben sowie rein materielles<br />
Konsumverhalten in Frage.<br />
Der Rohstoff „Hardwarekapital" <strong>und</strong> Investitionen in Energien, Technik, Maschinen,<br />
Fabrikanlagen u. a. werden zunehmend durch den Rohstoff „Information" ersetzt <strong>und</strong><br />
durch den produktiven Umgang mit ihr: das sind Software (Programme, Wissen),<br />
innovative Ideen <strong>und</strong> Strategien, "Humankapital" wie Bildung, Ausbildung <strong>und</strong><br />
Weiterbildung, darunter die Qualifikation für neue Medien <strong>und</strong> Technologien. Diese<br />
Veränderungen tragen langfristig zum Abbau tradierter hierarchischer Strukturen bei.<br />
Sie herrschen heute in <strong>Deutschland</strong> nicht nur im staatlich-öffentlichen Bereich vor,<br />
sondern überwiegen auch in Politik <strong>und</strong> Parteien, in Wirtschaft <strong>und</strong> Arbeit, in der<br />
Bildung <strong>und</strong> Ausbildung sowie nicht zuletzt in patriarchalischen Familien.<br />
Die Vernetzung digitaler Techniken im Informationszeitalter führt zur weltweiten<br />
"Konnektivität" des Wissens, zur Dezentralisierung tradierter-autoritärer<br />
Führungsstrukturen <strong>und</strong> -stile sowie letztendlich zur Globalisierung durch neue<br />
Kommunikations- <strong>und</strong> Informationstechnologien. Das Internet befähigt heute schon<br />
zu einem fast unbegrenzten Zugriff auf weltweites Wissen. Es ist zur wichtigsten<br />
Produktivkraft geworden ist <strong>und</strong> verdoppelt sich derzeit etwa alle fünf Jahre.<br />
1 Siehe dazu Guido Alt, Holger Bill, Matthias Machnig (Hrsg.): Innovation. Technik. Zukunft. Die<br />
Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft gestalten. Opladen 2002; Bernhard von Rosenbladt (Hrsg.):<br />
Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im Bildungssystem.<br />
Münster/München u. a. 1999.<br />
18
Mit dem Globalisierungsbegriff ist vielfach die negative Assoziation verknüpft, dass<br />
sich Wettbewerb <strong>und</strong> Konkurrenz grenzüberschreitend verschärfen <strong>und</strong> auf dem<br />
Rücken wirtschaftlich Schwacher <strong>und</strong> auf Kosten nationaler Schutzzonen<br />
ausgetragen werden. Diese Sicht lässt außer Acht, dass die von der informationellen<br />
Revolution ausgelösten <strong>und</strong> ausgeweiteten nationalen Konflikte <strong>und</strong><br />
Herausforderungen auch nur supranational, d. h. grenzüberschreitend geregelt <strong>und</strong><br />
vielleicht gelöst werden können. Der trotz Krisen fortschreitende Integrationsprozess<br />
in der Europäischen Union (EU) hat dafür das Problembewusstsein geschärft.<br />
Zu den negativen Konsequenzen der fortschreitenden Informatisierung gehört<br />
zweifellos die drohende Gefahr einer „digitalen Spaltung oder Trennung" (digital<br />
divide) der Gesellschaft in den Industriestaaten. Ihr kann nur dann vorgebeugt<br />
werden, wenn es gelingt, sozialen Randgruppen <strong>und</strong> nicht zuletzt der älteren<br />
Generation zweierlei zu vermitteln: Medienakzeptanz, d. h. die Bereitschaft, moderne<br />
Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien anzunehmen, <strong>und</strong><br />
Medienkompetenz, d. h. die Fähigkeit, sie zu nutzen <strong>und</strong> zu beherrschen. Finanzielle<br />
Barrieren ergeben sich vor allem bei der Ausstattung durch Hardware <strong>und</strong> Software<br />
sowie Leitungskosten, die der Internetzugang verursacht.<br />
Größer noch <strong>als</strong> das Risiko einer nationalen „digitalen Spaltung" von<br />
Industriegesellschaften ist die „digitale Abkopplung" der Dritten Welt, <strong>als</strong>o der<br />
Schwellen- <strong>und</strong> Entwicklungsländer; denn wenn sie an den neuen<br />
Kommunikationstechnologien nicht partizipieren können, bleibt ihnen der neue<br />
Rohstoff „Information" unzugänglich. Der Soziologe Manuel Castells, der das<br />
Informationszeitalter in drei Bänden analysiert hat, befürchtet daher, dass durch die<br />
informationelle Revolution zwar gewaltige Produktionskräfte neu entstehen, aber<br />
Ungleichheit, soziale Polarisierung <strong>und</strong> Armut zunehmen <strong>und</strong> damit die "schwarzen<br />
Löcher menschlichen Elends" innerhalb der globalen Wirtschaft konsolidiert werden,<br />
vor allem in der Dritten <strong>und</strong> in der entstehenden Vierten Welt. 2<br />
Die D-Dok. will in das neue globale Informationszeitalter einführen, indem sie<br />
historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen <strong>und</strong> Daten erster Hand<br />
deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachig anbietet. Wer mit ihnen arbeitet, wird von Informationen<br />
überflutet <strong>und</strong> zugeschüttet. Sich in ihnen zurecht zu finden, erfordert Übung <strong>und</strong><br />
<strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Problemlösen: Informationen gezielt in einem Meer von<br />
Informationen zu suchen, zu finden, auszuwerten <strong>und</strong> vielfältig zu nutzen. Wer dies<br />
mit der D-Dok. übt <strong>und</strong> lernt, wird in der informationellen Revolution auch gegen<br />
globale Tendenzen, die neue Ungleichheiten <strong>und</strong> Ausgrenzungen schaffen,<br />
gewappnet sein.<br />
2 Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft; Teil 2: Die<br />
Macht der Identität; Teil 3: Jahrtausendwende. Opladen 2001 - 2003. Zur "Entstehung der Vierten<br />
Welt" <strong>und</strong> die "schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus" siehe Teil 3: Jahrtausendwende.<br />
Opladen 2003. Seiten 73ff. <strong>und</strong> 170ff.<br />
19
Die Informationen in der D-Dok. sind noch kein Wissen, sondern Rohstoff für dieses<br />
Wissen <strong>und</strong> für die von ihm abhängige Wissensgesellschaft. Erst wenn Menschen<br />
mit ihnen arbeiten <strong>und</strong> sie verarbeiten, verwandeln sie sich in lebendiges Wissen.<br />
Dies setzt eine Umorientierung im Informationszeitalter voraus: Bildung vollzieht sich<br />
nicht nur in stark institutionalisierten Formen des Lehrens <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s, z.B. in<br />
Schule, Hochschule <strong>und</strong> Beruf zu festgelegten Zeiten, sondern lebenslang auch in<br />
formalen <strong>und</strong> informellen Lernprozessen des Individuums. Dieser<br />
Paradigmenwechsel heißt lernende Gesellschaft oder <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong>. Es<br />
erfordert, das Lernverhalten von Gr<strong>und</strong> auf zu verändern. Davon handelt dieses<br />
Begleitbuch zur <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> D-Dok.<br />
1.2. Die PISA-Studien I <strong>und</strong> II der Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung (OECD): Konsequenzen für<br />
<strong>Deutschland</strong><br />
Man muss nicht das Bildungs- <strong>und</strong> Sozialgefälle im Nord-Süd-Verhältnis<br />
beschwören, um auf Defizite im Informationszeitalter hinzuweisen <strong>und</strong> auf die damit<br />
verb<strong>und</strong>enen "schwarzen Löcher" selektiver Globalisierung <strong>und</strong> sozialer Exklusion.<br />
Die PISA-Studie I (Programme for International Student Assessment), die weltweit<br />
größte <strong>und</strong> bislang unbestritten f<strong>und</strong>ierte Schulleistungsanalyse, die von der<br />
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung (OECD) in Auftrag<br />
gegeben wurde, testete im Frühsommer 2000 r<strong>und</strong> 180.000, in der Regel 15jährige<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in 32 Staaten in den Bereichen Lesekompetenz,<br />
mathematische Gr<strong>und</strong>bildung <strong>und</strong> naturwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>bildung. Davon<br />
entfiel auf die B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> eine repräsentative Stichprobe von etwa<br />
5.000 Probanden/innen aus insgesamt 219 Schulen. 3<br />
<strong>Deutschland</strong> landete bei der Lesekompetenz im internationalen Vergleich<br />
abgeschlagen im unteren Drittel (Abbildung 1). 4 Fast 10% der getesteten 15jährigen<br />
deutschen Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen fehlt jedes Textverständnis , so dass sie<br />
unterhalb der niedrigsten Kompetenzstufe I liegen (OECD-Durchschnitt 6%) –<br />
schlechter <strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong> schneiden nur Lettland, Luxemburg, Mexiko <strong>und</strong> Brasilien<br />
ab. Weitere 12,7% erreichen die Kompetenzstufe I, so dass fast 23% der deutschen<br />
Jugendlichen Texte zwar lesen, sie aber nicht oder allenfalls nur oberflächlich<br />
verstehen können.<br />
3 Deutsches PISA-Konsortium (Jürgen Baumert, Eckhard Klieme, Michael Neubrand, Manfred<br />
Prenzel, Ulrich Schiefele, Wolfgang Schneider, Petra Stanat, Klaus-Jürgen Tillmann, Manfred Weiß<br />
Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern im internationalen Vergleich.<br />
Opladen 2001 (Fortan PISA 2000). Seiten 18f.<br />
4 PISA 2000. Seite 102.<br />
20
Im obersten Leistungsbereich, in der Kompetenzstufe 5, liegt der deutsche Anteil nur<br />
knapp unter dem OECD-Durchschnitt von 9,5%. Zwar sind die Anteile der<br />
Spitzenreiter Neuseeland <strong>und</strong> Finnland mit über 18% fast doppelt so hoch, doch<br />
liegen die deutschen Werte im OECD-Durchschnitt <strong>und</strong> damit im Mittelmaß, während<br />
sie im unteren Leistungsbereich weit darunter liegen. Mit anderen Worten:<br />
<strong>Deutschland</strong>, im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>als</strong> „Land der Dichter <strong>und</strong> Denker" (Madame de<br />
Staël) idealisiert <strong>und</strong> Vorbild für Bildungs- <strong>und</strong> Hochschulreformen, läuft Gefahr, zu<br />
einem Bildungs-Entwicklungsland zu werden.<br />
Auffallend ist die Streuung der Leistungen in <strong>Deutschland</strong> durch Abweichungen von<br />
den Standards; denn nirgendwo sind die Diskrepanzen zwischen "guten" <strong>und</strong><br />
"schlechten" Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern derartig krass. In der Lesekompetenz<br />
erreichen sie mit einem Mittelwert von 484 Punkten den 21. Rang von 31 Ländern;<br />
der OECD-Durchschnitt liegt bei 500 Punkten, der Spitzenreiter Finnland bei 546<br />
Punkten. Auf der Gesamtskala jedoch ist die Standardabweichung mit 111 Punkten<br />
in <strong>Deutschland</strong> am höchsten; danach folgen Neuseeland mit 108, Belgien mit 107,<br />
die USA mit 105 <strong>und</strong> Norwegen mit 104 Punkten (Abbildung 2). 5 Daraus ist zu<br />
schließen, dass in diesen Ländern der Leseerfolg, <strong>und</strong> zwar vor allem beim<br />
Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten, von der familiären <strong>und</strong> sozialen Herkunft abhängt - am<br />
stärksten in <strong>Deutschland</strong>. Bestehende soziale <strong>und</strong> berufliche Benachteiligungen<br />
werden dadurch festgeschrieben.<br />
Niederschmetternd sind auch die Lesehäufigkeit <strong>und</strong> die Einstellungen zum Lesen in<br />
<strong>Deutschland</strong>. Während beim "Primus" Finnland der Anteil jener Schüler/innen, die<br />
angeben, nicht zum Vergnügen zu lesen, mit etwa 23% gering ist, liegt er in<br />
<strong>Deutschland</strong> bei 42% <strong>und</strong> erreicht damit den höchsten Wert in allen vergleichbaren<br />
Ländern überhaupt. Einen Mittelwert dagegen belegt <strong>Deutschland</strong> mit etwa 13%<br />
beim Anteil jener Schüler/innen, die nach eigenen Angaben täglich mindestens eine<br />
St<strong>und</strong>e zum Vergnügen lesen. 6<br />
5 PISA 2000. Seite 107.<br />
6 PISA 2000. Seiten 113ff., Abbildungen Seiten 114 - 115.<br />
21
Abbildung 1: Prozentualer Anteil von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern unter Kompetenzstufe I <strong>und</strong> auf<br />
Kompetenzstufe V: Gesamtskala Lesen der PISA-Studie<br />
22
Abbildung 2: Mittelwerte <strong>und</strong> Streuungen der Testwerte in den Teilnehmerstaaten: Gesamtskala<br />
Lesen der PISA-Studie<br />
Ergänzend zu den 5.000 Schülern/innen aus 219 Schulen wurden in <strong>Deutschland</strong><br />
zusätzlich 50.000 Schüler/innen aus 1.246 Schulen getestet. Vergleicht man die<br />
Lesekompetenz der 15jährigen aller deutschen B<strong>und</strong>esländer in dieser nationalen<br />
Studie PISA-E mit den Testwerten in den PISA-Teilnehmerstaaten, so ergibt sich ein<br />
deutliches Süd-Nord- <strong>und</strong> ein West-Ost-Gefälle. Spitzenreiter sind Bayern mit 510<br />
<strong>und</strong> Baden-Württemberg mit 500 Punkten (Abbildung 2 zum Vergleich: Finnland 546,<br />
Japan 522 oder USA 504 Punkte). Danach folgt eine Mittelgruppe, die um den von<br />
<strong>Deutschland</strong> erreichten Durchschnittswert von 484 Punkten liegen: Sachsen mit 491,<br />
Rheinland-Pfalz mit 486, das Saarland mit 484, Nordrhein-Westfalen mit 482 <strong>und</strong><br />
23
Thüringen ebenfalls mit 482 Punkten. Im unteren absteigenden Bereich befinden sich<br />
Schleswig-Holstein mit 478, Hessen mit 476, Niedersachsen mit 474, Mecklenburg-<br />
Vorpommern mit 467, Brandenburg mit 459, Sachsen-Anhalt mit 455 <strong>und</strong> <strong>als</strong> "rote<br />
Laterne" Bremen mit 448 Punkten. Berlin <strong>und</strong> Hamburg blieben unberücksichtigt, da<br />
der Rücklauf aus diesen Ländern zu gering war.<br />
Gemessen am internationalen Standard, offenbarten alle B<strong>und</strong>esländer Schwächen:<br />
Bayern hatte zwar das relativ beste deutsche Leistungsniveau, jedoch auf Kosten<br />
frühzeitiger Auslese, denn dort hat „ein Kind aus der Oberschicht bei gleichen<br />
Fähigkeiten eine mehr <strong>als</strong> sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen,<br />
<strong>als</strong> ein Kind aus einem Facharbeiter-Haushalt. In keinem anderen B<strong>und</strong>esland<br />
schlägt sich die Herkunft so krass in der Bildungslaufbahn nieder." 7 Während in den<br />
von CSU <strong>und</strong> CDU regierten Ländern die Selektion in dem dreigliedrigen<br />
Schulsystem früh beginnt, <strong>und</strong> zwar nach sozialen Kriterien <strong>und</strong> zu wenig nach<br />
Fähigkeiten, verhält es sich in vielen von der SPD regierten Ländern mit<br />
Gesamtschulen genau umgekehrt: Dort steht breiteren Schülerschichten die Tür zu<br />
höheren Bildungsabschlüssen offen, jedoch auf Kosten des Leistungsniveaus <strong>und</strong><br />
einer Noteninflation, die Leistungsunterschiede verwischen oder gar nivellieren. In<br />
Bremen, dem Schlusslicht, sind mehr <strong>als</strong> 36% aller getesteten Schüler/innen<br />
„Risikokandidaten", d. h. sie kommen nach ihrer Vollzeit-Schulpflicht kaum über die<br />
Lesefähigkeiten von Gr<strong>und</strong>schülern hinaus. Wenn es ein deutsches "Musterländle"<br />
gibt, dann am ehesten in Baden-Württemberg mit seinem bevorzugt dreigliedrigen<br />
Schulsystem <strong>und</strong> seiner mittelständischen Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozi<strong>als</strong>truktur; denn dort<br />
scheint das Wagnis besser <strong>als</strong> anderswo gelungen zu sein, relativ mehr<br />
Schüler/innen zu höheren Schulabschlüssen zu führen, ohne das Leistungsniveau zu<br />
gefährden.<br />
Ähnlich besorgniserregende Schwächen wie in der Lesekompetenz offenbarte das<br />
internationale Ranking in den zwei anderen getesteten Bereichen: In der<br />
mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung erreichte <strong>Deutschland</strong> den 20. Platz mit 490 Punkten<br />
(OECD-Durchschnitt 500) <strong>und</strong> in der naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>bildung ebenfalls<br />
den 20. Platz mit 487 Punkten (OECD-Durchschnitt 500 Punkte). 8<br />
Eine am 1. Juli 2003 in London bekannt gegebene ergänzende PISA-Studie von<br />
OECD <strong>und</strong> UNESCO bezieht elf weitere "ärmere" <strong>und</strong> "arme" Länder in die<br />
Untersuchungen mit ein: Albanien, Argentinien, Bulgarien, Chile, Hong Kong-China,<br />
Indonesien, Israel, Mazedonien, Peru, Rumänien <strong>und</strong> Thailand. Durch das sehr gute<br />
Abschneiden von Hong Kong-China rutschte <strong>Deutschland</strong> in der internationalen<br />
Rangliste jeweils um einen weiteren Platz ab: in der Lesekompetenz vom 21. auf den<br />
22. Platz, in der mathematischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>bildung vom 20.<br />
7 So Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung <strong>und</strong> Leiter der deutschen<br />
PISA-Studie, in: DIE ZEIT Nr. 27 vom 27. Juni 2002. Seite 30. - Vgl. Deutsches PISA-Konsortorium<br />
(Hrsg.): PISA 2000 - Die Länder der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> im Vergleich. Opladen 2002.<br />
8 PISA 2000. Tabellen Seiten 173 <strong>und</strong> 229. Zu Einzelheiten Seiten 139ff. <strong>und</strong> 191ff.<br />
24
auf den 21. Platz. Von Hong-Kong abgesehen, befinden sich alle neu analysierten<br />
Länder im unteren Drittel der Rangskala. Auch im Vergleich mit diesen Staaten<br />
bestätigt sich, dass <strong>Deutschland</strong> bildungspolitisch "unterentwickelt" ist. Dort wie hier<br />
offenbaren sich sozial <strong>und</strong> familiär bedingte Disparitäten zwischen "guten" <strong>und</strong><br />
"schwachen" Schülern/innen, alarmierende Lesekompetenzen im unteren <strong>und</strong><br />
untersten Bereich, mangelnde Leistungsmotivation <strong>und</strong> Unzufriedenheit mit den<br />
Lehrern/innen. 9<br />
Die Hauptergebnisse der zweiten weltweiten PISA-Studie 2003 (II), die am 7.<br />
Dezember 2004 veröffentlicht, aber schon vorher bekannt geworden ist, lassen sich<br />
für <strong>Deutschland</strong> verkürzt wie folgt zusammenfassen: 10<br />
1. In den drei Testdisziplinen haben sich die deutschen Schüler/innen gegenüber<br />
PISA 2000 (I) etwas verbessert: am meisten in Mathematik (503 statt 490<br />
Punkte); ebenfalls in den Naturwissenschaften (502 statt 487 Punkte); am<br />
wenigstens in der Lesekompetenz (491 statt 484 Punkte), da der OECD-<br />
Durchschnitt leicht gesunken ist: von 500 auf 494 Punkte.<br />
2. Unverändert hoch bleibt der Anteil jener "Risikoschüler/innen" von fast 23%,<br />
die einfachste Texte nicht lesen oder verstehen können - wie in keinem<br />
anderen großen Industriestaat.<br />
3. Nicht geändert, sondern leicht verschärft hat sich der Trend, dass der<br />
Schulerfolg - wie in keinem anderen vergleichbaren Land - von der sozialen<br />
Herkunft abhängt, insbesondere von Vorbildung <strong>und</strong> Einkommen der Eltern.<br />
Dies benachteiligt vor allem Arbeiter- <strong>und</strong> Migrantenkinder.<br />
4. Beim erstm<strong>als</strong> getesteten Problemlösen, bei dem Alltagswissen mit<br />
Kompetenzen aus verschiedenen Fächern geprüft wird, liegt <strong>Deutschland</strong> mit<br />
513 Punkten deutlich über dem OECD-Durchschnitt (500 Punkte).<br />
5. Schlusslicht ist <strong>Deutschland</strong> beim computergestützten Unterricht. Nur für etwa<br />
21% der Schüler/innen gehört der PC zum Unterrichtsstandard.<br />
9 Organisation for Economic Co-operation and Development, Unesco Institute for Statistics: Literacy<br />
Skills for the World of Tomorrow. Further Results from Pisa 2000. (London 2003.) Zu den<br />
Diskrepanzen vgl. Seiten Seiten 73ff., 82ff., zum familiären Hintergr<strong>und</strong> Seiten 164ff., zur Qualifikation<br />
der Lehrer/innen <strong>und</strong> zur Schulorganisation Seiten 197ff., 201ff. Auf Seite 222 heißt es: "....average<br />
performance in reading literacy in the Czech Republic, Germany, Hungary and Luxembourg is<br />
significantly below the OECD average while, at the same time, there are above average disparities<br />
between students from advantaged and disadvantaged socio-economic backgro<strong>und</strong>s".<br />
10 PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in <strong>Deutschland</strong>. Ergebnisse des zweiten<br />
internationalen Vergleichs. PISA-Konsortium <strong>Deutschland</strong>. Manfred Prenzel u.a. Münster 2004. Vgl.<br />
dazu das Chancen Spezial der ZEIT Nr. 51 vom 9. Dezember 2004. Seiten 75ff. (Pisa 2003 - Schule<br />
im internationalen Vergleich), vor allem Seite 76 (Aktuelle Ranglisten nach Pisa I <strong>und</strong> II).<br />
25
1.3. <strong>Deutschland</strong> im Informationszeitalter: Abstieg zu einem<br />
bildungspolitischen Entwicklungsland oder Absturz in ein schwarzes<br />
Loch?<br />
Wer die Ergebnisse der internationalen PISA-Studien nicht beschönigt oder in Frage<br />
stellt, kommt um die Schlussfolgerung nicht herum, dass sich <strong>Deutschland</strong><br />
bildungspolitisch trotz leichter Verbesserungen 2003 tendenziell dem Standard von<br />
Entwicklungsländern annähert. Zwar ist es mit ihnen <strong>als</strong> Industriestaat <strong>und</strong> wegen<br />
der oberen <strong>und</strong> obersten Leistungsbereiche nicht vergleichbar, jedoch in Ansätzen in<br />
den untersten <strong>und</strong> unteren Leistungsbereichen. So beträgt in <strong>Deutschland</strong> die Rate<br />
jener Jugendlichen, die in der Lesekompetenz unter der niedrigsten Kompetenzstufe<br />
I liegen <strong>und</strong> sie erreichen, fast 23%. In Albanien, Brasilien, Mazedonien <strong>und</strong> Peru ist<br />
sie zwar doppelt so hoch - bis zum Teil über 50%. Wer hier jedoch von<br />
Analphabetismus spricht, muss sich die Frage gefallen lassen, ob 23% der<br />
15jährigen deutschen Schüler/innen nicht funktionale Analphabeten sind, da sie<br />
Texte, obwohl sie lesen können, nicht oder nur oberflächlich verstehen. Sozioökonomische<br />
<strong>und</strong> familiäre Disparitäten zwischen "guten" <strong>und</strong> "schwachen"<br />
Schülern/innen sind in Entwicklungsländern sehr viel stärker ausgeprägt, am<br />
höchsten in Argentinien <strong>und</strong> in Israel, jedoch erzielt <strong>Deutschland</strong> diesbezüglich den<br />
Spitzenwert in allen anderen vergleichbaren Industriestaaten.<br />
Im schlimmsten Fall droht <strong>Deutschland</strong> der Absturz in ein schwarzes Loch - mit<br />
verheerenden Folgen für die Europäische Union <strong>und</strong> vor allem die EU-<br />
Nachbarstaaten. Der Begriff, aus der Astrophysik stammend, ist von Manuel Castells<br />
auf den "Informationalismus" übertragen worden mit der Begründung, dass sich die<br />
Globalisierung selektiv auswirke <strong>und</strong> eine "scharfe Trennlinie zwischen wertvollen<br />
<strong>und</strong> wertlosen Menschen <strong>und</strong> Örtlichkeiten" schaffe. "Dieser weit verbreitete,<br />
vielförmige Prozess der sozialen Exklusion führt zur Bildung von etwas, was ich mit<br />
der Freiheit, mich einer kosmischen Metapher zu bedienen, <strong>als</strong> die schwarzen<br />
Löcher des informationellen Kapitalismus bezeichne. Das sind gesellschaftliche<br />
Regionen, aus denen es statistisch gesprochen für diejenigen, die auf die eine oder<br />
andere Weise diese gesellschaftlichen Landschaften betreten, kein Entrinnen vor<br />
dem Schmerz <strong>und</strong> der Zerstörung gibt, die der menschlichen Existenz zugefügt<br />
werden." 11 Auf <strong>Deutschland</strong> bezogen ist dies zwar vorerst nur ein Szenario des<br />
Horrors, aber eine durchaus denkbare Entwicklung, falls es misslingt, die schwere<br />
Wirtschafts-, Struktur- <strong>und</strong> Bildungskrise, in der sich <strong>Deutschland</strong> befindet, langfristig<br />
zu überwinden. Sollte <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> stärkste Wirtschaftsmacht in der EU wider<br />
Erwarten zu einem schwarzen Loch werden, werden vor allem die Nachbarstaaten in<br />
11 Manuel Castells: Teil 3: Jahrtausendwende. Opladen 2003. Seiten 170f. Zutreffend spricht Castells<br />
davon, dass schwarze Löcher "in ihrer Dichte sämtliche Zerstörungsenergie" konzentrieren (Seite<br />
171).<br />
26
seinen Sog geraten <strong>und</strong> mit in den Abgr<strong>und</strong> gerissen werden. Warum wäre dieser<br />
Prozess ausweglos <strong>und</strong> unumkehrbar?<br />
Castells bezieht sich, ohne dies auszuführen, auf die verheerenden Auswirkungen<br />
kosmischer schwarzer Löcher, die alles, was in einen bestimmten Abstand von<br />
ihnen, dem sogenannten Ereignishorizont (Schwarzschild-Radius), gelangt, für<br />
immer verschlingen, so Gas aus dem Weltall, Licht <strong>und</strong> ganze Sterne. Zwar ist dies<br />
nicht direkt beobachtbar, aber spektral messbar infolge hochenergetischer<br />
Röntgenstrahlung mit Emissionslinien von Ionen, kinematisch nachweisbar durch<br />
elliptische "Tanzbahnen" von Sternen, die ein schwarzes Loch bei Annäherung aus<br />
ihrer Bahn schleudert, oder aberrativ durch Lensing, da Strahlung so gebeugt wird,<br />
dass durch Unschärfen unterschiedlich helle Mehrfachbilder entstehen (<br />
sogenanntes Einsteinkreuz), vor allem bei Quasaren in entfernten Galaxien. Was das<br />
schwarze Loch verschluckt hat, ist unsichtbar <strong>und</strong> verschw<strong>und</strong>en, denn es sendet<br />
keine Strahlung oder Materie, <strong>als</strong>o Energie aus. Die "Jets", <strong>als</strong> riesige gebündelte<br />
Plasmaströme im Weltall weithin sichtbar, stammen nicht aus einem supermassiven<br />
scharzen Loch, sondern aus seiner Akkretionsscheibe, die spiralisiert wie ein Strudel<br />
Materie sammelt <strong>und</strong> aufheizt, um sie langsam ins Zentrum des schwarzen Lochs zu<br />
schleudern. 12<br />
Schwarze Löcher (black holes) sind Überreste toter Sterne, die "ausgebrannt" <strong>und</strong><br />
deshalb "gestorben" sind. Nach einigen Milliarden Jahren haben sie alle ihre<br />
Kernvorräte aufgebraucht. Ohne Brennstoff kann ein massereicher Stern nicht mehr<br />
seiner eigenen Anziehungskraft standhalten, so dass er einen Gravitationskollaps<br />
erleidet. Übrig bleibt ein kompakter Kern, der Materie in unvorstellbarem Ausmass<br />
verdichtet. Kleine Sterne, zu denen unsere Sonne gehört, werden zu weißen<br />
Zwergen, schwerere Sterne in der Regel zu Neutronensternen (Pulsare mit<br />
elektromagnetischer Strahlung), wenn ihre Masse innerhalb der Chandrasekhar-<br />
Grenze liegt, so dass sie einer Gravitationskontraktion unterliegen <strong>und</strong> damit eine<br />
relativ neue Stabilität erreichen. Ein oberhalb dieses Sektors liegender, d. h.<br />
massereicherer Stern dagegen kollabiert zu einem Punkt unendlicher Dichte<br />
(Singularität), umgeben von einem schwarzen Loch. 13 Seine Parameter sind Masse,<br />
12 Arlie O. Petters, Harold Levine, Joachim Wambsganns: Singularity Theory and Gravitational<br />
Lensing. Berlin 2001 (Über Jets sehr mathematisch: Seiten 210ff.); Tereasa G. Brainerd, Christopher<br />
S. Kochanek (Ed.):Gravitational Lensing: Recent Progress and Future Go<strong>als</strong>. Proceedings of a<br />
Conference Held at Boston University, Boston, Mass., 25-30 July 1999. Cambridge/Mass. 2001; Igor<br />
D. Novikov, Valery P. Frolov: Physics of Black Holes. Dordrecht/Boston/London 1989.<br />
13 Roman <strong>und</strong> Hannelore Sexl: Weiße Zwerge-schwarze Löcher. Einführung in die relativistische<br />
Astrophysik. Reinbek bei Hamburg 1975. Seiten 46 ff, 68ff; Roman U. Sexl, Helmuth K. Urbantke:<br />
Gravitation <strong>und</strong> Kosmologie. Eine Einführung in die allgemeine Relativitätstheorie. Mannheim 1987.<br />
Seiten 262ff.; Stuart L. Shapiro, Saul A. Teukolsky: Black Holes, White Dwarfs, and Neutron Stars.<br />
The Physics of Compact Objects. New York 1983. (zum Chandrasekhar-Limit Seiten 64ff.); Edwin F.<br />
Taylor, John Archibald Wheeler: Exploring Black Holes. Introduction to General Relativity. San<br />
Francisco 2000; Norman K. Glendenning: Compact Stars. Nuclear Physics, Particle Physics, and<br />
General Relativity. New York 2000. Seiten 90ff., 136ff., 199ff., 366ff.; Manfred Schneider:<br />
27
Drehimpuls, Ladung - mehr nicht. Dies veranlasste den Astronomen John Archibald<br />
Wheeler, der 1967 den Begriff "black hole" prägte, zu formulieren: "Ein schwarzes<br />
Loch hat keine Haare" (No-Hair-Theorem).<br />
Je nach ihrer Masse unterscheidet man primordiale schwarze Löcher, die winzig sind<br />
(urzeitliche Mini-Löcher), stellare schwarze Löcher mit einigen Sonnenmassen,<br />
massereiche schwarze Löcher <strong>und</strong> schließlich supermassereiche rotierende<br />
schwarze Löcher mit Millionen bis Milliarden Sonnenmassen, <strong>als</strong> Aktive Galaktische<br />
Kerne (AGK) Quasare, Radiogalaxien oder Seyfertgalaxien geheißen. In allen<br />
schwarzen Löchern wird Materie in einem Punkt, der zentralen Singularität,<br />
unendlich zusammengepresst mit surrealen <strong>und</strong> unergründlichen Phänomenen:<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit sind enorm oder unendlich gekrümmt (Riemannsche Raum-Zeit), so<br />
dass alle physikalischen Gesetze <strong>und</strong> Einsteins Relativitätstheorie versagen.<br />
Singulär ist auch die Materie ausgedehnt, denn sie nähert sich Null, dagegen nähert<br />
sich ihre Dichte dem Unendlichen. 14<br />
Nach Castells ist eine Vierte Welt entstanden, "die aus vielfältigen schwarzen<br />
Löchern sozialer Exklusion besteht <strong>und</strong> die auf der ganzen Erde zu finden sind". Der<br />
Soziologe meint damit vor allem soziale Randgruppen, innerstädtische Ghettos <strong>und</strong><br />
Armenviertel in Industriestaaten sowie marginalisierte Zonen in Entwicklungsländern,<br />
z.B. das subsaharische Afrika oder verarmte Gebiete in Lateinamerika <strong>und</strong> Asien. Zu<br />
den Opfern sozialer Exklusion zählt Castells insbesondere auch Kinder, die vielseitig<br />
ausgebeutet werden: durch Kinderarbeit, Kinderprostitution, Kinderpornographie <strong>und</strong><br />
<strong>als</strong> Kindersoldaten. 15<br />
In Castells Standardwerk kommt zwar nicht die Makrowelt zu kurz, wohl aber die<br />
Mikrowelt von Sozialisationsfolgen, vor allem in der Familie, <strong>und</strong> damit<br />
zusammenhängende schwarze Löcher, die unsichtbar bleiben. Zwar analysiert er<br />
das "Ende des Patriarchalismus" in der Familie <strong>und</strong> damit zusammenhängende<br />
sexuelle <strong>und</strong> Scheidungsfolgen, jedoch fand er keinen Platz, um auf die<br />
"Transformation der familiären Sozialisation in der neuen familiären Umgebung<br />
einzugehen". 16 Deshalb beschränkt sich Castells auf die Krise traditioneller<br />
patriarchalischer Familienverhältnisse, ohne die Krise der Familie schlechthin, ihre<br />
Auflösungstendenzen <strong>und</strong> ihre Sozialisationsfunktionen zu behandeln.<br />
Himmelsmechanik. Band III: Gravitationstheorie. Heidelberg 1996.<br />
14 Vgl. dazu Hans Jörg Fahr: Raumzeitdenken-Zwangsvorstellung Unendlichkeit. Osnabrück 1973.<br />
Seiten 49ff.(Krümmung von Räumen); Hans-Jürgen Treder: Philosophische Probleme des<br />
physikalischen Raumes. Gravitation, Geometrie, Kosmologie <strong>und</strong> Relativität. Berlin 1974. Seiten<br />
123ff.(Gravitationskollaps); Minas Kafatos (Ed.): Supermassive Black Holes. Proceedings of the 3.<br />
George Mason Astrophysics Workshop, Held at George Mason University, Fairfax, Virg. Cambridge<br />
Va. 1988. Seiten 80ff., 85ff. (Seyfertgalaxien), 243ff.(Akkretion)<br />
15 Manuel Castells: Teil 3. Seiten 87ff. (Afrika),132ff. (Amerika), 158ff. (Kinder), 172f. (Vierte Welt).<br />
16 Manuel Castells: Die Macht der Identität. (Teil 2) Opladen 2002. Seite 244. Zur patriarchalischen<br />
Familie vgl. Seiten 147ff. Der Begriff Narzissmus taucht dreimal auf: <strong>als</strong> kollektive Identität nach<br />
Lasch, <strong>als</strong> konsumistischer Narzissmus <strong>und</strong> <strong>als</strong> Kultur des Narzissmus; vgl. Seiten 9, 249 <strong>und</strong> 254.<br />
28
Die vorherrschende soziologische Betrachtungsweise des Soziologen Castells,<br />
soziale Exklusion <strong>als</strong> Funktion "bestehender Netzwerke von Reichtum, Macht <strong>und</strong><br />
Information" überzubewerten, klammert Ungleichheiten, Behinderungen <strong>und</strong><br />
Ungerechtigkeiten, aber auch Fähigkeiten aus, die unabhängig vom sozioökonomischen<br />
Status der Familie, vom Konflikt zwischen Arm <strong>und</strong> Reich entstehen<br />
<strong>und</strong> in der Regel lebenslang fortbestehen. Gemeint sind narzisstische<br />
Entwicklungsstörungen, die das körperlich-emotionale Selbst <strong>und</strong> seine lückenhafte<br />
Konfiguration betreffen.<br />
1.4. Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch im Informationszeitalter:<br />
Fehlfunktionen des körperlich-emotionalen Selbst <strong>und</strong> die Unfähigkeit,<br />
sich selbst zu lieben<br />
Narzissmus (vor der Rechtschreibreform: Narzißmus) dient in der Umgangssprache<br />
<strong>als</strong> Metapher für übersteigerte Eigenliebe, Verliebtsein in sich selbst, Eitelkeit, oft<br />
auch Egozentrismus. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie. Nach der<br />
Sage hatte sich der schöne "Narziss" in sein Spiegelbild verliebt: Es war nicht er<br />
selbst, sondern eine ihn reflektierende Imagination. 17<br />
Von Havelock Ellis auf die Psychiatrie übertragen (1898) <strong>und</strong> von Näcke (1899) <strong>und</strong><br />
Sadger (1908) in die Psychoanalyse eingeführt, wurde der Begriff von Freud<br />
übernommen <strong>und</strong> vieldeutig verwendet: <strong>als</strong> Bezeichnung für eine sexuelle Perversion<br />
(Autoerotismus), für ein libidinöses Entwicklungsstadium ("zum Liebesobjekt<br />
genommenes Selbst"), für eine animistische Phase ("Allmacht der Gedanken"), für<br />
die Quelle des "Ich-Ide<strong>als</strong>"(ideales Ich), für eine Theorie der Regression (Schlaf,<br />
Hypochondrie) <strong>und</strong> der Psychose (Schizophrenie nach Bleuler, Dementia praecox<br />
nach Kraepelin). 18 Mit diesen unterschiedlichen <strong>und</strong> widersprüchlichen<br />
17 Vgl. dazu Sigm<strong>und</strong> Freud: Gesammelte Werke. Band VIII. Seite 170: "Wir sagen, er findet seine<br />
Liebesobjekte auf dem Wege des N a r z i ß m u s, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus<br />
nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild, <strong>und</strong> der in die schöne Blume dieses<br />
Namens verwandelt wurde." (Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci)<br />
18 Sigm<strong>und</strong> Freud: Gesammelte Werke. Band VIII. Seite 297: "Man hat es <strong>als</strong> Narzissismus<br />
bezeichnet; ich ziehe den vielleicht minder korrekten, aber kürzeren <strong>und</strong> weniger übelklingenden<br />
Namen N a r z i ß m u s vor. Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum,<br />
welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt, um ein<br />
Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe<br />
es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht." (Psychoanalytische Bemerkungen<br />
über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia = Fall Schreber); Gesammelte Werke,<br />
Band IX. Seiten 110f.: "Animistische Phase" entspricht Narzißmus, "Allmacht der Gedanken", "Gefühl<br />
der Allmacht","Magie" (Totem <strong>und</strong> Tabu); Gesammelte Werke. Band X. Seite 161: "Was er <strong>als</strong> sein<br />
Ideal vor sich hinprojiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein<br />
eigenes Ideal war." (Zur Einführung des Narzißmus); Gesammelte Werke. Band XI. Seite 431: "Den<br />
29
Interpretationen hatte Freud, der zwischen einem primären <strong>und</strong> (pathologischen)<br />
sek<strong>und</strong>ären Narzissmus (vom Objekt abgezogene Libido) unterschied, Verwirrung<br />
gestiftet <strong>und</strong> mit dazu beigetragen, den Narzissmus lange zu diskreditieren, bis ihn<br />
die Neopsychoanalyse wieder entdeckt <strong>und</strong> die Psychologie des Selbst ihn<br />
rehabilitiert hat.<br />
Während bei Psychoneurosen, wie sie die Psychoanalyse Freuds versteht, Konflikte<br />
zwischen Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich vorherrschen, somit ein psychischer Apparat<br />
vorausgesetzt wird, entwickeln sich narzisstische Störungen aus Fehlfunktionen des<br />
Selbst. Es bleibt lückenhaft <strong>und</strong> deshalb desintegriert. Primär liegt daher kein<br />
Triebkonflikt vor, sondern ein existenzieller Basisdefekt des Selbst-Fragments.<br />
Deshalb sind die Neurosenlehre Freuds <strong>und</strong> der traditionellen Psychoanalyse nicht<br />
oder nur sehr bedingt auf narzisstische Störungen anwendbar; denn sie spielen sich<br />
intrasystemisch innerhalb des Selbst-Gefüges ab <strong>und</strong> nicht intersystemisch zwischen<br />
Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich, auch wenn sie scheinbar durch Zwangs-, phobische oder<br />
hysterische Symptome, <strong>als</strong>o angsterzeugende pseudosexuelle Triebansprüche<br />
imponieren. Auch hatte die Psychoanalyse anfänglich nicht zwischen der<br />
psychischen Repräsentanz des Selbst innerhalb des psychischen Apparats <strong>und</strong> dem<br />
Ich (Ego) getrennt.<br />
Narzisstische Störungen entstehen dadurch, dass ges<strong>und</strong> Neugeborene keine<br />
"fördernde Umwelt" (Winnicott) haben - weder eine Mutter noch einen Vater, die<br />
diesen Namen verdienen, sondern biologische Mütter <strong>und</strong> Väter oder Phantom-<br />
Mütter <strong>und</strong> -Väter. Sie sind nicht geboren, um zu leben, sondern dazu verdammt zu<br />
überleben. Später erwachsen <strong>und</strong> vereinsamt, richten sie, wenn ihre Abwehr- <strong>und</strong><br />
Überlebenskräfte erlahmen, ihre tief verwurzelten Unwertgefühle <strong>und</strong> ihre<br />
narzisstische Wut, die unbewusst ihren - oft auch gestörten - Eltern gilt, gegen sich<br />
selbst oder gegen die scheinbar feindliche <strong>und</strong> erschreckende Welt, "in der es keine<br />
Nahrung <strong>und</strong> keine Liebe mehr gibt" - "wie ein hungriger Wolf nur noch auszieht, um<br />
zu töten, zu fressen <strong>und</strong> ums Überleben zu kämpfen". 19<br />
Namen für diese Unterbringung der Libido - N a r z i ß m u s - entlehnten wir einer von P. Näcke<br />
beschriebenen Perversion, bei welcher das erwachsene Individuum den eigenen Leib mit all den<br />
Zärtlichkeiten bedenkt, die man sonst für ein fremdes Sexualobjekt aufwendet." (Vorlesungen zur<br />
Einführung in die Psychoanalyse); Gesammelte Werke. Band XIV. S 159: Narzißmus "der die<br />
libidinöse Besetzung des Ichs in eine Reihe mit den Objektbesetzungen bringt <strong>und</strong> die libidinöse Natur<br />
des Selbsterhaltungstriebes betont." (Hemmung, Symptom <strong>und</strong> Angst) Vgl. dazu auch Béla<br />
Grunberger: Vom Narzißmus zum Objekt. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 13ff.; Klaus Strzyz:<br />
Sozialisation <strong>und</strong> Narzißmus. Gesellschaftlicher Wandel <strong>und</strong> die Veränderung von<br />
Charaktermerkmalen. Wiesbaden 1978. Seiten 17ff.; Martin Altmeyer: Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein<br />
intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen 2000. Seiten 42 - 46 (Auflistung in 14<br />
Punkten); Alex Holder, Christopher Dare: Narzißmus, Selbstwertgefühl <strong>und</strong> Objektbeziehungen. In:<br />
Psyche 1982. Heft 9. Seiten 788ff.<br />
19 Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M. 1979. Seiten<br />
315f.<br />
30
Um ein kohärentes Selbst zu entwickeln, sind Empathie <strong>und</strong> Zuwendung einer<br />
Bezugsperson oder eines sozialen Umfeldes erforderlich. Nur so vermag das Kind<br />
einzelne Körperteile <strong>und</strong> zunächst fragmentierte körperliche <strong>und</strong> seelische<br />
Funktionen zu besetzen, zu konfigurieren <strong>und</strong> sich <strong>als</strong> körperlich-emotionale<br />
Ganzheit zu erfahren. 20 Ist die Mutter, die in der Regel in dieser primären<br />
Sozialisation die Hauptrolle spielt, ihrem Kind gegenüber dominant, kalt oder gar<br />
abweisend <strong>und</strong> abwesend, aber auch umgekehrt, ist sie zu nachgiebig <strong>und</strong> verwöhnt<br />
sie ihr Kind, ohne ihm Grenzen zu setzen <strong>und</strong> damit Halt zu geben, so vermag es<br />
kein stabiles Selbst <strong>und</strong> Selbstwertgefühl aufzubauen, sondern allenfalls Kerne<br />
davon.<br />
Eine in sich widersprüchliche "Erziehung" ohne Konstanz <strong>und</strong> Kontinuität begünstigt<br />
jene narzisstischen Störungen, die auf einem aufoktroyierten "f<strong>als</strong>chen Selbst"<br />
gründen. Oft sind es sensible <strong>und</strong> "schöne", auch hochbegabte Kinder, die<br />
unbewusst von ihrer Mutter oder ihrem Vater manipuliert oder instrumentalisiert, in<br />
eine "Isolierhaft" (Alice Miller) oder in ein "inneres Gefängnis" (Heinz-Peter Röhr)<br />
geraten. Meistens bleiben sie lebenslang gefühlsmäßig behindert <strong>und</strong> verkrüppelt,<br />
aber ihre häufig selbst gestörten Erzeuger, die das "Beste" wollten, sind oft stolz auf<br />
ihr Kunstprodukt, das sie mit Zuckerbrot <strong>und</strong> Peitsche dressiert haben. Sie erwarten<br />
dann auch noch Dank <strong>und</strong> Anerkennung dafür, dass sie lebende Ruinen mit einer<br />
nach außen beeindruckenden Fassade verblendet haben. Die von der<br />
Psychoanalyse kommende Psychotherapeutin Alice Miller hat dieses "Drama des<br />
begabten Kindes" einem breiten Leserkreis bekannt gemacht. 21<br />
Während die Umgangssprache den Eindruck vermittelt, Narzissmus sei übersteigerte<br />
Selbstliebe, handelt es sich genau um das Gegenteil: um die Unfähigkeit, sich selbst<br />
anzunehmen <strong>und</strong> zu lieben. Wer sich aber nicht selbst liebt, ist seelisch krank <strong>und</strong><br />
kann auch andere nicht lieben.<br />
Das wahre Selbst wurzelt in der Tiefe eigener Selbstwertgefühle sowie in der<br />
Kreativität <strong>und</strong> Sicherheit über das eigene Fühlen <strong>und</strong> Wollen - nicht in fremden,<br />
gehemmten, erzwungenen oder aufoktroyierten Gefühlen, Werten, Eigenschaften,<br />
Leistungen <strong>und</strong> Gaben. Wer so in sich gründet <strong>und</strong> ruht, muss sich nicht dauernd<br />
20 Heinz Kohut: Bemerkungen zur Bildung des Selbst (Brief an einen Schüler bezüglich einiger<br />
Prinzipien der psychoanalytischen Forschung). In: Heinz Kohut: Die Zukunft der Psychoanalyse.<br />
Aufsätze zu allgemeinen Themen <strong>und</strong> zur Psychologie des Selbst. Frankfurt a. M. 1975. Seiten 252ff.,<br />
255, 257f. Zum Es, Ich <strong>und</strong> Über-Ich <strong>als</strong> einer "hohen" Abstraktion des psychischen Apparats im<br />
Unterschied zur "verhältnismäßig niederen" Abstraktion des Selbst vgl. Heinz Kohut: Narzißmus. Eine<br />
Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a. M.<br />
1979. Seiten 14f.<br />
21 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes <strong>und</strong> die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a.<br />
M. 1979; Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a. M. 1980; Du sollst nicht merken. Variationen über<br />
das Paradies-Thema. Frankfurt a. M. 1981; Das verbannte Wissen. Frankfurt a. M. 1988; Abbruch der<br />
Schweigemauer. Die Wahrheit der Fakten. Hamburg 1990. - In den Büchern Millers kommt die Rolle<br />
des Vaters zu kurz; in ihren ersten Werken bleibt sie ausgeklammert.<br />
31
anstrengen, um sich Existenzberechtigung, Anerkennung oder Liebe zu "verdienen",<br />
<strong>und</strong> ist auch unabhängig davon, dass andere ihn bestätigen, loben, beneiden,<br />
bew<strong>und</strong>ern oder spiegeln (mirroring). So abgegrenzt kann er andere <strong>als</strong> von sich<br />
getrennt erleben <strong>und</strong> realistisch wahrnehmen, sie respektieren, tolerieren <strong>und</strong> auch<br />
lieben. Der weltweit bekannte englische Kindertherapeut Winnicott (1896-1971)<br />
drückt es so aus: "Nur das wahre Selbst kann kreativ sein, <strong>und</strong> nur das wahre Selbst<br />
kann sich real fühlen. Während ein wahres Selbst sich real fühlt, führt die Existenz<br />
eines f<strong>als</strong>chen Selbst zu einem Gefühl des Unwirklichen oder einem Gefühl der<br />
Nichtigkeit." 22<br />
Das f<strong>als</strong>che Selbst ist das schwarze Loch einer Mikrowelt: unergründlich, irreal,<br />
verschlingend-vernichtend, monströs, geheimnisvoll, singulär, unsichtbar, nicht<br />
erkennbar, "ohne Haare". Als Abnormitäten psychischer Strukturen <strong>und</strong><br />
physikalischer Gesetze wirken sie sich negativ aus, indem sie auf ihre Umgebung<br />
unerklärliche Anziehungskräfte ausüben, um sich Objekte einzuverleiben, die in ihre<br />
Nähe, ihren Ereignishorizont, geraten. Wie schwarze Löcher Energie ständig<br />
akkretieren, so suchen Narzissten ruhelos nach Objekten, in denen sie sich spiegeln,<br />
die sie für ihre Bedürfnisse instrumentalisieren oder "verschlingen" können, um ihr<br />
lückenhaftes Selbst zu reparieren. "Was immer sich in seinem Innern abspielt, von<br />
außen ist nichts davon zu sehen. Alle Energietransporte, d. h. alle Körper oder<br />
Signale, die von außen auf das schwarze Loch zustreben, erreichen es, je nach dem<br />
Beobachter, entweder nie oder in endlicher Zeit. Im zweiten Fall gerät aber der<br />
Beobachter selbst irgendwann in das Innere des Lochs." 23 Dies gilt auch für<br />
narzisstische Störungen: "Von außen her kann man dem schwarzen Loch sozusagen<br />
seine innere Unordnung nicht ansehen.....Die Messung der inneren Zustände, seien<br />
diese nun geordnet oder ungeordnet, ist ...von außen her überhaupt nicht möglich." 24<br />
Rein äußerlich sind selbst schwer gestörte narzisstische Charaktere relativ gut<br />
angepasst <strong>und</strong> gepanzert. Sie funktionieren scheinbar reibungslos <strong>und</strong> perfekt, z.B.<br />
im Beruf, wenngleich sie manchmal mechanisch wirken <strong>und</strong> maschinenhaft<br />
arbeiten. 25 Auch sind sie von Psychosen klar abgrenzbar. Von Borderline-<br />
22 D.W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. The Maturational Processes and the<br />
Facilitating Environment. München 1974. Seite 193. Zur mütterlichen Fürsorge <strong>und</strong> zum f<strong>als</strong>chen<br />
Selbst vgl. auch Seiten 62ff., 173ff., 187f. Weitere Bücher: Kind, Familie <strong>und</strong> Umwelt. München/Basel<br />
1969; Familie <strong>und</strong> individuelle Entwicklung. The Family and Individual Development. München 1978.<br />
Vor allem Seiten 190ff. zur Deprivation;<br />
Aggression. Versagen der Umwelt <strong>und</strong> antisoziale Tendenz. Stuttgart 1988. Über Donald Woods<br />
Winnicott (1896 - 1971) selbst: D. W. Winnicott: Die menschliche Natur. Stuttgart 1974. Seiten 7 - 26.<br />
23 G. Falk, W. Ruppel: Mechanik, Relativität, Gravitation. Ein Lehrbuch. Berlin 1975. Seite 421.<br />
24 Hans Jörg Fahr: Zeit <strong>und</strong> kosmische Ordnung. Die unendliche Geschichte von Werden <strong>und</strong><br />
Wiederkehr. München/Wien 1995. Seite 156. Vgl. auch Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst. Frankfurt<br />
a.M. 1979. Seite 299:"Das Selbst ist ...in seiner Essenz nicht erkennbar."<br />
25 Alexander Lowen: Narzißmus. Die Verleugnung des wahren Selbst. München 1984. Seite 8.<br />
32
(Übergangs-)Störungen unterscheiden sie sich gr<strong>und</strong>legend, da sie stabile<br />
Selbstkerne entwickelt haben. 26<br />
Ihrem unfertigen körperlich-emotionalen Selbst fehlt jedoch die in der Kindheit<br />
entbehrte narzisstische Zufuhr <strong>und</strong> Aufwertung. Sie sind daher in ihrem<br />
Objekthunger unersättlich, aber zugleich zu tiefergehenden emotionalen Bindungen<br />
nicht fähig. Oft benutzen sie andere, um ihre narzisstischen Defizite auszugleichen.<br />
Dazu dienen auch pseudosexuelle Kontakte, Promiskuität, Prostitution oder<br />
Perversionen. Sie haben eine "Plombenfunktion", d. h. sie sollen Lücken des<br />
brüchigen Selbstwertgefühls füllen.<br />
Neben menschlichen Selbstobjekten gibt es auch andere Ersatzobjekte: ideelle<br />
(Größenphantasien, Ideologien, Illusionen, Sekten, Religionen), körperliche<br />
(Schönheit, Attraktivität, Leistungssport, Bodybuilding), berufliche (Arbeitszwänge,<br />
Workaholic) oder mediale (Fernseh-, Internetsucht u. ä.). Wenn sie kompensatorisch<br />
scheitern, können auch Alkohol, Medikamente, Drogen <strong>und</strong> andere Süchte wie<br />
Betäubungsmittel wirken. 27 Kann die innere Leere nicht wenigstens zeitweilig<br />
kompensiert werden, drohen sie in eine Depression zu fallen <strong>und</strong> schließlich in ein<br />
schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt: Sie vernichten sich durch Suicid, in<br />
sehr seltenen Fällen auch andere, um sich gezielt oder ziellos an ihnen zu rächen<br />
(Amok).<br />
Hochmotivierte narzisstische Charaktere sind von Selbstauflösung (Fraktionierung)<br />
<strong>und</strong> schließlich Selbstverlust (Depression) bedroht; denn sie stellen höchste<br />
Forderungen <strong>und</strong> Ansprüche an sich, die ihnen ihr Ideal-Selbst diktiert. Erfolgreich<br />
sind sie faszinierende, grandiose Perfektionisten. Zeichnen sie - wie oft -<br />
außergewöhnliche Gaben <strong>und</strong> Fähigkeiten aus, erstrahlen sie in fast überirdischem<br />
Glanz wie Sterne am Firmament. Wenn aber ihre Schönheit, ihr Ruhm <strong>und</strong> ihre Aura<br />
verblassen, wenn sie ausgebrannt, gealtert <strong>und</strong> vereinsamt sind, kurzum ihr Stern zu<br />
26<br />
Vgl. dazu Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M.<br />
1979. Seiten 19ff., 261ff.<br />
27<br />
Der Kompensation können auch Ideologien sowie rechts- <strong>und</strong> linksextremistische "Selbstobjekte"<br />
dienen, mit denen sie sich identifizieren <strong>und</strong> dann an ihnen festhalten, um sich selbst nicht aufgeben<br />
zu müssen. Sind solche rechtsextremistischen Identifikationen narzisstisch bedingt, so ist es sehr<br />
schwer <strong>und</strong> meistens aussichtslos, sie davon abzubringen, z.B. durch politische Bildung. - Zum<br />
historischen <strong>und</strong> familiären Hintergr<strong>und</strong> vgl. Anita Eckstaedt: Nation<strong>als</strong>ozialismus in der "zweiten<br />
Generation". Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt a. M. 1989. An Hand von<br />
Einzelschicksalen werden familiäre Abhängigkeitsverhältnisse analysiert, die durch<br />
Objektmanipulation von der ersten auf die zweite Generation übertragen werden, darunter auch<br />
unbewusste Identifizierungen mit dem Nation<strong>als</strong>ozialismus; vgl. 135ff., 138. ("In Analyse begeben sich<br />
einzelne der 'zweiten Generation' Angehörende, Kinder von sogenannten 'Nazis', den<br />
Nation<strong>als</strong>ozialisten. Doch sie wissen in der Regel nicht, daß oder ob <strong>und</strong> inwieweit ihre Väter <strong>und</strong><br />
Mütter an die nation<strong>als</strong>ozialistische Ideologie geglaubt hatten. Es ist dabei nicht nur die Tatsache, daß<br />
dieses Wissen fast durchgängig nicht vorhanden ist, es brauchte genau zwei Generationen, <strong>als</strong>o<br />
vierzig Jahre danach, bis sich die Frage nach der Vergangenheit der Väter <strong>und</strong> Mütter erheben<br />
durfte."), 295ff.<br />
33
sinken beginnt, dann konfrontiert sie ihr brüchiges Selbst mit ihrer inneren Leere, mit<br />
ihrer inneren Unruhe, mit ihrer inneren Kälte <strong>und</strong> mit ihrer inneren Heimatlosigkeit.<br />
Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), selbst ohne familiäre Wärme aufgewachsen <strong>und</strong><br />
politisch nachträglich missbraucht, hat diese Tragik des narzisstischen<br />
"übermenschlichen" Lebensgefühls in seinem Gedicht "Vereinsamt" verewigt: 28<br />
Die Krähen schrein<br />
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:<br />
Bald wird es schnein.-<br />
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!<br />
Nun stehst du starr,<br />
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!<br />
Was bist du Narr<br />
Vor Winters in die Welt entflohn?<br />
Die Welt - ein Tor<br />
Zu tausend Wüsten stumm <strong>und</strong> kalt!<br />
Wer das verlor,<br />
Was du verlorst, macht nirgends halt.<br />
Nun stehst du bleich,<br />
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,<br />
Dem Rauche gleich,<br />
Der stets nach kältern Himmeln sucht.<br />
Flieg, Vogel, schnarr<br />
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!-<br />
Versteck, du Narr,<br />
Dein blutend Herz in Eis <strong>und</strong> Hohn!<br />
Die Krähen schrein<br />
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:<br />
Bald wird es schnein,-<br />
Weh dem, der keine Heimat hat!<br />
28 Echtermeyer: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neugestaltet von Benno<br />
von Wiese. Düsseldorf 1981. Seiten 521f. - Vgl. auch Alice Miller: Der gemiedene Schlüssel. Frankfurt<br />
a. M. 1988. Seiten 9 - 78 über Friedrich Nietzsche. Neben zutreffenden Deutungen enthält die<br />
Lebensanalyse Nietzsches zu viele Spekulationen; auch ist - wie oft bei Alice Miller - die Materialbasis<br />
nicht ausreichend.<br />
34
1.5. Alltäglicher Narzissmus in der Informations- <strong>und</strong><br />
Kommunikationsgesellschaft: Massenmedien <strong>als</strong> Spiegelbild <strong>und</strong><br />
intersubjektive Ersatzobjekte<br />
Im Jahre 1979 hat der amerikanische Historiker Christopher Lasch sein Buch "The<br />
Culture of Narcissism" veröffentlicht. Er beschreibt darin den Niedergang des vom<br />
"Konkurrenzdenken geprägten Individualismus", der in der "Sackgasse einer<br />
narzißtischen Selbstbeschäftigung" geendet habe. Dieser Narzissmus sei typisch für<br />
eine Gesellschaft, die keine Befriedigung in Arbeit <strong>und</strong> Liebe finde <strong>und</strong> vor der<br />
Zukunft kapituliere. An die Stelle des "bürgerlichen Zeitalters", das nur noch am<br />
Rande der Industriegesellschaft überlebe, sei ein <strong>neues</strong> "Zeitalter des Narzißmus"<br />
angebrochen; denn nicht mehr Arbeit <strong>und</strong> Wohlstand seien die Leitmotive, sondern<br />
"Hedonismus <strong>und</strong> Selbsterfüllung" die höchsten Werte. 29<br />
Während Christopher Lasch den Narzissmus kulturkritisch oder besser<br />
kulturpessimistisch-historisch deutete, ging Thomas Ziehe in seiner erstm<strong>als</strong> 1975<br />
erschienen Dissertation "Pubertät <strong>und</strong> Narzißmus" von einem anderen, einem<br />
sozialwissenschaftlich-theoretischen Konzept aus. Da überkommene bürgerliche<br />
Orientierungsmuster zerfallen seien <strong>und</strong> sich die Situation im Spätkapitalismus<br />
verändert habe, sei ein "Neuer Sozialisationstypus" (NST) bei Jugendlichen<br />
entstanden. Dieser NST wird <strong>als</strong> narzisstisch konfiguriert vorgestellt, da die<br />
ursprüngliche symbiotische Mutter-Kind-Beziehung auch in Schule <strong>und</strong> Pubertät<br />
fortbestünde. Eine politische Didaktik <strong>und</strong> sozialwissenschaftlich f<strong>und</strong>ierte<br />
Schulpädagogik, die von einer Subjekt-Objekt-Trennung ausgingen, seien daher<br />
überholt <strong>und</strong> hätten ihre Legitimation verloren. Nicht nur Eltern neigten dazu, "ihre<br />
Kinder für die eigene psychische Stabilisierung zu funktionalisieren", sondern auch<br />
Erwachsene benutzten sie zur "Identitätssicherung" <strong>und</strong> zur "Aufrechterhaltung eines<br />
Herrschaftsverhältnisses". Bezogen auf Unterrichtssituationen analysiert Ziehe<br />
narzisstisches Vermeidungsverhalten im Schulbetrieb <strong>und</strong> ein Lehrerverhalten, das<br />
"in hohem Maße durch das Bedürfnis nach Akzeptierung <strong>und</strong> emotionaler<br />
Bestätigung durch die Schüler bestimmt" seien. 30<br />
Ziehes "Neuer Sozialisationstypus" (NST) beeinflusste lange die öffentlichen<br />
Debatten über den psychosozialen Verhaltenswandel Jugendlicher zu sich selbst<br />
sowie zu Erwachsenen <strong>und</strong> umgekehrt. Indem die Studie Ergebnisse der<br />
individuellen Narzissmusforschung <strong>und</strong> -analyse mit neomarxistischen Lehren (<br />
Frankfurter Schule, Habermas, Offe <strong>und</strong> 68ern) verknüpfte, beanspruchte sie, "die<br />
objektiven, in sich widersprüchlichen Individuationsbedingungen" der "Subjekte im<br />
Spätkapitalismus" freizulegen. 31 Erstm<strong>als</strong> herausgearbeitet wurden von Ziehe<br />
29<br />
Christopher Lasch. Das Zeitalter des Narzißmus. Hamburg 1995. Seiten 14f., 295ff., 307f., 310f.<br />
30<br />
Thomas Ziehe: Pubertät <strong>und</strong> Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? Frankfurt a. M. 1984.<br />
Seiten 3ff., 6f., 56ff., 133ff., 247ff., 253.<br />
31<br />
So Regina Becker-Schmidt im Vorwort. Seite X; Klaus Strzyz: Sozialisation <strong>und</strong> Narzißmus.<br />
35
Zusammenhänge zwischen Narzissmus <strong>und</strong> Pädagogik, zwischen Schule <strong>und</strong><br />
Bildung.<br />
In der Tat gibt es bestimmte Berufe, zu denen sich narzisstische Menschen<br />
hingezogen fühlen. Sie sind bevorzugt in Kirchen <strong>und</strong> Sekten, in Bildung <strong>und</strong><br />
Ausbildung, in Politik, Parteien <strong>und</strong> Verbänden sowie in den Medien zu finden. In<br />
allen diesen Bereichen können sie beeindrucken <strong>und</strong> belehren, Macht ausüben <strong>und</strong><br />
sich so intersubjektiv spiegeln oder selbst inszenieren, um innere Defizite<br />
auszugleichen. Dass Macht <strong>und</strong> Narzissmus "siamesische Zwillinge" 32 seien, ist zwar<br />
eine unzulässige Verallgemeinerung, jedoch trifft zu, dass Machtinhaber oft<br />
narzisstisch gestört sind.<br />
Ein narzisstisches Ideal sind "Traumberufe in den Medien" (Sylvia Kunert), wozu<br />
Jobs <strong>und</strong> Karrieren in Presse <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funk, vor allem aber im Fernsehen gehören.<br />
Diese Medien bieten eine Bühne, das Fernsehen eine "Megabühne", um<br />
Bedürfnisse, gespiegelt, bestätigt <strong>und</strong> anerkannt zu werden, zu befriedigen. In<br />
Einzelfällen ermöglichen sie auch, Größenphantasien, Exhibitionismus oder<br />
verborgene Wünsche, mächtig, grandios <strong>und</strong> berühmt zu sein, vorübergehend zu<br />
stillen. Versteckte Aggressionen <strong>und</strong> Vorurteile, oft auch aufgestaute innere Wut,<br />
können durch Entertainment <strong>und</strong> Infotainment, durch scheinbare Toleranz <strong>und</strong><br />
Parodie sowie einstudiertes Dauerlächeln "überspielt" werden - Hauptsache ist, das<br />
Publikum, um das sich alles dreht, merkt nichts <strong>und</strong> lässt sich blenden. Das seit<br />
Kindheit eingeübte Rollenspiel, das zur zweiten Natur geworden ist, kann so<br />
professionalisiert werden <strong>und</strong> Profit abwerfen. Allerdings ist diese Selbstinszenierung<br />
auch gnadenlos auf den sich wiederholenden Erfolg angewiesen; denn sinkende<br />
Zuschauerquoten z.B. im Fernsehen, haben zur Folge, dass die "Show" abgesetzt<br />
wird <strong>und</strong> Publikumslieblinge ebenso schnell wieder in der Versenkung verschwinden,<br />
aus der sie kometenhaft aufgestiegen waren.<br />
Medien sind heute das Spiegelbild oder die Bewusstseinsindustrie der Informations-<br />
<strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft. Sie ist verkabelt <strong>und</strong> vernetzt, <strong>und</strong> was medial<br />
nicht vermittelt wird, existiert nicht. Massenmedien stiften somit das<br />
Informationszeitalter, begrenzen es aber auch <strong>als</strong> virtuelle Welt. So wie sich Narziss<br />
nicht in sich selbst, sondern in sein Spiegelbild verliebt hatte, so spiegeln die<br />
Massenmedien die Welt nicht real wieder, sondern inszenieren <strong>und</strong> vermitteln sie.<br />
Wiesbaden 1978. Seiten 103ff. spricht bereits von der "Identitätsvermittlung im Monopolkapitalismus".<br />
32 So der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth: Narzissmus <strong>und</strong> Macht. Zur Psychoanalyse seelischer<br />
Störungen in der Politik. Gießen 2002. Porträtiert werden Uwe Barschel, Slobodan Milosevic, Helmut<br />
Kohl, die 68er Generation, darunter Joschka Fischer, jedoch - auch wegen der Materialbasis - nur<br />
teilweise überzeugend. Narzisstische Politiker waren zweifellos Uwe Barschel (CDU) <strong>und</strong> der - nicht<br />
berücksichtigte - Jürgen Möllemann (FDP), die ihr Geltungsbedürfnis, ihre Bedenkenlosigkeit, ihre<br />
Karriere-Besessenheit <strong>und</strong> ihre Größenphantasien so lange auslebten, bis sie scheiterten <strong>und</strong> im<br />
mutmaßlichen, jedoch getarnten Suizid endeten.<br />
36
Indem Medien das Weltbild stiften <strong>und</strong> zugleich begrenzen, bieten sie sich <strong>als</strong><br />
Ersatzobjekte für die Welt <strong>und</strong> das Leben, für Eltern, Kinder <strong>und</strong> Partner/innen<br />
geradezu an. Der Journalist Walter Wüllenweber hat mit seinem Generationenbuch<br />
"Wir Fernsehkinder" (1994) offen gelegt, welches Ausmaß dies annehmen kann: "Als<br />
ich auf die Welt kam, war der Fernseher schon da <strong>und</strong> gehörte zur Familie."<br />
Familienleben spielte sich nur noch vor der "Glotze" ab, um die sich alles drehte.<br />
Papa, Mutti <strong>und</strong> auch Oma erfüllten die finanziellen Wünsche <strong>und</strong> sorgten insofern<br />
für materielles Wohlergehen, aber Zuwendung, Orientierung <strong>und</strong> Halt gaben sie nicht<br />
- dies blieb dem Ersatzobjekt Fernseher überlassen. "Wir waren die ersten, die vor<br />
der Glasscheibe aufwuchsen. Beim Glotzen macht uns auch heute noch keiner so<br />
leicht was vor." Als unzumutbar galt, was nach "Arbeit oder gar Leistung roch".<br />
Technik <strong>und</strong> "Equipment" interessierten, aber nicht Politik, Probleme oder die<br />
Realität. Das ganze Leben wurde zum "Laborversuch", doch die Ergebnisse<br />
enttäuschten. "Wir waren nie auf der Bühne, sondern immer nur Publikum des<br />
Lebens. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Für alle Zeiten, so scheint es,<br />
hat das Fernsehen für uns einen Stammplatz auf der Tribüne reserviert - in der<br />
ersten Reihe natürlich." 33 Aber selbst dieser "Platz in der Gesellschaft" ist ein<br />
imaginärer.<br />
Das Neugeborene kommt <strong>als</strong> "physiologische Frühgeburt" (Adolf Portmann) zur Welt.<br />
Es benötigt taktile Reize, sensorische Stimulierung <strong>und</strong> emotionale Wärme, um zu<br />
überleben <strong>und</strong> jenes Urvertrauen zu entwickeln, das zur Entstehung des Selbst,<br />
danach zu Ich-Stärke, Individualität <strong>und</strong> Identität führen. Dies kann nur eine Umwelt<br />
mit menschlichem Gesicht bewirken, aber kein toter Apparat leisten. Und doch ist es<br />
heute in vielen Familien, unabhängig von ihrem sozialen Status üblich, Kleinkinder, in<br />
Ausnahmefällen sogar Säuglinge, dem Fernseher zu überantworten, wenn sie lästig,<br />
anstrengend sind oder keine Zeit für sie übrig bleibt. Anders <strong>als</strong> Eltern ist der<br />
Fernseher immer verfügbar: ein zur Familie gehörender kostenloser Kinderbetreuer,<br />
Kinderzerstreuer <strong>und</strong> Kinderentertainer.<br />
Seit Einführung des dualen R<strong>und</strong>funksystems Anfang 1984 hat sich dieser Trend<br />
durch den Wettbewerb zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern (ARD <strong>und</strong> ZDF)<br />
sowie den neuen privaten (zuerst SAT 1 <strong>und</strong> RTL) verschärft. Dem kommerziellen<br />
Fernsehen geht es um möglichst hohe Zuschauerquoten <strong>und</strong> die davon abhängigen<br />
Werbeeinnahmen. Daher verflachen die Programme. Ihr Überangebot macht den<br />
Zuschauer zu einem passiven Fernsehkonsumenten. Er zappt sich durch Kanäle <strong>und</strong><br />
wird mit Werbung überflutet. Vor allem Kinder vermögen nicht mehr zwischen der<br />
virtuellen Welt <strong>und</strong> der realen Welt zu unterscheiden, zwischen Schein <strong>und</strong> Sein.<br />
Bei aller Kritik am Fernsehkonsum von Kindern, vor allem am Wochenende: positiv<br />
zu bewerten ist, dass sie nicht sich selbst überlassen <strong>und</strong> verlassen sind; denn auf<br />
33<br />
Walter Wüllenweber: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Berlin 1994. Seiten 13,<br />
21, 34, 59, 104, 141.<br />
37
Knopfdruck ist der Fernseher jederzeit bereit, sich um sie kümmern <strong>und</strong> sie zu<br />
stimulieren. Auch wenn Fernsehkinder in ihrer psychischen Entwicklung retardiert<br />
sind, bei Sprach-, Lese- <strong>und</strong> Schreibtest schlechter abschneiden <strong>als</strong> andere: Sind<br />
dafür die Massenmedien verantwortlich zu machen oder die Sozialisationsagenturen,<br />
<strong>als</strong>o Familien <strong>und</strong> Schulen? 34<br />
Christopher Lasch ordnet den Narzissmus kulturpessimistisch einem neuen Zeitalter<br />
des Hedonismus <strong>und</strong> der Selbstbeschäftigung zu, während Thomas Ziehe ihn <strong>als</strong><br />
Produkt des Spätkapitalismus deutet. Hier dagegen wird eine andere These<br />
vertreten: Dass der Narzissmus im Informationszeitalter wie ein schwarzes Loch<br />
wirkt, das Menschen, die in seine Nähe geraten, emotional auslaugt <strong>und</strong> depriviert,<br />
<strong>und</strong> sie, falls sie hineinfallen, seelisch-körperlich zerstört.<br />
Offen bleiben die Antworten auf Fragen: Ob <strong>und</strong> inwieweit narzisstische Störungen<br />
vom Informationismus begünstigt werden? Oder umgekehrt: Ob <strong>und</strong> inwieweit<br />
Massenmedien sie eindämmen? Befähigen sie <strong>als</strong> Ersatzobjekte Kinder, Selbstkerne<br />
aufzubauen <strong>und</strong> damit zu überleben, statt - allein gelassen - von Selbstauflösung<br />
bedroht oder gar dem Selbstverlust (Depression) ausgeliefert zu sein? Oder handelt<br />
es sich, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer meint (7.6.-1.), um eine<br />
"Medienverwahrlosung"?<br />
Wie man auch immer diese Fragen beantworten <strong>und</strong> die modernen Massenmedien<br />
bewerten mag: Nicht nur für Kinder, sondern sehr oft auch für Alte, Kranke, Arme,<br />
Arbeitslose, Vereinsamte, Verlassene <strong>und</strong> Hoffnungslose sind Fernseher <strong>und</strong><br />
inzwischen auch das Internet alles in einem: Unterhaltung, Informationsquelle,<br />
Zeitvertreib, Betäubungsmittel, Zerstreuung, Partnerersatz <strong>und</strong> Trostspender.<br />
1.6. Die geschlossene Gesellschaft in <strong>Deutschland</strong>: Familie, Bildung,<br />
Ausbildung <strong>und</strong> Beruf <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg<br />
Bildungs- <strong>und</strong> Berufschancen in <strong>Deutschland</strong> hängen in erster Linie von der sozialen<br />
Herkunft ab, weniger von Bildung, Fähigkeiten <strong>und</strong> Leistung. Dies ist das Fazit nicht<br />
nur der PISA-Studien I <strong>und</strong> II, sondern auch zuverlässiger, empirisch f<strong>und</strong>ierter<br />
soziologischer Untersuchungen. So hat Michael Hartmann die „Leistungselite"<br />
34 Manfred Spitzer, Nervenk<strong>und</strong>e 22, 2003, Seiten 113ff. hat universitäre Studien zum<br />
Fernsehverhalten von Kindern ausgewertet. Danach sind Vielseher schlechter im Lesen <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong><br />
<strong>als</strong> Wenigseher. "Wer viel fern sieht, bewegt sich weniger <strong>und</strong> liegt mehr auf der Couch, schaut eher<br />
das Programm von Privatsendern <strong>und</strong> hat schlechtere Noten in Deutsch." Zur Mediennutzung vgl.<br />
auch PISA 2000. Seiten 487ff. Viel Zeit vor dem Fernseher <strong>und</strong> Videogerät verbringen Hauptschüler:<br />
täglich 3-5 St<strong>und</strong>en 27,3%, mehr <strong>als</strong> 5 St<strong>und</strong>en 28,2%.<br />
38
entmythologisiert; denn in sie steigt jemand in der Regel nicht auf, sondern man wird<br />
in sie hineingeboren, sofern der familiäre Geburtsschein dazu prädestiniert. 35<br />
Harry Friebel, Heinrich Epskamp u.a. haben in einer an der Hamburger Hochschule<br />
für Wirtschaft <strong>und</strong> Politik entstandenen Längsschnittstudie belegt, dass nicht Bildung<br />
<strong>und</strong> Ausbildung den Lebensweg bestimmen, sondern die soziale Schicht <strong>und</strong><br />
Herkunft. Schon in einem ersten Zwischenfazit hatten die Autoren festgestellt:<br />
"Weder hat eine Bildungsreform stattgef<strong>und</strong>en, die die Formel 'Chancengleichheit<br />
durch Bildung' verdient, noch ist das Bildungssystem 'autonom', um eine solche<br />
Formel realisieren zu können." Als Ergebnisse ihrer 18jährigen Forschungsarbeit<br />
formulieren sie zugespitzt: "'Chancengleichheit durch Bildung' ist eine ebenso<br />
unverschämte Stilisierung der Bildungsexpansion wie die Formel 'Bildung schafft<br />
Arbeit'. Es sind zugleich zwei ideologische Aussagen, die Bildung<br />
instrumentalisieren. Mit unserer Untersuchung haben wir Einblicke gewinnen können,<br />
wie Bildung soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Geschlechterhierarchisierung bestätigt." 36 Und<br />
die PISA-Studien lassen keinen Zweifel daran, dass das deutsche Bildungswesen in<br />
allen international vergleichbaren Ländern sozial Schwache am stärksten<br />
benachteiligt. Die im Gr<strong>und</strong>gesetz verbürgte <strong>und</strong> vor allem seit 1969 vehement<br />
geforderte Chancengleichheit gilt nur in der Verfassungstheorie, aber nicht in der<br />
Verfassungswirklichkeit.<br />
Das deutsche Bildungswesen gehört weltweit zu den ungerechtesten. Nach der<br />
Geburt, in den ersten entscheidenden sechs Lebensjahren, überlässt der Staat die<br />
Kinder ihrem Schicksal - Eltern, Kirchen, Fernseher, Videos, Spielen. Statt familiäre<br />
<strong>und</strong> soziale Benachteiligungen auszugleichen oder wenigstens zu mildern, lässt er<br />
ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Begabungen oft verkümmern, während die durch ihre Umwelt<br />
ohnehin begünstigten <strong>und</strong> gut situierten Kinder ihren in der Regel nicht mehr<br />
einholbaren Vorsprung in ihrer psychosozialen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung auf- <strong>und</strong><br />
ausbauen können.<br />
Nach der gemeinsamen Gr<strong>und</strong>schule, mit zehn Jahren, werden die Schüler/innen -<br />
auch oft nach familiären sozialen Kriterien - aussortiert. Während Kindergartenplätze<br />
fehlten <strong>und</strong> Geld kosteten, konnten die ohnehin durch Abitur <strong>und</strong> Familie<br />
Privilegierten bislang kostenlos studieren. Die familiär, sozial <strong>und</strong> psychisch<br />
Benachteiligten blieben so benachteiligt, wie ihnen vorherbestimmt war.<br />
Das deutsche Bildungswesen ist nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient. Nach<br />
den Zahlen aus dem Jahre 2001 bricht fast jeder Sechste Schule, Ausbildung oder<br />
35 Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren <strong>und</strong> soziale Herkunft in<br />
Wirtschaft, Politik, Justiz <strong>und</strong> Wissenschaft. Frankfurt a. M. u.a. 2002.<br />
36 Harry Friebel/Heinrich Epskamp/Brigitte Knobloch/Stefanie Montag/Stephan Toth:<br />
Bildungsbeteiligung: Chancen <strong>und</strong> Risiken. Eine Längsschnittstudie über Bildungs- <strong>und</strong><br />
Weiterbildungskarrieren in der "Moderne". Opladen 2000. Seiten 13, 404. Zur<br />
Bildungsreformdiskussion <strong>und</strong> Bildungsexpansion Seiten 15ff., 104ff., 408ff.<br />
39
Studium ab. Fast ein Zehntel aller Schüler/innen verlassen die allgemein bildenden<br />
Schulen ohne jeden Abschluss, zwei Drittel davon sind männlich, jeder Fünfte davon<br />
entstammt einer Migrantenfamilie. Zwei Drittel der Betriebe klagen über die<br />
Schulausbildung der Auszubildenden: dass sie schlecht lesen, schreiben <strong>und</strong><br />
rechnen können. Jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag wird vorzeitig<br />
aufgelöst, vor allem im Handwerk; gleichzeitig fehlen Ausbildungsplätze. Etwa ein<br />
Viertel aller Studienanfänger an Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten bricht das Studium<br />
ohne Examen ab. Die höchste Abbrecherquote verzeichnen die<br />
Sozialwissenschaften mit 42%, gefolgt von den Sprach- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften<br />
mit 41%. 37 Wer aber bis zum Examen durchhält, kann damit rechnen, von<br />
gesunkenen Leistungsstandards <strong>und</strong> einer Noteninflation zwischen sehr gut <strong>und</strong> gut<br />
zu profitieren. Nur die Juristen bestätigen die Ausnahme von dieser Regel.<br />
Roman Sexl, Professor am Institut für Theoretische Physik der Universität Wien <strong>und</strong><br />
Abteilungsleiter am Institut für Weltraumforschung der Österreichischen Akademie<br />
der Wissenschaften, pflegte auf internationalen Tagungen seine Zuhörer/innen<br />
manchmal mit der Frage zu verblüffen: „Wissen S', was a schwarzes Loch is? A<br />
schwarzes Loch is wie a Ministerium: Es kommt alles rein, aber es kommt nix raus."<br />
38 Wirklich nichts herausgekommen, aber viel hineingesteckt worden ist von<br />
Regierungen sowie Bildungs- <strong>und</strong> Kultusministerien, um Chancengleichheit<br />
herbeizuführen, d. h. familiäre, geschlechts- <strong>und</strong> migrantenspezifische<br />
Benachteiligungen auszugleichen. Diese angeblichen Bildungsreformen sind<br />
gescheitert.<br />
Die Bildungsrealitäten sprechen eine klare Sprache: Ein Jugendlicher aus der<br />
Oberschicht hat sechs- bis zehnmal mehr Chancen, ein Gymnasium zu besuchen,<br />
<strong>als</strong> ein Jugendlicher aus einer Arbeiterfamilie. Nach den <strong>neues</strong>ten Zahlen: Von 100<br />
Kindern aus der Oberschicht kommen 84 aufs Gymnasium <strong>und</strong> dann 72 zur<br />
Universität, aus den unteren Schichten jedoch nur 33 aufs Gymnasium <strong>und</strong> 8 noch<br />
zur Universität. Nach der PISA-Studie I hat ein Oberschichtkind auch dann dreimal<br />
mehr Chancen <strong>als</strong> ein Arbeiterkind, ins Gymnasium aufzusteigen, wenn beide dazu<br />
gleich befähigt sind. 39 Die soziale Segregation ist somit ausschlaggebend.<br />
Der am 16. September 2003 in Berlin vorgestellte <strong>neues</strong>te OECD-Bericht "Bildung<br />
auf einen Blick" ("Education at a Glance") erteilt dem deutschen Bildungssystem trotz<br />
positiver Trends keine guten Noten. So liegt die Studienanfängerquote deutlich unter<br />
37 Zahlenangaben nach iwd - Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Nr. 49<br />
vom 5. Dezember 2002 <strong>und</strong> Nr. 30 vom 24. Juli 2003.<br />
38 Mitteilung von Hans Jörg Fahr, Professor für Astrophysik an der Universität Bonn.<br />
39 Wieso, weshalb, warum? Über die Ursachen der Bildungsmisere <strong>und</strong> wie man Schule besser<br />
machen kann. Jürgen Baumert <strong>und</strong> Hermann Lange im ZEIT-Gespräch. In: Die Zeit Nr. 50 vom 6.<br />
Dezember 2001. Seite 46. Zahlenangaben nach: Walter Wüllenweber: Das Märchen von der<br />
Chancengleichheit. Warum Herkunft <strong>und</strong> Beziehungen mehr zählen <strong>als</strong> Leistung. In: stern Nr. 30 vom<br />
17. Juli 2003. Seiten 30 - 40, zit. 34.<br />
40
dem OECD-Durchschnitt von 47 %. Auch bei den Bildungsausgaben liegt<br />
<strong>Deutschland</strong> mit 5,3 % des BIP immer noch leicht darunter (5,5 %). Die Studie macht<br />
die Bildungsinvestitionen dafür verantwortlich, dass die durchschnittliche jährliche<br />
Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in <strong>Deutschland</strong> in den Jahren 1991 - 2000<br />
beträchtlich unter der Wachstumsrate der meisten OECD-Länder lag. 40<br />
1.7. Schein <strong>und</strong> Sein des deutschen Bildungswesens: Steht eine<br />
Bildungskatastrophe bevor?<br />
In den 1960er Jahren hatte der Liberale Ralf Dahrendorf eine aktive Bildungspolitik<br />
gefordert, da Bildung ein "Bürgerrecht" sei. Der Religionsphilosoph Georg Picht<br />
prognostizierte einen "Bildungsnotstand": Er drohe in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>Deutschland</strong>, da sie in der "vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der<br />
europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland <strong>und</strong> Portugal" stehe. 41 Wegen der<br />
geringen Abiturientenquote von etwa 6 % <strong>und</strong> steigenden Schülerzahlen bei<br />
gleichzeitigem Lehrermangel befürchtete Picht, dass bald jene Akademiker fehlen<br />
würden, die für die „Leistungsgesellschaft" <strong>und</strong> die internationale wirtschaftliche<br />
Wettbewerbsfähigkeit erforderlich seien. Er beklagte, dass Bildung von sozialen,<br />
regionalen, kulturellen, geschlechtsspezifischen <strong>und</strong> konfessionellen<br />
Voraussetzungen abhänge, die eine Bildungsauslese bewirkten; dies sei in der<br />
Demokratie nicht zu rechtfertigen <strong>und</strong> widerspräche der „sozialen Gerechtigkeit".<br />
Seit den 1960er Jahren hat <strong>Deutschland</strong> eine Bildungsexpansion erlebt. Aber Pichts<br />
Annahme, dass von den Bildungschancen „der soziale Aufstieg <strong>und</strong> die Verteilung<br />
des Einkommens" abhingen, <strong>und</strong> die Prognose des damaligen B<strong>und</strong>esministers für<br />
Arbeit <strong>und</strong> Sozialordnung Theodor Blank (CDU), wonach Bildung die "Sozialchance<br />
Nummer Eins" 42 sei, haben sich nicht bewahrheitet. Schein <strong>und</strong> Sein, Wirklichkeit <strong>und</strong><br />
Anspruch, Theorie <strong>und</strong> Praxis des deutschen Bildungswesens klaffen weit<br />
auseinander. Die Zahl der Abiturienten <strong>und</strong> Akademiker hat sich vervielfältigt - oft<br />
jedoch auf Kosten von Leistungsstandards, nicht auf Kosten sozialer <strong>und</strong> familiärer<br />
Schranken, die fortbestehen.<br />
40<br />
OECD-Veröffentlichung "Bildung auf einen Blick 2003". Wesentliche Aussagen der OECD zur<br />
Ausgabe 2003. Herausgegeben vom BMBF am 16. 9. 2003 (23 Seiten). Vgl. dazu auch die<br />
Presseerklärung von BMBF <strong>und</strong> KMK vom gleichen Tage. - Nach einer Untersuchung des Instituts der<br />
deutschen Wirtschaft haben die deutschen Studierendenzahlen entgegen dem weltweiten Trend von<br />
1995 - 2000 am stärksten abgenommen; vgl. Christiane Konegen-Grenier: Mehr Geld <strong>und</strong><br />
Strukturreformen. In: Forschung & Lehre 9/2003. Seiten 481 - 483.<br />
41<br />
Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse <strong>und</strong> Dokumentation. Freiburg i. Brsg.<br />
1964. Seite 16; Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik.<br />
Osnabrück 1965.<br />
42<br />
Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 141 vom 20. August 1965. Seite<br />
1137f.<br />
41
Daher stellt sich heute, 40 Jahre nach Pichts Analyse die Frage, ob eine „deutsche<br />
Bildungskatastrophe" bevorstehe, mehr denn je. Drei Gründe sind dafür vor allem zu<br />
nennen:<br />
-1. dass soziale familiäre Barrieren fortbestehen, die den Bildungsweg weitgehend<br />
vorherbestimmen <strong>und</strong> festlegen. "Das wichtigste <strong>und</strong> das für mich<br />
bestürzendste Ergebnis", so B<strong>und</strong>espräsident Rau über die PISA-Studie I, "ist,<br />
dass der Schulerfolg eines Schülers oder einer Schülerin in keinem anderen<br />
Land in Europa so stark von der sozialen Herkunft abhängt wie bei uns in<br />
<strong>Deutschland</strong>." 43 Dies gilt auch für vergleichbare außereuropäische Staaten wie<br />
z.B. die USA 44 <strong>und</strong> z.T. sogar für Entwicklungsländer.<br />
-2. dass frühe, vom sozialen familiären Status unabhängige<br />
Sozialisationsstörungen zunehmen, die auf das Fehlen einer emotional<br />
„fördernden Umwelt" (Winnicott) zurückzuführen sind <strong>und</strong> in der Adoleszenz<br />
fortdauern. Wenn Familien <strong>und</strong> Familienbande zerfallen, sind Kinder meistens<br />
die Leidtragenden - auch dann, wenn Ehen emotional zerrüttet sind, aber<br />
scheinbar intakt fortbestehen, <strong>als</strong>o äußerlich „funktionieren". An die Stelle des<br />
von Freud <strong>und</strong> der traditionellen Psychoanalyse konstatierten „neurotischen"<br />
ödipalen Konfliktdreiecks, das zwischenmenschliche Objektbeziehungen<br />
zwischen Mutter-Vater-Kind voraussetzt <strong>und</strong> deren Erbe das Über-Ich ist, treten<br />
daher zunehmend narzisstische Entwicklungsstörungen <strong>als</strong> Primärdefekte. Da<br />
sie sich wie ein schwarzes Loch auswirken, unsichtbar, unergründlich <strong>und</strong> auch<br />
nicht messbar sind, werden sie von Soziologen <strong>und</strong> Bildungsforschern ignoriert<br />
<strong>und</strong> übersehen selbst dort, wo sie Familienkonstellationen analysieren. Dies gilt<br />
auch für die PISA-Studien. 45 Emotionale Phänomene wie familiäre<br />
Geborgenheit <strong>und</strong> Wärme, das Urvertrauen, die Eltern-Kind-Beziehung, die<br />
43 Grußwort des B<strong>und</strong>espräsidenten Rau beim Kongress "Qualität im Bildungswesen" der<br />
Gewerkschaft Erziehung <strong>und</strong> Wissenschaft in Berlin. In: Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der<br />
B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 102 vom 13. Dezember 2002. Dokument Nr. 102-3 (CD-ROM-Version).<br />
44 Dort vollzieht sich derzeit ein Wertewandel im Verhältnis Familienleben - Arbeitsplatz; vgl. dazu Arlie<br />
Russell Hochschild: Work-Life-Balance. Keine Zeit...Wenn die Firma zum Zuhause wird <strong>und</strong> zu Hause<br />
nur Arbeit wartet. Opladen 2002.<br />
45 PISA 2000, Seiten 323ff. untersuchen zwar ausführlich familiäre Lebensverhältnisse,<br />
Bildungsbeteiligung <strong>und</strong> Kompetenzerwerb, jedoch nur, soweit sie sich "erfassen" lassen, z. B. soziale<br />
Herkunft, ihre Indikatoren, Familientypen u.a. ( Seiten 326ff., 331ff., 478ff.) Der internationale<br />
Schülerfragebogen des Feldtests berücksichtigte jene Aspekte der "Eltern-Kind-Beziehungen, die mit<br />
der Bildung von sozialem Kapital zusammenhängen, unter anderem den Erziehungsstil des<br />
Elternhauses, die Häufigkeit, mit der sich die Eltern um das Fortkommen ihres Kindes in der Schule<br />
kümmern <strong>und</strong> es bei den Schularbeiten unterstützen" (Seite 333). Das affektiv-emotionale Klima, das<br />
Familie wesentlich prägt, bleibt damit weitgehend ausgeklammert. Harry Friebel, Heinrich Epskamp<br />
u.a. bemühten sich in ihrem empirischen Forschungsprojekt, auf der Basis des Teilsamples auch<br />
Eltern-Kind-Beziehungen auszufragen, z.B. die elterliche Kontrollhaltung, die Pole Liebe versus<br />
Feindseligkeit u.a. (Seiten 120f.). Ausgewertet wird fast nur soziologische Fachliteratur, wenig<br />
fächerübergreifende pädagogische <strong>und</strong> sehr wenig psychologische.<br />
42
Integration von Narzissmus <strong>und</strong> Triebansprüchen, aber auch menschliche<br />
Abgründe <strong>und</strong> Abnormitäten lassen sich nicht zahlenmäßig erfassen <strong>und</strong><br />
messen, mit naturwissenschaftlichen Instrumenten allenfalls begrenzt<br />
untersuchen.<br />
-3. dass Migrantenkinder, d. h. Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprache<br />
(SNDH: 7.8.), die in Schulen einen Anteil bis zu 20%, in Ballungszentren bis auf<br />
über 50 - 80% stellen, besonders hohe Misserfolgsquoten aufweisen. Die<br />
Integration ausländischer Jugendlicher gelingt in <strong>Deutschland</strong> schlechter <strong>als</strong> in<br />
anderen europäischen, z. B. skandinavischen Staaten. Im Jahre 1999 haben<br />
19,5% (8%) der ausländischen Jugendlichen keinen Schulabschluss erzielt,<br />
42% (25%) erreichten den Hauptschulabschluss, 29% (41%) den<br />
Re<strong>als</strong>chulabschluss <strong>und</strong> 9,7% (25,9%) die Hochschulreife - in Klammern sind<br />
die Vergleichszahlen für die deutschen Schulabgänger angegeben. 46 89% der<br />
ausländischen Jugendlichen ohne Berufsausbildung haben keinen<br />
Schulabschluss. Vor allem Migrantenjungen sind bei der Suche nach<br />
Ausbildungsplätzen chancenlos, da sie überproportional die Hauptschule ohne<br />
Abschluss verlassen.<br />
Verschärft wird diese Exklusion dadurch, dass Migrantenkinder oft zwischen<br />
allen Stühlen sitzen. Sie haben häufig weder eine Heimat, zu der sie sich<br />
bekennen können oder wollen, noch ein Zuhause, da sie teilweise mit<br />
innerfamiliären <strong>und</strong> interkulturellen Konflikten aufwachsen, die mit dem „Clash<br />
of Civilizations" (Samuel P. Huntington) zu tun haben.<br />
Im Informationszeitalter haben diese drei voneinander unabhängigen, aber<br />
manchmal auch koinzidenten Faktoren zur Folge, „dass die soziale Exklusion<br />
reproduziert wird <strong>und</strong> dass den bereits Ausgeschlossenen weitere Verletzungen<br />
zugefügt werden". 47 Dies wird, wenn sich nichts ändert, zu einer Brutstätte<br />
menschlichem Elends, sozialer Ungleichheit <strong>und</strong> gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten<br />
werden, die <strong>Deutschland</strong> teuer zu stehen kommen dürften. Nicht nur, dass sich eine<br />
neue deklassierte Reservearmee von funktionalen Analphabeten, Ungelernten <strong>und</strong><br />
Arbeitslosen ankündigt, die sich jeweils selbst rekrutieren <strong>und</strong> reproduzieren werden,<br />
auch ein neuer politischer Extremismus ist denkbar <strong>und</strong> - in Ausnahmefällen –<br />
vereinzelte terroristische Anschläge <strong>als</strong> Verzweiflungsakte.<br />
46 Faruk Sen, Martina Sauer, Dirk Halm: Intergeneratives Verhalten <strong>und</strong> (Selbst-)Ethnisierung von<br />
türkischen Zuwanderern. Gutachten des Zentrums für Türkeistudien für die Unabhängige Kommission<br />
"Zuwanderung". Essen 2001. Seiten 26f. Zu Jugendlichen aus Migrationsfamilien vgl. auch PISA<br />
2000, Seiten 346, 372ff.<br />
47 So Manuel Castells zur selektiven Globalisierung: Teil 3 : Jahrtausendwende. Opladen 2003. Seite<br />
171.<br />
43
1.8. Das Menetekel von Erfurt: Die Fassade der scheinbar heilen Welt<br />
oder die Singularität des Grauens?<br />
Ein singuläres Kind des Informations- <strong>und</strong> Medienzeitalters war ein Deutscher: der<br />
19jährige Schüler Robert Steinhäuser aus Erfurt in Thüringen. Er gehörte keiner<br />
sozialen Randgruppe an, sondern entstammte einer bürgerlichen Familie, die intakt<br />
zu sein schien. Aber die tabuisierte heile Welt, in der er mit weißen Spitzendeckchen<br />
auf den Tischen <strong>und</strong> mit weißen Rüschengardinen an den Fenstern aufwuchs, war<br />
eine blendende Fassade, hinter der sich Grauen, Gewalt, Unmenschlichkeit <strong>und</strong><br />
Terror verborgen hatten.<br />
An einer solch <strong>und</strong>urchdringbaren Mauer scheitert das herkömmliche<br />
Instrumentarium der Soziologen, Bildungsforscher <strong>und</strong> auch der PISA-Studien. Sie<br />
analysieren <strong>und</strong> messen, was sie sehen <strong>und</strong> erfassen können, aber nichts hinter der<br />
Maske - das empirisch Unergründliche, Undenkbare, Grauenvolle, die so verborgen<br />
bleiben, dass sie nicht existieren. Und sie existieren doch - unsichtbar <strong>und</strong> stets<br />
präsent.<br />
Robert Steinhäuser war ein Schulversager, Schulschwänzer <strong>und</strong> Urk<strong>und</strong>enfälscher.<br />
Deshalb hatte ihn das Erfurter Gutenberg-Gymnasium unbürokratisch, aber<br />
normenwidrig relegiert <strong>und</strong> ihn an das Königin-Luise-Gymnasium, das Erfurter<br />
Schulamt schließlich an das Martin-Luther-Gymnasium verwiesen. Dort meldete er<br />
sich nicht: Er hatte bereits aufgehört zu existieren, war "wie ein Stück Müll aus der<br />
Schule geworfen" (Christoph H. Werth) worden mit der Folge, dass er in einem in<br />
<strong>Deutschland</strong> einmaligen, nur in Thüringen geltenden Ausschluss-System nach dem<br />
zweiten gescheiterten Abiturversuch vor dem Nichts stand - ohne jeden<br />
Schulabschluss. 48 Aber statt sich selbst zu „entsorgen" <strong>und</strong> damit zu annihilieren, tat<br />
Steinhäuser so, <strong>als</strong> ob er weiter existiere <strong>und</strong> <strong>als</strong> ob er am 26. April 2002 eine<br />
Abiturklausur im Erfurter Gutenberg-Gymnasium schreibe.<br />
Er erschien dort aus seiner Sicht nicht <strong>als</strong> Täter, sondern <strong>als</strong> Opfer <strong>und</strong> Rächer: in<br />
„Ninja"- Kluft, schwer bewaffnet <strong>und</strong> ließ 17 Tote zurück. Eine Lehrerin erschoss er<br />
nicht sofort, sondern steckte ihr die Pistole in den M<strong>und</strong>, um sie zu quälen; um einen<br />
am Boden liegenden Lehrer schoss er erst demonstrativ herum, bevor er ihn gezielt<br />
hinrichtete, <strong>und</strong> dies möglichst vor den Augen von Mitschülern, von denen er auch<br />
zwei liquidierte. In seiner projektiven Identifizierung, die auf einer<br />
Bewusstseinsspaltung beruht, schrie er nach Rache – Rache für Demütigungen,<br />
Rache für Verletzungen, Rache für die Zerstörung seiner Existenz – bis sein<br />
48 Christoph H. Werth: "Amok-Schläfer". 26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium Erfurt: ein kritischer<br />
Rückblick. In: Mut. Forum für Kultur, Politik <strong>und</strong> Geschichte Nr. 419, Juli 2002. Seiten 20ff., zit. 22. In<br />
seiner Argumentation oft einseitig, aber mit seinen psychologischen Deutungen überzeugend ist<br />
Freerk Huisken: z.B. Erfurt. Was das bürgerliche Bildungs- <strong>und</strong> Einbildungswesen so alles anrichtet.<br />
Hamburg 2002. Seiten 48ff. (Kapitel 3: Beleidigtes Selbstbewusstsein <strong>und</strong> gekränkte Ehre)<br />
44
Rachedurst im Blutrausch gestillt war <strong>und</strong> er sich folgerichtig am Ort seiner<br />
Kränkungen selbst vernichtet hat. 49<br />
"Er kam nicht vom anderen Stern" schrieb Susanne Gaschke, Autorin des Buches<br />
"Die Erziehungskatastrophe". Sie verweist auf die "seelische Verwahrlosung vieler<br />
junger Menschen in diesem Land", so dass es eher verw<strong>und</strong>ern müsse, weil<br />
"derartiges Unheil" nicht häufiger geschehe. "Die Familien zerfallen - manche<br />
sichtbar, manche nur innerlich. Erwachsene haben immer weniger Zeit für Kinder.<br />
Deren Mediennutzung nimmt, mit elterlicher Duldung, gefährliche Formen an; dazu<br />
dröhnt die Konsummaschine mit ihrer lauten Dauerbotschaft, dass nur der etwas ist,<br />
der etwas hat. Die Brutalisierung der Alltagskultur schreitet voran." Gaschke weist<br />
darauf hin, dass etwas Ähnliches bereits im bayrischen Meißen, Brannenberg,<br />
Freising <strong>und</strong> Bad Reichenhall geschehen sei <strong>und</strong> dass eine "Zeitbombe" ticke. Alle<br />
staatlichen Einrichtungen, so meint sie, könnten "den Blick der Eltern in die Augen<br />
ihrer Kinder" nicht ersetzen. 50 Dies ist ein zentrales Motiv der <strong>Quellenarbeit</strong>.: Der<br />
Blick in den Spiegel.<br />
Für den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der sich mit den<br />
Folgen der Aufstiegs- <strong>und</strong> Risikogesellschaft (Ulrich Beck), mit dem<br />
Rechtsextremismus <strong>und</strong> Gewalt an Schulen befasst hat, führt die Erfurter Blutspur<br />
zum "Problem der Anerkennung" - <strong>als</strong>o zu einem narzisstischen. Anerkennung zu<br />
erreichen sei bei Jugendlichen über schulische Leistungen, über körperliche<br />
Attraktivität <strong>und</strong> über demonstrierte Stärke möglich. "Wer nicht auffällt, wird nicht<br />
wahrgenommen, <strong>und</strong> wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts". 51<br />
Der Amok-Experte Götz Eisenberg befürwortet bei Jungen "Stützen für ihr lädiertes<br />
Selbstwertgefühl": Dann könnten sie eine Identität entwickeln, die nicht länger auf<br />
Körperkraft <strong>und</strong> Gewalt beruhe. Die Schauspiel-Dozentin Ines Geipel fordert in einer<br />
Mixtur aus Chronik, Reportage <strong>und</strong> Roman eine "rückhaltlose Aufklärung" über jene<br />
49 Zur projektiven Identifizierung <strong>und</strong> zum Rachedurst bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen vgl.<br />
Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen <strong>und</strong> pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M. 1979. Seiten<br />
263f., 303f., 376; Heinz Kohut: Überlegungen zum Narzißmus <strong>und</strong> zur narzißtischen Wut. In: Die<br />
Zukunft der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1975. Seiten 205ff., besonders 227 ("Der Rachedurst, das<br />
Bedürfnis, ein Unrecht zu korrigieren, eine Beleidigung auszumerzen, mit welchen Mitteln auch immer,<br />
<strong>und</strong> ein tief eingewurzelter unerbittlicher Zwang bei der Verfolgung all dieser Ziele, die jenen keine<br />
Ruhe läßt, die eine narzißtische Kränkung erlitten haben - das sind die Merkmale, die für die<br />
narzißtische Wut in all ihren Formen charakteristisch sind <strong>und</strong> die sie von anderen Aggressionsarten<br />
unterscheiden."); Raymond Battegay: Narzißmus <strong>und</strong> Objektbeziehungen. Über das Selbst zum<br />
Objekt. Bern/Stuttgart/Wien 1977. Seite 61.<br />
50 Susanne Gaschke: Er kam nicht vom anderen Stern. Robert S. <strong>und</strong> der Mord <strong>als</strong> Menetekel: Wo die<br />
Familie versagt, helfen weder die besten Schulen noch die strengsten Gesetze. In: DIE ZEIT Nr. 19<br />
vom 2. Mai 2002. Seite 1. Vgl. dazu auch Susanne Gaschke: Die Erziehungskatastrophe. Kinder<br />
brauchen starke Eltern. Stuttgart/München 2001.<br />
51 Wilhelm Heitmeyer: Süchtig nach Anerkennung. In: DIE ZEIT Nr. 19 vom 2. Mai 2002. Seite 4. -<br />
Eine "Chronologie des Grauens" der Blutbäder an Schulen befindet sich auf den Seiten 2 <strong>und</strong> 3<br />
ebenda.<br />
45
Deformationen <strong>und</strong> Defizite der deutschen Gesellschaft, die Steinhäusers<br />
"Mordserie" in einen Kontext einbetten: Vereinzelung <strong>und</strong> Außenseitertum,<br />
Leistungsdruck <strong>und</strong> Sucht nach Anerkennung, Amoklauf vor dem "Gesichtsverlust"<br />
am Tag der Abiturprüfung. 52<br />
Wie man auch immer das Erfurter Menetekel deutet: Seit dem 26. April 2002 lastet<br />
auf dem deutschen Bildungswesen nicht nur der PISA-Schock, sondern auch ein<br />
Alptraum. Er lässt sich nicht verdrängen oder abschütteln. Lauert er hinter der<br />
Fassade einer scheinbar heilen Welt? Oder ist er nur die Ausgeburt eines weltweit<br />
einzigartigen Grauens?<br />
52 Die Gewalt aus der Kälte. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler <strong>und</strong> Amok-Experten Götz<br />
Eisenberg. In: DIE ZEIT Nr. 19 vom 2. Mai 2002. Seite 31. Vgl. dazu auch Götz Eisenberrg: Amok -<br />
Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut <strong>und</strong> Hass. Reinbek 2000. - Ines Geipel: Für heute<br />
reicht's. Amok in Erfurt. Berlin 2004.<br />
46
2. Inhalt, Datenerfassung, Formatierung <strong>und</strong> Leitmotiv der<br />
D-Dok.<br />
Quellen <strong>als</strong> Spiegel <strong>und</strong> die Spiegelfunktion der<br />
Quellenbibliothek<br />
2.1. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> deutsche, vor allem staatliche Politik 1945 - 2004<br />
<strong>als</strong> Inhalt - Die Sonderrolle des Deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> die<br />
Spiegelfunktion der Reichstagskuppel<br />
Im Zentrum der Dokumentation steht <strong>Deutschland</strong> nach innen <strong>und</strong> nach außen vom<br />
1. Januar 1945 bis zum 31. Januar 2004. Unter <strong>Deutschland</strong> nach dem Kriegsende<br />
am 8. Mai 1945 werden historisch <strong>und</strong> geografisch, aber nicht rechtlich verstanden:<br />
1. in den Nachkriegsjahren 1945 - 1949 die Besatzungszonen der Siegermächte,<br />
Berlin, das Saarland <strong>und</strong> die Oder-Neiße-Gebiete ("Ostdeutschland" in den Grenzen<br />
von 1938); 2. in den Jahren 1949 - 1990 während der deutschen Teilung die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> (BRD) <strong>und</strong> die Deutsche Demokratische Republik<br />
(DDR) sowie Berlin; 3. seit dem 3. Oktober 1990 das geeinte <strong>Deutschland</strong> in seinen<br />
völkerrechtlich festgelegten Grenzen.<br />
Die Datenbank will Geschichte, Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales<br />
dokumentieren. Sie sind somit ihr Bezugs- <strong>und</strong> Orientierungsrahmen. Politik meint in<br />
Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch Politik nach drei<br />
Schlüsselbegriffen: 1. im Sinne von Polity <strong>als</strong> Ordnung <strong>und</strong> Normen (politisches<br />
System: Institutionen, Strukturen, Organisationen u.a.); 2. im Sinne von Politics <strong>als</strong><br />
Prozesse <strong>und</strong> Abläufe (dynamischer Charakter: Konflikte, Konkurrenz; Machterwerb<br />
<strong>und</strong> Machterhaltung, Dissens <strong>und</strong> Konsensbildung u.a.); 3. im Sinne von Policy <strong>als</strong><br />
Inhalte <strong>und</strong> Ziele (Politikfelder: Programme, Interessen, Ideen, Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />
u.a.).<br />
Im Mittelpunkt steht die staatliche Politik - nicht wegen eines überholten<br />
Politikbegriffs, der gesellschaftliche Gruppen <strong>und</strong> Alltagskultur ausschließt oder<br />
vernachlässigt, sondern aus zwei Hauptgründen: 1. ist staatliche Politik nach wie vor<br />
der wichtigste, wenngleich nicht mehr monopolisierte politische Bereich ; 2. sind<br />
staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Quellen (Dokumente), da sie der public domain<br />
angehören, urheberrechtlich nicht kostenpflichtig, auch nicht bei Personen, soweit sie<br />
amtliche oder politische Funktionen wahrnehmen. Der Anfang wurde deshalb mit der<br />
staatlichen Politik gemacht, jedoch mit der Absicht, später Gesellschafts- <strong>und</strong><br />
Alltagsgeschichte <strong>und</strong> -kultur zu ergänzen.<br />
47
Geschichte <strong>und</strong> Politik werden - soweit möglich - auf der obersten Ebene<br />
dokumentiert. Konkret heißt dies, dass sie in den Besatzungszonen 1945 - 1949 die<br />
Siegermächte ( z.B. Kontrollrat), zum Teil auch die deutschen Länder <strong>und</strong> Parteien<br />
sowie zonenübergreifende Organe (z.B. Wirtschaftsrat) repräsentieren. In der BRD<br />
steht der B<strong>und</strong> im Mittelpunkt, vertreten durch den Deutschen B<strong>und</strong>estag, die<br />
B<strong>und</strong>esregierung, das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht <strong>und</strong> den B<strong>und</strong>espräsidenten; in der<br />
DDR sind dies primär die SED, sek<strong>und</strong>är staatliche Organe wie Regierung<br />
(Ministerrat) <strong>und</strong> Volkskammer.<br />
Für die BRD hat dies zur Folge, dass vornehmlich Vertreter/innen der<br />
B<strong>und</strong>esregierung zu Wort kommen, selten der Opposition. Während jedoch in der<br />
BRD die Opposition die bestehende B<strong>und</strong>esregierung wiederholt abgelöst hat <strong>und</strong><br />
damit selbst Regierung geworden ist, war dies in der DDR unmöglich <strong>und</strong> auch nicht<br />
vorgesehen. Dort musste daher von 1949 - 1990 vornehmlich die SED-Politik der<br />
"Staats- <strong>und</strong> Parteiführung" dokumentiert werden. Um diesen Mangel etwas<br />
auszugleichen, sind einige Dokumente der Opposition in der DDR sowie Quellen<br />
über literarische, kulturelle <strong>und</strong> naturwissenschaftlich-technische Bereiche ergänzend<br />
aufgenommen worden. Die Opposition in der BRD <strong>und</strong> vor allem in der DDR<br />
angemessener zu dokumentieren, gehört zu den vordringlichsten Aufgaben einer<br />
späteren Neuauflage der D-Dok.<br />
Als Vertretung des souveränen Volkes, von dem alle Staatsgewalt ausgeht <strong>und</strong> von<br />
dem alle Staatsorgane ihre Kompetenzen ableiten, ist der Deutsche B<strong>und</strong>estag das<br />
Organ, das eine zentrale <strong>und</strong> kontinuierliche Rolle in <strong>Deutschland</strong> seit 1949 gespielt<br />
hat - anders <strong>als</strong> die Volkskammer der DDR nicht nur de iure, sondern auch de facto.<br />
Soweit die alte BRD seit 1949 <strong>und</strong> die neue BRD seit 1990 dokumentiert werden,<br />
steht daher der Deutsche B<strong>und</strong>estag <strong>als</strong> Parlament mit seinen Gesetzgebungs-,<br />
Wahl-, Kontroll-, Entscheidungs- <strong>und</strong> Meinungsbildungsfunktionen im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Symbolisiert wird dies dadurch, dass auf dem Titelblatt der D-Dok. die<br />
Reichstagskuppel abgebildet ist. Als <strong>neues</strong> Wahrzeichen des Deutschen<br />
B<strong>und</strong>estages in Berlin ragt sie 23 Meter hoch über die Dachterrasse des<br />
Reichstagsgebäudes in den Himmel. Die Kuppel ist die Lichtquelle für den<br />
Plenarsaal, der unter ihr liegt; jedoch fällt das Tageslicht nicht direkt wie bei einem<br />
Fenster ein, sondern indirekt über 30 Spiegelreihen mit je 12 Spiegeln, die<br />
computergesteuert abgedeckt werden können, wenn die Sonne zu stark scheint. Die<br />
Kuppel spiegelt somit das Licht <strong>und</strong> leitet es in den Plenarsaal um.<br />
Nicht <strong>als</strong> architektonisches Monument, sondern wegen ihrer Transparenz <strong>und</strong> ihrer<br />
Spiegelfunktion ist die Reichstagskuppel <strong>als</strong> Wahrzeichen des Deutschen<br />
B<strong>und</strong>estages in Berlin auf dem Titelblatt reproduziert worden. Denn die D-Dok. will<br />
offen sein für möglichst viele Politikfelder der deutschen Geschichte seit 1945 <strong>und</strong><br />
sie - soweit wie möglich - in Quellen spiegeln, insbesondere auch jenen des<br />
48
Deutschen B<strong>und</strong>estages: Gesetzen, Verträgen, Beschlüssen, Debatten, <strong>als</strong>o auch<br />
Regierungserklärungen <strong>und</strong> B<strong>und</strong>estagsreden. Nicht nur die Reichstagskuppel <strong>als</strong><br />
Wahrzeichen "gläserner Demokratie", auch die Quellenbibliothek soll eine<br />
Spiegelfunktion ausüben.<br />
Abbildung 3: Reichstagskuppel <strong>als</strong> Titelbild (Fotografiert von Joachim Liebe, Berlin; in einer<br />
bearbeiteten Fassung von Jens Vogelsang, Aachen)<br />
2.2. Ausgewählte Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen<br />
1945 - 2004: Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen<br />
(Repertorium)<br />
Aufgelistet nach Politikfeldern, die im Untertitel <strong>als</strong> Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Soziales verkürzt wiedergegeben sind, enthält die D-Dok. ausgewählte Quellen in<br />
historisch-chronologischer Reihenfolge aus folgenden interdependenten Bereichen<br />
nach innen <strong>und</strong> nach außen von 1945 bis 2004:<br />
49
-1. Innenpolitik allgemein - Regierungssystem - Wahlen - Gesetzgebung -<br />
Verwaltung - Extremismus - Terrorismus - Verteidigung (Militär) - innerdeutsche<br />
Beziehungen - Rechtspolitik<br />
-2. Außenpolitik - Sicherheitspolitik - <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> Ganzes - Berlin -<br />
internationale Politik <strong>als</strong> Bezugssystem (z.B. Ost-West- <strong>und</strong> Nord-Süd-Konflikt)<br />
-3. Recht allgemein - Rechtspflege - Verfassungsrecht - Staatsrecht - Zivilrecht -<br />
Strafrecht - Verwaltungsrecht - Wohnungs- <strong>und</strong> Mietrecht - Raumordnung -<br />
Sozialrecht - Wirtschaftsrecht - Völkerrecht - Recht der europäischen <strong>und</strong><br />
militärischen Integration<br />
-4. Wirtschaft allgemein - Handel - Gewerbe/Industrie - Landwirtschaft - Finanzen -<br />
Steuern - Ernährung - Verbraucherschutz - Umwelt - Ökologie - Verkehr -<br />
Energie - Atomkraft - Reaktorsicherheit - Bauwesen - Städtebau -<br />
Außenwirtschaft<br />
-5. Entwicklungshilfe - Wirtschaftliche Zusammenarbeit - Nachhaltigkeit - Nord-<br />
Süd-Beziehungen<br />
-6. Soziales allgemein - Arbeit - Beruf - Ges<strong>und</strong>heitswesen - Behinderung - Sport -<br />
Sozialversicherung - Migration - Asyl - Flüchtlinge - Vertriebene<br />
-7. Familie - Kinder - Jugendliche - Frauen - Senioren<br />
-8. Bildung - Wissenschaft - politische Bildung - Schule - Hochschule -<br />
Kommunikation - Post - Medien - Datenverarbeitung<br />
- 9. Am Rande: Parteien - Opposition - Gewerkschaften - Arbeitgeberverbände -<br />
andere Interessengruppen - Kirchen - Ethik - Ideen <strong>und</strong> Ideologien - Literatur -<br />
Kultur - Psychologie - Pädagogik<br />
Die ausgewählten gespeicherten Text-, Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente sind mit den Datei-<br />
Koeffizienten <strong>und</strong> Dateinamen in zeitlicher Reihenfolge nach Jahren, Monaten,<br />
Tagen <strong>und</strong> innerhalb der Tage alphabetisch geordnet <strong>und</strong> in einem Repertorium<br />
verzeichnet worden.<br />
Dieses Findbuch (Repertorium) der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen hat einen Umfang von<br />
523 Druckseiten. Daher musste darauf verzichtet werden, es in diesem Begleitbuch<br />
zu veröffentlichen. F<strong>und</strong>stelle ist die DVD-D-Dok., DVD-Laufwerk, Ordner:<br />
Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen. Dieses Repertorium ist auch auf der Webseite der <strong>Deutschland</strong>-<br />
Dokumentation zu finden: www.d-dok.de/Gesamtliste.<br />
50
Das Gesamtverzeichnis der Dateien <strong>und</strong> Dateinamen vom 1. Januar 1945 bis zum<br />
31. Januar 2004 (Redaktionsschluss: 20. Februar 2004) ist eine wichtige<br />
Arbeitsgr<strong>und</strong>lage der D-Dok. Auf die Möglichkeiten, das Repertorium ganz oder je<br />
nach Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen teilweise auszudrucken <strong>und</strong> mit der<br />
Suchfunktion Strg + f nach Stichworten zu durchsuchen, wird hingewiesen.<br />
2.3. Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung: Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre<br />
Rechtschreibung - Digitalisierung - Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung -<br />
manuelle Korrektur - Haftungsausschluss<br />
-1. Quellenvorlagen <strong>und</strong> ihre Rechtschreibung<br />
Quellenvorlagen sind die im Quellennachweis exakt belegten analogen (gedruckten)<br />
oder digitalisierten Dokumente <strong>und</strong> Daten. Sie sind aus Quellen- <strong>und</strong><br />
Datensammlungen oder anderen Veröffentlichungen, die zuverlässigen <strong>und</strong> meistens<br />
"amtlichen" Charakter haben, ausgewählt worden <strong>und</strong> öffentlich zugänglich. Daher<br />
handelt es sich vornehmlich um staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Dokumente <strong>und</strong><br />
Daten. Unveröffentlichte Quellen (Archivalien) sind, von Ausnahmen abgesehen,<br />
nicht aufgenommen worden.<br />
Die digitalen Quellenvorlagen werden aus dem Internet, von CDs oder DVDs, die<br />
analogen (gedruckten) Quellen aus Printmedien übernommen. Der Quellentext<br />
(Dokumententext) ist, soweit nichts anderes vermerkt ist, gr<strong>und</strong>sätzlich ungekürzt. Er<br />
entspricht inhaltlich <strong>und</strong> orthografisch der jeweiligen Quellenvorlage. Schreib- <strong>und</strong><br />
Flüchtigkeitsfehler (z.B. Druck- <strong>und</strong> Tippfehler) sind stillschweigend verbessert<br />
worden, sofern damit kein inhaltlicher textlicher Eingriff verb<strong>und</strong>en ist. Oberste<br />
Prinzipien der Edition sind Quellentreue <strong>und</strong> Quellenauthentizität.<br />
Die Dokumentenüberschriften <strong>und</strong> die Dateinamen sind an die neue deutsche<br />
Rechtschreibung angepasst <strong>und</strong> so vereinheitlicht worden. Die Dokumententexte<br />
dagegen werden gr<strong>und</strong>sätzlich in der Rechtschreibung der Quellenvorlage<br />
wiedergegeben. In der Dokumentenüberschrift steht daher "Beschluss der<br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts", im Dokumententext dagegen "Beschluß des<br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts", wenn die Quellenvorlage der alten deutschen<br />
Rechtschreibung folgt.<br />
-2. Digitalisierung der analogen Quellenvorlage<br />
Die analoge Quelle wird in einem ersten Schritt aus arbeitstechnischen Gründen<br />
kopiert <strong>und</strong> elektronisch gescannt. Das Ergebnis ist eine digitale Kopie der analogen<br />
Quellenvorlage im Computer. Diese digitale Fassung weist im Unterschied zur<br />
51
Quellenvorlage inhaltliche <strong>und</strong> orthografische Fehler auf, die durch den<br />
elektronischen Scannvorgang verursacht worden sind. Erforderlich ist darüber hinaus<br />
die einheitliche Formatierung der Quellen in der D-Dok.<br />
Bei zuverlässigen digitalen Quellen entfällt der Arbeitsschritt der Digitalisierung, nicht<br />
jedoch der Formatierung.<br />
-3. Überprüfung <strong>und</strong> Formatierung des gescannten Dokuments<br />
In einem zweiten Schritt werden inhaltliche <strong>und</strong> orthografische Fehler des<br />
gescannten Dokuments maschinell korrigiert, um sie zu reduzieren.<br />
Zu diesem Zweck wird das digitale Dokument aus dem Scannprogramm in ein<br />
Textverarbeitungsprogramm übertragen <strong>und</strong> einer automatischen<br />
Rechtschreibprüfung unterzogen. Anschließend formatiert es der/die Bearbeiter/in<br />
einheitlich nach den Gr<strong>und</strong>sätzen, die für die Formatierung in der D-Dok. gelten. Auf<br />
2.4. wird verwiesen.<br />
-4. Manuelle Korrektur des digitalen Dokuments anhand der Quellenvorlage<br />
Das digitale Dokument wird in einem dritten Schritt einer manuellen inhaltlichen <strong>und</strong><br />
Rechtschreibprüfung sowie einer manuellen Prüfung der Formatierung unterzogen.<br />
Damit sollen restliche Fehler beseitigt werden, damit es der analogen Quellenvorlage<br />
entspricht. Dies ist erforderlich, weil derzeit maschinelle Kontrollen, anders <strong>als</strong> die<br />
Werbung verspricht, unzuverlässig sind <strong>und</strong> einer Überprüfung von Menschen <strong>und</strong><br />
durch den Menschen bedürfen.<br />
Auch schwankt häufig die Fehlerrate beim Scannen <strong>und</strong> bei der automatischen<br />
Rechtschreibkontrolle. Unerklärlich bleibt, weshalb Scann- <strong>und</strong><br />
Textverarbeitungsprogramme zeitweilig fehlerfrei arbeiteten, dann aber plötzlich<br />
Fehlerhäufungen <strong>und</strong> sogar Textverstümmelungen auftraten. Das hing manchmal,<br />
aber nicht immer mit der Qualität der Dokumentenkopien zusammen. "Der Computer<br />
spinnt mal wieder" - so hieß dann das geflügelte Wort in der Arbeitsgruppe.<br />
Zur manuellen Korrektur wird das digitale Dokument ausgedruckt <strong>und</strong> mit der<br />
analogen Quellenvorlage Zeile für Zeile kollationiert. Soweit in der ausgedruckten<br />
Fassung noch Fehler festzustellen sind, werden sie anhand der Quellenvorlage <strong>und</strong><br />
entsprechend den Formatierungsvorgaben der D-Dok. korrigiert. Die<br />
Korrekturzeichen am Rande orientieren sich am Duden ("Rechtschreibung der<br />
deutschen Sprache <strong>und</strong> der Fremdwörter").<br />
Die Fehlerkorrektur wird in das digitale Dokument im Computer eingegeben <strong>und</strong> in<br />
der ausgedruckten Fassung des digitalen Dokuments abgehakt.<br />
52
Der/die Bearbeiter/in zeichnet das fertig gestellte gespeicherte Dokument mit<br />
seinem/ ihrem Namen <strong>und</strong> mit Angabe des Datums ab <strong>und</strong> druckt es neu aus.<br />
Dadurch lässt sich nachträglich feststellen, wer aus der Arbeitsgruppe welche<br />
inhaltlichen <strong>und</strong> orthografischen Fehler oder Urheber- bzw. Nutzungsrechte bei<br />
Dokumenten (z. B. aus dem Internet) übersehen hat. Bei über 10.000 Dokumenten<br />
<strong>und</strong> über 100.000 Seiten Quellentexten sind Lücken, Fehler <strong>und</strong> Mängel<br />
unvermeidlich <strong>und</strong> auch Rechte Dritter/Nutzungsrechte manchmal fraglich <strong>und</strong><br />
unsicher, teilweise nicht ermittelbar oder erkennbar.<br />
Die so gewonnenen Stammakten, die alle geschilderten Vorgänge dokumentieren,<br />
haben einen Umfang von etwa 400 Aktenordnern. Es ist beabsichtigt, sie in einem<br />
Archiv zu hinterlegen <strong>und</strong> so dauerhaft zu sichern.<br />
-5. Haftungsausschluss<br />
Damit ist die Dokumenten- <strong>und</strong> Datenerfassung abgeschlossen. Trotz sorgfältiger<br />
Arbeiten durch die studentischen Mitarbeiter/innen <strong>und</strong> Kontrollen sowie Stichproben<br />
durch den Herausgeber kann eine Haftung <strong>und</strong> eine Gewähr für die Authentizität, die<br />
Vollständigkeit <strong>und</strong> die Fehlerfreiheit der digitalisierten Dokumente <strong>und</strong> ihrer<br />
Quellenvorlagen auf der DVD-D-Dok. nicht übernommen werden.<br />
Dieser Ausschluss von der Haftung <strong>und</strong> der Gewährleistung gilt auch für Links<br />
(Verweise), Internetadressen <strong>und</strong> F<strong>und</strong>stellen sowie Urheber- oder Nutzungsrechte<br />
von Dokumenten, bei denen ausnahmslos vermerkt wird, aus welcher "Quelle" sie<br />
stammen. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber<br />
verantwortlich.<br />
Einen Haftungsausschluss enthalten auch die Lizenzbestimmungen der DVD-D-Dok.<br />
(license.txt) unter 5. Unter 5.3. heißt es: "Herausgeber <strong>und</strong> Verlag stehen nicht dafür<br />
ein, dass dieses Werk frei von Rechten Dritter ist." Hingewiesen wird ferner auf<br />
urheberrechtliche Bestimmungen zur Software (3.), zur Übertragung der Lizenz (4.)<br />
<strong>und</strong> zur Gewährleistung (6.).<br />
2.4. Formatierung <strong>und</strong> Software der PDF-Dokumente:<br />
Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname<br />
<strong>und</strong> Datei-Koeffizient - Quellennachweis - Volltextsuche<br />
- 1. Vorbemerkung<br />
Jedes PDF-Dokument in der D-Dok. wird wie folgt einheitlich formatiert <strong>und</strong> so<br />
typisiert:<br />
53
1. durch Dokumentendatum/-daten;<br />
2. durch den Dokumententitel;<br />
3. durch den Dokumententext;<br />
4. durch den Dateinamen mit Datum/Daten <strong>und</strong> Datei-Koeffizient;<br />
5. durch den Quellennachweis.<br />
1. Dokumentendatum<br />
2. Dokumententitel<br />
15. Mai 1945<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Befehl Nr. 2<br />
des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />
¶<br />
¶<br />
Aus Anlaß der Beendigung des Krieges befehle ich:<br />
¶<br />
1. Vom 15. Mai 1945 ab ist der Bevölkerung Berlins erlaubt, von 05.00 Uhr bis 22.30 Uhr sich frei in der<br />
Stadt zu bewegen.<br />
¶<br />
2. Die Verdunkelung ist zu beseitigen. Die Beleuchtung der Straßen <strong>und</strong> Räumlichkeiten ist für den<br />
ganzen Kalendertag zu gestatten.<br />
¶<br />
¶<br />
Chef der Besatzung <strong>und</strong> Stadtkommandant von Berlin<br />
D3. Dokumententext<br />
¶<br />
Oberbefehlshaber der N-ten Armee<br />
¶<br />
Generaloberst N. Bersarin.<br />
¶<br />
¶<br />
Stabschef der Besatzung<br />
¶<br />
Generalmajor Kuschtschow.<br />
¶<br />
¶<br />
Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.pdf<br />
in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />
Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />
Seite 3.<br />
4. Dateiname<br />
5. Quellennachweis<br />
Abbildung 4: Dokumentendatum - Dokumententitel - Dokumententext - Dateiname - Quellennachweis<br />
54
-2. Dokumentendatum/-daten<br />
Am Anfang jedes PDF-Dokuments steht das Datum, das durchgehend in deutscher<br />
Sprache nach Tag, Monat <strong>und</strong> Jahr wiedergegeben ist. Dieses Datum wird optisch<br />
durch einen umrandeten Kasten vom folgenden Dokumententitel <strong>und</strong><br />
Dokumententext abgegrenzt. Es gibt an, wann das jeweilige Dokument entstanden<br />
ist (Entstehungsdatum), verabschiedet (Verabschiedungsdatum) oder veröffentlicht<br />
(Veröffentlichungsdatum) worden ist. Liegt in Ausnahmefällen keine Datierung vor,<br />
so wird sie geschätzt.<br />
Ist das Dokument oder sind die Dokumente nicht auf den Tag genau datierbar, so<br />
werden Dokumentendaten aufgeführt.<br />
Dokumentendaten<br />
Dokumentendatum<br />
21./ 22. April 1946<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Vereinigungskongress der SPD <strong>und</strong> der KPD<br />
vom 21. <strong>und</strong> 22. April 1946 in Berlin<br />
¶<br />
¶<br />
15. Mai 1945<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Befehl Nr. 2<br />
des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 5: Dokumentendaten - Dokumentendatum<br />
-3. Dokumententitel<br />
Auf das Dokumentendatum folgt der Dokumententitel, die zusammen den<br />
Dokumentenkopf bilden. Der Dokumententitel entspricht inhaltlich dem<br />
Dokumententitel der Quellenvorlage oder ist sinngemäß wiedergegeben. Falls dies<br />
nicht möglich ist, wird der Dokumententitel frei formuliert.<br />
55
Der Dokumententitel ist durch vier Leerzeilen in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der<br />
Schriftgröße 12 vom Dokumentendatum <strong>und</strong> zum folgenden Dokumententext durch<br />
zwei Leerzeilen optisch abgegrenzt.<br />
15. Mai 1945<br />
Dokumententitel<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Befehl Nr. 2<br />
des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin<br />
¶<br />
¶<br />
Aus Anlaß der Beendigung des Krieges befehle ich:<br />
¶<br />
1. Vom 15. Mai 1945 ab ist der Bevölkerung Berlins erlaubt, von 05.00 Uhr bis 22.30 Uhr sich frei in der<br />
Stadt zu bewegen.<br />
¶<br />
2. Die Verdunkelung ist zu beseitigen. Die Beleuchtung der Straßen <strong>und</strong> Räumlichkeiten ist für den<br />
ganzen Kalendertag zu gestatten.<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 6: Dokumententitel<br />
-3.1. Dokumentenuntertitel<br />
Dokumentenkopf<br />
In vielen Dokumenten ist aus der Quellenvorlage im Anschluss an den<br />
Dokumententitel ein Untertitel übernommen oder eingefügt worden. Der Abstand<br />
zwischen dem Dokumententitel <strong>und</strong> dem Untertitel beträgt eine Leerzeile. Dieser<br />
Untertitel ist vom nachfolgenden Dokumententext wiederum durch zwei Leerzeilen in<br />
der Schriftart Arial <strong>und</strong> der Schriftgröße 10. getrennt.<br />
56
Untertitel<br />
4. Juli 1945<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Spruchkammer-Verfahrensordnung in Berlin<br />
¶<br />
(Gültig ab 5. Juli 1945)<br />
¶<br />
¶<br />
1. Aufgabe<br />
¶<br />
Aufgabe der Spruchkammer ist die endgültige Entscheidung des Magistrats der Stadt Berlin über die Neuzulassung<br />
<strong>und</strong> Wiedererrichtung von Handels- <strong>und</strong> Gewerbebetrieben aller Art, Untersagung des Gewerbes,<br />
Konzessionsverweigerung u. a. m., soweit gegen die Entscheidung des Bezirksamtes Einspruch erhoben worden<br />
ist.<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 7: Dokumentenuntertitel<br />
-3.2. Dokumentenvortitel<br />
Vor dem Dokumententext steht oft ein Erläuterungstext <strong>als</strong> Dokumentenvortitel in der<br />
Quellenvorlage.<br />
Dieser Erläuterungstext wird durch zwei Leerzeilen vom Dokumententitel bzw. vom<br />
Dokumentenuntertitel sowie vom danach folgenden Dokumententext abgegrenzt <strong>und</strong><br />
in der Regel fett hervorgehoben.<br />
57
20. Mai 1984<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
VII. Turn- <strong>und</strong> Sporttag des DTSB in Berlin<br />
¶<br />
¶<br />
Der VII. Turn- <strong>und</strong> Sporttag des Deutschen Turn- <strong>und</strong> Sportb<strong>und</strong>es der DDR (DTSB) ging am 20. Mai in Berlin nach dreitägigen Beratungen<br />
mit der Beschlußfassung über die künftigen Aufgaben <strong>und</strong> der Wahl der leitenden Organe der sozialistischen Sportorganisation zu Ende.<br />
¶<br />
Die 1200 Delegierten der über 3,4 Millionen Mitglieder umfassenden Sportorganisation hatten am Eröffnungstag den Gener<strong>als</strong>ekretär des<br />
ZK der SED <strong>und</strong> Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, sowie weitere Mitglieder der Partei- <strong>und</strong> Staatsführung herzlich<br />
<strong>als</strong> Gäste begrüßt.<br />
¶<br />
Den Bericht des B<strong>und</strong>esvorstandes des Deutschen Turn- <strong>und</strong> Sportb<strong>und</strong>es der DDR erstattete DTSB-Präsident Manfred Ewald.<br />
¶<br />
Insgesamt ergriffen an den drei Konferenztagen 42 Delegierte <strong>und</strong> Gäste das Wort, unter ihnen das Mitglied des Politbüros <strong>und</strong> Sekretär<br />
des ZK der SED Egon Krenz.<br />
¶<br />
Der neugewählte B<strong>und</strong>esvorstand des DTSB der DDR wählte auf seiner konstituierenden Sitzung Manfred Ewald einstimmig wieder zum<br />
Präsidenten.<br />
¶<br />
¶<br />
Aus dem Bericht des B<strong>und</strong>esvorstandes,<br />
erstattet von DTSB-Präsident Manfred E w a l d<br />
¶<br />
In wenigen Monaten werden wir gemeinsam den 35. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen<br />
Republik feiern. Jeder von uns spürt es persönlich: Großes wurde in diesen 35 Jahren geleistet. Die<br />
angestrengte Arbeit der Bürger unseres Landes hat reiche Früchte getragen. Unter Führung der Partei der<br />
Arbeiterklasse, der Sozialistischen Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s, haben wir auf deutschem Boden einen Staat<br />
der Arbeiter <strong>und</strong> Bauern, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik, erbaut. Dieser Staat ist ein<br />
Friedensstaat, der hohe Anerkennung in der Welt genießt, der sich dynamisch entwickelt, der seinen Menschen<br />
Sicherheit <strong>und</strong> persönliches Wohlergehen gewährleistet.<br />
¶<br />
¶<br />
Vortitel<br />
Abbildung 8: Dokumentenvortitel<br />
-4. Dokumententext<br />
Der Dokumententext ist in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der Schriftgröße 10 digitalisiert<br />
worden. Inhaltlich <strong>und</strong> orthografisch entspricht dieser Dokumententext der jeweiligen<br />
Quellenvorlage, d. h. der im Quellennachweis jeweils belegten analogen<br />
(gedruckten) oder digitalisierten Quelle. Der Dokumententext wird gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
ungekürzt nach der jeweiligen Quellenvorlage wiedergegeben, <strong>als</strong>o <strong>als</strong> Volltext. Liegt<br />
nur ein Auszug vor, so ist dies ausdrücklich im Dokumententitel vermerkt.<br />
Für die Formatierung des Dokumententextes gelten folgende Regeln:<br />
Wenn ein Abschnitt einen Zwischentitel (Paragrafen, Artikel, Kapitelüberschriften,<br />
Ziffern) hat, so folgt nach dem Zwischentitel eine Leerzeile.<br />
58
¶<br />
Leerzeile<br />
¶<br />
Artikel III<br />
¶<br />
1. Von der Pflicht zur Abgabe der monatlichen Voranmeldungen <strong>und</strong> Entrichtung der monatlichen<br />
Umsatzsteuerbeträge sind nur die folgenden Steuerpflichtigen ausgenommen:<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 9.1: Leerzeile im Dokumententext<br />
Jeder Abschnitt ohne Zwischentitel wird vom folgenden Abschnitt durch eine<br />
Leerzeile abgegrenzt.<br />
Leerzeile<br />
28. August<br />
1945<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Sperrzeit in Berlin<br />
¶<br />
¶<br />
Die Posten der amerikanischen Besatzung haben Befehl erhalten, innerhalb ihrer Zone während der Sperrzeit<br />
auf alle diejenigen Personen zu schießen, die auf ihren Anruf, haltzumachen, nicht stehenbleiben.<br />
¶<br />
Es wird daher nochm<strong>als</strong> darauf hingewiesen, daß es in allen Besatzungszonen Berlins nicht nur verboten ist,<br />
die Straße in der Zeit von 23.00 Uhr bis 5.00 Uhr früh zu betreten, sondern daß auch jeder bei Nichtbeachtung<br />
dieses Befehls Gefahr läuft, erschossen zu werden.<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 9.2: Leerzeile im Dokumententext<br />
59
Jeder Abschnitt mit einem Zwischentitel wird vom vorherigen Abschnitt durch zwei<br />
Leerzeilen abgegrenzt.<br />
Leerzeilen<br />
¶<br />
¶<br />
Steuerklasse I umfaßt diejenigen Personen, die zu Beginn des Steuerjahres nicht verheiratet waren, <strong>und</strong><br />
diejenigen, die in diesem Jahre nicht mindestens vier Monate verheiratet waren. Personen, die unter die unten<br />
aufgezählten Steuerklassen fallen, gehören nicht zur Steuerklasse I.<br />
¶<br />
¶<br />
b) Steuerklasse II<br />
¶<br />
Zur Steuerklasse II gehören folgende Personen, soweit sie nicht in der dritten Gruppe inbegriffen sind:<br />
¶<br />
I. Personen, die zu Beginn des Steuerjahres oder mehr <strong>als</strong> vier Monate in diesem Jahre verheiratet<br />
waren, sowie<br />
¶<br />
II. unverheiratete Personen, die mindestens vier Monate vor Ablauf des Steuerjahres das 65. Lebensjahr<br />
erreicht haben.<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 10: Leerzeilen im Dokumententext<br />
60
Hervorhebungen (fett, gesperrt, kursiv oder unterstrichen) im Dokumententext, seien<br />
es Zwischenüberschriften, seien es Wörter oder Sätze, werden aus der<br />
Quellenvorlage übernommen.<br />
Fett gesetzte Hervorhebung<br />
¶<br />
¶<br />
I. Die Ergebnisse der Fre<strong>und</strong>schaftsreise<br />
¶<br />
¶<br />
Von größter Bedeutung war in den hinter uns liegenden Monaten die Reise der Partei- <strong>und</strong><br />
Regierungsdelegation unter Leitung des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees <strong>und</strong> Vorsitzenden des<br />
Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht, in die Sowjetunion. Der Besuch, der auf Einladung des Zentralkomitees<br />
der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, des Präsidiums des Obersten Sowjets <strong>und</strong> des Ministerrates der<br />
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Zeit vom 17. bis 28. September 1965 stattfand, führte von<br />
Moskau aus diesmal in die südlichen Republiken der Sowjetunion. Die Partei- <strong>und</strong> Regierungsdelegation konnte<br />
sich dabei mit vielen neuen Errungenschaften des Sowjetvolkes bei der Schaffung der materiell-technischen<br />
Basis des Kommunismus vertraut machen.<br />
¶<br />
Gesperrt gesetzte<br />
Hervorhebung<br />
¶<br />
¶<br />
EL PRESIDENTE DE LA REPÚBLICA DE FINLANDIA:<br />
¶<br />
a la señora Tarja H A L O N E N ,<br />
¶<br />
Ministra de Asuntos Exteriores;<br />
¶<br />
¶<br />
Kursiv gesetzte<br />
¶<br />
Hervorhebung<br />
¶<br />
Avrupa Ekonomik Topluluğu'nu kuran Antlaşma'da gereken usullerin yerine getirildiğinin, özellikle Avrupa<br />
Parlamenter Asamblesi'ne danışıldığının Öteki Akit Tarafa bildirilmesinden sonra ancak Topluluğu kesin olarak<br />
bağlayacağı ihtiyat kaydı ile<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 11: Hervorhebungen im Dokumententext<br />
Um diese Hervorhebungen der Dokumente (fett, gesperrt, kursiv oder unterstrichen)<br />
<strong>und</strong> damit ihre authentische Wiedergabe zu erhalten, ist das seitenorientierte<br />
Portable Document Format (PDF) der Firma Adobe für die D-Dok. ausgewählt<br />
worden; denn die inhaltsorientierten Formate HTML <strong>und</strong> XML enthielten keine<br />
61
Steuerungsinformationen darüber, wie ein Dokument darzustellen oder zu drucken<br />
ist.<br />
Aufzählungen im Text (Buchstaben oder Ziffern) werden durch Tabulatoren<br />
formatiert. Die dabei verwendete Formatierung hält sich so eng wie möglich an die<br />
Quellenvorlage. Bei Aufzählungen mit Ziffern wird der Tabulator direkt nach der Ziffer<br />
gesetzt. Bei Aufzählungen mit Buchstaben wird der Tabulator vor dem Buchstaben<br />
<strong>und</strong> nach dem Buchstaben eingefügt.<br />
1. begrüßt den Entwurf einer Europäischen Akte <strong>als</strong> Beitrag <strong>und</strong> Initiative zur Weiterentwicklung der<br />
Gemeinschaft <strong>und</strong> zur Verwirklichung der Europäischen Union;<br />
2. stellt fest, daß die Realisierung der Europäischen Akte begleitet werden muß von Fortschritten in einer<br />
gemeinsamen Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> zum Schutz der natürlichen Umwelt, um<br />
den Gedanken einer Europäischen Union bei den Bürgern der Gemeinschaft zu verankern;<br />
3. ist der Ansicht, daß die Prüfung <strong>und</strong> Behandlung dieses Entwurfs auf Ratsebene rasch <strong>und</strong><br />
entschlossen fortgeführt werden muß, so daß spätestens Anfang 1983 Beschlüsse gefaßt werden<br />
können;<br />
7. § 32 wird wie folgt geändert:<br />
Aufzählungen mit<br />
Ziffern (Tabstopp)<br />
Aufzählungen mit<br />
Buchstaben (Tabstopps)<br />
¶<br />
a) Die Absätze 1 <strong>und</strong> 2 werden wie folgt gefaßt:<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 12: Aufzählungen mit Tabstopps im Dokumententext<br />
¶<br />
¶<br />
¶<br />
Aus der Quellenvorlage sind Anmerkungen <strong>als</strong> Fußnoten in der Regel nur dann<br />
übernommen worden, wenn sie zum Originaltext gehören <strong>und</strong> nicht von<br />
Herausgebern, Bearbeitern, Kommentatoren u. a. stammen. Abweichungen von<br />
dieser Regel sind durch die Software verursacht <strong>und</strong> vom Herausgeber der D-Dok.<br />
nicht zu vertreten. Der Text der Anmerkungen ist in der Schriftart Arial <strong>und</strong> der<br />
Schriftgröße 9 digitalisiert. Anmerkungen, welche nicht durch Ziffern im Text<br />
gekennzeichnet sind, sondern durch Sternchen, Buchstaben oder sonstige Zeichen,<br />
werden durchnummeriert.<br />
62
¶<br />
¶<br />
Rechtsweg<br />
¶<br />
Für Rechtsstreitigkeiten bei der Ausführung dieses Gesetzes ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben.<br />
¶<br />
¶<br />
§ 33 5 )<br />
¶<br />
5) Ab 1. Januar 1984 ändert sich der Wortlaut des § 33 wie folgt:<br />
¶<br />
Absatz 2 lautet:<br />
"(2) Der Widerspruch gegen den Musterungsbescheid (§ 19 Abs. 7) hat aufschiebende Wirkung. Gegen den<br />
Musterungsbescheid kann auch das Kreiswehrersatzamt Widerspruch einlegen."<br />
¶<br />
Absatz 4 entfällt.<br />
¶<br />
¶<br />
Abbildung 13: Fußnoten im Dokumententext<br />
In der Quellenvorlage vorhandene Zitate werden durch einen Tabulator eingerückt.<br />
Die Seitenzahlen der PDF-Dokumente entsprechen nicht den Seitenzahlen der<br />
Quellenvorlage. Die PDF-Dokumente werden, beginnend mit der Seitenzahl 1,<br />
durchnummeriert.<br />
¶<br />
Anmerkungen <strong>als</strong><br />
Fußnoten<br />
¶<br />
Chef der Besatzung <strong>und</strong> Stadtkommandant von Berlin<br />
¶<br />
Oberbefehlshaber der N-ten Armee<br />
¶<br />
Generaloberst N. Bersarin.<br />
¶<br />
¶<br />
Stabschef der Besatzung<br />
¶<br />
Generalmajor Kuschtschow.<br />
¶<br />
¶<br />
Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />
in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />
Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />
Seite 3.<br />
Abbildung 14: Seitenzahlen der PDF-Dokumente<br />
Seitenzahl(en)<br />
1<br />
63
Anhänge, Anlagen <strong>und</strong> Tabellen, die zur Quellenvorlage gehören, sind häufig —<br />
auch aus technischen Gründen — nicht digitalisiert worden. Sind Anhänge oder<br />
Anlagen vom Herausgeber eingefügt worden, so wird dies in Klammern vermerkt.<br />
Inhaltsverzeichnisse werden in der Regel aus der Quellenvorlage übernommen.<br />
Der Dateiname <strong>und</strong> der Quellennachweis stehen, durch einen Kasten umrahmt, am<br />
Ende des Dokumententextes. Der Abstand des Rahmens vom davor liegenden<br />
Dokumententext beträgt zwei Leerzeilen.<br />
Die Dateien sind mit Datum/Daten, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateinamen, jedoch ohne<br />
Quellennachweis im Repertorium (Findbuch) vom 1. Januar 1945 - 30. Januar 2004<br />
einzeln verzeichnet. Auf 2.2. wird verwiesen.<br />
Dateiname <strong>und</strong><br />
Quellennachweis<br />
Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />
in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />
Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />
Seite 3.<br />
Abbildung 15: Dateiname <strong>und</strong> Quellennachweis<br />
-5. Datei mit Datum/Daten, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname <strong>als</strong> Betreff<br />
¶<br />
¶<br />
Die Datei beginnt mit der Angabe des Datums oder der Daten. Zuerst wird das Jahr<br />
genannt <strong>und</strong> danach folgen Monat <strong>und</strong> Tag bzw. Tage. Das Datum wird vom<br />
nachfolgenden Datei-Koeffizienten optisch durch einen Gedankenstrich abgegrenzt.<br />
Danach folgt der Dateiname <strong>als</strong> Betreff.<br />
Datum (Jahr,<br />
Monat, Tag)<br />
Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />
in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />
Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />
Seite 3.<br />
Abbildung16: Datei mit Datum, Datei-Koeffizient <strong>und</strong> Dateiname<br />
Datei-Koeffizient<br />
64
Der Datei-Koeffizient gibt <strong>als</strong> dreistellige veränderliche Größe (Variable) in<br />
Großbuchstaben die Zuordnung des Dokuments wieder:<br />
— politisch-geografisch-inhaltlich (BRD, DDR, DTL, EUR, GER, INT, NSB, OST,<br />
OWB, SBZ, UNO, WBZ, WST)<br />
— fremdsprachlich (ENG, ESP, FRA, TUR)<br />
— medial <strong>als</strong> Bild- (FOT) bzw. Ton- (TON) Dokument.<br />
Noch nicht aufgenommen, aber in Vorbereitung sind Karikaturen (KAR) <strong>und</strong> Video-/<br />
Film-Dokumente (VID).<br />
BRD B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> 1949-1990<br />
DDR Deutsche Demokratische Republik 1949-1990<br />
DTL <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> Ganzes / <strong>Deutschland</strong>- <strong>und</strong> Berlin-Frage / Innerdeutsche<br />
Beziehungen / Geeintes <strong>Deutschland</strong><br />
ENG Englischsprachiges Dokument<br />
ESP Spanischsprachiges Dokument<br />
EUR Europa, u. a. EWG, EG bzw. EU, KSZE/ OSZE, WEU, Europarat<br />
FOT Foto- / Bild-Dokument<br />
FRA Französischsprachiges Dokument<br />
GER <strong>Deutschland</strong> / Berlin <strong>als</strong> Besatzungsgebiet 1945-1949<br />
INT Internationaler multilateraler Vorgang (Abkommen, Übereinkommen,<br />
Konvention, Protokoll u. a.)<br />
KAR Karikatur (in Vorbereitung)<br />
NSB Nord-Süd-Beziehungen / Dritte Welt<br />
OST Osten / Osteuropa / östliche Hemisphäre<br />
OWB Ost-West-Beziehungen<br />
SBZ Sowjetische Besatzungszone 1945-1949<br />
TON Ton-Dokument / Audio-Dokument<br />
TUR Türkischsprachiges Dokument<br />
UNO Vereinte Nationen<br />
VID Video- / Film-Dokument (audiovisuell) (in Vorbereitung)<br />
WBZ Westliche Besatzungszone(n) 1945-1949<br />
WST Westen / Westeuropa / westliche Hemisphäre<br />
Abbildung 17: Liste der Datei-Koeffizienten<br />
65
Dateiname<br />
Titel: 1945 05 15 - GER - Befehl Nr. 2 des Stadtkommandanten von Berlin Bersarin.doc<br />
in: Verordnungsblatt der Stadt Berlin. Jahrgang 1945.<br />
Nr. 1 vom 10. Juli 1945.<br />
Seite 3.<br />
Abbildung 18: Dateiname <strong>und</strong> Betreff<br />
Der Dateiname will den Dokumenteninhalt <strong>als</strong> Betreff möglichst präzis, wenngleich<br />
verkürzt wiedergeben. Es ist zu beachten, dass sich der Dateiname zwar sinngemäß<br />
auf den Dokumententitel <strong>und</strong> die Dokumentenuntertitel bezieht, allerdings sind<br />
hiervon Abweichungen möglich, die ihren Gr<strong>und</strong> in der begrenzten Länge des<br />
Dateinamens von 255 Zeichen innerhalb des Dateisystems von WINDOWS haben.<br />
Dokumentenköpfe <strong>und</strong> Dateinamen sind - wie bereits erwähnt - an die neue<br />
deutsche Rechtschreibung angepasst <strong>und</strong> so vereinheitlicht worden, nicht jedoch die<br />
Dokumententexte. Sie werden in der Rechtschreibung der jeweiligen Quellenvorlage<br />
ungekürzt wiedergegeben.<br />
-6. Quellennachweis<br />
Der Quellennachweis belegt ausführlich die bibliografische F<strong>und</strong>stelle der<br />
Quellenvorlage. Ihre Seitenzahlen sind vom Dokumentenanfang bis zum<br />
Dokumentenende exakt wiedergegeben.<br />
Quellennachweis<br />
mit Seitenzahlen<br />
Titel: 1955 03 11 - BRD - Finanzminister Schäffer - Die Landwirtschaft im Spiegel der<br />
Finanzpolitik.doc<br />
in: Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 48 vom 11. März 1955.<br />
Seiten 393-396.<br />
Abbildung 19: Quellennachweis <strong>als</strong> F<strong>und</strong>stellenangabe<br />
66
-7. Volltextsuche<br />
Die Software für die Volltextsuche ist eigens für die Datenbank bei der Firma Byte<br />
XXL Informationstechnologiegesellschaft mbH, Hauptstraße 20, 69151<br />
Neckargemünd (Leiter: Prof. Dr. Dieter W. Heermann, Universität Heidelberg) in<br />
Auftrag gegeben worden. Sie ist benutzerfre<strong>und</strong>lich, einfach zu bedienen, schnell<br />
<strong>und</strong> zuverlässig in ihren Suchfunktionen.<br />
Eine technische Kurzanleitung enthält das Booklet der DVD-D-Dok. mit Abbildungen<br />
(Screenshots). Sehr wichtig ist die umfangreiche Testversion der Software der<br />
<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation nach dem Stand vom 4. Dezember 2003. Sie befindet<br />
sich auf der DVD-D-Dok., DVD-Laufwerk, Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen. Alle denkbaren<br />
Booleschen Operatoren <strong>und</strong> Suchfunktionen werden dort anhand konkreter Beispiele<br />
getestet. Auf diese umfangreiche Ausarbeitung werden alle hingewiesen, die<br />
Stärken, aber auch nicht implementierte <strong>und</strong> deshalb nicht funktionierende<br />
Suchfunktionen kennen lernen wollen. Insbesondere Informatiker/innen,<br />
Mathematiker/innen <strong>und</strong> Physiker/innen werden gebeten, die Volltextsuche nach<br />
fachlichen, technischen <strong>und</strong> benutzerorientierten Kriterien zu überprüfen, zu<br />
erproben <strong>und</strong> Verbesserungsvorschläge für die Software zu unterbreiten.<br />
2.5. Die D-Dok. <strong>als</strong> deutschsprachige Datenbank mit eingemischten<br />
englisch-, französisch-, spanisch- <strong>und</strong> türkischsprachigen Dokumenten<br />
Ursprünglich war eine rein deutschsprachige Dokumentation geplant. Sie sollte zwar<br />
auch ausländische Quellen über <strong>Deutschland</strong> enthalten, jedoch nur dann, wenn sie<br />
in deutscher Übersetzung vorlagen.<br />
Es wäre jedoch ein Unding im Informationszeitalter gewesen, <strong>Deutschland</strong> im<br />
Zeichen der Globalisierung <strong>und</strong> des Internets wie eine Sprachinsel zu isolieren <strong>und</strong><br />
die mehrsprachigen Nutzungsmöglichkeiten der Datenbank zu ignorieren - trotz des<br />
fortschreitenden europäischen Einigungsprozesses <strong>und</strong> trotz bestehender weltweiter<br />
Verflechtungen.<br />
Die Dokumente werden, soweit sie deutschsprachigen Ursprungs sind, in deutscher<br />
Sprache digitalisiert. Einzelne Quellen sind in Englisch oder Französisch<br />
wiedergegeben, einige Schlüsseldokumente in Deutsch <strong>und</strong> Englisch, teilweise auch<br />
viersprachig in deutscher (oft amtlicher) Übersetzung <strong>und</strong> in Englisch (ENG),<br />
Französisch (FRA) sowie Spanisch (ESP). Aufgenommen sind auch<br />
türkischsprachige Dokumente (TUR) nebst ihren deutschen Übersetzungen. Die<br />
fünfsprachige D-Dok. wird so in den europäischen <strong>und</strong> globalen Bezugsrahmen<br />
eingebettet.<br />
67
Die Aufnahme fremdsprachiger Quellen beschränkt sich auf die drei Weltsprachen<br />
Englisch (ENG), Französisch (FRA) <strong>und</strong> Spanisch (ESP) sowie auf das Türkische<br />
(TUR). Dadurch kann sich der Benutzerkreis über den deutschsprachigen Raum<br />
hinaus ausdehnen <strong>und</strong> auch die deutsche Sprache sek<strong>und</strong>är davon profitieren,<br />
darunter an Auslandsschulen. War bislang beabsichtigt, die Datenbank in<br />
historischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Fächer in Schulen <strong>und</strong> in der politischen<br />
Erwachsenenbildung zu erproben, so lässt sie sich nunmehr in begrenztem Rahmen<br />
auch im Fremdsprachenunterricht <strong>und</strong> für Übersetzungsübungen nutzen. Dabei<br />
könnten Lehrer/innen an der gleichen Schule kooperieren, die Geschichte/Politik<br />
<strong>und</strong>/oder Fremdsprachen unterrichten.<br />
Ausgewählte Einzeldokumente werden dann in deutscher, englischer,<br />
gegebenenfalls französischer <strong>und</strong> in Ausnahmefällen auch spanischer Sprache - <strong>als</strong>o<br />
viersprachig - wiedergegeben, wenn sie in diesen Sprachen vorliegen <strong>und</strong> damit<br />
Zusatzkosten für Übersetzungen entfallen. Dies gilt vor allem für<br />
Schlüsseldokumente der europäischen Politik <strong>und</strong> Integration. Liegen amtliche oder<br />
nicht amtliche deutsche Übersetzungen für ausgewählte fremdsprachige Dokumente<br />
nicht vor, so werden sie nur in englischer oder französischer Sprache vorgelegt.<br />
Türkischsprachige Quellen (TUR) sind nebst deutschsprachigen Übersetzungen<br />
aufgenommen worden, um zu dokumentieren, dass in <strong>Deutschland</strong> eine Vielfalt <strong>und</strong><br />
Vielzahl von Ausländern/innen leben. Dem kann jedoch nur exemplarisch Rechnung<br />
getragen werden - am Beispiel der größten <strong>und</strong> bedeutendsten Gruppe. Sie soll sich<br />
in einer vornehmlich deutschsprachigen Datenbank wiederfinden, in ihr repräsentiert,<br />
integriert <strong>und</strong> in Quellen gespiegelt sehen.<br />
Bild (FOT)-Dokumente sind je nach Herkunft <strong>und</strong> Quellennachweis mit deutsch- oder<br />
englischsprachigen Überschriften <strong>und</strong> Dateinamen versehen worden. Die gleichen<br />
Regeln gelten für Ton (TON)-Dokumente. Sie sind im Original-Ton (O-Ton)<br />
wiedergegeben, <strong>und</strong> das heißt, dass sie vornehmlich deutschsprachig, teilweise auch<br />
fremdsprachig, vornehmlich englischsprachig sind.<br />
Einzelne Schlüsseldokumente der Siegermächte aus den Nachkriegsjahren 1945 –<br />
1949 werden vorerst nur in deutscher Sprache vorgelegt, obwohl ausschließlich die<br />
englischen, französischen <strong>und</strong>/oder russischen Fassungen <strong>als</strong> maßgeblich galten.<br />
Aus technischen Gründen konnten kyrillische Schriftzeichen nicht digitalisiert werden.<br />
Dies wäre zwar wünschenswert gewesen, ließ sich jedoch auch aus Kostengründen<br />
nicht realisieren. Daher musste auf die Aufnahme russischsprachiger Dokumente<br />
aus der Zeit des Ost-West-Konflikts (Kalter Krieg) <strong>und</strong> der DDR verzichtet werden.<br />
68
2.6. Begriff <strong>und</strong> Authentizität der Quelle <strong>als</strong> Spiegel: Quellen sind der<br />
Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird<br />
Quellen sind alle überlieferten "objektiven", datierbaren <strong>und</strong> deshalb konstanten<br />
Zeugnisse menschlicher Existenz, die in der Gegenwart Geschichte aus dem<br />
Rückblick konstituieren <strong>und</strong> sie in der Vergangenheit zeitnah spiegeln. Diese<br />
Definition bedarf einiger Erläuterungen.<br />
Zeugnisse sind alle materialisierten Informationen, die von Menschen stammen,<br />
unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen; jedoch sind sie nur existent dann,<br />
wenn sie überliefert, <strong>als</strong>o nicht verloren gegangen sind. Geschichte entsteht, indem<br />
man aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückblickt, <strong>als</strong>o aus der zeitlichen<br />
Retrospektive. Voraussetzung <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage dafür sind Quellen in ihrer Funktion,<br />
Informationen <strong>als</strong> Rohstoff zu speichern.<br />
"Objektiv" heißt nicht, dass Quellen die Wirklichkeit sind oder sie realitätsgerecht <strong>und</strong><br />
wahrheitsgetreu wiedergeben (reproduzieren), sondern dass sie die Vergangenheit<br />
zeitnah, oft zeitidentisch überliefern <strong>und</strong> damit spiegeln. Dies kann keine<br />
Geschichtsdarstellung, die nachträglich auf Wissen zurückgreift, das Quellen <strong>als</strong><br />
Rohstoff bereits verarbeitet hat. Texte, Bilder, Töne, Filme (audiovisuell), Objekte<br />
(z.B. Werkzeuge, Schmuck) oder Zustände (z.B. Flur- <strong>und</strong> Siedlungsformen) erteilen<br />
<strong>als</strong> Quellen zeitnah Auskunft über die Vergangenheit <strong>und</strong> konstituieren damit<br />
Geschichte. Ohne Quellen gäbe es keine Geschichte <strong>und</strong> keine<br />
Geschichtswissenschaft.<br />
Wenn Quellen der Rohstoff des historischen Wissens sind, dann sind sie folglich<br />
nicht dieses Wissen, das erst entsteht, indem Quellen <strong>als</strong> Informationen verarbeitet<br />
werden - wer, wann, wo, wie <strong>und</strong> warum jemand in den Spiegel sieht <strong>und</strong> darauf<br />
antwortet. Während Quellen sich stets treu <strong>und</strong> so mit sich selbst identisch bleiben,<br />
wandelt sich das historische Wissen, indem jede Gegenwart neue Fragen stellt <strong>und</strong><br />
die Vergangenheit damit neu bewertet. Mit anderen Worten: Authentische Quellen<br />
sind eine Konstante in der Erscheinungen Flucht, denn sie bleiben, sofern sie<br />
datierbar sind, unverändert <strong>und</strong> unveränderlich; historisches Wissen <strong>und</strong> historische<br />
Darstellungen dagegen sind Variablen, unbekannte Größen, die sich im Laufe der<br />
Jahre ändern <strong>und</strong> wandeln. Quellen konstituieren Geschichte, indem sie aus ihnen<br />
erschlossen <strong>und</strong> erarbeitet wird.<br />
Unterschieden werden Quellen häufig nach ihrem Überlieferungscharakter: 1. <strong>als</strong><br />
Überreste oder Relikte, wenn sie unabsichtlich für die Nachwelt, <strong>als</strong>o mehr oder<br />
weniger zufällig, erhalten geblieben sind; 2. <strong>als</strong> Traditionsquellen, wenn sie<br />
zielgerichtet <strong>und</strong> bewusst für die Nachwelt produziert worden sind, um bestimmte<br />
Informationen zu überliefern. Sie sind daher nicht zufällig entstanden, sondern mit<br />
bestimmten Absichten (Intentionen). Trotz dieser Unterscheidungskriterien, die<br />
69
ursprünglich auf den Historiker Johann Gustav Droysen (1808 - 1884) zurückgehen, 53<br />
lassen sich Überrest- <strong>und</strong> Traditionsquellen oft nicht strikt trennen. Ein Grabstein mit<br />
Inschriften z.B. ist für die Nachkommen des/r Toten eine Traditionsquelle, für spätere<br />
Generationen ein Relikt oder Überrest.<br />
Neu ist der Gedanke, dass Quellen die Vergangenheit spiegeln. Idealtypisch ist dies<br />
"objektiv" der Fall nur dann, wenn Quelle <strong>und</strong> Ereignis zusammenfallen<br />
(koinzidieren). Ein solcher "reiner" Spiegel ist aber eine Ausnahme. In der Regel<br />
stimmen Quelle <strong>und</strong> Ereignis zeitlich nicht überein, sondern weichen voneinander ab.<br />
Je größer die zeitliche Identität von Ereignis <strong>und</strong> Quelle (Koinzidenz), um so<br />
"objektiver" <strong>und</strong> authentischer ist sie.<br />
Inhaltliche Authentizität heißt: Die Quelle ist echt, verbürgt, zuverlässig, vollständig,<br />
sie spiegelt "objektiv" <strong>und</strong> spiegelt nichts vor - sie ist nicht fingiert, verfälscht,<br />
manipuliert, verkürzt. Dies bedeutet nicht, dass die Quelle unparteiisch ist, <strong>und</strong> dies<br />
sagt auch nichts über ihren Wahrheitsgehalt aus. Auch eine Propagandarede ist<br />
"objektiv" <strong>und</strong> authentisch, wenn sie verbürgt <strong>und</strong> so gehalten worden ist, wie sie<br />
vorliegt. Solche "Traditionsquellen" sind allerdings kritisch zu betrachten, da ihre<br />
Verfasser/innen - anders <strong>als</strong> bei "Überresten" - bestimmte Absichten (Intentionen)<br />
verfolgen. Sie legen sie häufig nicht offen oder vertreten bestimmte Ideen, Lehren,<br />
Meinungen u. a., die sie Zuhörern/innen, Lesern/innen oder der Nachwelt vermitteln<br />
wollen. Zur <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> insbesondere zur Quellenkritik gehört es zu prüfen, ob<br />
stichhaltig ist, was die Quelle spiegelt oder vorspiegelt. Nicht umsonst spricht man<br />
von einer Vorspiegelung f<strong>als</strong>cher Tatsachen.<br />
Neben der inhaltlichen Authentizität gibt es auch eine sinnliche Authentizität, die das<br />
Original oder ersatzweise das Faksimile der Quelle vermittelt. Anders <strong>als</strong> eine<br />
mittelalterliche Handschrift oder Urk<strong>und</strong>e hinterlässt jedoch die faksimilierte<br />
Wiedergabe einer zeitgeschichtlichen gedruckten Quelle in der Regel keinen visuellsinnlichen<br />
Eindruck ihrer Echtheit <strong>und</strong> Überlieferung. Auch ermöglicht sie keine<br />
Volltextsuche, die eine Digitalisierung voraussetzt.<br />
53 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />
Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage Darmstadt 1960. Seiten 37ff. teilte<br />
Quellen nach ihrem Aussagewert ein 1. nach Überresten (Seiten 38ff.), die unbeabsichtigt für die<br />
Nachwelt "übriggeblieben" sind; 2. nach Quellen im engeren Sinne (Seiten 61ff.), die bewusst zum<br />
Zwecke der Erinnerung überliefert sind; 3. nach Denkmälern (Seiten 50ff.), die zwischen Überresten<br />
<strong>und</strong> Quellen stehen <strong>und</strong> "monumentalen Charakters" sind. Zur Quellenkritik Seiten 131ff. Ernst<br />
Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode <strong>und</strong> der Geschichtsphilosophie. 3. <strong>und</strong> 4. Auflage<br />
Leipzig 1903 (1. Auflage 1889). Seiten 230ff. unterschied nur noch zwei Gruppen: 1. Überreste<br />
("unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben <strong>und</strong> vorhanden"); 2. Tradition ("was unmittelbar<br />
von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen <strong>und</strong> wiedergegeben durch menschliche<br />
Auffassung"). Diese Einteilung wurde von Gustav Wolf: Einführung in das Studium der neueren<br />
Geschichte. Berlin 1910. Seiten 17ff. übernommen <strong>und</strong> gilt noch heute <strong>als</strong> Standard.<br />
70
Quellen sind der Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird. Sie sind der<br />
Rohstoff für Historiker/innen <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler/innen, die sie verarbeiten:<br />
Geschichte darstellen, schreiben, kompilieren, interpretieren, nutzen, analysieren,<br />
zusammenfassen. Stützen sich historische Deutungen nicht oder zu wenig auf<br />
Quellen, so entstehen Geschichtsklitterungen <strong>und</strong> Geschichtslegenden, die<br />
Hochkonjunktur haben; denn sie beruhen auf Wunschdenken <strong>und</strong> sind deshalb weit<br />
verbreitet. Einmal in die Welt gesetzt, entfalten sie wie ein Gerücht ihre eigene<br />
Dynamik.<br />
Quellen konstituieren aus dem Rückblick Geschichte, Historiker/innen <strong>und</strong><br />
Sozialwissenschaftler/innen rekonstruieren sie. Sie sollten sich dabei stets auf<br />
Quellen <strong>und</strong> nicht nur - wie häufig der Fall - auf Sek<strong>und</strong>ärliteratur stützen. Zwar<br />
verkünden <strong>und</strong> überliefern Historiker/innen <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler/innen auch<br />
Geschichte, sie sind jedoch in ihren Darstellungen nicht mehr "objektiv", sondern<br />
subjektiv, weil die idealtypisch zeitlich identische oder doch zeitnahe<br />
Widerspiegelung von Ereignissen fehlt - kurzum die Authentizität der ursprünglichen<br />
Information <strong>und</strong> ihrer zeitlichen Nähe. Anders <strong>als</strong> Quellen sind<br />
Geschichtsdarstellungen daher Sek<strong>und</strong>ärliteratur. Sie ist kein Spiegel, der "objektiv",<br />
sondern ein Spiegelbild, das subjektiv ist.<br />
Nicht nur Geschichtsdarstellungen sind subjektiv, sondern auch historische<br />
Sachbücher <strong>und</strong> Schulbücher, die chronologisch oder systematisch geordnete Lehr-<br />
/Lernmaterialien interpretierenden Charakters enthalten. Deshalb veralten sie auch<br />
relativ bald. Quellen dagegen, sofern sie authentisch wiedergegeben sind, verbürgen<br />
Langlebigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit. Sie sind auch vielseitig einsetzbar <strong>und</strong> ein<br />
"offenes System", d. h. sie lassen sich ergänzen, neu befragen <strong>und</strong> neu deuten,<br />
während Geschichtsdarstellungen <strong>und</strong> Schulbücher ein subjektiv-kommentierendes<br />
"geschlossenes System" vermitteln <strong>und</strong> insoweit festgelegt ("festgeschrieben") sind.<br />
Dies gilt auch für Chroniken, die sich weitgehend an historischen Tatsachen<br />
orientieren. 54<br />
2.7. Die Dokumentenauswahl der D-Dok.: Ihr Anspruch, deutsche<br />
Geschichte <strong>und</strong> Politik zu spiegeln<br />
Die D-Dok. ist zwar ein Produkt des schnelllebigen Informationszeitalters, in dem sich<br />
das menschliche Wissen derzeit alle fünf Jahre verdoppelt. Da es sich jedoch um<br />
eine digitalisierte Sammlung gedruckter, vornehmlich staatlicher Quellen<br />
(Dokumente) handelt, in denen sich die historisch-politische Vergangenheit<br />
54 Vgl. dazu die von mir verfasste, von der B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung seit 1995<br />
herausgegebene, wiederholt nachgedruckte <strong>und</strong> aktualisierte <strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 - 2000. Bonn<br />
2000, zuletzt 2004.<br />
71
<strong>Deutschland</strong>s über den Tag hinaus spiegelt, sind sie langlebig <strong>und</strong> von bleibendem<br />
Wert - nicht der Vergänglichkeit <strong>und</strong> dem ständigen Wechsel von Schlagzeilen,<br />
Nachrichten, Kommentaren, Meinungen <strong>und</strong> anderen Tagesaktualitäten unterworfen.<br />
Diese Datenbank ist daher nicht auf Sand gebaut, sondern <strong>als</strong> Quellenbibliothek in<br />
festem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden verankert.<br />
Im Internet finden sich neben seriösen viele fragwürdige, unzuverlässige<br />
Informationen unterschiedlichster, auch privater Anbieter. Meistens fehlen Belege<br />
oder Angaben über die Provenienz der Informationen. Anders <strong>als</strong> das Internet enthält<br />
diese Datenbank authentische, vor allem staatliche <strong>und</strong> zwischenstaatliche Quellen,<br />
die ungekürzt wiedergegeben <strong>und</strong> mit exakten F<strong>und</strong>stellen versehen sind.<br />
Informationsschrott ist in der Datenbank nicht zu finden.<br />
Um die Authentizität der Quellen zu wahren, werden sie gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>als</strong><br />
Volltextversion digitalisiert, <strong>als</strong>o ungekürzt wiedergegeben. Wenn die<br />
Ursprungsquelle, die im Dokumentennachweis exakt belegt ist, in Ausnahmefällen<br />
nur einen Auszug ab- oder nachdruckt, so wird dies im Dokumententitel festgehalten.<br />
Ausgewertet werden gedruckte nationale <strong>und</strong> internationale, insbesondere amtliche<br />
Sammlungen: z.B. Gesetzblätter, Urk<strong>und</strong>en-, Vertrags- <strong>und</strong> Quellensammlungen,<br />
Veröffentlichungen von Parlamenten, Regierungen <strong>und</strong> Regierungsstellen, von<br />
Organisationen <strong>und</strong> Parteien, ferner auch Dokumentationen von<br />
Fachwissenschaftlern, in Zeitschriften, Zeitungen sowie von Fachverlagen <strong>und</strong><br />
Forschungseinrichtungen. Ungedruckte, <strong>als</strong>o unveröffentlichte archivalische Quellen<br />
sind nur ausnahmsweise aufgenommen worden.<br />
Digitalisiert vorliegende Dokumente sind, soweit ihre Ursprungsquelle<br />
vertrauenswürdig ist, aus dem Internet inhaltlich ungekürzt herunter geladen worden.<br />
Als Quellennachweis ist die genaue Internetadresse aufgeführt <strong>und</strong> danach in<br />
Klammern der Tag des Downloads vermerkt. Dies ist insbesondere seit 1998 möglich<br />
<strong>und</strong> erforderlich gewesen, da viele staatliche <strong>und</strong> nichtstaatliche, internationale <strong>und</strong><br />
nationale Institutionen <strong>und</strong> Organisationen ihre Dokumente nicht mehr gedruckt<br />
(analoge = Print- oder Papierversion), sondern nur noch im Internet veröffentlichen<br />
(digitale = elektronische Version). So ist z.B. das Bulletin des Presse- <strong>und</strong><br />
Informationsamts der B<strong>und</strong>esregierung derzeit nur online abrufbar <strong>und</strong> nach Ablauf<br />
eines Jahres offline auf CD-Rom verfügbar.<br />
Die Vielfalt der digitalisierten, vor allem staatlichen Quellen spiegelt sich in der<br />
Vielfalt ihrer Arten wider. Kurz zusammengefasst, <strong>als</strong>o nicht detailliert<br />
aufgeschlüsselt, gehören bei den Volltextquellen dazu: Urk<strong>und</strong>en, die Rechte <strong>und</strong><br />
Pflichten begründen, darunter völkerrechtliche <strong>und</strong> staatsrechtliche Verträge,<br />
Abkommen, Vereinbarungen, Satzungen <strong>und</strong> Erklärungen; innerstaatliche Akten <strong>und</strong><br />
Akte, Gesetze, Verordnungen, Anordnungen, Aufzeichnungen, Reden <strong>und</strong> Vorträge,<br />
72
Urteile, Beschlüsse, Programme, Protokolle, Schriftwechsel/Briefe, Aufsätze <strong>und</strong><br />
Artikel, Mitteilungen, Kommuniqués, Erklärungen, Berichte, Statistiken u.a.<br />
Die aufgenommenen eingemischten Bild- (FOT) - <strong>und</strong> Ton- (TON) Dokumente haben<br />
einen ergänzenden <strong>und</strong> veranschaulichenden Charakter. Sie müssen - den<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen der Dokumentation folgend - datierbar, folglich Original-Foto- <strong>und</strong><br />
Original-Ton-Dokumente sein. Sie ungekürzt, <strong>als</strong>o authentisch wiederzugeben, ist bei<br />
den Ton-Dokumenten in der Regel daran gescheitert, dass die im<br />
Dokumentennachweis belegten Ursprungsquellen Reden nur auszugsweise<br />
wiedergeben. Sofern eine digitalisierte Volltextversion in der D-Dok. vorliegt, kann<br />
das dazu gehörende Rede-Ton-Dokument daraufhin überprüft werden, welche<br />
Stellen weggelassen <strong>und</strong> ob die Stimmung <strong>und</strong> die Höhepunkte der Rede<br />
eingefangen worden sind.<br />
In Vorbereitung befinden sich probeweise vollständig digitalisierte B<strong>und</strong>estagsreden,<br />
die sowohl <strong>als</strong> Text- wie auch <strong>als</strong> MP3-Ton-Dokumente ungekürzt wiedergegeben<br />
werden sollen. Zu prüfen bleibt dann, ob der damit verb<strong>und</strong>ene hohe Speicherbedarf<br />
vertretbar ist <strong>und</strong> ob lange <strong>und</strong> zum Teil auch langatmige Reden didaktisch sinnvoll<br />
genutzt werden können.<br />
Wie bereits begründet, sind historisch-politische Quellen nicht neutral <strong>und</strong><br />
unparteiisch, auch manchmal unglaubwürdig, aber zum Zeitpunkt ihres Entstehens<br />
authentisch <strong>und</strong> "objektiv". Ihre Auswahl dagegen ist unbestritten subjektiv. Sind sie<br />
exakt datiert <strong>und</strong> authentisch wiedergegeben, so sind sie eine Konstante in der<br />
Erscheinungen Flucht. Wird z.B. ein Gesetz mit genauem Datum ungekürzt <strong>und</strong><br />
wortgetreu amtlich veröffentlicht, dann gilt es so lange <strong>als</strong> festgeschrieben <strong>und</strong><br />
textlich unverändert fort, bis es aufgehoben oder novelliert wird. So gesehen haben<br />
Quellen einen Ewigkeitswert - es sei denn, sie gehen verloren <strong>und</strong> sind damit nicht<br />
existent. Nur durch Quellen wird uns in der Gegenwart vermittelt <strong>und</strong> bewusst, was in<br />
der Vergangenheit war.<br />
Nicht alles, was aus der Vergangenheit überliefert ist, hat bleibenden Wert. Vieles<br />
gehört zum Treibsand der Geschichte. Quellen zu sammeln, zu sichten <strong>und</strong><br />
auszuwählen, hat unbestreitbar subjektiven Charakter. Warum <strong>und</strong> was schließlich<br />
aussortiert wird, hängt von den Fragestellungen, Präferenzen <strong>und</strong> oft auch<br />
unbewussten Einstellungen dessen ab, der ausgewählt <strong>und</strong> damit bewertet hat. Als<br />
Faustregel gilt: Je breiter <strong>und</strong> umfangreicher die Quellenauswahl ist, um so geringer<br />
wird ihr subjektiver Spielraum. Im Idealfall werden alle vorhandenen Quellen<br />
vollständig erfasst; dann liegt keine subjektive Auswahl vor, sondern eine objektiv<br />
komplette Sammlung. Dies ist jedoch selbst auf sehr begrenzten Politikfeldern<br />
objektiv unmöglich, schon gar nicht im Informationszeitalter mit seinen<br />
Massenmedien.<br />
73
Die D-Dok. hat erstrebt, möglichst viele der unter 2.2. aufgeführten, vor allem<br />
staatlichen Politikfelder zu erfassen <strong>und</strong> mit ihrer Themenvielfalt <strong>und</strong> ihren Facetten<br />
vorzustellen - alle gleichermaßen zu berücksichtigen, war a priori nicht realisierbar.<br />
Je breiter das Spektrum der Auswahl in den Bereichen Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Sozialem wurde, um so mehr war es erforderlich, die Quantität staatlicher Quellen zu<br />
reduzieren <strong>und</strong> sie nach qualitativen Schwerpunkten <strong>und</strong> nach ihrer Themenvielfalt<br />
zu streuen. Insoweit ist die Dokumentenauswahl, die der Herausgeber zu vertreten<br />
hat, subjektiv <strong>und</strong> fragmentarisch.<br />
Ihrem Charakter nach kann diese Datenbank immer nur in einem Zustand der<br />
Unfertigkeit sein - einem status nascendi. Es gibt keine Wissenschaft, die den<br />
immerwährenden Wechsel der Zeit so versinnbildlicht wie die Geschichte: Was heute<br />
ist, wird morgen gestern, <strong>und</strong> morgen wird heute sein. So entsteht aus allem, was<br />
geschieht, Vergangenheit, <strong>und</strong> mit den Fragen, die wir an sie stellen, ändern sich<br />
auch die Antworten auf sie. Deshalb können wir Geschichte immer nur im<br />
Nachhinein beurteilen. Mit ihr ändert sich der Blickwinkel, <strong>und</strong> daher sehen wir oft mit<br />
anderen Augen, was wir aus dem Rückblick sehen - heute anders <strong>als</strong> gestern oder<br />
morgen. Dies gilt um so mehr für zurückliegende Jahre <strong>und</strong> Jahrzehnte <strong>und</strong> für<br />
Quellen, die sich in ihnen spiegeln.<br />
Ihren Zielsetzungen nach beansprucht die D-Dok. dennoch, ein Spiegel zu sein, der<br />
aus historischer Retrospektive 60 Jahre deutscher, vornehmlich staatlicher <strong>und</strong><br />
zwischenstaatlicher Politik seit 1945 reflektiert. Ein Spiegel ist objektiv-intersubjektiv,<br />
ein Spiegelbild dagegen subjektiv-imaginär. Narziss hatte sich nicht in sich selbst,<br />
sondern in sein Spiegelbild verliebt (1.4.). Auch die Massenmedien sind Spiegelbilder<br />
<strong>und</strong> allenfalls Ersatzobjekte (1.5.).<br />
Wenn die D-Dok. eine Spiegelfunktion haben soll, dann darf sie auf <strong>Deutschland</strong> kein<br />
Bild projizieren, das dem Selbstverständnis der alten oder neuen BRD entstammt<br />
oder ihm entspricht. Deshalb wird die DDR unabhängig davon, wie sie einzuschätzen<br />
ist, gleichberechtigt neben der BRD dokumentiert; denn nicht nur die BRD, die<br />
beansprucht hat, <strong>Deutschland</strong> allein nach innen <strong>und</strong> nach außen zu vertreten, auch<br />
die DDR gehört zur deutschen Geschichte, zum deutschen Geschichtsbild <strong>und</strong> zur<br />
deutschen Identität - ob man dies wahrhaben will oder nicht. Dies gilt umgekehrt<br />
auch für das Selbstbild <strong>und</strong> das Selbstverständnis, das die ehemalige DDR von sich<br />
<strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong> hatte. Ein Spiegel reflektiert, aber er bewertet nicht. Dies bleibt dem<br />
Betrachter überlassen, der in den Spiegel schaut <strong>und</strong> daraus seine Schlüsse ziehen<br />
kann.<br />
Nichts ist objektiv-intersubjektiv so geeignet, eine Spiegelfunktion auszuüben, wie<br />
historisch-politische Quellen. Sie dokumentieren, was zum Zeitpunkt ihres<br />
Entstehens war; sie subjektiv auszuwählen, einzuordnen, zu deuten <strong>und</strong> zu<br />
bewerten, bleibt der historischen Retrospektive überantwortet. Diese Spiegelfunktion<br />
ist auch dann erfüllt, wenn es sich um keine idealtypisch "reine", "glatte" oder<br />
74
"neutrale" Widerspiegelung handelt, weil der Spiegel Mängel aufweist. Die<br />
Toleranzgrenze wäre allerdings überschritten, wenn die D-Dok. ein blinder, ein<br />
zerbrochener Spiegel oder gar ein Zerrspiegel wäre.<br />
Um die Volltextquellen authentisch mit Hervorhebungen wiedergeben zu können, ist<br />
das pdf-Format ausgewählt worden. Es gewährleistet, dass fette, gesperrte, kursive<br />
oder unterstrichene Textstellen auf dem Monitor angezeigt <strong>und</strong> auch ausgedruckt<br />
werden können.<br />
2.8. Die Spiegelfunktion der fördernden Umwelt in der primären<br />
Sozialisation: Die Entstehung des Selbst <strong>und</strong> des denkenden Ichs<br />
Der wiederholt zitierte Winnicott (1.4.) hat der Spiegelfunktion der „fördernden<br />
Umwelt" eine f<strong>und</strong>amentale Bedeutung für die frühkindliche Sozialisation<br />
beigemessen. „In der individuellen emotionalen Entwicklung", so betont er, „ist das<br />
Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels." Diese visuelle Interdependenz<br />
zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind deutet Winnicott, indem er auf Francis Bacon <strong>und</strong> René<br />
Descartes anspielt: „Ich bin der Meinung, eine Beziehung zwischen Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> Wahrnehmung herstellen zu können, indem ich einen historischen Prozeß im<br />
einzelnen annehme, der darauf beruht, selbst gesehen zu werden. Wenn ich sehe<br />
<strong>und</strong> gesehen werde, so bin ich. Jetzt kann ich mir erlauben, um mich herumzublicken<br />
<strong>und</strong> zu sehen. Ich sehe jetzt kreativ: Was ich betrachte, nehme ich auch wahr." 55<br />
An anderer Stelle schreibt Winnicott zur Entstehung des Ichs: Da jemand sieht <strong>und</strong><br />
begreift, dass „ich existiere", bekomme ich „(wie ein im Spiegel gesehenes Gesicht),<br />
den Beweis zurück, den ich brauche, daß ich <strong>als</strong> Wesen erkannt worden bin". Wenn<br />
der Zustand des ICH BIN hergestellt sei, dann schließe er ein, alles andere sei nicht<br />
ich. „Ich bin, ich existiere, ich sammle Erfahrungen <strong>und</strong> bereichere mich <strong>und</strong> habe<br />
eine introjektive <strong>und</strong> projektive Interaktion mit dem NICHT ICH, der wirklichen Welt<br />
der gemeinsamen Realität." 56<br />
Wie die Mutter ihr Kind spiegelt, entscheidet darüber, welches Selbst <strong>als</strong> Kern seiner<br />
körperlich-emotionalen Existenz entsteht. Ist ihr Blick lebendig, empathisch, liebevoll,<br />
so kann das Kind sein Körperselbst <strong>und</strong> schließlich sein wahres Selbst besetzen <strong>und</strong><br />
einen ges<strong>und</strong>en Narzissmus aufbauen – <strong>als</strong> in der Regel lebenslang prägende Basis<br />
seines Selbstwertgefühls <strong>und</strong> Selbstwertes. Ist der Blick der Mutter dagegen<br />
55 D. W. Winnicott: Die Spiegelfunktion von Mutter <strong>und</strong> Familie in der kindlichen Entwicklung. In: Vom<br />
Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1987. Seiten 128ff., zit. 128 <strong>und</strong> 131f. Vgl. dazu auch Martin Altmeyer:<br />
Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen 2000. Seite<br />
222f.<br />
56 D. W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. München 1965. Seite 79.<br />
75
fordernd, abweisend oder leer, so können sich die Pforten zu narzisstischen oder im<br />
Extremfall psychotischen Störungen öffnen – das Kind besetzt ein f<strong>als</strong>ches Selbst<br />
<strong>und</strong> konfiguriert zwangsweise einen pathologischen Narzissmus. Durch diese<br />
Verinnerlichung von Objektbeziehungen, die auf intersubjektiver Spiegelung oder<br />
Anerkennung beruhen, entsteht die seelische Gr<strong>und</strong>ausstattung des Ichs <strong>als</strong> höhere<br />
Instanz der Selbstvergewisserung.<br />
Der französische Philosoph, Mathematiker <strong>und</strong> Physiker René Descartes (1596-<br />
1650), auf den Winnicott u.a. anspielen, war ein Skeptiker, den methodische Zweifel<br />
plagten, ob nicht alle scheinbaren Gewissheiten auf Irrtümern <strong>und</strong><br />
Selbsttäuschungen beruhten. Von dem Gr<strong>und</strong>satz ausgehend, man müsse zunächst<br />
alles bezweifeln (de omnibus dubitandum est), folgert er, dass jemand existiert, der<br />
zweifelt <strong>und</strong> denkt. Die Gewissheit des denkenden Ichs könne daher nicht in Frage<br />
gestellt werden: cogito, ergo sum (Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich). Dabei trennt Descartes<br />
nicht den eigenen Geist vom eigenen Körper: "Jetzt aber weiß ich nicht nur, daß ich,<br />
sofern ich ein denkendes Ding bin, existiere, sondern es bietet sich mir außerdem<br />
auch eine gewisse Idee einer körperlichen Natur dar; <strong>und</strong> so kommt es, daß ich<br />
zweifle, ob die denkende Natur, die in mir ist, oder die vielmehr ich selbst bin, von<br />
jener körperlichen Natur verschieden ist, oder ob beide dasselbe sind." 57 Geist <strong>und</strong><br />
Körper bilden nach Descartes nicht nur eine funktionelle, sondern eine essentielle<br />
Einheit, nämlich die "Person". 58 Nur dadurch sind Empfindungen <strong>und</strong> Gefühle<br />
möglich.<br />
Die Selbstgewissheit des denkenden <strong>und</strong> fühlenden Ichs ist nach Descartes<br />
unbezweifelbar. Das menschliche Subjekt <strong>als</strong> denkendes Ich mit Verstand bzw.<br />
Vernunft begabt, ist das unerschütterliche F<strong>und</strong>ament des Wissens <strong>und</strong> damit auch<br />
das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie. Sie beginnt mit Descartes, denn er hat sie<br />
begründet.<br />
Das Selbst <strong>als</strong> körperlich-emotionaler Bereich <strong>und</strong> das Ich <strong>als</strong> vornehmlich<br />
denkende-rationale Instanz werden oft miteinander verwechselt, obwohl sie sich<br />
wesentlich unterscheiden. In der Selbst- <strong>und</strong> Ich-Psychologie ist das intrapsychische<br />
Selbst ein Bestandteil des interpsychischen Ichs, das darüber hinaus noch weitere<br />
Repräsentanzen enthält. 59 "Das Ich ist nicht das Selbst, wenn es auch der Teil der<br />
57<br />
René Descartes: Meditationen über die Gr<strong>und</strong>lagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden<br />
<strong>und</strong> Erwiderungen. Hamburg 1954. Seite 49.<br />
58<br />
Dominik Perler: René Descartes. München 1998. Seiten 213, 215f., 219; Andreas Kemmerling:<br />
Ideen des Ichs. Studien zu Descartes' Philosophie. Frankfurt a. M. 1996. Seiten 77ff., 102. - Zu den<br />
physiologischen <strong>und</strong> anatomischen Studien siehe René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie<br />
Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664<br />
übersetzt <strong>und</strong> mit einer historischen Einleitung <strong>und</strong> Anmerkungen versehen von Karl E. Rothschuh.<br />
Heidelberg 1969.<br />
59<br />
Hierzu gr<strong>und</strong>legend Heinz Hartmann: Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie.<br />
Stuttgart 1972. - Hartmann definiert das Selbst <strong>als</strong> "eigene Person" im Gegensatz zum Objekt <strong>und</strong> den<br />
Narzissmus <strong>als</strong> libidinöse Besetzung des Selbst; vgl. Seiten 132, 139 u.a. Zu den Ich-Funktionen <strong>und</strong><br />
76
Persönlichkeit ist, der das Selbst wahrnimmt. In Wirklichkeit stellt das Ich das<br />
Selbstbewußtsein oder das Bewußtsein des Selbst dar: Ich fühle (nehme wahr), daß<br />
mein Selbst wütend ist. Descartes hatte recht, <strong>als</strong> er sagte: 'Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich'<br />
(wobei die Betonung auf dem Ich liegt). Er hätte unrecht, wenn er glaubte, das<br />
Denken bestimme das Selbst. Von Computern mag man behaupten, sie denken; was<br />
sie nicht können, ist fühlen." 60 Erst das Ich ist fähig, historische Prozesse aus der<br />
Retrospektive aufzuarbeiten.<br />
2.9. Sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong> identitätsstiftende Sozialisation: Ergänzende<br />
Spiegelfunktionen durch historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />
Quellen<br />
Die identitätsstiftende Spiegelfunktion oder Anerkennung der fördernden Umwelt<br />
während der primären Sozialisation ist in der Regel so prägend, dass sie auch das<br />
Jugend- <strong>und</strong> Erwachsenenalter bestimmt <strong>und</strong> meistens lebenslang fortdauert. Damit<br />
verglichen kann die Spiegelfunktion von Quellen nur eine sehr kleine <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äre<br />
sein - ergänzend, nachträglich aufklärend <strong>und</strong> erhellend.<br />
Wenn ihre Möglichkeiten a posteriori auch begrenzt sind, so sollten sie a priori nicht<br />
unterschätzt werden. Dies hängt wesentlich davon ab, ob <strong>und</strong> inwieweit<br />
Multiplikatoren, <strong>als</strong>o vor allem Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, in der Lage sind, "fördernde<br />
Umwelt" zu sein. In Einzelfällen bestehen sogar Chancen, die historische, die<br />
familiäre <strong>und</strong> die damit verknüpfte individuelle Vergangenheit mit ihren schwarzen<br />
Löchern zu rekonstruieren, sich ihrer zu erinnern <strong>und</strong> sie aufzuarbeiten, auch bei den<br />
Multiplikatoren selbst.<br />
Auf Spiegelung, Anerkennung, Echo <strong>und</strong> Lob sind nicht nur Schüler/innen, sondern<br />
auch Erwachsene zur Regulation ihres Selbstwertgefühls <strong>und</strong> zur Aufrechterhaltung<br />
ihres narzisstischen Gleichgewichts angewiesen. Da die Datenbank keine fertigen<br />
Antworten <strong>und</strong> Ergebnisse liefert, sondern Quellen <strong>als</strong> Rohstoff zur Verfügung stellt,<br />
wird der/die Benutzer/in gefördert <strong>und</strong> gefordert, selbstständig zu recherchieren <strong>und</strong><br />
selbstbestimmt zu lernen. Eigene Leistungen <strong>und</strong> darauf beruhende<br />
Erfolgserlebnisse aktivieren <strong>und</strong> stabilisieren das Selbst, auf dem das Ich aufbaut.<br />
Dadurch steigen Ich-Stärke <strong>und</strong> Selbstbewusstsein, während passivierende Gefühle<br />
der Hilflosigkeit oder gar Ohnmacht abnehmen. Dies gilt auch für Multiplikatoren, vor<br />
allem ältere, die davor zurückscheuen, quellen- <strong>und</strong> computergestützten Unterricht<br />
zu wagen. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur darum, den Intellekt zu motivieren<br />
seinen Fähigkeiten zur Neutralisierung von Trieben vgl. Seiten 120ff., 133ff. Siehe auch Robert<br />
Kegan: Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte <strong>und</strong> Krisen im menschlichen Leben. München<br />
1986. Seiten 22ff. (Theorien der Ich-Entwicklung)<br />
60 Alexander Lowen: Narzißmus. Die Verleugnung des wahren Selbst. München 1984. Seite 41.<br />
77
(Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>), sondern auch darum, das zum Ich gehörende körperlichemotionale<br />
Selbst zu aktivieren (Stufe II). Dann können durch schwarze Löcher<br />
verschlungene oder vergeudete Energien freigesetzt werden <strong>und</strong> sich kreative <strong>und</strong><br />
sublimierende Fähigkeiten des Subjekts entfalten.<br />
Anders <strong>als</strong> soziale Rollenfunktionen, die normendefiniert <strong>und</strong> -abhängig sind,<br />
gehören die Fragen "Wer bin ich?", "Woher komme ich?" <strong>und</strong> "Wohin gehöre ich? in<br />
den Gesamtkomplex kollektiver <strong>und</strong> individueller Identität. 61 Ich-Identität entwickelt<br />
sich in einem sinnstiftenden, oft schmerzlichen Prozess der Selbsterkenntnis, den<br />
Gefühle der Selbstentfremdung auslösen können, z.B. in Lebenskrisen <strong>und</strong><br />
Konfliktsituationen, bei Verlust- <strong>und</strong> Todesfällen, von denen niemand verschont<br />
bleibt. Identität gewährleistet, "im Wechsel der biographischen Zustände <strong>und</strong> über<br />
die verschiedenen Positionen im sozialen Raum hinweg Kontinuität <strong>und</strong> Konsistenz<br />
zu sichern. Ihre Identität behauptet eine Person gleichzeitig für sich <strong>und</strong> gegenüber<br />
anderen; die Selbstidentifikation, das Sich-Unterscheiden-von-Anderen, muß von<br />
diesen anderen auch anerkannt werden." 62 Ich-Identität entsteht durch Geschichte<br />
<strong>und</strong> die mit ihr verknüpfte eigene Biografie. Geschichtsverlust löst daher<br />
Identitätskrisen aus, die bis zum Identitätsverlust <strong>und</strong> zur Depersonalisation des Ichs<br />
gehen können.<br />
Gibt es neben Ich-Identitäten überhaupt kollektive <strong>und</strong> nationale Identitäten? Hält die<br />
vom Historiker Lasch vertretene These vom kollektiven "Zeitalter des Narzißmus"<br />
geschichtlicher Überprüfung stand? (1.5.) Oder die von Ziehe begründete<br />
Entwicklung eines Neuen Sozialisationstypus (NST)? Ist nach 1945 eine neue<br />
deutsche Identität entstanden? Gehört die in der DDR vertretene Auffassung, sie sei<br />
der erste "Arbeiter- <strong>und</strong> Bauernstaat" in der deutschen Geschichte, wofür sich in den<br />
Quellen viele Belege finden, zu einer ideologischen, aufoktroyierten oder<br />
nachweisbaren Identität? Entsteht neben der nationalen allmählich eine neue<br />
europäische Identität?<br />
Für die Benutzer/innen der Quellendatenbank wichtiger sind Fragen nach der<br />
persönlichen Identität <strong>und</strong> ihre Widerspiegelung in der Nachkriegsgeschichte <strong>und</strong><br />
ihrer Familienbiographie (Stufe II der <strong>Quellenarbeit</strong>). Hier lassen sich Schnittstellen<br />
nachweisen: Wie hat meine Familie, seien es die Eltern-, seien es die Großeltern, die<br />
Folgen des Nation<strong>als</strong>ozialismus <strong>und</strong> des Zweiten Weltkriegs verarbeitet? Hat sie<br />
familiäre Verstrickungen verschwiegen, abgewehrt oder sich ihnen gestellt? 63 Wie hat<br />
61<br />
Zur Biografiearbeit Tony Ryan, Rodger Walker: Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern <strong>und</strong><br />
Jugendlichen. Weinheim <strong>und</strong> Basel 1997.<br />
62<br />
Entwicklung des Ichs. Herausgegeben von Rainer Döbert, Jürgen Habermas <strong>und</strong> Gertrud Nunner-<br />
Winkler. Königstein/Ts. 1980. Seiten 9f.<br />
63<br />
Darüber gibt es eine umfangreiche psychologisch, zum Teil auch historisch orientierte Literatur über<br />
Nachkömmlinge von NS-Opfern <strong>und</strong> NS-Tätern: Helen Epstein: Die Kinder des Holocaust. Gespräche<br />
mit Söhnen <strong>und</strong> Töchtern von Überlebenden. München 1987; Peter Sichrovsky: Schuldig geboren.<br />
Kinder aus Nazifamilien. Köln 1987; Alexander <strong>und</strong> Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu<br />
trauern. Gr<strong>und</strong>lagen kollektiven Verhaltens. München 1967; Anita Eckstaedt: Nation<strong>als</strong>ozialismus in<br />
78
sie auf den Verlust der Heimat durch Vertreibung, Flucht oder Deportation reagiert?<br />
Wie auf die Jahre der Besatzung, des Hungerns, der Kälte <strong>und</strong> der materiellen Not,<br />
die der heutigen jungen Generation nur vom Hörensagen bekannt sind? Warum<br />
befinde ich mich <strong>als</strong> Migrantenkind in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> welche familiären,<br />
persönlichen, schulischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Nach- <strong>und</strong> Vorteile ergeben sich<br />
daraus? Warum kann ich trotz guter oder gleichwertiger schulischen Leistungen<br />
anders <strong>als</strong> Mitschüler/innen nicht das Gymnasium besuchen <strong>und</strong> studieren, obwohl<br />
verfassungsrechtlich nach Artikel 3 Gr<strong>und</strong>gesetz die Gleichheit vor dem Gesetz<br />
festgeschrieben ist? (1.6.) Welche Folgen hatte für mich <strong>als</strong> Bürger/in der alten BRD<br />
oder der ehemaligen DDR die deutsche Einheit, die völkerrechtlich gelöst, aber im<br />
Innern noch lange nicht vollendet ist? Immerhin vermisst nach einer repräsentativen<br />
Umfrage vom 29. <strong>und</strong> 30 August 2003 jeder dritte Ostdeutsche den DDR-Alltag<br />
(34%) <strong>und</strong> fast jeder vierte (23%) teilweise, so dass von einer "Ostalgie" <strong>als</strong><br />
Verklärung des SED-Staates gesprochen werden kann. 64 Kurzum: Sich mit<br />
Geschichte zu befassen, befähigt dazu, zu den eigenen Wurzeln <strong>und</strong> Quellen<br />
zurückzufinden <strong>und</strong> sie offen zu legen. Dies kann Energien freisetzen, die schwarze<br />
Löcher verschlungen haben, <strong>und</strong> Weichen für neue (alternative?) Lebensweisen<br />
stellen.<br />
Die Datenbank stellt Quellen zur Verfügung <strong>und</strong> spiegelt Geschichte <strong>und</strong> Politik<br />
wider, ohne fertige Antworten auf Fragen zu geben, die sie aufwerfen. Dies bleibt<br />
einem - oft auch schmerzlichen - Selbstfindungs- oder Selbstvergewisserungsprozess<br />
überlassen. So gesehen können Geschichte <strong>und</strong> Politik kreativ<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> zur Selbstentfaltung genutzt werden. Ohne Geschichte ist Ich-<br />
Identität nicht denkbar.<br />
Artikel 2 Absatz 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes lautet: "Jeder hat das Recht auf die freie<br />
Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt <strong>und</strong> nicht<br />
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Darauf wird<br />
bei den didaktischen Zielsetzungen <strong>und</strong> bei der Vorstellung der Neuen Politischen<br />
Bildung (NPB) näher eingegangen ( 4.2.-1. <strong>und</strong> -2. <strong>und</strong> 6.4.).<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen der sek<strong>und</strong>ären historischen Spiegelfunktion sind<br />
erschöpft dort, wo Einstellungen <strong>und</strong> Vorurteile so tief im Charakter wurzeln, dass sie<br />
der "zweiten Generation". Frankfurt a. M. 1989 (Traumatisierungen durch Kriegs- <strong>und</strong><br />
Nachkriegserlebnisse: Seiten 27ff.); zur Tochter eines SS-Offiziers Dörte von Westernhagen: Die<br />
Kinder der Täter. Das Dritte Reich <strong>und</strong> die Generation danach. München 1991. - Zu Gr<strong>und</strong>satzfragen:<br />
Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte <strong>und</strong> Psychoanalyse. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974.<br />
64 AP-Meldung vom 3. September 2003 nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag des "stern". Befragt<br />
wurden 802 repräsentativ ausgesuchte B<strong>und</strong>esbürger in Ost <strong>und</strong> West. - Zu den Folgen der<br />
deutschen Einheit <strong>und</strong> des "real existierenden Sozialismus": Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau.<br />
Ein Psychogramm der DDR. München 1992; Derselbe: Das gestürzte Volk oder die unglückliche<br />
Einheit. Berlin 1991; aus kirchlicher Sicht Heiner Keupp: Psychologisches Handeln in der<br />
Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven. München 1994. Seiten 128ff., 133ff. über<br />
Folgen der deutschen Einheit.<br />
79
Persönlichkeitslücken füllen <strong>und</strong> insoweit eine Selbsterhaltungsfunktion ausüben.<br />
Radikale Ideologien, weltanschaulich verbrämt, können so <strong>als</strong> intrapsychische<br />
Selbstobjekte integriert <strong>und</strong> mit narzisstischer Libido besetzt werden. Die damit<br />
entstandene brüchige Ich-Identität muss zwanghaft oder fanatisch aufrechterhalten<br />
werden, um Tendenzen der Selbstauflösung (Fraktionierung), des Selbstverlustes<br />
(Depression) <strong>und</strong> zuletzt des Suizids oder Amoks abzuwehren. Solche politisch links-<br />
oder rechtsextremistische Konfigurationen des Größen-Selbst, die oft mit Rache-,<br />
Vernichtungs- oder Allmachtsphantasien sowie dogmatischen Glaubensgewissheiten<br />
einhergehen, sind meistens resistent gegen historische Aufklärungs- <strong>und</strong><br />
Überzeugungsarbeit, oft auch gegenüber langjähriger Psychotherapie. Politische<br />
Bildung ist insoweit a priori zum Scheitern verurteilt, kann sogar dazu führen,<br />
Extremismus <strong>als</strong> Martyrium zu heroisieren.<br />
2.10. Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo sum): Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong><br />
Leitmotiv der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.<br />
Es ist der Endzweck dieser Quellendatenbank, jungen <strong>und</strong> alten Menschen ein<br />
weitverzweigtes Übungs- <strong>und</strong> Lernfeld zu bieten, damit sie den Herausforderungen<br />
des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen sind. Wenn sie zu lernen<br />
bereit sind, sich die Nachkriegsgeschichte zu vergegenwärtigen <strong>und</strong> sich in ihr zu<br />
spiegeln, können sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen <strong>und</strong> sich in ihr<br />
wiederfinden. So gesehen ist Geschichte kein Ensemble von Daten, Ereignissen,<br />
Normen <strong>und</strong> Geschehnissen in ihrer Kontinuität oder Diskontinuität, sondern die in<br />
der Gegenwart Gestalt gewordene Vergangenheit des kreativ wahrnehmenden Ichs.<br />
Wer sich so mit Geschichte <strong>und</strong> Politik auseinandersetzt, erfährt sehr viel über<br />
<strong>Deutschland</strong>, Europa <strong>und</strong> ihre Außenbeziehungen, über sein Volk <strong>und</strong> seine<br />
Nachbarvölker (Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>), aber darüber hinaus auch über sich selbst<br />
<strong>und</strong> seine Familie (Stufe II der <strong>Quellenarbeit</strong>). Oft können sich dann erst die Pforten<br />
zu Lebenswelten öffnen, die schwarze Löcher verschlungen hatten.<br />
Statt unkritisch an alten persönlichen, ideologischen oder politischen Einstellungen<br />
<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen Lebensgewohnheiten festzuhalten, ermöglicht die<br />
Demokratie den Menschen, vielfältige Informationsquellen zu nutzen, um sich von<br />
Fesseln zu befreien, die ihnen andere oder sie sich selbst angelegt haben. Sich<br />
selbst entfalten kann nur, wer in einer freien <strong>und</strong> offenen Gesellschaft lebt <strong>und</strong> die<br />
Chancen nutzt, die sie bietet - nicht theoretisch-abstrakt, sondern praktisch-konkret.<br />
Aber auch umgekehrt: Mündige Bürger, die selbstbestimmt sind, braucht die<br />
Demokratie, damit sie leben <strong>und</strong> nicht nur überleben kann.<br />
Im Informationszeitalter ist nichts so beständig wie der Wandel. Er allein ist konstant<br />
<strong>und</strong> zugleich variabel. Dieser Widerspruch in sich ist nur durch <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong><br />
auflösbar. Lebenslanges <strong>Lernen</strong> - so heißt das eherne Gesetz, das für alle gilt: für<br />
80
Jung <strong>und</strong> Alt, für Arm <strong>und</strong> Reich, für Kranke, Behinderte <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>e, für<br />
Berufstätige, Arbeitslose, Rentner <strong>und</strong> Pensionäre. Wer nicht lernt oder zu lernen<br />
vermag, der rostet, erstarrt, vegetiert dahin <strong>und</strong> stirbt - nicht gleichbedeutend mit<br />
dem physischen Tod, aber mit dem geistigen. Wer nur in Schule <strong>und</strong> Beruf lernt,<br />
vergreist schon in jungen <strong>und</strong> mittleren Lebensjahren.<br />
Wer zu lernen bereit <strong>und</strong> imstande ist, kann auch im Alter trotz ges<strong>und</strong>heitlicher<br />
Beschwerden selbstbestimmt statt fremdbestimmt leben, solange seine geistigen<br />
Fähigkeiten ihm ermöglichen, Informationen zu beschaffen, zu verarbeiten <strong>und</strong> sie<br />
<strong>als</strong> Wissen zu nutzen. "Es ist ja keineswegs so, daß im hohen Alter mit der<br />
körperlichen Kraft die geistige nachlassen <strong>und</strong> erlahmen muß. Im Gegenteil, es sind<br />
sehr viele Fälle bekannt, in denen gerade im hohen Alter ein Höchstmaß an geistiger<br />
Leistungsfähigkeit erreicht wurde. Hier zeigt sich übrigens auch, daß der Mensch<br />
nicht allein mit biologischen Maßstäben gemessen werden kann." 65<br />
In Abänderung des cartesischen Leitspruchs "Ich denke, <strong>als</strong>o bin ich" (cogito, ergo<br />
sum) <strong>und</strong> übertragen auf das Informationszeitalter lautet das Leitmotiv der<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum). Descartes<br />
ging es darum, die Selbstgewissheit des denkenden Ichs zu begründen. Deshalb<br />
hatte er alles menschliche Wissen bezweifelt <strong>und</strong> methodisch darauf hin überprüft,<br />
ob es wahr oder f<strong>als</strong>ch, gewiss oder ungewiss sei. Das Ich, das solche Aussagen<br />
macht, so Descartes, ist die menschliche Basis allen Zweifelns <strong>und</strong> Wissens <strong>und</strong><br />
deshalb unabhängig davon, ob seine Schlussfolgerungen, die es zieht, richtig oder<br />
f<strong>als</strong>ch sind (2.8.). Die "Person" ist kein Konglomerat aus Geist <strong>und</strong> Körper, sondern<br />
eine essentielle <strong>und</strong> funktionale Einheit aus beiden, die den emotionalen Bereich<br />
(Empfindungen) mit einschließt. Die Rückwendung des Menschen auf sich selbst<br />
ermöglicht, die eigene Leistungsfähigkeit bis an die Grenzen dessen, was erreichbar<br />
<strong>und</strong> unerreichbar ist, auszuloten. Die Vorgehensmethode, deren sich Descartes<br />
bedient, ist die Reflexion, die Rückwendung auf sich selbst.<br />
Im Informationszeitalter, unter gr<strong>und</strong>legend geänderten Lebensverhältnissen <strong>und</strong><br />
Lebenserwartungen, geht es weniger um die Selbstvergewisserung des Ichs,<br />
sondern darum, das Ich durch <strong>Lernen</strong>, das die Reflexion mit einschließt, lebenslang<br />
zu trainieren <strong>und</strong> so fit bis in das hohe Alter zu halten. Erst dann kann das jeweilige<br />
Ich, zu dem auch das körperlich-emotionale Selbst gehört, das Potenzial eigener<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten ausschöpfen - bis zum Lebensende.<br />
Zeitgeschichte, die auf Quellen menschlicher Existenz beruht, kann dazu verhelfen:<br />
Nicht durch Auswendiglernen von Namen, Daten, Texten, Ereignissen, wie früher<br />
<strong>und</strong> zum Teil auch heute noch in Schulen üblich, nicht durch historisches Wissen<br />
allein, auch noch nicht durch Deuten geschichtlicher Zusammenhänge, sondern in<br />
65<br />
Karl Bednarik: Die Lerngesellschaft. Das Kind von heute - der Mensch von morgen. Wien/München<br />
1966. Seiten 81f.<br />
81
der Vergegenwärtigung oder Spiegelung der Vergangenheit im kreativ<br />
wahrnehmenden Ich. Geschichte ist nicht tot, sie lebt in uns fort.<br />
Sich in der Informationsgesellschaft nach Artikel 2 Absatz 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
entfalten heißt: Sich mit sich selbst auseinandersetzen, sein Leben nach eigenen<br />
Erfahrungen zu gestalten <strong>und</strong> dabei alle Informationen zu nutzen, die zuverlässige<br />
<strong>und</strong> vielfältige Informationsquellen zur Verfügung stellen. So gesehen erweist <strong>und</strong><br />
beweist sich Leben <strong>als</strong> ein ununterbrochener Lernprozess, der mit dem Tod endet.<br />
Die D-Dok. bietet dazu historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen an,<br />
die thematisch breit gestreut <strong>und</strong> fünfsprachig sind. Da <strong>Quellenarbeit</strong> das<br />
lebenslange <strong>Lernen</strong> nicht nur fördern will, sondern auch fordert, heißt der Leitspruch:<br />
"Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum).<br />
Dieses Leitmotiv richtet sich gegen den alltäglichen Narzissmus des Konsums (u. a.<br />
des Fernsehens), des Geldes <strong>und</strong> des "fertigen" Wissens: Consumo, ergo sum. Es<br />
ist der Tanz um das goldene Kalb im Informationszeitalter. Wer nichts hat, muss<br />
kompensieren, um imponieren zu können <strong>und</strong> keine Null zu sein: durch körperliche<br />
Stärke, "Schönheit", Attraktivität, Sexualität, Alkohol, Drogen u. ä., durch<br />
Extremismus, Aggression, Gewalt, Wut oder Hass - bei Jungen meist nach außen<br />
gerichtet, bei Mädchen eher nach innen gewendet. So endet der Amoklauf des<br />
Geldes <strong>und</strong> des Konsums oft im Amoklauf gegen das eigene oder ein fremdes<br />
Selbst.<br />
Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />
an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen<br />
(<strong>Quellenarbeit</strong>) gelingt, verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />
Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />
82
3. Schranken, Kritik, Voraussetzungen <strong>und</strong> Modelle der<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong><br />
Hürden - Didaktikerstreit - Lehrpläne <strong>und</strong> Frontalunterricht<br />
- Drei Vorschläge<br />
Wer quellenorientiert, computergestützt <strong>und</strong> damit zugleich interdisziplinär<br />
unterrichten oder lernen will, steht vor drei Hürden. Sie sind zu überwinden, wenn Sie<br />
sich mit den in Ihnen verinnerlichten Barrieren <strong>und</strong> Abwehrhaltungen gegen<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>, gegen den Computereinsatz in Hochschulen <strong>und</strong> Schulen sowie<br />
gegen interdisziplinäres Arbeiten auseinandersetzen. Ein erster Schritt dazu ist,<br />
Vorbehalte <strong>und</strong> Einwände kennen zu lernen <strong>und</strong> ihr Für <strong>und</strong> Wider - Pro <strong>und</strong> Kontra -<br />
abzuwägen.<br />
3.1. Die erste Hürde: <strong>Quellenarbeit</strong> in <strong>Deutschland</strong> - ein kritischer<br />
Rückblick<br />
Trotz früher aufklärerischer Ideen <strong>und</strong> Initiativen, die bereits vor über 200 Jahren<br />
forderten, Quellen im Unterricht einzusetzen <strong>und</strong> damit kritisches Denken zu fördern,<br />
blieb in <strong>Deutschland</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> verpönt <strong>und</strong> instrumentalisiert. 66 Der Stoff, aus<br />
dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird, sollte allenfalls dazu dienen, den<br />
Lehrervortrag zu veranschaulichen oder Schulbuchmeinungen zu illustrieren.<br />
Noch in der Weimarer Republik galt ein Geschichtsunterricht, der nur auf Quellen<br />
aufbaut, <strong>als</strong> "dilettantischer Unverstand". 67 Dass in der NS-Zeit alle Quellen<br />
verdächtig waren, die nicht in die nation<strong>als</strong>ozialistische Ideologie passten, versteht<br />
sich von selbst. Hauptquelle wurde Hitlers "Mein Kampf", das Vorbild sein<br />
Geschichtslehrer an der Linzer Re<strong>als</strong>chule; denn er verstand "nicht nur zu fesseln,<br />
sondern wahrhaft mitzureißen". 68<br />
66 Zur Geschichte des Quelleneinsatzes vgl. Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die<br />
schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2000. Seiten 74ff.; Gerhard Schneider<br />
(Hg.): Die Quelle im Geschichtsunterricht. Beiträge aus Theorie <strong>und</strong> Praxis. Donauwörth 1975. Seiten<br />
24ff. Quellensammlungen <strong>und</strong> Materialien für den Geschichtsunterricht sind auf den Seiten 260 - 263<br />
zusammengestellt.<br />
67 Pandel: Quelleninterpretation. Seite 82 (dort ist allerdings kein überprüfbarer Beleg angegeben).<br />
68 Schneider: Die Quelle...Seiten 40ff., zit. 42; Pandel: Quelleninterpretation. Seiten 84ff., zit. 85.<br />
83
Unter umgekehrten Vorzeichen erhielten Quellen in der DDR den Auftrag,<br />
"Parteilichkeit" im Sinne der SED zu demonstrieren. Quellen hatten daher einen<br />
"Klassencharakter" mit der Folge, dass nicht mehr zwischen Quellen <strong>und</strong><br />
Darstellungen unterschieden wurde. Soweit sie "von fortschrittlichen Kräften"<br />
stammten, galt es, sie "entsprechend den Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungszielen unserer<br />
sozialistischen Schule" auszuwählen. 69 Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer mussten daher in der<br />
DDR ihre "Fortschrittlichkeit" <strong>und</strong> "Zuverlässigkeit" mit Quellenzitaten beweisen,<br />
offenbaren oder vorspiegeln.<br />
In der BRD orientierte sich der Geschichtsunterricht bis in die 70er Jahre in der<br />
Regel an der "Lehrerpersönlichkeit", an seinem "Geschichtsbild" <strong>und</strong> an seiner<br />
"Geschichtserzählung" - mit anderen Worten: an der im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
vorherrschenden Leitdoktrin. 70 Woher das "Geschichtsbild" <strong>und</strong> die<br />
"Geschichtserzählung" stammten, wurde nicht überprüft <strong>und</strong> schon gar nicht<br />
hinterfragt.<br />
So beeinflusste z. B. der berühmte Pädagoge Erich Weniger (1894 - 1961) noch über<br />
seinen Tod hinaus lange die Didaktik <strong>und</strong> den Unterricht an deutschen Schulen: "Der<br />
Geschichtslehrer gibt sein Geschichtsbild <strong>und</strong> wird daher in erster Linie zu erzählen<br />
haben. Der Bericht ist die Urform der Geschichte <strong>und</strong> der geschichtlichen<br />
Unterweisung .... Quellenbenutzung <strong>und</strong> die Lektüre einzelner Abschnitte aus den<br />
Werken großer Historiker dienen der Veranschaulichung. Im Mittelpunkt aber steht<br />
der lebendige Vortrag des Geschichtslehrers." 71 Bedauerlich ist, dass Weniger, der<br />
sich große Verdienste um die politische Bildung erworben hat, seine altväterischen<br />
Lehren <strong>als</strong> "neue Wege im Geschichtsunterricht"(1949) plakatierte <strong>und</strong> damit der<br />
soeben gegründeten BRD Hypotheken der Vergangenheit aufbürdete, die bis heute<br />
im Geschichtsunterricht <strong>als</strong> Altlasten nicht getilgt sind.<br />
Immerhin verdammte Weniger "Quellenbenutzung" nicht gr<strong>und</strong>sätzlich, sofern sie<br />
den Lehrervortrag ergänzten <strong>und</strong> damit schmückten oder bestätigten (affirmierten).<br />
Hans Ebeling, Schulrat <strong>und</strong> Verfasser einer wiederholt aufgelegten Methodik des<br />
Geschichtsunterrichts, die "Objektivität <strong>als</strong> höchstes Ziel" forderte, sah in Quellen<br />
69 So Bernhard Stohr: Methodik des Geschichtsunterrichts. Probleme der methodischen Gestaltung<br />
des Geschichtsunterrichts in der allgemeinbildenden polytechnischen Oberstufe. Berlin 1968. Seiten<br />
266, 267. Vgl. dazu auch Hans-Dieter Schmid: Geschichtsunterricht in der DDR. Eine Einführung.<br />
Stuttgart 1979.<br />
70 Dazu Schneider: Die Quelle...Seiten 20f.: Der Lehrer trägt vor, fragt den Geschichtsstoff ab oder<br />
lässt nacherzählen, was "hängen" geblieben ist.<br />
71 Erich Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht. 3. Auflage Frankfurt a. M. 1965. Seite 70. -<br />
Horst Alfred Kuss: Erich Weniger <strong>und</strong> die "neuen Wege" im Geschichtsunterricht. Überlegungen zur<br />
Theorie <strong>und</strong> Rezeption einer politisch orientierten Geschichtsdidaktik. In: GWU 39, 1988. Seiten 476 -<br />
495 beklagt zwar, dass die "konservativen", staatsbejahenden Inhalte rezipiert worden seien, nicht<br />
jedoch "progressive" Anteile, ohne sie zu nennen (Seite 488). Bedenklich sind Begriffe wie<br />
"Volksgemeinschaft" <strong>und</strong> die bei Weniger auf staatsbürgerliche Erziehung reduzierte politische<br />
Bildung.<br />
84
einen "nur illustrativen Wert", der aber mitunter "recht hoch" sein könne. 72 Was er<br />
unter Quelle verstand, ist bei Ebeling wie bei zeitgenössischen Schulpädagogen<br />
verschwommen <strong>und</strong> unreflektiert geblieben.<br />
Nicht nur im Unterricht, auch in Schulbüchern hatten Quellen eine illustrierende<br />
Funktion: Sie sollten Schulbuchmeinungen untermauern <strong>und</strong> damit "objektivieren".<br />
Oft handelte es sich um Großzitate, die nicht belegt <strong>und</strong> aus dem Zusammenhang<br />
gerissen wurden. Dies änderte sich erst in den 70er Jahren.<br />
Fünf Didaktiker sind die Pioniere der Quellennutzung im Geschichtsunterricht: Hans-<br />
Georg Fernis <strong>und</strong> Heinrich Haverkamp, die Quellenbände zu ihren Schulbuchbänden<br />
herausgaben 73 ; Friedrich J. Lucas, dem Quellen nicht nur zur Illustration, sondern<br />
auch zur Urteilsbildung dienten 74 ; Wolfgang Hug, der seine "Geschichtliche<br />
Weltk<strong>und</strong>e" durch "Quellenlesebücher" ergänzte 75 , <strong>und</strong> Heinz Dieter Schmid, der nur<br />
Quellen von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart edierte <strong>und</strong> auf kommentierende<br />
Texte verzichtete. 76 Ihre bahnbrechenden Leistungen werden nicht dadurch<br />
geschmälert, dass sie Quellen gekürzt, <strong>als</strong>o nicht authentisch wiedergegeben <strong>und</strong><br />
häufig gegen editorische Gr<strong>und</strong>sätze verstoßen haben, <strong>und</strong> zwar gravierend.<br />
Zum ersten Mal wurde damit auch eine Bresche in die Verweigerungshaltung der<br />
meisten Schulbuchverlage geschlagen: Sie wollten Schulbücher verkaufen, aber<br />
keine Quellensammlungen. Dass Quellen bis heute Schulbücher illustrieren, statt mit<br />
ihnen zu konkurrieren oder sie zu ersetzen, lag <strong>und</strong> liegt wesentlich auch an den<br />
großen Schulbuchverlagen. Aus kommerziellen Gründen sind sie sehr viel mehr<br />
daran interessiert, Schulbücher statt Quellen zu veröffentlichen. Sie stimmen darin<br />
mit ihren vornehmlich aus Schulen <strong>und</strong> Schulverwaltung kommenden Autoren<br />
überein; denn ihnen liegt verständlicherweise daran, mit klingender Münze am<br />
Geschäftserfolg ihrer Schulbücher beteiligt zu werden.<br />
72<br />
Hans Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts. Berlin 1955. Seiten 15 <strong>und</strong> 51.- Leicht<br />
geänderte 2. Auflage: Zur Didaktik <strong>und</strong> Methodik eines kind-, sach- <strong>und</strong> zeitgemäßen<br />
Geschichtsunterrichts. Hannover 1966.<br />
Seiten 116f. über Quellen.<br />
73<br />
Hans-Georg Fernis, Heinrich Haverkamp u.v.a.: Gr<strong>und</strong>züge der Geschichte. Oberstufe. 2<br />
Textbände, 2 Quellenbände. Diesterweg Frankfurt a. M. 1967ff.<br />
74<br />
Friedrich J. Lucas unter Mitwirkung von Wolfgang Hilligen: Menschen in ihrer Zeit. Klett Stuttgart<br />
1970ff.<br />
75<br />
Wolfgang Hug: Geschichtliche Weltk<strong>und</strong>e. Diesterweg Frankfurt a. M. 1976ff.<br />
76<br />
Heinz Dieter Schmid (Hg.): Fragen an die Geschichte. Geschichtliches Arbeitsbuch für die<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe I. Band 1: Weltreiche am Mittelmeer; Band 2: Die europäische Christenheit; Band 3:<br />
Europäische Weltgeschichte; Band 4: Die Welt im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Mehrere Auflagen Hirschgraben<br />
Frankfurt a. M. 1981ff., ab 1984 Cornelsen (Die Erstauflagen konnten nicht beschafft werden.) Durch<br />
ein Sammelsurium von bunten Bildern, Karten, Quellenauszügen, nacherzählten Quellen <strong>und</strong> Texten<br />
entsteht zeitweilig ein "Bilderbuch", die Quellen sind oft verstümmelt wiedergegeben.<br />
85
3.2. Die zweite Hürde: Neue Medien <strong>als</strong> Arbeitsinstrumente <strong>und</strong><br />
Hilfsmittel: Chancen, Abwehrhaltungen, Grenzen <strong>und</strong> Risiken<br />
Hochschulen <strong>und</strong> Schulen sind heute in der Regel technisch mit Computern<br />
genügend ausgestattet <strong>und</strong> verfügen über einen Internetanschluss; doch lässt die<br />
Nutzung dieser Medien zu wünschen übrig. Dies hängt damit zusammen, dass viele -<br />
übrigens nicht nur, aber vornehmlich ältere - Lehrende über keine oder zu geringe<br />
PC-Kenntnisse verfügen, ferner auch damit, dass selbst jene, die mit Computer <strong>und</strong><br />
Internet privat gut umgehen <strong>und</strong> sie nutzen, davor zurückscheuen oder zögern, sie in<br />
Schulen <strong>und</strong> Hochschulen einzusetzen.<br />
Dies liegt folglich nicht daran, dass noch Lücken in der Ausstattung mit Computern<br />
bestehen <strong>und</strong> damit zusammenhängende technische sowie räumliche Einrichtungen<br />
fehlen, um über sie zu verfügen. 77 Hauptgr<strong>und</strong> dafür, dass die neuen Medien unter<br />
Lehrenden vielerorts Misstrauen wecken, auch über den Sinn ihres Einsatzes, sind<br />
Zweifel, Vorhalte <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Ängste, sie seien mit ihren PC-Kenntnissen<br />
den <strong>Lernen</strong>den unterlegen statt ihnen wie bisher "von Amts wegen" überlegen zu<br />
sein.<br />
Je mehr die neuen Medien ihren Einzug in Hochschulen <strong>und</strong> Schulen halten, um so<br />
stärker werden sie folgerichtig das <strong>Lernen</strong> verändern. Frontallehre <strong>und</strong><br />
Frontalunterricht haben ausgedient: Es funktioniert nicht, dass alle zur gleichen Zeit<br />
dasselbe lernen (müssen) <strong>und</strong> der Lehrende darüber allein bestimmt, allein<br />
entscheidet <strong>und</strong> allein vorträgt. Damit ist auch ein Rollenwandel verb<strong>und</strong>en:<br />
Lehrende arrangieren, beraten, koordinieren, begleiten, moderieren, beobachten <strong>und</strong><br />
lernen mit, können dann "fördernde Umwelt" nach dem so oft zitierten Winnicott (1.4.,<br />
2.8.) werden, statt das Lerngeschehen zu diktieren, zu steuern oder zu beherrschen.<br />
You're never too old to learn and you're never too young to teach.<br />
Neue Medien erfordern <strong>als</strong>o <strong>neues</strong> Lehren <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>. Dies ist schnell <strong>und</strong> leicht<br />
gesagt, aber schwer, praktisch umzusetzen. Nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, ist<br />
für viele Lehrende mit Identitäts- <strong>und</strong> Rollenkonflikten belastet, so dass sie emotional<br />
oder gedanklich blockiert sind, traditionelles, d. h. eingeübtes <strong>und</strong> damit<br />
77 Nach einer Bestandsaufnahme des BMBF (B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung) vom Mai<br />
2002 sind 23 Schüler/innen mit einem Computer in den Gr<strong>und</strong>schulen ausgestattet, 17 in den<br />
Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II <strong>und</strong> 13 in den berufsbildenden Schulen. Durchschnittlich verfügt jede<br />
berufsbildende Schule über 81 Computer, jede Sek<strong>und</strong>arschule I <strong>und</strong> II über 25 <strong>und</strong> jede Gr<strong>und</strong>schule<br />
über 10; vgl. IT-Ausstattung der allgemein bildenden <strong>und</strong> berufsbildenden Schulen in <strong>Deutschland</strong>.<br />
Bonn 2002. Seite 7. Der Fragebogen ist auf den Seiten 31 - 32 abgedruckt. - Nach PISA 2000. Seite<br />
438 bietet die materielle Ausstattung mit PC "wenig Anlass, in den schulischen<br />
Ausstattungsbedingungen einen besonderen Problembereich zu sehen".<br />
Über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Internetnutzung in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> die "digitale<br />
Spaltung" unterrichtet die von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen herausgegebene<br />
Studie: Internet 2002. <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> die digitale Welt. Internetnutzung <strong>und</strong> Medieneinschätzung in<br />
<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> Nordrhein-Westfalen im internationalen Vergleich. Opladen 2003.<br />
86
"eingefleischtes" Verhalten in Frage zu stellen. Für viele bedeutet dies, wie Thomas<br />
Ziehe mit Recht betont hat (1.5.), "Herrschaft" zum eigenen Nachteil abzubauen, sich<br />
selbst zu entmachten <strong>und</strong> auf narzisstische Gratifikationen zu verzichten. Dies gilt<br />
vor allem für Lehrende mit schwachem Selbstwertgefühl. Es geht oft mit<br />
Unsicherheitsgefühlen einher, sagt aber nichts über die tatsächlichen fachlichen oder<br />
pädagogischen Qualifikationen aus.<br />
Sich zu verändern, fällt auch "autoritären" Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern sehr schwer. Sie<br />
sind vorwiegend zwanghaft strukturiert, weniger narzisstisch besetzt. Oft in<br />
patriarchalischen oder matriarchalischen Familien aufgewachsen, übertragen<br />
(projizieren) sie das Sagen, das ein Elternteil hatte, auf das Klassenzimmer. Sie<br />
wittern dann hinter Unordnung, Unruhe, Gelächter oder Unregelmäßigkeiten einen<br />
Machtkampf, den sie gegen die oder einzelne Schüler/innen unbedingt gewinnen<br />
"müssen", um das drohende "Chaos" zu bändigen <strong>und</strong> so ihrem Autoritätsverlust<br />
vorzubeugen.<br />
Computer sind Hilfsmittel <strong>und</strong> Werkzeuge für <strong>neues</strong> <strong>und</strong> effizientes <strong>Lernen</strong>, aber kein<br />
Allheilmittel. Sie können Lehrende ebenso wenig ersetzen, wie der von<br />
Skinner/Watson in den 60er Jahren vertretene Behaviorismus, der erstrebte, sie<br />
letzten Endes durch Operantes Konditionieren <strong>und</strong> Programmierten Unterricht<br />
überflüssig zu machen. Computer Based Training (CBT) <strong>als</strong> offline- <strong>und</strong> Web Based<br />
Training (WBT) <strong>als</strong> online-Angebote können Lehrende entlasten <strong>und</strong> unterstützen<br />
<strong>und</strong> den <strong>Lernen</strong>den helfen, weitgehend selbstbestimmt statt fremdbestimmt zu lernen<br />
- mehr nicht.<br />
Wenn Computer Arbeitsinstrumente <strong>und</strong> Hilfsmittel sind, dann haben sie keinen<br />
Selbstzweck <strong>und</strong> keine Funktionen <strong>als</strong> Stimulantien oder Beruhigungsmittel. Schon<br />
heute gibt es, vor allem unter Jugendlichen, Computer- <strong>und</strong> Internet-Freaks <strong>als</strong><br />
scheinbare Alleskönnner - aber die deutsche Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />
beherrschen sie nur bedingt, <strong>und</strong> leseschwach sind obendrein. Etwa 3% aller<br />
deutschen Onliner zwischen 14 <strong>und</strong> 59 Jahren gelten <strong>als</strong> webabhängig. Sie<br />
reagieren mit Nervosität, Gereiztheit oder sogar depressiven Verstimmungen, wenn<br />
sie nicht - oft bis in die Nacht hinein <strong>und</strong> bis zur Erschöpfung - surfen, spielen <strong>und</strong><br />
chatten können. 78 Dass sie im Netz virtuelle Anerkennung <strong>und</strong> ihnen fehlende<br />
Kontakte suchen, deutet auf narzisstische Dysfunktionen <strong>und</strong> ein inkohärentes Selbst<br />
hin (1.4.). Die "Droge Internet" ist auch deshalb ein "ideales" heimliches Suchtmittel,<br />
weil es innerhalb der geschützten eigenen vier Wände grenzenlos, ständig verfügbar<br />
<strong>und</strong> nicht zuletzt auch finanzierbar ist.<br />
78 Droge Internet. In: Focus Nr. 27 vom 30. Juni 2003. Seiten 86 - 88.<br />
87
3.3. Die dritte Hürde: Interdisziplinär lehren, forschen <strong>und</strong> lernen<br />
Politische Bildung <strong>als</strong> Beispiel<br />
Die Forderung, interdisziplinär zu lehren, zu forschen <strong>und</strong> zu lernen, wird regelmäßig<br />
erhoben, doch verhallt sie meistens ungehört. In den letzten Jahrzehnten ist der Zug<br />
in die entgegengesetzte Richtung abgefahren. Die wissenschaftlichen Disziplinen<br />
haben sich vervielfacht, neu spezialisiert <strong>und</strong> gegeneinander meist abgeschottet.<br />
Statt über den Tellerrand der eigenen, häufig überbewerteten Disziplin zu sehen <strong>und</strong><br />
sie unter einem anderen Blickwinkel zu relativieren, lehrt, lernt <strong>und</strong> forscht fast jeder<br />
Fachspezialist für sich. Schließlich hängt sein Erfolg davon ab, wie hoch er<br />
spezialisiert ist, <strong>und</strong> davon wiederum Forschungsaufträge <strong>und</strong> -erträge.<br />
Dieser immanenten Tendenz zum Fachidiotismus wirken die neuen Medien<br />
entgegen. Da sie interdisziplinären Charakter haben, treten die fächerübergreifenden<br />
gegenüber den fachspezifischen Prinzipien in den Vordergr<strong>und</strong>. Konkret heißt dies<br />
nicht, über den Disziplinen zu arbeiten, sondern ausgehend von der eigenen<br />
Disziplin mit <strong>und</strong> zwischen den anderen Disziplinen zu forschen <strong>und</strong> sie <strong>als</strong><br />
gleichwertig anzuerkennen.<br />
Politische Bildung ist fächerübergreifend <strong>und</strong> gebietet daher, dass sie in allen <strong>und</strong><br />
nicht nur in historischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Fächern/Disziplinen<br />
unterrichtet wird. In einigen B<strong>und</strong>esländern, die "Weltk<strong>und</strong>e", "Sozialk<strong>und</strong>e",<br />
"Wirtschaft <strong>und</strong> Sozialk<strong>und</strong>e", "Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e", "Wirtschaftslehre/Informatik",<br />
"Wirtschaft <strong>und</strong> Technik", "Wirtschaft <strong>und</strong> Rechtslehre", "politische Bildung" u.a. in<br />
Schulen anbieten, ist Interdisziplinarität verpflichtend. Dies gilt z.B. auch für das Fach<br />
"Sozialwissenschaften" in Nordrhein-Westfalen, das aus Wirtschafts- <strong>und</strong><br />
Politikwissenschaft sowie Soziologie besteht. Meistens kommt es jedoch zu keiner<br />
multidisziplinären Zusammenarbeit, wenn diese Fächer fachfremd <strong>und</strong><br />
nebeneinander unterrichtet werden, z.B. von Geschichtslehrern/innen.<br />
Wenn sich politische Bildung zu sehr auf Geschichte <strong>und</strong> Politik stützt, bleiben<br />
sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> vor allem naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Fächer<br />
ausgeklammert. Wer beispielsweise über "Umwelt" unterrichten will, kann nicht<br />
umhin, die Grenzen zwischen den Disziplinen Wirtschafts-, Rechts- <strong>und</strong><br />
Politikwissenschaft sowie zwischen Chemie, Biologie, Physik <strong>und</strong> Technik zu<br />
überschreiten. Ein Blick in das Angebot der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>und</strong> der Landeszentralen<br />
für politische Bildung beweist, dass naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische<br />
Disziplinen weitgehend ausgeblendet bleiben.<br />
Schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung ist ein Hauptanliegen der D-Dok.<br />
Sie enthält in den in ihr gespeicherten historisch-politischen <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftlichen Quellen sek<strong>und</strong>är auch Angebote für den Unterricht in<br />
88
geisteswissenschaftlichen Fächern wie Fremdsprachen, Deutsch, Philosophie, Kultur<br />
sowie naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Randbereiche, z. B. der Chemie. In<br />
Ansätzen ist damit der Anfang gemacht, politische Bildung interdisziplinär auch auf<br />
mathematisch-naturwissenschaftliche <strong>und</strong> technische Fächer auszuweiten (6.3.).<br />
3.4. Der Didaktikerstreit: <strong>Quellenarbeit</strong> im Fadenkreuz der Kritik <strong>und</strong><br />
Polemik<br />
In der Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht" (GWU), dem<br />
Fachorgan des Verbandes der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s, eröffnete<br />
Oberstudiendirektor Dr. Gerhard Schoebe 1983 eine Polemik gegen <strong>Quellenarbeit</strong><br />
<strong>als</strong> "eine in den Schulen real anzutreffende Unterrichtspraxis". 79 Erzürnt hatten ihn<br />
Heinz Dieter Schmids Aufsatz "Entwurf einer Geschichtsdidaktik der Mittelstufe", der<br />
sehr viele Belege enthält, sowie dessen <strong>und</strong> Grolles Quellensammlungen ("Schmid-<br />
Grolle-Rezeptur"). 80<br />
Trotz der "polemischen, sich wissenschaftlich aufplusternden <strong>und</strong> oftm<strong>als</strong> unklaren<br />
<strong>und</strong> widersprüchlichen Diktion", die Margarete Dörr (Seite 318) in ihrer Entgegnung<br />
beklagt hat, sollten sich alle, die <strong>Quellenarbeit</strong> beabsichtigen, mit den Einwänden<br />
Schoebes <strong>und</strong> dem von ihm ausgelösten - von mir so genannten - Didaktikerstreit<br />
auseinandersetzen. Er wurde vornehmlich, aber nicht nur in der GWU ausgetragen. 81<br />
79<br />
Gerhard Schoebe: Quellen, Quellen, Quellen...Polemik gegen ein verbreitetes Unterrichtskonzept.<br />
In: GWU 34, 1983. Seiten 298 - 317.<br />
80<br />
Heinz Dieter Schmid: GWU 21, 1970. Seiten 340 - 363; Fragen an die Geschichte. Geschichtliches<br />
Arbeitsbuch für die Sek<strong>und</strong>arstufe I. 4 Bände. Frankfurt a. M. 1981ff..; Ingeborg <strong>und</strong> Joist Grolle u. v.<br />
a.: erinnern <strong>und</strong> urteilen. Unterrichtseinheiten Geschichte. 4 Bände. Klett Stuttgart 1. Auflage 1977 -<br />
1986. In der Zeitschrift waren zuvor bereits Beiträge zur <strong>Quellenarbeit</strong> erschienen, die sich auf die<br />
Oberstufe bezogen, zum Teil jedoch auch Quellen - wie Renz - nicht nur zur "Illustration", sondern <strong>als</strong><br />
"das Mittel" im Unterricht befürworteten. Gerhart Bürck: Die Quellenbehandlung auf der Oberstufe. In:<br />
GWU 8, 1957. Seiten 152 - 169; Paul Zimmermann: Betrachtungen über Textbehandlung auf der<br />
Oberstufe. In GWU 7, 1956. Seiten 273 - 280; Friedrich J. Lucas: Zur Geschichts-Darstellung im<br />
Unterricht. In: GWU 16, 1965. Seiten 285 - 298; Gisela Wagner: Quellen <strong>und</strong> Quelleninterpretation im<br />
Unterricht der Geschichte <strong>und</strong> Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e. In: GWU 20, 1969. Seiten 160 - 172; Kurt Fina:<br />
Die Quelle im Geschichtsunterricht. In: GWU 21, 1970. Seiten 615 - 634; Rudolf Renz: Prinzipien<br />
wissenschaftlicher Quellenanalyse <strong>und</strong> ihre Verwertbarkeit im Geschichtsunterricht. In: GWU 22,<br />
1971. Seiten 536 - 551.<br />
81<br />
Margarete Dörr: Quellen, Quellen, Quellen - <strong>und</strong> die Alternative? Erwiderung auf den Aufsatz von G.<br />
Schoebe. In: GWU 34, 1983. Seiten 318 - 329; Joachim Rohlfes: Und noch einmal: Quellen. In: GWU<br />
34, 1983. Seiten 330 - 344; Hilke Günther-Arndt: Der grüne Wollfaden oder Was heißt "Geschichte<br />
erzählen" heute? Zu alten <strong>und</strong> neuen Problemen der Geschichtsdarstellung in Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Unterricht. In: GWU 36, 1985. Seiten 684 - 704; Rainer Bölling: Neue Quellen für den<br />
Geschichtsunterricht - allzu wörtlich genommen. In: GWU 43, 1992. Seiten 620 - 628; Peter Völker:<br />
Eine 'neue Krise' des Geschichtsunterrichts? In: GWU 44, 1993. Seiten 617 - 626; Gerhard Schneider:<br />
Über den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht. In: GWU 45, 1994. Seiten 73 - 90; Rainer<br />
Walz: Geschichtsbewußtsein <strong>und</strong> Geschichtsdidaktik. Eine Kritik der didaktischen Konzeption von<br />
89
Stichwortartig zusammengefasst, ergeben sich folgende Haupteinwände gegen<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>:<br />
-1. Editorische Mängel: "quellenk<strong>und</strong>liche Nachlässigkeit"; Quellenauszüge sind zu<br />
kurz ("Schmidsche Schnitzel-Rezept") <strong>und</strong> "geistige Hochstapelei"; unzuverlässige<br />
Editionen ohne Quellenauthentizität (Bölling); Textverkürzungen <strong>als</strong> Eingriffe <strong>und</strong><br />
Verstümmelungen<br />
von Quellen (Rohlfes u.a.).<br />
-2. Erhöhter Zeitaufwand: Zeiteinheiten einer Schul- oder Doppelst<strong>und</strong>e sind für<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> zu kurz.<br />
-3. "Unpädagogische Authentizitätsfixierung" <strong>und</strong> "Authentizitätsorientierung" sind ein<br />
"Authentizitäts-tique" (gemeint Tic). "Objektivität hat ihr Sein nicht auf der Seite der<br />
Dinge. Ihr Seinsort ist vielmehr auf der Subjekt-Seite. Objektivität hat ihr Sein <strong>als</strong><br />
Objektivitätsstreben der Lehrer" (Schoebe, Seite 308). Irrtümlich wäre anzunehmen,<br />
die Quelle sei der historischen Darstellung bezüglich ihrer Authentizität <strong>und</strong> ihres<br />
'Wahrheitsgehaltes' im Allgemeinen überlegen; eher dürfte das Gegenteil zutreffen<br />
(Rohlfes, Seite 337).<br />
-4. "Methodische Einförmigkeit" der <strong>Quellenarbeit</strong>; sie ist oft ohne "emotionalassoziativen<br />
Bezug".<br />
-5. <strong>Quellenarbeit</strong> überfordert Schüler. Sie wissen nichts oder zu wenig, sind unsicher.<br />
Deshalb haben sie "Angst", "Minderwertigkeitsgefühle" <strong>und</strong><br />
"Gefolgsschaftsbedürfnis"; "Nachplappern des Quelleninhalts" (Schneider, Seite 81).<br />
-6. Schüler können "zwischen Wesentlichem <strong>und</strong> Unwesentlichem nicht<br />
unterscheiden"; aus Mosaiksteinen <strong>und</strong> Details der Quellen entsteht kein<br />
"zusammenfassendes Mosaikbild geschichtlicher Zustände"; es ergeben sich durch<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> keine "dauerhaften Kenntnisse" (Schoebe, Seite 300) <strong>und</strong> keine<br />
"endgültigen Erkenntnis-Ergebnisse" (Schoebe, Seite 302).<br />
Jörn Rüsen <strong>und</strong> Hans-Jürgen Pandel. In: GWU 46, 1995. Seiten 306 - 321; Hans-Jürgen Pandel <strong>und</strong><br />
Jörn Rüsen: Bewegung in der Geschichtsdidaktik? Zum Versuch von Rainer Walz, durch Polemik eine<br />
Bahn zu brechen. In: GWU 46, 1995. Seiten 322 - 329; Joachim Rohlfes: Arbeit mit Textquellen. In:<br />
GWU 46, 1995. Seiten 583 - 590; Rainer Walz: Eine Fortführung der Debatte mit Jörn Rüsen <strong>und</strong><br />
Hans-Jürgen Pandel. In: GWU 47, 1996. Seiten 89 - 92; Hans-Jürgen Pandel <strong>und</strong> Jörn Rüsen:<br />
Erneute Entgegnung auf Rainer Walz. In: GWU 47, 1996. Seiten 93 - 95; Martin Zurwehme:<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der Bearbeitung von Quellen für den Geschichtsunterricht. In: GWU 47,<br />
1996. Seiten 189 - 197. Vgl. dazu auch Geschichtsunterricht heute. Gr<strong>und</strong>lagen, Probleme,<br />
Möglichkeiten. Sammelband GWU-Beiträge der neunziger Jahre. Seelze-Velber 1999 <strong>und</strong> Hans-<br />
Jürgen Pandel: Quelleninterpretation....Seiten 90 - 93.<br />
90
-7. <strong>Quellenarbeit</strong> ist nicht "entwicklungsstufengerecht" <strong>und</strong> deshalb<br />
"entwicklungspsychologisch" nicht zu verantworten, da Schüler gegen sie ein<br />
"prinzipiell kritisches bis mißtrauisches Verhalten" (Schoebe, Seite 304) haben.<br />
-8. Geschichte <strong>als</strong> res gestae: "Der Gegenstand des Geschichtsunterrichts sind<br />
primär geschichtliche Sachverhalte. Also nicht die 'fontes', sondern die 'res gestae'<br />
selbst..."(Schoebe, Seite 311).<br />
-9. Humanitas-Frage: Lehrer steht nicht mehr im Mittelpunkt. "Papier ist nicht<br />
Person". Der Lehrer sollte "sich eingestehen, daß er es ist, der die Geschichte lehrt,<br />
<strong>und</strong> daß nicht die Schüler sie sich selbst lehren" (Schoebe, Seite 309).<br />
-10. "Arbeitsunterricht" <strong>und</strong> "Wissenschaftspropädeutik" entspringen einem<br />
"verfehlten didaktischen Gr<strong>und</strong>ansatz für das derzeitige staatliche Schulwesen" <strong>und</strong><br />
bedeuten "in vielen Fällen eine Vergewaltigung der Lehrer-Individualität" (Völker,<br />
Seiten 619f.).<br />
Sie sollten, bevor Sie urteilen, selbst in der GWU nachlesen, damit Sie sich Ihre<br />
eigene Meinung aus erster Hand bilden können. Denn damit fällt eine<br />
Gr<strong>und</strong>satzentscheidung, die Sie unbeeinflusst von mir <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok.<br />
<strong>und</strong> Autor dieses Begleitbuches treffen sollten: ob Sie mit Quellen in Schulen <strong>und</strong> in<br />
der politischen Bildung arbeiten können, sei es auch nur probeweise, oder<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich nicht.<br />
Zu 1. Die Kritik ist voll gerechtfertigt. Sie sollte allerdings nicht außer Acht lassen,<br />
dass die ersten gedruckten Quelleneditionen für Schulen (nicht für die Wissenschaft)<br />
trotz ihrer schwerwiegenden Mängel eine Schrittmacherfunktion erfüllt haben <strong>und</strong>,<br />
solange sie nicht elektronisch gespeichert werden konnten, die Quellenauswahl<br />
kürzen mussten, um Platz zu sparen. Die von Schoebe (Seite 305) geforderte<br />
"Auswertung aller in Frage kommenden Quellen" ist unmöglich <strong>und</strong> führt jede<br />
Quellenedition ad absurdum.<br />
Zu 2. Es trifft zu, dass <strong>Quellenarbeit</strong> zeitaufwändig ist. Sie kann nicht im 45- oder 50-<br />
Minuten-Takt "abgehakt" werden <strong>und</strong> scheitert deshalb oft auch an Lehrplan- <strong>und</strong><br />
St<strong>und</strong>enplanvorgaben. Dies ist aber ein schulorganisatorisches, deshalb lösbares<br />
oder überwindbares Problem. Allerdings werden hier Schulleiter/innen, die auf<br />
konventionell-traditionelle Unterrichtsmethoden eingeschworen sind, intern die<br />
Chance wittern, <strong>Quellenarbeit</strong> im Keime zu ersticken statt sie zu verbieten.<br />
Zu 3. Eine "unpädagogische Authentizitätsfixierung" <strong>und</strong> einen "Authentizitäts-tic"<br />
(Schoebe, Seite 303) hat, wer krankhaft-verkrampft daran festhält, dass verbürgte<br />
<strong>und</strong> damit echte Quellen authentisch sind. Schoebe sieht den "Lehrer <strong>als</strong> Sachwalter<br />
der Objektivität <strong>und</strong> beschreibt 'Objektivität' <strong>als</strong> etwas, das in der geistigen <strong>und</strong><br />
moralischen Verfassung der Lehrerpersönlichkeit liege <strong>und</strong> nicht verdinglicht werden<br />
91
könne" (Margarete Dörr, Seite 322). Folglich sind Lehrer authentisch, nicht Quellen. -<br />
Vielfach werden die Unterschiede zwischen Quellen <strong>und</strong> Darstellungen auch<br />
verwischt, so vom Mitherausgeber der GWU Rohlfes (Seiten 336); allerdings trifft zu,<br />
dass Quellen auch "Irrtümer, Einseitigkeiten, ja Lügen" enthalten können <strong>und</strong> sie<br />
deshalb kritisch überprüft werden müssen (2.6.).<br />
Zu 4. Eintönig ist nur eine <strong>Quellenarbeit</strong>, die einem starren methodischem Schema<br />
folgt. Mangelnde Affektivität wird Quellen oft deshalb angekreidet, so z.B. Gesetzen,<br />
weil sie eine zwar inhaltsreiche, aber meist nur "trockene" Lektüre sind.<br />
Zu 5. Schüler/innen sind in der Schule, um zu lernen, <strong>und</strong> wenn sie versagt, wissen<br />
sie in der Tat nichts oder zu wenig - so z.B. in Geschichte (Margarete Dörr, Seite<br />
323f.). Nicht nur sie, sondern oft auch Lehrer/innen haben Ängste, Minderwertigkeits-<br />
<strong>und</strong> Insuffizienzgefühle. Wenn Schoebe (Seite 309) expressis verbis <strong>Quellenarbeit</strong><br />
verdächtigt, "ein nicht ungefährliches Gefolgschaftsbedürfnis <strong>und</strong> übergewichtiges<br />
Verlangen nach Führung " zu wecken <strong>und</strong> an die NS-Zeit erinnert, dann polemisiert<br />
er nicht mehr, sondern er hetzt <strong>und</strong> diffamiert. - <strong>Quellenarbeit</strong> überfordert nicht, wenn<br />
sie schüler- <strong>und</strong> zielgerecht ist, d. h. Fähigkeiten <strong>und</strong> Vorkenntnisse der<br />
Schüler/innen berücksichtigt.<br />
Zu 6. Was wesentlich oder unwesentlich ist, ergibt sich aus den Fragestellungen <strong>und</strong><br />
der Hermeneutik, <strong>als</strong>o dem Auslegen <strong>und</strong> dem davon abhängigen Verstehen des<br />
Textes. "Dauerhafte Kenntnisse" <strong>und</strong> "endgültige Erkenntnis-Ergebnisse" sind der<br />
Geschichte fremd <strong>und</strong> allenfalls temporäre Verabsolutierungen. Dennoch gibt es<br />
viele Lehrer/innen wie Oberstudiendirektor Schoebe, die wissen, was endgültig <strong>und</strong><br />
dauerhaft, wesentlich oder unwesentlich, richtig <strong>und</strong> f<strong>als</strong>ch, wahr <strong>und</strong> "objektiv" ist -<br />
nämlich das in ihnen gespeicherte Geschichtswissen <strong>und</strong> ihr Geschichtsbild. Die<br />
nach dieser nie versiegenden "Quelle" dürstenden Schüler/innen sind darauf erpicht,<br />
endlich zu erfahren: "Nun sagen Sie uns bitte: Wie war es denn nun wirklich?"<br />
(Schoebe, Seite 307) Und wenn sie "eines Tages entdecken, daß der Lehrer sie<br />
betrogen hat, indem er so tat, <strong>als</strong> wisse er, 'wie es eigentlich gewesen ist', oder daß<br />
er sie bewußt manipuliert hat" (Margarete Dörr, Seite 323) - was dann?<br />
Zu 7. <strong>Quellenarbeit</strong> erfordert Quellenkritik! Sollten Schüler/innen tatsächlich<br />
prinzipiell kritisch bis misstrauisch gegenüber Quellen sein, wären sie für die Arbeit<br />
mit ihnen gut gerüstet. Wer allerdings einen "objektiven" Geschichtsunterricht à la<br />
Schoebe genossen hat, wird in der Regel nicht befähigt sein, Reden der<br />
B<strong>und</strong>eskanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl <strong>und</strong> Schröder zu<br />
reflektieren. Und wenn Schüler/innen affirmativ Quellen der DDR für bare Münze<br />
nehmen? Ulbrichts, Grotewohls, Stophs, Honeckers u.a. Reden wie den<br />
Geschichtsunterricht <strong>als</strong> wahrheitsgemäß betrachten? - Sind dafür die Lehrer/innen<br />
verantwortlich? - Oder die Schüler/innen, die nach dem "Quellen-spots-Rezept" in<br />
der Oberstufe traktiert, die "buchstabengläubigsten" (Schoebe, Seite 308) sein<br />
sollen? - Oder sind es die Quellen <strong>und</strong> die <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
92
Zu 8. Ungesagt bleibt, woher die Sachverhalte - res gestae - stammen, die primär an<br />
die Stelle von Quellen - fontes - den Geschichtsunterricht bestimmen sollen. Eine<br />
Antwort darauf gibt nicht nur Schoebe selbst, sondern auch der bereits zitierte<br />
Pädagoge Erich Weniger: Der Geschichtslehrer "dient der geschichtlichen Wahrheit"<br />
<strong>und</strong> "vertritt die Einheit der erlebten Geschichte, er spiegelt die in der Gegenwart<br />
erreichte Lagerung der geschichtlichen Kräfte in seiner Person wieder". 82 Kurzum:<br />
Nicht Quellen spiegeln Geschichte <strong>und</strong> ihre Sachverhalte (2.6.), der Lehrer spiegelt<br />
sie.<br />
Zu 9. Bestürzend ist die humanitas-Frage, die Schoebe stellt, da <strong>Quellenarbeit</strong> den<br />
"personalen Bezug schwächt", folglich der Lehrer nicht mehr im Mittelpunkt steht.<br />
Nicht er ist für die Schüler/innen da, sondern umgekehrt, sie haben für ihn da zu<br />
sein. Er spiegelt sich in ihnen <strong>und</strong> produziert sich frontal vor ihnen. So bleibt ihnen<br />
nichts anderes übrig, <strong>als</strong> sein angeblich "objektives" Geschichtswissen zu<br />
übernehmen, sich mit dem Lehrer zu identifizieren <strong>und</strong> damit zugleich sein<br />
Selbstwertgefühl aufzuwerten, das von seinem Unterrichtserfolg abhängt. Es ist eine<br />
verkehrte Schulwelt.<br />
Zu 10. Da sich der Geschichtsunterricht um den Lehrer <strong>als</strong> "humanen" Mittelpunkt zu<br />
drehen hat, vergewaltigt Arbeitsunterricht angeblich seine Individualität. "Nicht jeder<br />
von uns", so weiß der "Praktiker" Peter Völker (Seite 620), "ist Lehrer geworden, um<br />
<strong>als</strong> 'Moderator' auf gemeinsamen historischen 'Entdeckungsreisen' zu fungieren. Wer<br />
<strong>als</strong> bewußter <strong>und</strong> engagierter Historiker in den Unterricht geht, möchte<br />
fachwissenschaftlich exakt unterrichten <strong>und</strong> nicht historisch-politisch vage diskutieren<br />
lassen, für sein präzises Methodenbewußtsein sind die stümperhaften Bemühungen<br />
selbst vieler Oberstufenschüler <strong>und</strong> die unzulänglichen, aus dem Alltagswissen<br />
geschöpften Versuche, historische Phänomene zu erklären, einfach unerträglich."<br />
Schwer erträglich ist aber auch, wie demotivierend <strong>und</strong> zugleich destruktiv solche<br />
"Lehrerpersönlichkeiten" mit ihrer "fachwissenschaftlichen" Selbstinszenierung<br />
<strong>Lernen</strong>de abqualifizieren. 83<br />
Alles in allem offenbart der Didaktikerstreit eine tiefe Kluft, die unüberbrückbar ist.<br />
Der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel (Halle-Wittenberg), ein Protagonist<br />
der Quelleninterpretation, fasst zusammen, was die Verfechter traditioneller<br />
Lehrmethoden leitet: "Das Ideal ist hier ein Unterricht, den allein der Lehrer plant,<br />
steuert <strong>und</strong> durchführt, Ergebnisse sichert <strong>und</strong> abfragt. Das wird verbrämt <strong>als</strong><br />
'humanitas Frage' <strong>und</strong> 'sokratische Frage'. Es ist die Rückkehr auf den Stand des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Es ist ein erzählender Unterricht, der hin <strong>und</strong> wieder<br />
82 Weniger: Neue Wege.....Seiten 71f.<br />
83 Bei anderen thesenhaft wiedergegebenen Kritiken kann man Völker nur zustimmen: "Überfrachtung<br />
der Lehrpläne", "Diskrepanz von Didaktik <strong>und</strong> Schulwirklichkeit", "vom Fernsehen <strong>und</strong> nicht vom Buch"<br />
geprägte Schüler/innen, "ungünstige Rahmenbedingungen für die Realisierung didaktischer<br />
Neuansätze" u.a. (Völker, Seiten 620ff.)<br />
93
Quellenformulierungen zur Illustration aufnimmt. Die Polemik gegen Authentizität<br />
zeigt, daß es diesen Vertretern nicht um historisches Denken, sondern um<br />
reproduktionsfähige Kenntnisse geht. Es gibt keine entwicklungspsychologischen<br />
Untersuchungen, die belegen, daß Quellen insgesamt nicht<br />
entwicklungsstufengerecht seien." 84<br />
Hier ist man geneigt, das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in Schutz zu nehmen <strong>und</strong> an den Leipziger<br />
Lehrer <strong>und</strong> Schuldirektor Albert Richter (1838 - 1897) zu erinnern. Er forderte<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> schon für die Volksschule <strong>und</strong> brachte dafür 1885 das erste<br />
"Quellenbuch" heraus. Mehrfach nachgedruckt, war es nicht für Lehrer/innen,<br />
sondern für die <strong>Lernen</strong>den bestimmt, <strong>und</strong> das waren bei Richter Mädchen. Die Ziele,<br />
die Richter verfolgte, hießen: "Motivation", "Anschaulichkeit" <strong>und</strong> "Selbstthätigkeit". 85<br />
Da kann ich nur mit Wehmut in die "gute alte Zeit" zurückblicken <strong>und</strong> bedauern, dass<br />
es heute noch so viele Schulleiter wie Gerhard Schoebe gibt, aber offensichtlich<br />
weniger solche wie Albert Richter.<br />
3.5. Tua res agitur: Die Frau im Didaktikerstreit <strong>und</strong> im "Problem<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>" - eine Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder eine<br />
Nichtexistenz?<br />
"Männer machen Geschichte" <strong>und</strong> Männer machen Geschichtsunterricht für Schüler -<br />
so scheint es nach dem Didaktikerstreit zu sein. Deshalb sind die Einwände 1 - 10<br />
gegen <strong>Quellenarbeit</strong> maskulin wiedergegeben. Selbst Margarete Dörr spricht nur von<br />
"Lehrern" <strong>und</strong> "Schülern". Es mag noch in den 80er Jahren unreflektiert <strong>und</strong><br />
zeitbedingt sein, dass Lehrerinnen <strong>und</strong> Schülerinnen mit darunter subsumiert<br />
werden, vielleicht auch dann noch, wenn Dörr (Seite 319) davon spricht, dass sich<br />
"Geschichtstheoretiker, Fachwissenschaftler <strong>und</strong> Fachdidaktiker den Kopf" über<br />
Geschichte <strong>und</strong> den Geschichtsunterricht zerbrechen.<br />
Aufhorchen lässt, dass ausgerechnet der hier viel gescholtene Schoebe (Seite 309)<br />
an einer Stelle von den "Mädchen <strong>und</strong> Jungen" einer Klasse <strong>als</strong> Adressaten spricht.<br />
Ein Zufall, ein Versehen, eine vereinzelte Wahrnehmung? Völker (Seite 617,<br />
Anmerkung 1) verwendet die maskuline Sammelform, stellt aber klar, von<br />
84 Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. .Seite 92. - Auch Schoebe, Seite 312 befürwortet<br />
"Quellenauszüge dosiert" <strong>und</strong> "vernünftig" zu verwenden <strong>und</strong> beruft sich dabei auf Bernheim <strong>und</strong><br />
Ranke (Seite 309). Zustimmend äußert er sich zu Dieter Mohrhart: Plädoyer für die<br />
Geschichtserzählung. In: GWU 32, 1982. Seiten 94 - 116. (Schoebe, Seite 316 Anmerkung 21:<br />
"umfassend angelegte <strong>und</strong> tief eindringende Abhandlung".)<br />
85 Quellenbuch. Für den Unterricht in der deutschen Geschichte. Herausgegeben von Albert Richter.<br />
Leipzig 1885. VI, 262 Seiten. - Vgl. dazu Hartmut Voit: Das "Quellenbuch" von 1885: Zur Erinnerung<br />
an Albert Richter <strong>und</strong> die erste Quellensammlung für die Volksschule. In: GWU 37, 1986. Seiten 364 -<br />
370. Dazu auch Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Seiten 80f.<br />
94
"Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern, Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern, Referendarinnen <strong>und</strong><br />
Referendaren" zu reden. Er sagt expressis verbis, was andere ignorieren oder<br />
stillschweigend voraussetzen.<br />
Anno Domini 2004 ist es ein Anachronismus, dass es nach wie vor einen "Verband<br />
der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s" gibt <strong>und</strong> Geschichtslehrerinnen eben mit dazu<br />
gezählt werden. Sie gehören dazu, sie unterrichten, sie lehren, sie lernen, sie<br />
forschen, sie veröffentlichen, sie sind <strong>als</strong> Mitglieder willkommen <strong>und</strong> registriert, <strong>und</strong><br />
sie werden vom Friedrich Verlag <strong>als</strong> "AbonnentInnen"(!) der GWU umworben. Aber<br />
sind sie integriert <strong>und</strong> werden sie wahrgenommen? Handelt es sich um eine<br />
Blindstelle, eine Wahrnehmungsstörung oder um eine Nichtexistenz? Wer andere<br />
sehen, aber sie <strong>und</strong> sich selbst nicht wahrnehmen kann, ist nicht wirklich existent,<br />
sondern ein Schatten, ein Spiegelbild, eine Imagination, ein f<strong>als</strong>ches Selbst (1.4.). 86<br />
Tua res agitur.<br />
In einem "empirischen" Projekt an der Universität Regensburg stellt nicht Martin,<br />
sondern Martina Langer-Plän fest, dass bezüglich <strong>Quellenarbeit</strong> im<br />
Geschichtsunterricht "weitgehende Unzufriedenheit bei Lehrern <strong>und</strong> Schülern das<br />
Bild" präge. Sie hat nach eigenen "Umfragen bei Geschichtsstudenten" in den Jahren<br />
1995 - 2001 "insgesamt über 80 Studenten befragt", ohne zu sagen, wie viele<br />
Studentinnen sich darunter bef<strong>und</strong>en haben, ob es sich um eine repräsentative<br />
Stichprobe, ein Sample usw. handelt. 87 Dies wäre ein Gebot empirischer Forschung.<br />
Sie kann in der Tat niemand allein aus Büchern lernen, doch Wahrnehmung schon<br />
gar nicht - aber durch Geschichte, auf einem langen, meist schmerzlichen Weg.<br />
Im gleichen Mai/Juni-Heft 5/6, 2003 der GWU spricht ihr langjähriger Mitherausgeber<br />
Joachim Rohlfes im Editorial von "Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern" (Seite 283). Zwei<br />
Autorinnen arbeiten mit "Studierenden", die sie nach weiblichen <strong>und</strong> männlichen<br />
unterscheiden. 88 Geschlechtsspezifisch werden Frauen <strong>als</strong>o wahrgenommen, nicht<br />
mehr ignoriert. Es tut sich <strong>als</strong>o etwas für die Frau <strong>und</strong> vor allem in der Frau in der<br />
Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht. Eine Leerstelle ist sie nicht mehr.<br />
86 Vgl. dazu D. W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> fördernde Umwelt. Seite 193: "Wenn das f<strong>als</strong>che<br />
Selbst in seiner Funktion erfolgreich ist, verbirgt es das wahre Selbst oder findet eine Möglichkeit, das<br />
wahre Selbst zum Beginnen eines Lebens zu befähigen. Ein solches Ergebnis kann auf allerlei Arten<br />
erreicht werden, aber wir beobachten aus besonderer Nähe jene Fälle, in denen das Gefühl, die Dinge<br />
seien real oder der Mühe wert, während einer Behandlung auftritt. Meine Patientin, von deren Fall ich<br />
gesprochen habe, ist nahe dem Ende einer langen Analyse an den Anfang ihres Lebens gekommen.<br />
Sie hat keine wirkliche Erfahrung, sie hat keine Vergangenheit. Sie beginnt mit fünfzig Jahren<br />
vergeudeten Lebens, aber sie fühlt sich endlich real, <strong>und</strong> darum will sie nun leben."<br />
87 Martina Langer-Plän: Problem <strong>Quellenarbeit</strong>. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In:<br />
GWU 54, Mai/Juni 2003. Seiten 319 - 336, zit. 319 <strong>und</strong> Anmerkung 4 ebenda. Auf Seite 327 wird<br />
"Steffi" zitiert, auf Seite 333 eine "Schülerin". - Ein unvoreingenommene Bestandsaufnahme mit<br />
wertvollen Hinweisen <strong>und</strong> Literaturangaben liefert Helmut Beilner: Empirische Forschung in der<br />
Geschichtsdidaktik. In: GWU 54, 2003. Seiten 284 - 302.<br />
88 Michele Barricelli/Ruth Benrath: "Cyberhistory" - Studierende, Schüler <strong>und</strong> Neue Medien im Blick<br />
empirischer Forschung. In: GWU 54, 2003. Seiten 337 - 353, zit. 340.<br />
95
3.6. Voraussetzungen der <strong>Quellenarbeit</strong>: Lehrpläne entrümpeln,<br />
Freiräume nutzen <strong>und</strong> tradierte, frontal-belehrende Unterrichtsmethoden<br />
durch alternativ-offene ergänzen oder ersetzen<br />
Als Ausnahme von der Regel, vornehmlich staatliche Quellen auf der obersten<br />
Ebene, <strong>als</strong>o des B<strong>und</strong>es in der BRD, zu dokumentieren (2.1.), sind die Schulgesetze<br />
der 16 B<strong>und</strong>esländer aufgenommen worden. Der Gr<strong>und</strong>: Die Schulgesetze geben<br />
Bildungsziele vor, die durch Lehrpläne/Rahmenlehrpläne <strong>und</strong><br />
Richtlinien/Rahmenrichtlinien konkretisiert werden. Zuständig dafür sind die<br />
Kultusministerien <strong>als</strong> oberste Landesbehörden bzw. die ihnen entsprechenden<br />
Senatsverwaltungen in den Stadtstaaten.<br />
Im Anhang zu den Schulgesetzen war beabsichtigt, die Lehrpläne/Rahmenlehrpläne/<br />
Fachlehrpläne, Richtlinien/Rahmenrichtlinien <strong>und</strong> curricularen Vorgaben in den<br />
einzelnen B<strong>und</strong>esländern vor allem für fächerübergreifende <strong>und</strong> fächerverbindende<br />
Unterrichtsfächer vorzustellen: Arbeitslehre, Ethik, Sachunterricht,<br />
Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e, Gesellschaftslehre, Medienk<strong>und</strong>e, Politik, Politische Bildung,<br />
Rechtsk<strong>und</strong>e, Sozialk<strong>und</strong>e, Sozialpädagogik, Sozialwesen, Sozialwissenschaften,<br />
Weltk<strong>und</strong>e, Wirtschaftslehre, Wirtschaft <strong>und</strong> Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Technik usw. Dies<br />
ließ sich nicht oder nur in Ansätzen realisieren. Die Hauptgründe: Die Dokumente<br />
sind im Internet nur teilweise verfügbar, <strong>als</strong> Druckfassungen urheberrechtlich<br />
geschützt (z.B. in Nordrhein-Westfalen), meist veraltet, zur Zeit in Überarbeitung oder<br />
oft sehr lang, manchmal H<strong>und</strong>erte von Seiten. Daher wurden nur wenige digitalisiert.<br />
Bei umfangreicheren Texten wird auf ihre F<strong>und</strong>stellen im Internet verwiesen.<br />
Die staatlichen Lehrpläne sind oft so mit stofflichen <strong>und</strong> bürokratischen Vorgaben<br />
überfrachtet, dass sie größtenteils <strong>als</strong> unbrauchbar <strong>und</strong> für Lehrer/innen <strong>als</strong><br />
unzumutbar einzustufen sind - obwohl sie nach wie vor <strong>als</strong> verbindlich gelten. Dies<br />
betrifft auch überarbeitete <strong>und</strong> modernisierte Lehrpläne, etwa den Lehrplan<br />
"Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e" in Rheinland-Pfalz seit 1998: Gr<strong>und</strong>fach <strong>und</strong> Leistungsfach<br />
mit Schwerpunkt Geschichte, mit Schwerpunkt Sozialk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> mit Schwerpunkt<br />
Erdk<strong>und</strong>e in den Jahrgangsstufen 11 - 13 der gymnasialen Oberstufe. Obwohl<br />
stofflich entlastet <strong>und</strong> angeblich offen für interdisziplinäres <strong>Lernen</strong>, wahrt jedes der<br />
drei Fächer seine Eigenständigkeit, so dass es nicht zu ihrer Integration kommen<br />
kann <strong>und</strong> soll. Der oft dreispaltig präsentierte Lehrplan ist "in seinem Zielhorizont<br />
verbindlich" - mit insgesamt 182 Seiten! 89 In Baden-Württemberg hat der<br />
Bildungsplan für die Re<strong>als</strong>chule mit den Fächern Ethik, Geschichte <strong>und</strong><br />
Gemeinschaftsk<strong>und</strong>e 433 Seiten, für das Gymnasium 832 Seiten! 90 Dort findet derzeit<br />
89 Vgl. dazu den Anhang zum Landesgesetz über die Schulen in Rheinland-Pfalz in der Fassung vom<br />
6. März 2003 mit Verweisen auf abrufbare Lehrpläne.<br />
90 Vgl. den Anhang zum Schulgesetz für Baden-Württemberg in der Fassung vom 25. Juli 2000 mit<br />
96
eine Bildungsplanreform statt, mit der das achtjährige Gymnasium eingeführt wird.<br />
Das Staatsinstitut für Schulpädagogik <strong>und</strong> Bildungsforschung (Abteilung<br />
Gymnasium) in München legte am 17. Februar 2003 einen Entwurf zur Sozialk<strong>und</strong>e<br />
vor, das "Leitfach der politischen Bildung am Gymnasium" werden soll - auf drei<br />
Seiten <strong>und</strong> mit der Zielsetzung, "auf der Gr<strong>und</strong>lage des Menschenbildes der<br />
Demokratie zu eigenverantwortlichem Handeln, Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> zur Übernahme<br />
von Verantwortung in der Gesellschaft zu erziehen". 91<br />
Trotz dieser positiven Ansätze ist fraglich, ob die didaktischen Materialisten in den<br />
Ministerien <strong>und</strong> Schulverwaltungen bereit sein werden, ihr bürokratisches Regime zu<br />
lockern. Dies ist erforderlich, damit Schule sich öffnen <strong>und</strong> ändern kann, statt wie<br />
bisher verwaltet oder bürokratisch reglementiert zu werden.<br />
Renate Hendricks, dam<strong>als</strong> Vorsitzende des B<strong>und</strong>eselternrates, der Vertretung der<br />
Eltern von Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen in der BRD, sagt dazu: "Schule in <strong>Deutschland</strong><br />
ist eine geschlossene Gesellschaft. Sie wirkt wie ein fortgesetzter Arm der<br />
Bürokratie, wie ein preußischer Beamter, der verwaltet, was ihm obliegt." 92 Das ist so<br />
immer noch - leider. Nicht nur Schule, auch Familie, Bildung, Ausbildung <strong>und</strong> Beruf<br />
sind in <strong>Deutschland</strong> trotz bisheriger Reformversuche eine "geschlossene<br />
Gesellschaft" geblieben (1.6.). Nach dem PISA-Schock (1.2.) sind allerdings die<br />
Chancen gewachsen, Veränderungen nicht nur auf dem Papier <strong>und</strong> von oben herab<br />
zu dekretieren, sondern auch von unten zu bewirken - durch Eltern, durch Lehrer <strong>und</strong><br />
Lehrerinnen <strong>und</strong> nicht zuletzt durch die <strong>Lernen</strong>den selbst.<br />
Während in Österreich <strong>und</strong> in der Schweiz Lehrplanarbeit nur wenig institutionalisiert,<br />
organisiert <strong>und</strong> bürokratisiert war <strong>und</strong> deshalb weitgehend offen, variabel <strong>und</strong><br />
durchlässig blieb, wurde in <strong>Deutschland</strong> das Gegenteil praktiziert. Auch im<br />
internationalen Vergleich wird den deutschen Schulen "sehr wenig Selbstständigkeit<br />
zugestanden". 93 Diese Regelungswut hat seit dem PISA-Schock <strong>und</strong> wegen der Krise<br />
des deutschen Bildungswesens nachgelassen, aber vermutlich noch nicht<br />
ausgedient. Das beweist das Tauziehen um die geplanten länderübergreifenden<br />
Verweisen auf Bildungspläne.<br />
91<br />
www.isb.bayern.de/gym/lehrplaene/lehrpl.htm (2. 10. 2003).<br />
92<br />
"Wir müssen Interesse an Schule wecken". Interview mit Renate Hendricks. In: General-Anzeiger<br />
(Bonn) vom 1. Oktober 2003. Seite 5.<br />
93<br />
So der 1., im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) von einem Konsortium unter Federführung<br />
des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) erarbeitete Bildungsbericht<br />
für <strong>Deutschland</strong>: Erste Bef<strong>und</strong>e (Zusammenfassung). Frankfurt a. M./Berlin. 1. September 2003. Seite<br />
7. Hingewiesen wird auch darauf, dass in <strong>Deutschland</strong> unterrichtet wird "auf der Gr<strong>und</strong>lage einer<br />
weltweit wohl einmaligen Anzahl <strong>und</strong> Vielfalt an Lehrplänen <strong>und</strong> St<strong>und</strong>entafeln in den Ländern <strong>und</strong><br />
Schulformen, die nur noch schwer zu überschauen ist <strong>und</strong> die Gefahr der Ungleichheit bei der<br />
Teilhabe an Bildung in sich birgt" (Seite 6). Abzuwarten bleibt, ob es tatsächlich zu "Änderungen" nicht<br />
nur an Schulen, sondern auch bei der Schulaufsicht kommt, die anstelle eine reglementierenden <strong>und</strong><br />
kontrollierenden "primär eine begleitende, unterstützende <strong>und</strong> beratende Funktion zu übernehmen<br />
hat." (Seite 7)<br />
97
nationalen Bildungsstandards, die anders <strong>als</strong> Lehrpläne verbindlich vorschreiben,<br />
was Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler bis zu einer bestimmten Altersstufe mindestens<br />
erlernt haben müssen.<br />
Nach den Plänen der B<strong>und</strong>esregierung sollen die einzelnen Schulen künftig<br />
"eigenständig" entscheiden können, wie sie die Bildungsstandards im Unterricht<br />
umsetzen. "Wir müssen unseren Schulen", so die B<strong>und</strong>esbildungsministerin<br />
Edelgard Bulmahn am 18. Februar 2003, "die Verantwortung für die Erreichung der<br />
angestrebten Ziele übertragen." 94 Wenn dies nicht - wie so oft schon bei<br />
angekündigten Bildungsreformen - auf dem Papier stehen bleibt, scheinen die Tage<br />
des alten bürokratischen Systems, das Lehrziele <strong>und</strong> Stoffmengen detailliert von<br />
oben herab verordnet hat, um letzten Endes doch alles beim Alten zu belassen,<br />
tatsächlich gezählt zu sein.<br />
Schulen haben bereits mehr Autonomie erhalten, z.B. durch Teilnahme am<br />
Modellversuch "Selbstständige Schule", in Angelegenheiten der Verwaltung, wie sie<br />
Unterricht gestalten <strong>und</strong> über ihnen zugewiesene Mittel verfügen. Damit wachsen<br />
auch die Entscheidungsfreiräume der Schulen, insbesondere der Lehrerinnen <strong>und</strong><br />
Lehrer, um die ihnen verordnete Zwangsjacke zu lockern <strong>und</strong> neue Unterrichts- <strong>und</strong><br />
Lernmethoden zu erproben.<br />
Bisher von oben aufoktroyierte Lehrziele können nicht von heute auf morgen durch<br />
selbst gewählte Lernziele von unten, mit denen sich die <strong>Lernen</strong>den identifizieren, 95<br />
ersetzt werden. Das gilt auch für alternativ-offene Lernmethoden, die den tradierten<br />
<strong>und</strong> eingeübten frontal-belehrenden Unterricht abbauen können. Eine Revolution im<br />
Klassenzimmer ist unmöglich, so wünschenswert sie wäre, möglich dagegen sind<br />
Reformen, die mit kleinen Schritten Neuland betreten <strong>und</strong> damit didaktische <strong>und</strong><br />
methodische Veränderungen einleiten.<br />
Die D-Dok. ist ein Arbeitsinstrument <strong>und</strong> Hilfsmittel, das zu den tradierten<br />
Unterrichtsmethoden frontalen Lehrens (im Sinne des Belehrtwerdens) nicht passt.<br />
Sie kann nur <strong>Lernen</strong> aktivieren, das individuell <strong>und</strong> selbstständig erarbeitet wird, aber<br />
94 Pressemitteilung des BMBF vom 18. Februar 2003: Nationale Bildungsstandards sollen das<br />
deutsche Bildungssystem verbessern. Seite 2. - Am 30. September 2003 hat die<br />
Kultusministerkonferenz auf einer Fachtagung mit Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaft,<br />
Fachdidaktik, Lehrer-, Eltern- <strong>und</strong> Schülerschaft die Bildungsstandards für den Mittleren<br />
Schulabschluss in Deutsch, Mathematik, Englisch <strong>und</strong> Französisch <strong>als</strong> erster Fremdsprache diskutiert<br />
<strong>und</strong> mehrheitlich begrüßt; vgl. KMK-Pressemitteilung vom 30. September 2003.<br />
95 Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. Befragungen, Analysen <strong>und</strong><br />
Perspektiven. Frankfurt a. M. 1980. Seite 31f. weist auf diesen wichtigen Sachverhalt hin <strong>und</strong> sieht in<br />
den alten Lehrplänen <strong>als</strong> "Repertoire von Inhalten" ein "Instrument, inhaltlichen Einfluß auf die<br />
Sozialisation der Jugend" zu gewinnen (zit. Seiten 10 <strong>und</strong> 11). Diese Instrumentalisierung läuft<br />
Gefahr, Lehrpläne zu politischen, ideologischen oder gar parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen.<br />
(3.1.)<br />
98
kein Wissen, das frontal-belehrend vermittelt, so rezipiert, konsumiert, reproduziert<br />
<strong>und</strong> schließlich abgefragt wird.<br />
Lehrende können daher Informationen nicht mehr exklusiv bereitstellen oder der D-<br />
Dok. - genauso wenig wie dem Internet - vorschreiben oder bestimmen, welche<br />
Quellentexte, welche Fotos <strong>und</strong> welche Original-Ton-Dokumente zu einem Thema<br />
angeboten werden dürfen, sollen oder müssen. Auch arbeitet der Computer<br />
interdisziplinär, nicht fachbezogen-spezialisiert bei der Quellentextsuche (3.3.).<br />
Die Lehrenden werden folglich in eigendynamische Lernprozesse mit einbezogen<br />
<strong>und</strong> in sie integriert. Diese neue Lehrer/innen-Rolle <strong>und</strong> offene Unterrichtsmethoden<br />
befähigen zum weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong> statt zum Konsumieren<br />
fremdbestimmter Lehrinhalte. Lebenslang zu lernen, auch ohne Schule <strong>und</strong> ohne<br />
Lehrende - dies ist das Leitmotiv der D-Dok.: Disco, ergo sum (2.10.<strong>und</strong> 4.1.).<br />
3.7. Drei Modelle zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Vergleich: Rudolf Renz (1971) -<br />
Wolfgang Hug (1977/1980) - Hans-Jürgen Pandel (2000)<br />
Vorschläge zur <strong>Quellenarbeit</strong> stammen u.a. von den Autoren Franze, Hug, Leisen,<br />
Pandel, Pellens, Prokasky, Renz, Strotzka <strong>und</strong> Wagner. 96 In Folgendem werden die<br />
drei wichtigsten in der zeitlichen Reihenfolge vorgestellt, in der sie veröffentlicht<br />
worden sind, <strong>und</strong> miteinander verglichen.<br />
Im Jahre 1971 hat Studienassessor Rudolf Renz im Anschluss an eine<br />
wissenschaftliche Analyse geprüft, ob Quellen im Geschichtsunterrricht der<br />
Oberstufe verwertbar seien. Als Systematik der Quellenbehandlung schlägt er<br />
folgenden Zehn-Punkte-Katalog <strong>als</strong> vornehmlich philologisches Modell in der GWU<br />
vor.<br />
1. a) Wie ist der Text gegliedert?<br />
b) In welchem grammatikalischen Zusammenhang stehen Abschnitte, Sätze<br />
bzw. Satzteile zueinander? (Syntaktisch-grammatikalischer Aspekt)<br />
2. a) Welche Bedeutung haben die Schlüsselwörter im Text?<br />
b) Wurden sie einem Bedeutungswandel unterworfen? (Semantischer Aspekt)<br />
96 Gerhard Schneider: Die Arbeit mit schriftlichen Quellen. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider<br />
(Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach Ts. 1999. Seiten 15 - 44, zit. 23ff.;<br />
Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Schwalbach Ts. 2000. Seiten 175ff.; Karl Pellens:<br />
Schülernaher Geschichtsunterricht. Freiburg im Brsg. 1975. Seiten 112 ff., Modell 115; Gisela<br />
Wagner: Quellen <strong>und</strong> Quelleninterpretation. In: Hans Süssmuth (Hg.): Historisch-politischer Unterricht.<br />
Medien. Band 2. 3. Auflage. Stuttgart 1978. Seiten 16 - 40, Modell einer <strong>Quellenarbeit</strong> für Klasse 10<br />
zur Westintegration Seite 33; Herbert Prokasky: Das Zeitalter der Industrialisierung. Paderborn 1988.<br />
Seiten 194f.<br />
99
3. a) Was sind die wichtigsten Stellen?<br />
b) Wo finden wir die Hauptaussage(n)?<br />
4. a) Ist der Text widerspruchsfrei <strong>und</strong> logisch?<br />
b) Können seine Begründungen, Folgerungen, Aussagen nachvollzogen <strong>und</strong><br />
kritisch überprüft werden?<br />
5. a) In welchem Zusammenhang stehen die einzelnen Aussagen mit der<br />
Gesamtheit des Textes?<br />
b) Wie wirken sie gegenseitig aufeinander ein <strong>und</strong> bedingen sich?<br />
(Hermeneutischer Zirkel)<br />
6. a) Welche Motive <strong>und</strong> Interessen bestimmen den Textautor?<br />
b) In welcher gesellschaftlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Position befindet er sich?<br />
(Ideologiekritik)<br />
c) Welche Bildungsvoraussetzungen besitzt er?<br />
d) Worin wird seine Zeit- <strong>und</strong> Standortgeb<strong>und</strong>enheit deutlich? Wodurch zeigt<br />
sich seine Tendenz?<br />
7. a) In welchem Verhältnis zu dem berichteten Ereignis <strong>und</strong> den behandelnden<br />
Personen steht der Autor?<br />
b) Ist er willens <strong>und</strong> fähig, die Wahrheit zu berichten?<br />
8. a) An welche Empfänger ist sein Schriftstück möglicherweise gerichtet <strong>und</strong> in<br />
welchem Verhältnis steht er zu ihnen? (Art des „Publikums")<br />
b) Mußte er eventuell Rücksicht nehmen?<br />
9. In welchem überlieferungsmäßigen <strong>und</strong> geschichtlichen Zusammenhang steht<br />
der Text?<br />
10. In welchem Verhältnis stehen die Aussagen des Textes über bestimmte<br />
Sachverhalte zu denen anderer Quellen? 97<br />
Im Jahre 1977 (1. Auflage) bzw. 1980 (2. Auflage) stellt Wolfgang Hug für die Praxis<br />
des Geschichtsunterrichts in der Sek<strong>und</strong>arstufe I eine "Fragenskala" in fünf Punkten<br />
vor. Er hat sie in Auseinandersetzung mit Rudolf Renz erarbeitet.<br />
1. Paraphrase:<br />
Was ist aus der Quelle zu erfahren? (Inhaltsangabe)<br />
Aus welchen Teilen besteht sie? (Gliederung)<br />
Was ist ihr Thema? (Überschrift)<br />
2. Inhaltsangabe:<br />
Was ist der Kern des Textes?<br />
Was wird im Text behauptet oder widerlegt?<br />
Welche Teilaspekte sind behandelt?<br />
97 Rudolf Renz: Prinzipien wissenschaftlicher Quellenanalyse <strong>und</strong> ihre Verwertbarkeit im<br />
Geschichtsunterricht. In: GWU 22, 1971. Seiten 536 - 551, zit. 550. Erstaunlich ist, dass nicht dieser<br />
Aufsatz, sondern ein Aufsatz Heinz Dieter Schmids den Unmut Schoebes hervorgerufen <strong>und</strong> damit<br />
den Didaktikerstreit ausgelöst hat; denn für Renz ist "die Quelle nicht mehr bloße Illustration, sondern<br />
das Mittel, um den Schüler in die Vergangenheit einzuführen <strong>und</strong> sie ihm gewissermaßen zur<br />
Gegenwart werden zu lassen" (Seite 551); vgl. dazu 3. 4.<br />
100
3. Begriffsanalyse:<br />
Welche Begriffe kommen mehrfach vor?<br />
Welches sind die Schlüsselbegriffe?<br />
Welchen Sinn gibt der Text diesen Begriffen?<br />
4. Sachkritik:<br />
Enthält der Text in sich Widersprüche?<br />
Was konnte der Verfasser der Quelle wissen, was nicht?<br />
Inwieweit ist der Text glaubwürdig?<br />
5. Ideologiekritik:<br />
Wann, von wem <strong>und</strong> für wen ist der Text verfaßt worden?<br />
Welchem Zweck sollte er (vermutlich) dienen?<br />
Welchen Standort nimmt der Verfasser ein? 98<br />
Hans-Jürgen Pandel, Professor für Didaktik der Geschichte an der Martin-Luther-<br />
Universität Halle-Wittenberg, bietet im Jahre 2000 ein Modell an, das er in Kenntnis<br />
<strong>und</strong> in Auseinandersetzung mit Rudolf Renz <strong>und</strong> Wolfgang Hug entwickelt hat:<br />
98<br />
Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. 1. <strong>und</strong> 2. Auflage. Frankfurt<br />
a. M. 1977 <strong>und</strong> 1980. Jeweils Seite 150.<br />
101
INTERPRETATIONSREGELN<br />
I 1. Die historische Frage<br />
N • Leseabsicht festlegen: Was wollen wir wissen? (autorenzentrierte, textzentrierte oder<br />
T wirkungszentrierte Leseabsicht?)<br />
E • Für welchen Zusammenhang suchen wir eine Antwort?<br />
R 2. Heuristik<br />
P • Quellen suchen<br />
R<br />
E<br />
• Quellengattung feststellen <strong>und</strong> bewußtmachen, welche Art von Aussagen zu erwarten sind<br />
T • Verstehenshilfen bereitstellen <strong>und</strong> nutzen (editorische Aufbereitung zur Kenntnis nehmen,<br />
A Register des Buches; Wörterbücher, Historische Lexika etc.)<br />
T • Untersuchungseinheiten festlegen (auf was im Text zu achten ist: Begriffe, Emotionswörter,<br />
I Wertungen, Topoi etc.)<br />
O • Handlungszusammenhänge herstellen<br />
N • Bedingungen benennen<br />
S • Motivationszusammenhänge ausfindig machen<br />
S • Weltbilder rekonstruieren<br />
C 3. Kritik<br />
H • Handelt es sich um eine authentische Quelle?<br />
R • Überlieferungsweise feststellen (Manuskript, Druckfassung, Übersetzung, Zitat)<br />
I • Abfassungszeit mit der Zeit der berichteten Ereignisse vergleichen (was ist dazwischen<br />
T geschehen?)<br />
T • Bestimmung des historischen Erfahrungs- <strong>und</strong> Handlungszusammenhangs<br />
E 4. Interpretation im engeren Sinne<br />
• Den eigenen Standort <strong>und</strong> die eigene Perspektive beschreiben (zeitlich, räumlich, sozial etc.)<br />
• Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs:<br />
a) Wissen aus späterer Zeit, Kenntnisse des Fortganges sind nicht zugelassen<br />
b) späteres Wissen einbeziehen<br />
• übersetzende, analysierende, ideologiekritische Interpretation<br />
• Ideologietopographien zu Rate ziehen<br />
• eine kleine Geschichte aus Anfang, Mittelteil <strong>und</strong> Schluß erzählen<br />
Abbildung 20: Interpretationsregeln <strong>und</strong> Interpretationsschritte für Quellen nach Hans-Jürgen Pandel<br />
(Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2000. Seite 180.<br />
(Flüchtigkeitsfehler sind stillschweigend korrigiert: fehlende Klammer unter 1. <strong>und</strong> 2.; "räum-räumlich" unter 4.)<br />
102
Den drei vorgestellten Modellen ist gemeinsam, dass sie sich auf schriftliche Quellen<br />
<strong>und</strong> den Geschichtsunterricht beschränken; nicht-schriftliche Quellen <strong>und</strong> die<br />
schulische sowie außerschulische politische Bildung, die über den<br />
Geschichtsunterricht hinausgehend fächerübergreifend - interdisziplinär orientiert ist,<br />
bleiben somit ausgeklammert. Renz, Hug <strong>und</strong> Pandel stellen Fragenkataloge<br />
zusammen, die Quellen, die nicht von selbst reden, zum Sprechen bringen sollen,<br />
<strong>und</strong> alle drei fordern, dies quellenkritisch zu tun.<br />
Auf den Methodiken der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fußt Rudolf<br />
Renz, der am stärksten philologisch orientiert ist. Er unterscheidet zwischen äußerer<br />
(niederer) Quellenkritik (Überlieferung: Echtheit, Autor, Zeit <strong>und</strong> Ort) <strong>und</strong> innerer<br />
(höherer) Quellenkritik (Inhalt: Was <strong>und</strong> Wie ). Sein Zehn-Punkte-Katalog will die<br />
"Kriterien der inneren Kritik mit denen der philologischen Textkritik (Punkt 1-5)"<br />
verknüpfen <strong>und</strong> das Hauptgewicht auf die Ideologiekritik legen; daher berücksichtigt<br />
er auch grammatikalisch-syntaktische, semantische <strong>und</strong> Gliederungsfragen. Bei<br />
einer mittelalterlichen Urk<strong>und</strong>e, die strengen Regeln folgt, lässt sich dieses<br />
philologische Modell gut anwenden. Es ist "objektivistisch" <strong>und</strong> normativ, da von<br />
subjektiven Fragestellungen unabhängige "Schlüsselwörter" <strong>und</strong> "Hauptaussagen"<br />
ermittelt werden sollen. Eine Quelle ist oft widersprüchlich statt logisch. Auch die<br />
"Bildungsvoraussetzungen" des Autors/der Autorin sind in der Regel nicht dem<br />
Quellentext zu entnehmen, <strong>und</strong> oft auch nicht, ob er willens <strong>und</strong> fähig ist, die<br />
Wahrheit zu sagen.<br />
Hugs Modell besticht durch seine Prägnanz <strong>und</strong> Kürze. Es verzettelt sich nicht in<br />
Details, doch kommen Quellenumfeld <strong>und</strong> Quellenzusammenhänge zu kurz. Das<br />
Frageraster will "analytische Gesichtspunkte zum systematischen Umgang mit der<br />
schriftlichen Überlieferung" bereitstellen <strong>und</strong> Schüler/innen befähigen, sich<br />
selbstständig mit Quellen auseinanderzusetzen.<br />
Pandel will "nicht unbedingt alles besser machen" <strong>als</strong> die von ihm vorgestellten<br />
Modelle Hugs <strong>und</strong> Renz', beansprucht aber zweierlei: 1. ein "schülerorientiertes<br />
Modell" vorzulegen, <strong>und</strong> 2. den "gegenwärtigen Interpretationsprozeß" zusätzlich<br />
zum geschriebenen Text mit einzubeziehen. Der zweite Punkt ist neu <strong>und</strong> originell,<br />
problematisch allerdings der erste, wenn ein Unterricht, der sich an Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schülern orientiert, den Fehler begeht, den lehrerbestimmten Unterricht in sein<br />
Gegenteil zu verkehren - ohne übrigens zu sagen, wie dies geschehen soll.<br />
Unberücksichtigt bleibt bei Pandel auch die Möglichkeit, computergestützt mit<br />
Quellen zu arbeiten - Renz <strong>und</strong> Hug konnten dies nicht vorausahnen.<br />
Die drei Modelle lassen Evaluations-, entwicklungsstufengerechte <strong>und</strong><br />
geschlechtsspezifische Fragen außer Acht <strong>und</strong> konnten, sieht man von Pandel ab,<br />
die computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> nicht mit einbeziehen. Alle Modelle sind, wie bei<br />
solchen Idealtypen üblich <strong>und</strong> gerechtfertigt, schematisch-regelhaft, obwohl dies von<br />
103
ihren Verfassern nicht so gewollt ist. Schon Renz (Seite 550) hatte angemerkt, dass<br />
er es nicht für nötig halte, alle zehn Punkte zu behandeln, sie <strong>als</strong>o permanentsukzessive<br />
<strong>und</strong> damit unflexibel im Unterricht anzuwenden.<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> beschränkt sich in den drei Modellen auf die Quelleninterpretation (so<br />
der Titel von Pandels Buch) <strong>und</strong> damit auf fachwissenschaftliche Aufgaben. Die weit<br />
über diese I. Stufe hinausgehenden Zielsetzungen zur <strong>Quellenarbeit</strong>, die auch die<br />
Lebensgeschichte <strong>und</strong> das körperlich-emotionale Selbst des lernenden Individuums<br />
erfassen, bleiben somit ausgeklammert.<br />
104
4. Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s mit Quellen<br />
Weitgehend selbstbestimmte, computergestützte<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der verfassungsrechtliche Auftrag der<br />
Persönlichkeitsentfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
Die Didaktik des neuen <strong>Lernen</strong>s will das weitgehend selbstbestimmte,<br />
computergestützte <strong>Lernen</strong> mit historisch-politischen, sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />
fremdsprachlichen Quellen vermitteln, ermöglichen, erforschen <strong>und</strong> verbessern. Falls<br />
es gelingt, dies umzusetzen, entsteht aus der bisherigen politische Bildung (PB) die<br />
Neue Politische Bildung (NPB) - aus den Quellen, an den Quellen <strong>und</strong> mit den<br />
Quellen. Sie erhält eine technologische Basis <strong>und</strong> wird aus Artikel 2 Absatz 1<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz abgeleitet, dort verankert <strong>und</strong> so verfassungsrechtlich legitimiert. Sie<br />
entwickelt Methoden, wie sich historisch-politische, sozialwissenschaftliche <strong>und</strong><br />
fremdsprachige <strong>Quellenarbeit</strong> anwenden <strong>und</strong> in die Praxis umsetzen lässt. Betroffen<br />
von diesen Herausforderungen sind vor allem die allgemein bildenden Schulen, die<br />
berufliche Ausbildung, die Hochschulen, die Erwachsenenbildung <strong>und</strong> Weiterbildung<br />
sowie die Fortbildung, insbesondere für Multiplikatoren.<br />
Didaktik des <strong>Lernen</strong>s mit Quellen heißt: auswählen, interpretieren, reflektieren,<br />
verstehen <strong>und</strong> generalisieren von Informationsquellen erster Hand durch die<br />
<strong>Lernen</strong>den im Sinne des Leitmotivs <strong>und</strong> den Lernzielen. Die Lehrenden werden in<br />
diesen Lernprozess mit einbezogen, lernen <strong>als</strong>o mit, sind aber unentbehrlich: <strong>als</strong><br />
fördernde Umwelt, die <strong>Lernen</strong>de begleitet, berät, anregt, unterstützt, ermuntert,<br />
tröstet, sofern sie dies wünschen, aber auch <strong>als</strong> fordernde Umwelt, die Leistung<br />
verlangt <strong>und</strong> nicht davor zurückscheut, sie einzufordern - selbst dann, wenn dies den<br />
<strong>Lernen</strong>den missfällt.<br />
4.1. Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich (Disco, ergo<br />
sum)<br />
Weitgehend selbstbestimmtes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> vornehmlich<br />
primärer, aktiver Lernprozess<br />
Das oberste Lernziel der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok. ist das weitgehend<br />
selbstbestimmte lebenslange <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen <strong>als</strong> übergeordnetes<br />
Leitmotiv: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich". (2.10.) Es will kein bloßes Kopfwissen, <strong>als</strong>o<br />
vornehmlich theoretisch-intellektuelles Wissen des Ichs vermitteln, sondern<br />
105
nachhaltig erarbeitetes, handlungsorientiertes Wissen, das das körperlich-emotionale<br />
Selbst mit einschließt <strong>und</strong> zum Praxistransfer befähigt. Es ist ein Unterschied, ob<br />
Wissen nur in Schule <strong>und</strong> Hochschule erworben <strong>und</strong> gespeichert, somit auf "Vorrat"<br />
gelernt wird, oder ob es ermöglicht, im Verlaufe des Lebens Schritt zu halten mit<br />
aktuellen, jeweils neuen Konfrontationen von Informationen <strong>und</strong> Veränderungen -<br />
kurzum zum lebenslangen <strong>Lernen</strong> auch ohne Lehrende. Sie sind, wenn dieser<br />
Lernprozess gelingt, nach Schule <strong>und</strong> Hochschule <strong>als</strong> sek<strong>und</strong>äre<br />
Sozialisationsinstanzen entbehrlich, aber nicht von vornherein.<br />
Der anvisierte Lernprozess geht davon aus, das es idealtypisch-modellhaft zwei<br />
Wege des <strong>Lernen</strong>s gibt: 1. durch Rezeption <strong>und</strong> Auseinandersetzung mit<br />
vorhandenem, vorgegebenem Wissen, das nachvollzogen, überprüft, kritisiert,<br />
ergänzt <strong>und</strong> so weiterentwickelt <strong>und</strong> neu aufgebaut, oft aber nur reproduziert <strong>und</strong><br />
konsumiert wird; 2. durch weitgehend selbstbestimmte Erarbeitung <strong>und</strong> Überprüfung<br />
neuen, entstehenden Wissens auf der Gr<strong>und</strong>lage von Quellen erster Hand, die den<br />
Rohstoff dafür liefern.<br />
Der erste Weg ist die Regel: Wissen aus analogen <strong>und</strong> digitalen Bibliotheken<br />
(Sek<strong>und</strong>ärliteratur: Fach-, Sach- <strong>und</strong> Schulbücher, Zeitschriften <strong>und</strong> Aufsätze,<br />
Datenbanken) <strong>und</strong> dem Internet u.a. wird ausgewertet, rezipiert, ergänzt, oft nur<br />
passiv reproduziert <strong>und</strong> konsumiert - es ist ein sek<strong>und</strong>ärer Lernprozess auf der Basis<br />
bestehenden, vorhandenen Wissens. Der zweite Weg ist in unserer schnelllebigen<br />
Zeit die Ausnahme von der Regel: kein fertiges Produkt, sondern Quellen <strong>und</strong> Daten<br />
sind der Rohstoff, aus dem selbstbestimmt <strong>neues</strong> Wissen entsteht - es ist ein<br />
vornehmlich primärer aktiver Lernprozess: mühsamer, zeit- <strong>und</strong> arbeitsaufwändiger<br />
<strong>als</strong> der vornehmlich sek<strong>und</strong>äre, passive.<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> orientiert sich am primären statt üblichen sek<strong>und</strong>ären Lernprozess.<br />
Damit können vor allem Jugendliche ihre individuellen Fähigkeiten an den Quellen<br />
erproben <strong>und</strong> aus ihnen aus erster Hand lernen statt fertiges Wissen passiv zu<br />
übernehmen <strong>und</strong> zu konsumieren - sei es von Multiplikatoren, sei es aus<br />
Schulbüchern, die Wissen aus zweiter, oft dritter oder unbekannter Hand anbieten<br />
<strong>und</strong> weitergeben.<br />
Die Unterscheidung ist, wie bereits gesagt, idealtypisch-modellhaft. Sie beruht auf<br />
einer ursprünglich auf Max Weber zurückgehenden "reinen" gedanklichen<br />
Konstruktion, die so in der Realität empirisch nicht vorfindbar ist <strong>und</strong> von störenden<br />
Faktoren abstrahiert, um historische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />
Erfahrungstatsachen gedanklich besser erfassen <strong>und</strong> miteinander vergleichen zu<br />
können. Ein Idealtypus ist daher die theoretisch einseitige "utopische" Steigerung von<br />
Elementen der Wirklichkeit, damit sie sich zu einem widerspruchslosen<br />
106
Idealkonstrukt zusammenfügen. 99 Einen voraussetzungslosen primären Lernprozess,<br />
der jedes Vorwissen ausschließt oder negiert, gibt es nicht.<br />
Aus dem hier vorgestellten Idealtypus oder Modell des selbstbestimmten,<br />
quellenorientierten <strong>und</strong> computergestützten <strong>Lernen</strong>s, aus dem sich keine<br />
"Wirklichkeit" ableiten lässt, ergibt sich die Aufgabe, zu erproben, zu überprüfen <strong>und</strong><br />
zu evaluieren, wie nahe oder wie fern die "pädagogische Wirklichkeit" <strong>und</strong> ihr Alltag<br />
zum idealtypischen Konstrukt stehen. Dies lässt sich nur an Schulen im In- <strong>und</strong><br />
Ausland sowie in der außerschulischen politischen Bildung testen.<br />
Parallelen zum hier vorgeschlagenen Modell ergeben sich mit dem "selbstregulierten<br />
<strong>Lernen</strong>", das in der PISA-Studie vorgestellt <strong>und</strong> empfohlen wird: "sich selbstständig<br />
Lernziele zu setzen, dem Inhalt <strong>und</strong> Ziel angemessene Techniken <strong>und</strong> Strategien<br />
auszuwählen <strong>und</strong> sie auch einzusetzen". Dieses Modell geht davon aus, dass<br />
<strong>Lernen</strong>de sich selbst realistisch motivieren, korrigieren, evaluieren <strong>und</strong> mit "einem<br />
flexibel einsetzbaren Repertoire von Strategien zur Wissensaufnahme <strong>und</strong><br />
Wissensverarbeitung sowie zur Überwachung der am <strong>Lernen</strong> beteiligten Prozesse"<br />
arbeiten können. "Im Unterschied zu fachbezogenen, kognitiven Kompetenzen<br />
beruht selbstreguliertes <strong>Lernen</strong> auf einer Handlungskompetenz, bei der die<br />
insgesamt notwendigen <strong>und</strong>/oder verfügbaren kognitiven, motivationalen <strong>und</strong><br />
sozialen Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln <strong>und</strong> Leisten<br />
zusammenwirken." 100 Dieses Modell stellt höhere Anforderungen <strong>und</strong> Erwartungen an<br />
die <strong>Lernen</strong>den <strong>als</strong> das hier vertretene des weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s,<br />
das die Lehrenden in den Lernprozess integrieren will <strong>und</strong> sie für unentbehrlich hält.<br />
Wie beim selbstregulierten <strong>Lernen</strong> geht es um "fächerübergreifende Kompetenz"<br />
(Jürgen Baumert u.a.). Ähnlichkeiten ergeben sich mit dem "entdeckenden <strong>Lernen</strong>",<br />
auch forschendes <strong>Lernen</strong> genannt, das der wiederholt zitierte Geschichtsdidaktiker<br />
Wolfgang Hug (3.7.) empfiehlt. 101<br />
99 Max Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong> sozialpolitischer Erkenntnis. In:<br />
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988. Seiten 146ff. <strong>und</strong> 153ff.<br />
100 PISA 2000. Seite 271- 298, zit. 271. Auf Seite 298 ist die Fachliteratur aufgeführt, u.a. Baumert,<br />
Klieme, Neubrand u.a. (1999), Simons (1992), Weinert (1999) <strong>und</strong> Boekaerts (1999).<br />
101 Wolfgang Hug: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sek<strong>und</strong>arstufe I. Befragungen, Analysen <strong>und</strong><br />
Perspektiven. Frankfurt a. M. 1980. Seiten 152ff., zur Lehrer/innenrolle Seite 154.<br />
107
4.2. Wozu <strong>und</strong> warum lernen?<br />
Zwei ausgewählte interdependente Teillernziele: Neue Politische Bildung<br />
(NPB) <strong>und</strong> Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
Die D-Dok. kennt keine Lehrziele, sondern nur Lernziele, die sich <strong>als</strong> Teilziele aus<br />
dem Leitmotiv des weitgehend selbstbestimmten lebenslangen <strong>Lernen</strong>s an <strong>und</strong> mit<br />
den Quellen ableiten lassen oder mit ihm zusammenhängen (<strong>Quellenarbeit</strong>). Diese<br />
Teillernziele bedingen sich gegenseitig so, dass sie nur idealtypisch voneinander<br />
getrennt werden können. Sie sind davon abhängig, ob sie an allgemein bildenden<br />
oder berufsbildenden Schulen, an Hochschulen, in der Erwachsenenbildung oder in<br />
der Weiter- <strong>und</strong> Fortbildung umgesetzt werden sollen <strong>und</strong> bedürfen darüber hinaus<br />
einer entwicklungsstufengerechten Differenzierung.<br />
Unter 5.2. wird der Katalog der Teillernziele für allgemein bildende Schulen <strong>als</strong><br />
Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> vorgestellt <strong>und</strong> unter 7. nach Adressen<br />
für die schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung aufgeschlüsselt.<br />
Im Folgenden werden zwei aufeinander bezogenen Lernziele <strong>als</strong> Schwerpunkte der<br />
D-Dok. herausgegriffen: 1. Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong> 2. Selbst- <strong>und</strong> Ich-<br />
Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz.<br />
-1. Neue Politische Bildung (NPB): Die <strong>Lernen</strong>den sollen durch Üben weitgehend<br />
selbstbestimmt Kompetenzen erwerben, um sich in der Quellendatenbank<br />
interdisziplinär nach ihren Fragestellungen eigenständig-kritisch zurechtzufinden <strong>und</strong><br />
so den Herausforderungen des Informationszeitalters in der Demokratie gewachsen<br />
werden. Zu dieser Neuen Politischen Bildung (NPB) gehören: 1. historische,<br />
politische, sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> fremdsprachliche Kenntnisse, 2. das Wissen<br />
um Rechte <strong>und</strong> Pflichten in der Demokratie, um an ihr teilhaben <strong>und</strong> sie schützen zu<br />
können, 3. mathematisch-technische <strong>und</strong> praktische Fertigkeiten, sich Zugang zu<br />
vielfältigen Informationsquellen zu verschaffen, mit ihnen kritisch umzugehen <strong>und</strong> so<br />
von ihnen zu profitieren. Diese Fähigkeiten sollen durch die D-Dok. vermittelt <strong>und</strong> in<br />
der Informationsgesellschaft umgesetzt werden. In der Demokratie bieten sich dazu<br />
viele Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen: sich selbst zu entfalten, an ihr zu partizipieren <strong>und</strong><br />
sich in ihr gesellschaftlich oder politisch zu engagieren.<br />
Eine so verstandene politische Bildung erfüllt eine Doppelfunktion: "Sie ist<br />
unverzichtbar", so B<strong>und</strong>estagspräsident Wolfgang Thierse in einem Schreiben an<br />
mich vom 11. Januar 2002, "wenn die Teilhabe an unserer Demokratie nicht nur<br />
abstraktes Angebot bleiben, sondern von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern <strong>als</strong> konkrete<br />
Möglichkeit wahrgenommen werden soll, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu<br />
108
nehmen <strong>und</strong> unser Staatswesen zu gestalten." 102 Aber umgekehrt ist politische<br />
Bildung auch unabdingbar für die Selbsterhaltung einer freiheitlichen Demokratie,<br />
denn sie lebt von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern, die sie tragen <strong>und</strong> weiterentwickeln.<br />
Zur Konzeption der Neuen Politischen Bildung (NPB) <strong>und</strong> ihrer idealtypischen<br />
Charakterologie wird auf 6., vor allem 6.1. - 6.4. verwiesen.<br />
-2. Selbstentfaltung <strong>und</strong> Ich- Entwicklung: Zur Handlungsfreiheit <strong>und</strong> Freiheit der<br />
Person heißt es in Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz: "Jeder hat das Recht auf die freie<br />
Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt <strong>und</strong> nicht<br />
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Nach dem<br />
Verfassungsrang ist die freie Persönlichkeit mit der unantastbaren Menschenwürde<br />
ausgestattet (Artikel 1 Absatz 1 GG) <strong>und</strong> der oberste Wert schlechthin. Artikel 2<br />
Absatz 1 GG verbürgt ein subjektiv-öffentliches Recht, das unmittelbar gilt,<br />
einklagbar <strong>und</strong> gegen unberechtigte staatliche Eingriffe geschützt ist. Das<br />
Gr<strong>und</strong>recht bindet daher die Staatsgewalt <strong>und</strong> steht nicht zur Disposition des<br />
Gesetzgebers. Als allgemeines Menschenrecht steht das Jedermann-Recht aus<br />
Artikel 2 Absatz 1 GG auch Ausländern/innen in <strong>Deutschland</strong> zu. Zwar ist das<br />
Gr<strong>und</strong>recht der Freizügigkeit auf Deutsche <strong>und</strong> das B<strong>und</strong>esgebiet beschränkt (<br />
Artikel 11 GG), dies schließt jedoch nicht aus, Artikel 2 Absatz 1 GG auf den<br />
Aufenthalt von Menschen in der BRD anzuwenden. 103<br />
Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 GG<br />
schützt nach dem Elfes-Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 16. Januar 1957<br />
die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne, nicht nur einen "Kernbereich der<br />
Persönlichkeit". 104 Das Gr<strong>und</strong>recht stößt allerdings auf drei Schranken: 1. ist es nur<br />
innerhalb der "verfassungsmäßigen Ordnung" geschützt, darf <strong>als</strong>o nicht für<br />
102 Ich hatte mich am 19. November 2001 an Wolfgang Thierse mit der Bitte um ideelle Unterstützung<br />
für das Projekt gewandt, z.B. bei der Nutzung der B<strong>und</strong>estagsbibliothek sowie der Beschaffung von<br />
Dokumentenkopien, Fachbüchern, Materialien u.a. Er hat dies in seinem Antwortschreiben vom 11.<br />
Januar 2002 befürwortet <strong>und</strong> so begründet: "Wie Sie völlig zu Recht hervorheben, liegt mir die<br />
politische Bildung sehr am Herzen. Sie ist unverzichtbar, wenn die Teilhabe an unserer Demokratie<br />
nicht nur abstraktes Angebot bleiben, sondern von den Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern <strong>als</strong> konkrete<br />
Möglichkeit wahrgenommen werden soll, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen <strong>und</strong> unser<br />
Staatswesen zu gestalten. Ich begrüße deshalb alle Projekte, die durch die Vermittlung von<br />
Kenntnissen zur politischen Bildung beitragen." - Ein Großteil der Reden Thierses <strong>als</strong><br />
B<strong>und</strong>estagspräsident sind in die D-Dok. übernommen worden, weil sie eine F<strong>und</strong>grube für die<br />
politische Bildung sind.<br />
103 Beschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 18. Juli 1973: BVerfGE 35, 382 - 409, zit. 399. Die<br />
B<strong>und</strong>esregierung hatte die Auffassung vertreten, Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste Ausländern nur im<br />
Rahmen der allgemeinen Gesetze ein Aufenthaltsrecht, so dass nach dem Ausländergesetz vom 28.<br />
April 1965 kein Aufenthaltsanspruch bestehe (394). Vgl. dazu auch BVerfGE 6, 32ff., 36.<br />
104 BVerfGE 6, 32 - 45, zit. 37f. Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG gilt auch für<br />
Handelsgesellschaften <strong>und</strong> gewährleistet sie auf wirtschaftlichem Gebiet (Urteil des<br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 29. Juli 1959: BVerfGE 10, 89ff., 99). Zum Elfes-Urteil: Adalbert<br />
Podlech in: AK-GG-Stein 2. Auflage 1989. Art. 2 Abs. 1 I Rz 6-16.<br />
109
verfassungsfremde <strong>und</strong> -feindliche Ziele missbraucht werden; 105 2. ist es durch "die<br />
Rechte anderer" begrenzt, die nicht verletzt werden dürfen, soweit sie subjektive<br />
Rechte des Privatrechts <strong>und</strong> damit schutzwürdige Interessen sind. Dies entspricht<br />
dem Rechtsgr<strong>und</strong>satz des neminem laedere; 3. ist es an das "Sittengesetz"<br />
geb<strong>und</strong>en, worunter die herrschenden Moralvorstellungen der Allgemeinheit zu<br />
verstehen sind. Dies ist zu vage, da sich z. B. der sexuelle Moralkodex nicht<br />
verallgemeinern lässt <strong>und</strong> einem Wandel unterworfen ist. 106<br />
Bei Artikel 2 Absatz 1 GG handelt es sich um ein für jedermann verbürgtes<br />
Gr<strong>und</strong>recht, es sagt aber nichts darüber aus, ob <strong>und</strong> wie es individuell genutzt oder<br />
realisiert wird. Über die Sollensvorschriften gibt es sehr viel Literatur <strong>und</strong><br />
Kommentare, die sich jedoch - ihrem normativen Charakter entsprechend - darüber<br />
ausschweigen, wie es um den empirischen Bef<strong>und</strong> des Artikels 2 Absatz 1 GG<br />
bestellt ist. Hier geht es um die Kluft, die zwischen Verfassungsrecht <strong>und</strong><br />
Verfassungswirklichkeit besteht, zwischen Sollen <strong>und</strong> Sein, zwischen Norm <strong>und</strong><br />
Realität.<br />
Verfassungs- <strong>und</strong> Staatsrechtler weisen darauf hin, dass Artikel 2 Absatz 1 GG eine<br />
"Gr<strong>und</strong>rechtsmündigkeit" voraussetzt, die auch für Kinder gilt. So bezeichnet Josef<br />
Isensee "die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit zur Eigenverantwortung"<br />
<strong>als</strong> Erziehungsideal <strong>und</strong> ungeschriebenes Leitbild. Er definiert das Kindeswohl, das<br />
nach Artikel 6 Absatz 2 GG "zuvörderst" den Eltern obliegt, <strong>als</strong> "leibliche, seelische<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Tüchtigkeit". Den Auftrag der Schule sieht er darin, "zu<br />
eigenverantwortlichem Gebrauch der gr<strong>und</strong>rechtlichen Freiheit anzuleiten". 107<br />
Thomas Oppermann weist der fächerübergreifenden politischen Bildung eine<br />
Sonderstellung bei der Selbstgestaltung des eigenen Lebensweges zu, die<br />
Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten voraussetze. Für ihn ist Leistung ein "unabdingbarer<br />
Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung, somit ein Entfaltungsraum für das<br />
Gr<strong>und</strong>recht aus Art. 2 Abs. 1 GG". Für Oppermann ist das Gr<strong>und</strong>gesetz untrennbar<br />
"mit dem Appell an die Leistung im Sinne der Erfüllung quantitativer <strong>und</strong> qualitativer<br />
105 Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell <strong>und</strong> materiell mit der<br />
Verfassung in Einklang steht (BVerfGE 6, 32, zit. 38f. [Elfes]). Vgl. dazu Starck, in: v.<br />
Mangoldt/Klein/Starck (1999), GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnrn 23-30.<br />
106 Günter Erbel: Das Sittengesetz <strong>als</strong> Schranke der Gr<strong>und</strong>rechte. Ein Beitrag zur Auslegung des Art.<br />
2 Abs. 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Berlin 1971. Dass das Sittengesetz zeit- <strong>und</strong> anschauungsbedingt ist,<br />
beweist auch die Rechtsprechung; vgl. Erbel, Seiten 50ff., zur Verfassung 145ff. Eine<br />
Bestandsaufnahme gibt Jürgen Müller: Auswirkungen der unterschiedlichen Auffassungen zum<br />
Rechtscharakter des Art. 2 Abs. 1 GG <strong>und</strong> zu dessen Schranken. Darstellung <strong>und</strong> Kritik. Hamburg<br />
1972.<br />
107 Josef Isensee: Gr<strong>und</strong>rechtsvoraussetzungen <strong>und</strong> Verfassungserwartungen. In: Handbuch des<br />
Staatsrechts der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Herausgegeben von Josef Isensee <strong>und</strong> Paul Kirchhof.<br />
Band V. Heidelberg 1992. Seite 443.<br />
110
Standards verb<strong>und</strong>en", um die eigenen Entwicklungschancen zu erkennen <strong>und</strong><br />
wahrzunehmen. 108<br />
Einverständnis herrscht unter den Verfassungs- <strong>und</strong> Staatrechtlern auch darüber,<br />
dass Artikel 2 Absatz 1 GG Toleranz gebietet <strong>und</strong> Indoktrination verbietet. Dies folgt<br />
aus dem "Persönlichkeitsrecht des Kindes" <strong>und</strong> dem "Gr<strong>und</strong>recht der Schüler", die<br />
Eltern ebenso verpflichten wie Schulen <strong>und</strong> sie damit binden. 109 Zehn Jahre, bevor<br />
das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Juni 1977 zum<br />
hessischen Gesetz über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26.<br />
Oktober 1976 dem einzelnen Kind das Recht "auf eine möglichst ungehinderte<br />
Entfaltung seiner Persönlichkeit <strong>und</strong> damit seiner Anlagen <strong>und</strong> Befähigungen"<br />
bestätigte 110 , hatte Ekkehart Stein in seiner gr<strong>und</strong>legenden, wenngleich inzwischen<br />
veralteten Studie das "Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule"<br />
begründet <strong>und</strong> hervorgehoben, dass Kinder <strong>und</strong> Schüler eigenwertige Subjekte, aber<br />
keine Objekte staatlicher Erziehungsmaßnahmen seien. 111 Das Kind hat auch ein<br />
Recht auf Kenntnis seiner Abstammung, da sie - so Christian Starck - "wichtige<br />
Anknüpfungspunkte für das Verständnis <strong>und</strong> die Entfaltung der eigenen<br />
Individualität" liefert. 112<br />
Das Gr<strong>und</strong>recht aus Artikel 2 Absatz 1 GG ist kein normatives Abstraktum, sondern<br />
ein konkretes Lernziel, das lebenslang gilt (2.10.). Es geht um Reifungsprozesse<br />
(Maturational Processes), die einer entwicklungsstufengerechten "fördernden<br />
Umwelt" (Facilitating Environment) bedürfen <strong>und</strong> über das Konzept Winnicotts<br />
hinausgehend auch einer Leistung fordernden Umwelt (Facilitating and Demanding<br />
Environment). Sie werden so von der primären, <strong>als</strong>o familialen auf die sek<strong>und</strong>äre, vor<br />
allem schulische Sozialisation übertragen, jedoch entwicklungsphasengerecht<br />
abgewandelt <strong>und</strong> mit dem Leistungsappell aus Artikel 2 Absatz 2 GG verknüpft.<br />
In den ersten Lebensjahren ist eine Bezugsperson erforderlich, in der Regel die<br />
Mutter, die Geburtshelferdienste leistet <strong>und</strong> eine Spiegelfunktion bei der Entstehung<br />
des Selbst <strong>und</strong> des Ichs ausübt, damit das Kind sich narzisstisch entfalten <strong>und</strong> ein<br />
ges<strong>und</strong>es Selbstwertgefühl entwickeln kann (1.4.). Unentbehrlich sind aber auch<br />
108 Thomas Oppermann: Schule <strong>und</strong> berufliche Ausbildung. In: Handbuch des Staatsrechts der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Band VI. Heidelberg 1989. Seiten 329ff., zit. 344ff., 348, 349.<br />
109 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnrn. 139 ("Gr<strong>und</strong>recht der<br />
Schüler"), 171 ("Persönlichkeitsrecht des Kindes") mit Nachweisen.<br />
110 BVerfGE 45, 400 - 421, zit. 417 (Ein Recht auf Bildung ist im GG nicht verankert <strong>und</strong> vom<br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgericht ebenda offen gelassen worden). - Das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG "setzt<br />
die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person <strong>als</strong> unabdingbar<br />
voraus", gilt <strong>als</strong>o nicht für Tote; so das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seiner "Mephisto"-Entscheidung<br />
vom 24. Februar 1971, die Klaus Manns Schlüsselroman "Mephisto" über Gustaf Gründgens betrifft,<br />
der am 7. Oktober 1963 gestorben war (BVerfGE 30, 173ff., zit. 194).<br />
111 Ekkehart Stein: Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule. Neuwied/Berlin 1967.<br />
Vgl. dazu neu Ekkehart Stein/Götz Frank: Staatrecht. 17. Auflage. Tübingen 2000. Seiten 433ff.<br />
112 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 102.<br />
111
Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, die unter gr<strong>und</strong>legend veränderten Bedingungen<br />
Schulkinder <strong>und</strong> Schüler/innen fördern <strong>und</strong> fordern, damit sie lernen, sich zu<br />
entfalten <strong>und</strong> in die Informationsgesellschaft "hineinzuwachsen". Was der<br />
Psychoanalytiker Martin Altmeyer <strong>als</strong> "Intersubjektivität" der narzisstischen<br />
Selbstbezogenheit verfremdet, hat der Jurist Dieter Suhr glänzend <strong>und</strong> für jedermann<br />
verständlich ausgedrückt: <strong>als</strong> "Entfaltung der Menschen durch die Menschen", da<br />
Artikel 2 Absatz 1 GG einer sozialen Brücke durch "andere <strong>als</strong> Bedingung" der<br />
eigenen Existenz bedürfe. 113<br />
Diese "Entfaltung der Menschen durch die Menschen" setzt bei Multiplikatoren<br />
voraus, dass sie zur Selbstreflektion oder zur inneren Selbstwahrnehmung bereit <strong>und</strong><br />
fähig sind. Sie sind erlernbar. Sie erfordern jedoch, innere Blockaden <strong>und</strong> schwarze<br />
Löcher (1.4.) wahrzunehmen. Wer <strong>als</strong> Lehrer oder Lehrerin den Mut hat, die D-Dok.<br />
in der Schule zu erproben, begibt sich auf eine unbekannte Reise nicht nur in die<br />
deutsche, sondern auch in die eigene Vergangenheit. Dann können Multiplikatoren<br />
nicht umhin, sich emotional <strong>und</strong> intellektuell damit auseinanderzusetzen, ob sie sich<br />
den Herausforderungen der <strong>Quellenarbeit</strong> in der II. Stufe stellen oder ihnen<br />
ausweichen. Oft wird diese Konfrontation mit dem eigenen Selbst so brüsk sein, dass<br />
eine Erprobung der D-Dok. im Unterricht ausscheidet oder scheitert.<br />
Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer sind kein Elternersatz <strong>und</strong> keine Psychotherapeuten, obwohl<br />
sie von Kindern <strong>und</strong> Schülern/innen so oft - meist unbewusst - wahrgenommen<br />
werden, <strong>und</strong> Schulverwaltungen dies manchmal von ihnen erwarten. Es geht nicht<br />
darum, Abhängigkeitsverhältnisse aus der Kindheit zu pflegen <strong>und</strong> zu verlängern, um<br />
sie auf Schule <strong>und</strong> Ausbildung auszudehnen <strong>und</strong> so fortzusetzen, sondern es geht<br />
langfristig darum, sie zu entpersonalisieren <strong>und</strong> damit aufzuheben. Die D-Dok. will<br />
dies fördern dadurch, dass die von der Bezugsperson, <strong>als</strong>o in der Regel von der<br />
Mutter, ausgeübte primäre Spiegelfunktion vorübergehend sek<strong>und</strong>är von<br />
Lehrern/innen wahrgenommen, aber schließlich von Quellen <strong>als</strong> Informationen erster<br />
Hand übernommen <strong>und</strong> damit versachlicht wird - wie in 2.8.<strong>und</strong> 2.9. beschrieben.<br />
Erst damit werden Lehrende im selbstbestimmten Lernprozess entbehrlich.<br />
Die Realitäten in Familie, Schule <strong>und</strong> Ausbildung stimmen häufig nicht mit den<br />
Sollensvorschriften überein. Am 29. Juli 1968 hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
zum Artikel 6 Absatz 2 GG ausgeführt: "Die Anerkennung der Elternverantwortung<br />
<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Rechte findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind<br />
des Schutzes <strong>und</strong> der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen<br />
Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem<br />
Menschenbilde des Gr<strong>und</strong>gesetzes entspricht." 114 So sollte es sein. Viele Eltern<br />
113 Martin Altmeyer: Narzißmus <strong>und</strong> Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit.<br />
Göttingen 2000; Dieter Suhr: Entfaltung der Menschen durch die Menschen. Zur Gr<strong>und</strong>rechtsdogmatik<br />
der Persönlichkeitsentfaltung, der Ausübungsgemeinschaften <strong>und</strong> des Eigentums. Berlin 1976. Seiten<br />
80ff., zit. 88. Zur Entstehung des Art. 2 Abs. 1 GG <strong>und</strong> zum Sittengesetz: Seiten 51ff. <strong>und</strong> 151ff.<br />
114 BVerfGE 24, 119ff., zit. 144. - Ist das Kindeswohl gefährdet, gelten die §§ 1666ff. BGB.<br />
112
finden jedoch keine oder nur wenig Zeit für ihre Kinder <strong>und</strong> betäuben ihr schlechtes<br />
Gewissen, das sie ihnen gegenüber empfinden, mit klingender Münze, <strong>als</strong> könnten<br />
sie ihnen auszahlen, was sie ihnen schuldig geblieben sind: emotionalen Zugang<br />
(Empathie), Wärme, Geborgenheit <strong>und</strong> nicht zuletzt Verantwortung, Zuspruch, Halt<br />
<strong>und</strong> Beispiel.<br />
"Kinder dürfen ihre Eltern berechtigt anklagen", so Winnicott, "wenn sie ihnen,<br />
nachdem sie sie in die Welt gesetzt haben, nicht den Start ins Leben ermöglichen,<br />
den zu geben sie verpflichtet sind." 115 Dies ändert jedoch nichts daran, dass solche<br />
gestörten oder kaputten Familien Gesellschaft <strong>und</strong> Staat enorm belasten <strong>und</strong> sich<br />
verheerend auf Schule <strong>und</strong> Ausbildung auswirken. Nachträglich reparieren, was in<br />
der Familie gescheitert ist, können Schule <strong>und</strong> Gesellschaft nur sehr begrenzt,<br />
allenfalls sek<strong>und</strong>är (2.9.). Eltern, die versagt haben, <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />
Schulverwaltungen muten Lehrern/innen oft zu, zusätzlich zu ihren Lehraufgaben<br />
einen psychologischen <strong>und</strong> familiären Lastenausgleich zu übernehmen.<br />
4.3. Was recherchieren <strong>und</strong> wie selektieren?<br />
Fragestellungen <strong>und</strong> Teilbereiche technischer <strong>und</strong> mathematischer<br />
Kompetenz: Vorauswahl <strong>und</strong> Auswahl von Informationen durch die<br />
<strong>Lernen</strong>den mit den Lehrenden <strong>als</strong> fördernde <strong>und</strong> fordernde Umwelt<br />
Technische Voraussetzung ist ein Desktop Computer oder ein Notebook/Laptop<br />
(Hardware) mit DVD-Laufwerk <strong>als</strong> Medium <strong>und</strong> der erforderlichen Software. Ohne sie<br />
<strong>und</strong> die Fertigkeiten, mit ihnen umzugehen, ist der Zugang zur D-Dok. blockiert. Auf<br />
die technische Kurzanleitung im Booklet der DVD-D-Dok. <strong>und</strong> die dort unter<br />
Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen gespeicherte ausführliche Testversion zur Software wird<br />
verwiesen.<br />
Informationen aus erster Hand recherchieren <strong>und</strong> selektieren heißt: Quellen nach<br />
Themen- <strong>und</strong> Fragestellungen suchen <strong>und</strong> finden, sammeln <strong>und</strong> wählen, heuristisch<br />
sichten, reflektieren <strong>und</strong> endgültig auswählen. Ein zielloses Surfen in einem Meer<br />
von Informationen dient allenfalls dem Zeitvertreib, hilft aber nicht, zielgerichtet<br />
Informationen zu beschaffen. Angesichts des breiten, weiten <strong>und</strong> umfangreichen<br />
115 D. W. Winnicott: Kind, Familie <strong>und</strong> Umwelt. München/Basel 1969. Seite 231. - Winnicott meinte,<br />
dass die Erkenntnis des Wertes der Familie stark zugenommen habe <strong>und</strong> dass die "lange <strong>und</strong><br />
mühsame Aufgabe der Eltern, ihre Kinder genau kennenzulernen, eine Arbeit ist, für die sich die Mühe<br />
lohnt. Und wir glauben tatsächlich, daß dies die einzige wirkliche Gr<strong>und</strong>lage für den Aufbau der<br />
menschlichen Gesellschaft darstellt <strong>und</strong> der einzige Weg ist, wie man eine demokratische Einstellung<br />
gewinnt." (ebenda)<br />
113
Quellenf<strong>und</strong>us, den die Datenbank anbietet, kann ich mir die Themen, über die ich<br />
Informationen suche, in der Regel selbst aussuchen.<br />
Da die D-Dok. nur Rohstoff-Informationen <strong>als</strong> Quellen <strong>und</strong> keine fertigen Antworten<br />
<strong>und</strong> Meinungen anbietet, stellt sich die Frage, was ich will. Wie beschaffe ich mir jene<br />
Informationen, die ich suche? Habe ich sie gef<strong>und</strong>en, ausgeschöpft oder übersehen?<br />
Hier geht es zunächst um die Informationsrecherche <strong>und</strong> -beschaffung.<br />
Die dafür erforderliche Kompetenz entspricht großenteils der in der PISA-Studie I<br />
beschriebenen "mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung" (Mathematical Literacy). Sie soll<br />
dazu befähigen, "die Anwendbarkeit mathematischer Konzepte <strong>und</strong> Modelle auf<br />
alltägliche - vor allem auch offene, nicht gut definierte - Problemstellungen zu<br />
erkennen, die einem Problem zu Gr<strong>und</strong>e liegende mathematische Struktur zu sehen<br />
<strong>und</strong> Aufgabenstellungen in mathematische Operationen zu übersetzen. Den Kern<br />
von Mathematical Literacy bildet somit das Anwenden, verstanden <strong>als</strong> Prozess des<br />
Modellierens von Situationen mithilfe mathematischer Begriffe." 116 An die Stelle einer<br />
"fertigen" oder "richtigen" Mathematik tritt ein "Mathematisierungsprozess": das<br />
"Verknüpfen von Situationen" mit mathematischen Ansätzen, bezogen auf<br />
anwendungsbezogene Aufgaben beim "Prozess der Erstellung, Verarbeitung <strong>und</strong><br />
Interpretation eines mathematischen Modells", so dass die Lösung mathematischer<br />
Aufgaben <strong>als</strong> "Modellierungsprozess" erscheint. 117<br />
Dazu befähigen die in der technischen Kurzanleitung der DVD-D-Dok. aufgeführten<br />
<strong>und</strong> in der Testversion (DVD-Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen) ausführlich<br />
beschriebenen Suchoptionen mit ihren anwendungsbezogenen "offenen"<br />
mathematischen Operationen, die auf dem Modell der Booleschen Algebra<br />
(Schaltalgebra) mit ihren binären Verknüpfungen von Eingangs- <strong>und</strong><br />
Ausgangsvariablen beruhen. Sie lassen sich auch graphisch <strong>und</strong> <strong>als</strong><br />
Schaltfunktionen darstellen <strong>und</strong> so veranschaulichen. Auf die Ausführungen unter<br />
4.6.<strong>und</strong> 4.7., wo es um die modellhafte Generalisierung des Textverstehens geht,<br />
wird verwiesen. Da die Booleschen Suchprozesse auch technische Fertigkeiten im<br />
Umgang mit Hardware <strong>und</strong> Software erfordern, wird in 4.3. von einem Teilbereich<br />
technischer <strong>und</strong> mathematischer Kompetenz gesprochen. Dies entspricht den<br />
"Anforderungen des gegenwärtigen <strong>und</strong> künftigen Lebens einer Person <strong>als</strong><br />
konstruktivem, engagiertem <strong>und</strong> reflektierendem Bürger". 118<br />
Erste prozessuale Operation ist die Fragestellung oder das Forschungsinteresse:<br />
Themenvorschläge <strong>als</strong> Themenkatalog sammeln, sie historisch-politisch <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftlich hinterfragen, diskutieren <strong>und</strong> bewerten.<br />
116 PISA 2000. Seite 141f. Zusammenfassende Darstellung der PISA-Dimensionen Seite 23.<br />
117 PISA 2000. Seite 143ff. Dort sind auch Literaturhinweise aufgeführt.<br />
118 PISA 2000. Seite 23 zur "mathematischen Gr<strong>und</strong>bildung".<br />
114
Themeneinfälle beruhen auf Intuitionen, die möglichst spontan, <strong>als</strong>o ohne langes<br />
Überlegen, Nachdenken, Reflektieren oder gar Grübeln "da sind". Sie sollen den<br />
Quellenf<strong>und</strong>us der D-Dok., der virtuell vorliegt, aktivieren <strong>und</strong> erschließen helfen.<br />
Ohne Fragen, d. h. Forschungsinteressen, keine Antworten; denn Quellen sprechen<br />
nicht für sich selbst <strong>und</strong> von allein, sondern nur, wenn sie "angezapft" werden. Die<br />
Datenbank bietet dafür Politikfelder <strong>Deutschland</strong>s nach innen <strong>und</strong> nach außen in den<br />
Jahren 1945 - 2004 an, die dem Katalog in 2.2. entnommen werden können.<br />
Themenstellung <strong>und</strong> Fragestellungen sollen zunächst vage bleiben <strong>und</strong> nicht zu sehr<br />
eingeengt - <strong>als</strong>o offen sein. Es ist wichtig, dass die <strong>Lernen</strong>den sie diskutieren,<br />
"basisdemokratisch" aushandeln <strong>und</strong> einen mehrheitlich breiten Konsens über sie<br />
erzielen. Nur so können sie sich mit ihnen identifizieren <strong>und</strong> sich für sie engagieren.<br />
Von Lehrern/innen oder Lehrplänen aufoktroyierte Themen, die offen oder versteckt<br />
Unmut, auch angepasstes Zwangsverhalten oder eine innere Abwehr auslösen<br />
können, eignen sich nicht zum selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>. Suggestiv sind Fragen, die<br />
die Antworten vorwegnehmen oder sie präjudizieren.<br />
Idealtypische Fragestellungen oder Forschungsinteressen<br />
Was interessiert mich?<br />
Was will ich wissen?<br />
Wie sollen Thema <strong>und</strong> Fragestellungen ungefähr lauten?<br />
Gründe dafür?<br />
Sind die Fragestellungen offen oder relativ festgelegt?<br />
Alternativen dazu?<br />
Was sind die Bezugsfelder?<br />
Wie grenze ich sie ein oder erweitere sie?<br />
Worin besteht mein oder das Vorwissen?<br />
Was sind meine Erwartungen?<br />
Meine Ahnungen?<br />
Meine Hypothesen?<br />
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Fragestellungen?<br />
Fragen entspringen der kindlichen Neugier <strong>und</strong> dem Staunen darüber, was es in der<br />
Welt alles zu entdecken gibt. Sie sind der Ursprung jeder Erfahrung, jeder Erkenntnis<br />
<strong>und</strong> des gespeicherten menschlichen Wissens, aber auch der Motor von<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung, die es ohne sie nicht gäbe. Zu den Kernaufgaben der<br />
Schule gehört es, diese kindliche Neugier <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Lebendigkeit<br />
<strong>und</strong> Spontaneität zu fördern, statt sie - wie familiär oft geschieht - zu unterdrücken<br />
<strong>und</strong> damit zum Versiegen zu bringen.<br />
Für den unter 2.6. (Quellen) zitierten Johann Gustav Droysen ist die "historische<br />
Frage" f<strong>und</strong>amental für jeden geschichtlichen Lernprozess. "Und in meiner Frage<br />
115
umgrenze ich schon ungefähr, was ich, indem ich sie mir zu beantworten suche, zu<br />
finden erwarte; ich ahne schon, daß noch anderes <strong>und</strong> Wichtigeres <strong>als</strong> ich bis jetzt<br />
weiß, dahintersteckt; meine Frage enthält schon mehr, <strong>als</strong> ich gelernt habe, eine<br />
Ahnung, die mir aus der Gesamtheit dessen, was ich auch sonst bisher innerlich<br />
durchlebt <strong>und</strong> erfahren habe, hervorspringt. Ebendarum kann ich so fragen, frage ich<br />
so." 119 Für Droysen ist die historische Frage der Angelpunkt für jeden historischen<br />
Erkenntnisprozess, der mit ihr beginnt. Spontane, kreative Fähigkeiten sind <strong>als</strong>o<br />
gefragt.<br />
Zweite prozessuale Operation ist die Informationsrecherche: Suchen <strong>und</strong> finden von<br />
Quellen bzw. Quellenstellen gemäß der Themenstellung <strong>und</strong> den Fragestellungen.<br />
Dafür werden vier verschiedene Suchoptionen angeboten. Sie sind in der<br />
technischen Kurzanleitung im Booklet der DVD erwähnt <strong>und</strong> in der ausführlichen<br />
Testversion (DVD-Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen) beschrieben <strong>und</strong> bedürfen<br />
eines Methodentrainings: 1. die Einfache Suche <strong>und</strong> 2. die Expertensuche nach der<br />
Open-Source-Suchmaschine swish-e (www.swish-e.org), 3. die PDF-eigene Suche<br />
(Strg + F) <strong>und</strong> 4. die Adobe Acrobat (Reader) 6-Indices-Suche.<br />
Idealtypische Fragestellungen:<br />
Welche Suchbegriffe gebe ich ein?<br />
Welche Booleschen Kombinationen von ihnen?<br />
Welche Synonyma (bedeutungsähnliche oder bedeutungsgleiche Wörter)?<br />
Welche Homonyma (gleichlautende, aber in der Bedeutung verschiedene Wörter)<br />
liegen vor? Thesaurus benutzt?<br />
Was ist das logische <strong>und</strong> assoziative Umfeld der Suchworte?<br />
Eingrenzungen nach Jahren <strong>und</strong> Koeffizienten?<br />
Vorwissen dazu?<br />
Geschlechtsspezifische Unterschiede?<br />
Hilfe von Lehrern/innen?<br />
Welche Innovationen die elektronische Suche mit sich bringt, schildert der Historiker<br />
Konrad Repgen. Er hat bis Ende 2002 die Acta Pacis Westphalicae (APW)<br />
herausgegeben, eine umfangreiche gedruckte Edition der Akten des Westfälischen<br />
Friedenskongresses (1643 - 1649), dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die<br />
kritische Ausgabe erstreckt sich seit 1958 bzw. 1962 (Band 1) über mehr <strong>als</strong> vier<br />
Jahrzehnte, ohne dass ihr Ende absehbar ist. 120<br />
119 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />
Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage. Darmstadt 1960. Seite 33.<br />
120 Zuständig für die Edition ist die 1957 gegründete "Vereinigung zur Erforschung der Neueren<br />
Geschichte" e. V. in Bonn. Neuer Leiter ist seit Anfang 2003 Maximilian Lanzinner. Seit 1962 sind in<br />
drei Serien mit Abteilungen 27 Bände in 33 Teilbänden mit r<strong>und</strong> 25 000 Druckseiten erschienen. Die<br />
Edition des 28. Bandes steht bevor (Auskunft der Geschäftsführerin Antje Oschmann). Geplant sind<br />
116
"Wer beispielsweise wissen will, ob - <strong>und</strong> wenn Ja: wo - in den publizierten Akten des<br />
Westfälischen Friedens", so Repgen im Mai 1998, "der Terminus aequilibrium,<br />
balance, bilancia, gegengewicht oder gleichgewicht vorkomme, Begriffe, die uns im<br />
18. Jahrh<strong>und</strong>ert in nahezu jedem wichtigen außenpolitischen Aktenstück auf Schritt<br />
<strong>und</strong> Tritt begegnen, der ist im Augenblick noch auf das zeitraubende Durchmustern<br />
von r<strong>und</strong> 11 500 Seiten in Großoktav gedruckten Quellentextes angewiesen<br />
(darunter 3000 Seiten im vertrackten Schwedisch des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts). Denn mir ist<br />
<strong>als</strong> Herausgeber der APW leider erst Ende der 80er Jahre eingefallen, daß auch die<br />
Schlagworte der politischen Verkehrssprache im Register erfaßt werden sollten." Das<br />
genannte Beispiel könnte die Kontroverse beilegen, ob das spätere europäische<br />
Gleichgewicht ein gewolltes, <strong>als</strong>o direktes Produkt der Friedensverträge von 1648<br />
gewesen wäre, oder eine unbeabsichtigte, <strong>als</strong>o indirekte Nebenwirkung, wie Repgen<br />
vertreten hatte. 121 "Wäre uns der printmedial publizierte Quellentext der APW auch in<br />
digitalisierter Form zugänglich, was ich anstrebe <strong>und</strong> vielleicht in absehbarer Zeit<br />
erreiche (die Mediävisten verfügen darüber beim Umgang mit Texten der Heiligen<br />
Augustinus <strong>und</strong> Thomas oder des Gratian bekanntlich schon länger), so könnten wir<br />
die entsprechenden Worte vom Rechner in Sek<strong>und</strong>en- <strong>und</strong> Minutenschnelle suchen<br />
lassen." Zutreffend fügt Repgen hinzu: "Was die positiven <strong>und</strong> die negativen<br />
Suchergebnisse dann historisch zu bedeuten hätten, weiß der Computer natürlich<br />
nicht. Das herauszufinden, bleibt (zum Glück) Kunst <strong>und</strong> Handwerk des Historikers -<br />
auch im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> darüber hinaus. Der Computer aber kann uns heute<br />
schon ein so präzises Erkennen <strong>und</strong> Argumentieren ermöglichen, wie es für frühere<br />
Zeiten unerreichbar war." 122<br />
Die nach der Informationsrecherche in der D-Dok. vorliegende negative oder positive<br />
Informationssammlung ist ein solches sek<strong>und</strong>enschnelles Suchergebnis. Es beruht<br />
auf der Sichtung von weit mehr <strong>als</strong> 100.000 abrufbaren Druckseiten, ist somit fast<br />
zehnmal umfangreicher <strong>als</strong> die von Repgen genannten r<strong>und</strong> 11.500 Druckseiten der<br />
Acta Pacis Westphalicae (APW). Diese vorläufige Informationssammlung wird nach<br />
Treffermengen <strong>und</strong> Prozentquoten in der Suchmaske auf dem Monitor angezeigt.<br />
Heute werden alle Menschen, ob sie es wollen oder nicht, täglich mit einer Flut von<br />
Informationen konfrontiert <strong>und</strong> von ihnen überschwemmt, beeinflusst oder verwirrt -<br />
im Beruf, im Alltag, in der Freizeit, durch das gesprochene <strong>und</strong> nonverbale Wort,<br />
durch gedruckte <strong>und</strong> elektronische Medien, vor allem das Fernsehen <strong>und</strong> das<br />
r<strong>und</strong> 40 Bände.<br />
121<br />
Konrad Repgen: Der Westfälische Friede <strong>und</strong> die Ursprünge des europäischen Gleichgewichts. In:<br />
Ders.:<br />
Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Gr<strong>und</strong>fragen der neuzeitlichen Geschichte.<br />
Herausgegeben von Klaus Gotto <strong>und</strong> Hans Günter Hockerts. Paderborn u.a. 1988. Seiten 53-66.<br />
122<br />
Konrad Repgen: Akteneditionen zum späteren 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Lothar Gall/Rudolf<br />
Schieffer (Hrsg.): Quelleneditionen <strong>und</strong> kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica<br />
<strong>und</strong> der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München,<br />
22./23. Mai 1998. München 1999. Seiten zit. 44 - 45.<br />
117
Internet. Dies korrespondiert mit der Flut von Informationen, die die D-Dok. nach<br />
Suchbegriffen <strong>und</strong> ihren Kombinationen mechanisch "ausspuckt". Diese Rohfassung<br />
der Auswahl bedarf der heuristischen Sichtung.<br />
Dritte prozessuale Operation sind Heuristik (griechisch heuriskein = finden,<br />
entdecken) <strong>und</strong> heuristische Verfahren: Die vorläufige Informationssammlung <strong>als</strong><br />
Vorauswahl <strong>und</strong> Rohfassung sichten, durchsehen <strong>und</strong> reflektieren, um zu klären, ob<br />
sie zur Bearbeitung des/r vorgeschlagenen Themas/en <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Fragestellungen ausreicht, sich eignet, lückenhaft oder ungenügend ist.<br />
Anders <strong>als</strong> die Intuition, die auf Einfällen beruht <strong>und</strong> im ersten prozessualen Schritt<br />
gefragt ist, kommt der Heuristik verstärkt ein bewusst anwendungsbezogenes<br />
mathematisches, problemlösendes <strong>und</strong> somit zielgerichtetes, präzisierendes Denken<br />
zu. Für Johann Gustav Droysen ist die Heuristik deshalb "die Kunst des Suchens der<br />
nötigen Materialien". 123<br />
Nach der Informationsrecherche <strong>und</strong> -sammlung sollen die <strong>Lernen</strong>den sich die<br />
Quellen mit den Informationen, die sie brauchen, selbst zusammenstellen, sie<br />
sozusagen herausfiltern <strong>und</strong> auf ihren Aussagewert testen. Diese konkrete Aufgabe<br />
dürfen die Lehrenden nicht übernehmen oder den <strong>Lernen</strong>den abnehmen. Haben<br />
Lehrer/innen Bedenken gegen die geplanten Problemlösungen, so sollten sie dies<br />
auch äußern, aber die Entscheidung darüber der Klassenmehrheit überlassen -<br />
unabhängig davon, ob sie erfolgversprechend oder fragwürdig sind. Scheitern die<br />
<strong>Lernen</strong>den, so hilft dieser Misserfolg ihnen, Erfahrungen zu sammeln <strong>und</strong> ihre<br />
heuristischen Fähigkeiten, Probleme zu lösen, mehr zu steigern <strong>als</strong> ein<br />
Anfangserfolg. Heuristische Verfahren beruhen auf einem Aha-Erlebnis - sei es<br />
positiv, sei es negativ.<br />
Idealtypische Fragestellungen:<br />
Reichen die in der D-Dok. gef<strong>und</strong>enen Quellen <strong>und</strong> Informationen aus?<br />
Sind es zu wenige?<br />
Zu viele?<br />
Aber wenig aussagekräftige?<br />
Engen sie die Entscheidungsfreiheit der <strong>Lernen</strong>den ein?<br />
Oder präjudizieren sie sie?<br />
Sind sie multiperspektivisch?<br />
Um was für Quellengattungen handelt es sich vornehmlich?<br />
Müssen neue, nicht in der Datenbank gespeicherte Quellen beschafft werden?<br />
Sind die bisherigen Themen <strong>und</strong> Fragestellungen zu ändern?<br />
Zu präzisieren?<br />
123 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie <strong>und</strong> Methodologie der<br />
Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner. 4. Auflage. Darmstadt 1960. Seite 85. Vgl. dazu<br />
auch Seiten 332ff.<br />
118
Einzugrenzen?<br />
Neu zu kombinieren durch erweitere Boolesche Suche?<br />
Aufzugeben?<br />
Zu ergänzen?<br />
Neu zu formulieren?<br />
Geht's so? Geht's so vielleicht? Geht's nicht?<br />
Heureka!?<br />
Wichtig ist die heuristische Prüfung, ob <strong>und</strong> inwieweit die Informationssammlung<br />
Multiperspektivität verbürgt. Dieser von Klaus Bergmann in die Didaktik eingeführte<br />
Begriff fragt danach, ob ein historischer Sachverhalt "aus mehreren, mindestens zwei<br />
unterschiedlichen Perspektiven beteiligter <strong>und</strong> betroffener Zeitgenossen dargestellt<br />
wird". 124 Es geht <strong>als</strong>o nicht nur darum, ob die Informationssammlung quantitativ<br />
ausreicht, sondern auch darum, ob sie qualitativ unterschiedliche Sicht- <strong>und</strong><br />
Betrachtungsweisen dokumentiert. Handelt es sich um BRD- <strong>und</strong> DDR-Quellen, so<br />
unterscheiden sie sich oft diametral-bipolar in ihrer Perspektivität.<br />
Multiperspektivität ist auch deshalb ein Schlüsselbegriff für die D-Dok., weil Quellen<br />
eine Spiegelfunktion haben sollen (2.6.<strong>und</strong> 2.7.). Wenn sie nur einseitige Sichtweisen<br />
wiedergeben, drohen sie zu einem Spiegelbild oder gar zu einem Zerrspiegel zu<br />
werden. Dies zu überprüfen, obliegt heuristischen Fragestellungen oder<br />
Forschungsinteressen.<br />
Die Heuristik ist eine uralte philosophische, mathematische <strong>und</strong> technologische<br />
Disziplin, auch Findungs- oder Erfindungskunst (ars inveniendi), Ereunetik, Heuretik,<br />
Analysis oder Zetetik geheißen. Archimedes ( 287 - 212 vor Chr. ) soll "Heureka!" -<br />
ich hab's gef<strong>und</strong>en! ausgerufen haben, <strong>als</strong> er, angeblich im Bade liegend, das<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz der Hydrostatik entdeckt hatte: Der hydrostatische Auftrieb eines<br />
Körpers ist gleich dem Gewicht der von ihm verdrängten Flüssigkeits- oder<br />
Gasmenge. Archimedes hatte ein Problem gelöst, das nach ihm später benannte<br />
Archimedische Prinzip gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> somit ein positives Aha-Erlebnis. Beachten Sie<br />
bitte, dass Archimedes seine Entdeckung im entspannten Zustand gemacht haben<br />
soll, <strong>und</strong> wir nicht wissen, wie viele negative Aha-Erlebnisse er hatte, bevor er<br />
"Heureka!" rufen konnte.<br />
Nach Immanuel Kant sind "heuristische Begriffe" solche, die zeigen, wie wir "die<br />
Beschaffung <strong>und</strong> Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen<br />
sollen" <strong>und</strong> damit neue Erkenntnisse gewinnen. 125 Anders <strong>als</strong> die Annahmen a priori<br />
124 Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik. Herausgeber Klaus<br />
Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Gerhard Schneider. 5. Auflage. Seelze Velber<br />
1997. Seiten 301 - 303, zit. 301. Vgl. auch Hans-Jürgen Pandel. Quelleninterpretation. Seiten 102 -<br />
104.<br />
125 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a. M. 1968. Seite 584. Vgl. auch Michael Graf<br />
von Matuschka: Heuristik. Geschichte des Wortes <strong>und</strong> der Versuche zur Entwicklung allgemeiner <strong>und</strong><br />
119
sind die heuristischen Aussagen a posteriori, <strong>als</strong>o erfahrungsbedingt. Die so<br />
gef<strong>und</strong>enen Problemlösungen gewährleisten nicht die Sicherheit neu gewonnener<br />
Erkenntnisse, erweitern, präzisieren, reflektieren <strong>und</strong> variieren sie aber. 126<br />
Mit Heuristik beschäftigt haben sich insbesondere auch die Philosophen <strong>und</strong><br />
Mathematiker Pappos von Alexandria ( um 320 n. Chr.), der Kommentator des Euklid<br />
(um 365 - 300 v. Chr.), René Descartes (1596 - 1650), Gottfried Wilhelm Leibniz<br />
(1646 - 1716), Bernard Bolzano (1781 - 1848) <strong>und</strong> Georg Pólya (1887 - 1985). In der<br />
Gegenwart hat sie für die EDV einen unvorhersehbaren neuen Stellenwert<br />
gewonnen, da heuristische Virenscanner Dateien nicht nur anhand von<br />
Virendefinitionen, <strong>als</strong>o Virenpatterns oder Virensignaturen durch den Vergleich der<br />
Programmcodes, identifizieren können, sondern sie auch potenziell direkt auf<br />
verdächtiges Verhalten überprüfen <strong>und</strong> blockieren können, bevor sie sich ausbreiten.<br />
Ohne diese neue heuristische Technologie, die virtuell analysiert, ob ein Programm<br />
bösartig sein könnte <strong>und</strong> deshalb auch bisweilen f<strong>als</strong>chen Alarm auslöst, gäbe es<br />
heute keinen wirksamen Schutz gegen neue Bedrohungen durch unbekannte Viren,<br />
Würmer <strong>und</strong> Trojaner.<br />
Nach der heuristischen Überprüfung der vorläufigen Quellenauswahl liegt die<br />
ergänzte, veränderte, präzisierte, überarbeitete Fassung der Informationssammlung<br />
vor - ihre Selektion. Ob sie endgültig ist, ist unsicher, ob sie Erfolg gewährleistet<br />
ebenso, aber die Wahrscheinlichkeit, dass dies so sein könnte, hat zugenommen.<br />
4.4. Welche Informationen wie zu Wissen verarbeiten?<br />
Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess: Quellen erklären, quellenkritisch<br />
auswerten <strong>und</strong> auf ihre Spiegelfunktion überprüfen<br />
Lesekompetenz (Reading Literacy) ist in der PISA-Studie so definiert: "Geschriebene<br />
Texte zu verstehen, zu nutzen <strong>und</strong> über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu<br />
erreichen, das eigene Wissen <strong>und</strong> Potenzial weiterzuentwickeln <strong>und</strong> am<br />
gesellschaftlichen Leben teilzunehmen." 127 Die schriftlichen Texte in der D-Dok. sind<br />
historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen. Sie hermeneutisch<br />
spezieller Theorien von der Antike bis Kant. Dissertation. Düsseldorf 1974.<br />
126 Heinrich Schepers: Heuristik, heuristisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3.<br />
Darmstadt 1974. Spalten 1115 - 1120, zit. 1120.<br />
127 PISA 2000. Seite 23. Auf Seite 70 heißt es: "Lesen <strong>als</strong> kulturelle Schlüsselqualifikation eröffnet die<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben <strong>und</strong> bietet die Möglichkeit der zielorientierten <strong>und</strong> flexiblen<br />
Wissensaneignung. Umgekehrt bedeutet eine geringe Lesefähigkeit bis hin zum modernen<br />
Analphabetismus einen enormen Chancennachteil. Geringe Lesefähigkeit <strong>und</strong> -bereitschaft werden<br />
daher zunehmend <strong>als</strong> soziales <strong>und</strong> politisches Problem ernst genommen." Vgl. auch Seiten 70ff. <strong>und</strong><br />
78ff. zum Begriff <strong>und</strong> zur internationalen Konzeption.<br />
120
auszulegen <strong>und</strong> zu verstehen, dient den selbstbestimmten Lernzielen. Dies fördert<br />
nicht nur Wissen <strong>und</strong> potenzielle Fähigkeiten, sondern auch die Teilhabe an der<br />
Demokratie. Auf identische, vergleichbare, aber auch unterschiedliche Zielsetzungen<br />
zur PISA-Studie wird bei den einzelnen operativen Schritten hingewiesen.<br />
Die vierte prozessuale Operation dient der Informationsverarbeitung auf der unteren<br />
Ebene des Erklärens: Jede einzelne ausgewählte Quelle oder Quellenstelle lesen<br />
<strong>und</strong> interpretieren nach äußerlich-sinnlich lokalisierbaren oder physikalischmessbaren<br />
Merkmalen. Sie ermöglichen eine erste provisorische Auslegung, die an<br />
der wahrnehmbaren Oberfläche der Informationssammlung stehen bleibt, sie <strong>als</strong>o<br />
nicht durchdringt.<br />
Der folgende Zwölf-Punkte-Fragenkatalog will kein starres Schema sein, das<br />
sukzessive abzuarbeiten <strong>und</strong> abzuhaken ist, sondern eine idealtypische<br />
Orientierungshilfe:<br />
- 1. Decodierfähigkeiten?<br />
Auf der untersten Stufe (z.B. der Gr<strong>und</strong>schule) beschränken sie sich auf Buchstaben<br />
(Zeichen, Symbole), ihre Zusammensetzung zu Wörtern <strong>und</strong> das Entschlüsseln von<br />
Wortbedeutungen (Semantik oder Semasiologie).<br />
Auf der nächsten Stufe geht es darum, Wortbedeutungen auf das Satzgefüge<br />
(Syntax) zu beziehen, <strong>als</strong>o semantische <strong>und</strong> syntaktische Abhängigkeiten<br />
herzustellen.<br />
Die darauf folgende Stufe ist die Textebene, die Sätze übergreifend <strong>als</strong> Einheiten in<br />
ihrer Kontinuität repräsentiert.<br />
Darin enthaltene unbekannte Fremdwörter oder Fachbegriffe (termini technici)?<br />
Historische, zeitbezogene Begriffe, die einer Erklärung bedürfen?<br />
- 2. Sprache?<br />
Einsprachig oder mehrsprachig?<br />
Deutsch?<br />
Englisch (ENG)?<br />
Französisch (FRA)?<br />
Spanisch (ESP)?<br />
Türkisch (TUR)?<br />
Decodierfähigkeiten?<br />
Übersetzung? Vorzüge <strong>und</strong> Mängel?<br />
Amtliche Übersetzung?<br />
- 3. Quellengattung oder Quellentyp?<br />
Gesetz?<br />
Bilateraler oder multilateraler Vertrag?<br />
Staats- oder völkerrechtlich?<br />
Akten?<br />
121
Gerichtliche Entscheidung: Urteil? Beschluss?<br />
Aufzeichnung?<br />
Bericht?<br />
Rede?<br />
Artikel?<br />
Brief?<br />
Protokoll? usw.<br />
Was für Reden <strong>als</strong> Quellengattung liegen vor:<br />
Parlamentsrede?<br />
Versammlungsrede?<br />
Gedenkrede?<br />
"Sonntagsrede"?<br />
Vortrag (wissenschaftlich, populär u. a.)?<br />
R<strong>und</strong>funkrede?<br />
Parteirede?<br />
Parteitagsrede?<br />
Lobrede?<br />
Fernsehrede?<br />
Einführungsrede?<br />
Tischrede?<br />
"Toast"?<br />
Begrüßungsrede?<br />
Einführungsrede?<br />
Grußwort?<br />
Unterscheidungen bei anderen Quellengattungen, z. B. Briefen, Artikeln? Akten?<br />
usw.<br />
- 4. Authentizität?<br />
Volltextversion oder Auszug?<br />
Auslassungen überprüfbar?<br />
Irrtümer?<br />
Lücken?<br />
F<strong>und</strong>stelle?<br />
Quellennachweis zuverlässig oder glaubwürdig?<br />
Zweifel an Authentizität?<br />
Glaubwürdigkeit?<br />
Inhaltliche Mängel?<br />
Formelle Mängel?<br />
Orthografie- <strong>und</strong> Interpunktionsfehler?<br />
Flüchtigkeitsfehler?<br />
Textverstümmelungen?<br />
Sinnentstellungen?<br />
Authentische Textwiedergabe?<br />
122
Die Frage nach der formellen Authentizität, d. h. die ungekürzte, korrekte<br />
digitalisierte Textwiedergabe, hat in der D-Dok. einen höheren Stellenwert <strong>als</strong> die<br />
inhaltliche nach der Echtheit; denn anders <strong>als</strong> z. B. bei mittelalterlichen <strong>und</strong><br />
neuzeitlichen Urk<strong>und</strong>en steht in der Regel außer Zweifel, dass in amtlichen<br />
Sammlungen seit 1945 veröffentlichte staatliche Quellen nicht gefälscht sind. 128 Dies<br />
schließt nicht aus, dass Gesetzestexte gelegentlich nachträglich berichtigt werden<br />
müssen, da sie versehentlich Fehler, u.a. Druckfehler, enthalten. Politische Reden<br />
staatlicher Repräsentanten, die schriftlich festgehalten oder nachgewiesen sind,<br />
weichen manchmal vom gesprochenen Wort ab; es hat <strong>als</strong> authentisch zu gelten,<br />
sofern eine Tonaufzeichnung vorliegt. <strong>Quellenarbeit</strong> verzettelt sich aber <strong>und</strong> sprengt<br />
Raum, Zeit <strong>und</strong> Maß, wenn sie beckmesserisch z. B. bei B<strong>und</strong>estagsreden, die seit<br />
1949 nicht nur mitstenografiert, sondern <strong>als</strong> Tondokumente aufgenommen werden, in<br />
jedem einzelnen Fall darauf beharrt, Textabweichungen von der Tonaufnahme<br />
akribisch zu kontrollieren. Eine Ausnahme von dieser Regel liegt vor, falls<br />
Anhaltspunkte oder wenigstens Indizien für eine Textmanipulation sprechen.<br />
- 5. Wann? Diese Frage orientiert sich am Zeitfaktor <strong>als</strong> historischer Variablen<br />
(Veränderlichen). Die Zeit ist das physikalisch-messbare <strong>und</strong> wichtigste<br />
Ordnungsprinzip der Datenbank; denn sie dokumentiert die Quellen in ihrer<br />
chronologischen Reihenfolge <strong>und</strong> damit in ihrem zeitlichen Kontext.<br />
Dokumentendatum/-daten?<br />
Zeitliche Unmittelbarkeit/Identität, Nähe oder Entfernung zum Vorgang?<br />
Kontext?<br />
Was geschieht vorher?<br />
Was gleichzeitig?<br />
Was nachher?<br />
Chronologische Einordnung?<br />
Zeitliche Zusammenhänge/Interdependenzen?<br />
Disparitäten?<br />
Kontinuitäten?<br />
Diskontinuitäten?<br />
Konstellationen?<br />
- 6. Wer? Welche? Hier geht es um die Akteure. Dies sind z.B. bei Verträgen auch<br />
Staaten oder Staatenverbindungen.<br />
Verfasser/in/nen?<br />
Redner/in/nen?<br />
Biografische Vorkenntnisse über sie?<br />
Funktion/en?<br />
128 Zur Interpretation mittelalterlicher <strong>und</strong> neuzeitlicher Quellen Gerhard Theuerkauf: Einführung in die<br />
Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Mittelalter. 2. Auflage. Paderborn usw. 1997; Bernd-<br />
A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hrsg.): Einführung in die Interpretation historischer<br />
Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn usw. 1992.<br />
123
Ämter?<br />
Gruppe?<br />
Organ/e?<br />
Institutionen?<br />
Völkerrechtssubjekt/e?<br />
Perspektive, u.a. Partei- oder Standortgeb<strong>und</strong>enheit?<br />
Kulturelle, gesellschaftliche, politische, parteipolitische, ideologische Botschaften des<br />
Redners/Autors?<br />
- 7. Was? Inhalt?<br />
Ein Hauptthema?<br />
Mehrere Themen, z.B. Überblick über die außenpolitische Lage?<br />
Regierungserklärung?<br />
Aktuelle St<strong>und</strong>e?<br />
Vermittelte Ideen?<br />
Hauptaussagen nach Fragestellungen?<br />
Wiederkehrende Schlüsselbegriffe?<br />
Ihre Semantik?<br />
Gedankengang?<br />
Logische Konsistenz?<br />
Roter Faden?<br />
Argumentationsstrategie?<br />
Lücken?<br />
Widersprüche?<br />
Ungereimtheiten?<br />
Zusammenhänge zwischen den Textteilen?<br />
Aussagen vornehmlich Fakten?<br />
Oder Propaganda?<br />
Oder Werbung?<br />
Oder Geschwätz?<br />
Wertungen?<br />
Kommentar?<br />
Mutmaßungen?<br />
Ideologie?<br />
Parteinahmen?<br />
Zusammenfassung?<br />
- 8. Warum? Wozu?<br />
Intentionalität/Zielsetzungen?<br />
Gründe?<br />
Zweck <strong>und</strong> Nutzen?<br />
Mittel-Kosten-Nutzen-Relation?<br />
Vordergründiger Anlass?<br />
Tiefer liegende Ursachen?<br />
124
Erklärte, offen gelegte, offensichtliche oder versteckte Absichten?<br />
- 9. Wo? Lokalisierung?<br />
Ort des Geschehens?<br />
Deutscher B<strong>und</strong>estag?<br />
Volkskammer?<br />
Vortrag/Rede wo, z. B. R<strong>und</strong>funk, Fernsehen, Parteitag usw.?<br />
Artikel/Aufsatz wo, z.B. Zeitung, Zeitschrift usw.?<br />
- 10. Adressat/en <strong>und</strong> Adressen?<br />
Empfänger?<br />
Publikum?<br />
Rezipient/en?<br />
Forum?<br />
Akademisches, parteipolitisches, offenes oder geschlossenes Auditorium?<br />
Zuhörer/in/nen?<br />
Einfluss des/r Adressaten/des Publikums auf den Redner/Autor?<br />
- 11. Wie? Auf welche Weise?<br />
Methode?<br />
Form <strong>und</strong> Inhalt?<br />
Aufbau <strong>und</strong> Struktur?<br />
Gliederung?<br />
Dokumentenvortitel?<br />
Dokumentenuntertitel?<br />
Linguistische, syntaktische <strong>und</strong> grammatikalische Besonderheiten?<br />
Stilfragen?<br />
Argumentation normativ, parteipolitisch, punktuell usw.?<br />
Rhetorische Mittel?<br />
- 12. Ergänzende Quellenmaterialien?<br />
Bild-Dokument (FOT)?<br />
Ton-Dokument? (TON)?<br />
Es geht bei den modellhaft aufgeführten Fragen darum, Informationen über<br />
feststellbare, messbare oder lokalisierbare Größen herauszufiltern, die selbst dann,<br />
wenn sie nicht genau fixierbar sind, eine feststehende Bandbreite (z.B. bei Daten,<br />
Autoren, Themen) aufweisen. Im PISA-Modell entspricht dies den "textimmanenten"<br />
Verstehensleistungen, für die "die im Text selbst enthaltenen Informationen<br />
ausreichende Gr<strong>und</strong>lage für die Beantwortung der Fragen" sind. 129 Diese Subskala<br />
"Informationen ermitteln" verlangt, "eine oder mehrere Informationen bzw.<br />
129 PISA 2000. Seite 82. Es geht <strong>als</strong>o um "primär textinterne Informationen", die den Text <strong>als</strong> Ganzes<br />
betrachten oder sich auf bestimmte Textteile konzentrieren (Abbildung 2.1 ebenda).<br />
125
Teilinformationen im Text zu lokalisieren. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse von<br />
Textabschnitten mit dem Ziel, Detailinformationen (wie etwa die Abfahrtszeit eines<br />
Zuges oder das Vorhandensein eines bestimmten Arguments) zu finden. Je nach<br />
Komplexität der Aufgabe ist dafür ein unmittelbares Verstehen größerer Textteile <strong>und</strong><br />
ein Vergleich von im Text vorhandenen Angaben erforderlich." 130<br />
Die fünfte prozessuale Operation dient der Informationsverarbeitung auf der mittleren<br />
Ebene der Quellenkritik <strong>und</strong> Quellenreflexion: Die ausgewählten Quellen nicht mehr<br />
je einzeln textimmanent interpretieren, sondern <strong>als</strong> Gesamtheit mit ihren<br />
Informationen <strong>und</strong> Interdependenzen vergleichen: auf nicht in ihnen gespeichertes<br />
externes Wissen zurückgreifen sowie kritisch nach Inhalten, Form <strong>und</strong> Strukturen<br />
analysieren.<br />
Die vierte prozessuale Operation hatte sich auf die einzelne Quelle oder<br />
Quellenstelle beschränkt, um sie - idealtypisch isoliert - zu erklären. Nun geht es um<br />
die Informationssammlung <strong>als</strong> Ensemble: Die oft verwirrende Vielfalt der Dokumente<br />
mit ihren Verflechtungen quellenkritisch zu reflektieren <strong>und</strong> dabei externes Wissen zu<br />
nutzen, <strong>als</strong>o nicht nur internes Vorwissen, über das Leser/innen verfügen müssen,<br />
um Quellen überhaupt lesen (decodieren) <strong>und</strong> erklären zu können. Extern<br />
gespeichertes Wissen findet sich u.a. in Lexika, Fach- <strong>und</strong> Sachbüchern sowie digital<br />
auf CD-Roms oder DVDs sowie im Internet.<br />
Idealtypische Fragestellungen:<br />
Unbekannte, nicht textimmanent identifizierbare oder nicht vorgestellte Personen<br />
oder Begriffe?<br />
Suchbegriffe in ihrem Kontext?<br />
Sind sie lokalisierbar <strong>und</strong> vergleichbar?<br />
Analoge oder logische Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Vergleiche aus dem Stellenwert der<br />
Suchbegriffe?<br />
Ihre Integration in der Informationssammlung?<br />
Ihre Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
Leitideen?<br />
Willensbildungsprozess?<br />
Vor welchem Publikum/Forum?<br />
Widersprüchliche Argumentation ein <strong>und</strong> desselben Autors/Redners?<br />
Beziehungsgeflecht der Suchbegriffe?<br />
Multiperspektivische oder einseitige Spiegelungen?<br />
Wirkungsgeschichte: Handlungs-, Motivations- <strong>und</strong> Wirkungszusammenhänge?<br />
Verständnis- <strong>und</strong> Erinnerungsfähigkeiten?<br />
130<br />
PISA 2000. Seite 83. Übersicht über die fünf Stufen der Subskala "Informationen ermitteln" auf<br />
Seite 89.<br />
126
Inhaltliche Repräsentanz <strong>und</strong> Integration der Informationssammlung <strong>als</strong> abrufbare<br />
gespeicherte Gedächtnisleistung?<br />
Wiederholungen <strong>und</strong> Protokollieren erforderlich?<br />
Diese idealtypischen Fragen beziehen sich auf die Informationssammlung <strong>als</strong><br />
Ganzes <strong>und</strong> auf so gewonnene, zu integrierende Kenntnisse <strong>als</strong> neu erarbeitetes<br />
Wissen. Sie sind zur Reflexion <strong>und</strong> Bewertung mit heranzuziehen <strong>und</strong> ergänzen das<br />
bisherige Wissen. Damit wird dem Risiko vorgebeugt, dass <strong>Quellenarbeit</strong> nur<br />
punktuelles, aber kein zusammenhängendes <strong>und</strong> reproduktionsfähiges Wissen liefert<br />
- man <strong>als</strong>o vor lauter Bäumen keinen Wald sieht.<br />
Abschließend stellen sich idealtypische Schlüsselfragen:<br />
Erfüllen die in der Informationssammlung repräsentierten Quellen/Quellenstellen eine<br />
Spiegelfunktion, indem sie die Vergangenheit reflektieren?<br />
Oder sind sie trügerisch, weil sie ein Spiegelbild vorgaukeln?<br />
Oder gar einen Zerrspiegel vor Augen halten?<br />
Selbstbespiegelung in DDR-Quellen, teilweise auch in BRD-Quellen?<br />
Waren es nicht zuletzt auch westdeutsche Politiker, Wissenschaftler <strong>und</strong><br />
Journalisten, die dem "Arbeiter- <strong>und</strong> Bauernstaat" bis kurz vor seinem Ende<br />
Stabilität, Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Zukunft bescheinigten?<br />
Aus heutiger Sicht formuliert: Sie ihm prophezeit <strong>und</strong> sich darin selbst gespiegelt<br />
haben?<br />
Nach einem abgewandelten Aphorismus des Göttinger Aufklärers <strong>und</strong> Spötters<br />
Georg Christoph Lichtenberg (1742 - 1799), der ihn auf das Buch bezog, sind<br />
Quellen ein Spiegel: Wenn ein Affe hineinguckt, kann freilich kein Apostel<br />
heraussehen. Lichtenberg konnte leicht spotten, denn er war kein verstehender<br />
Historiker oder Sozialwissenschaftler, sondern Professor für erklärende<br />
Experimentalphysik <strong>und</strong> wusste deshalb, dass die "edle Einfalt in den Werken der<br />
Natur" gar zu oft "in der edlen Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet", begründet<br />
liegt.<br />
Die fünfte prozessuale Operation entspricht im PISA-Modell weitgehend der<br />
Subskala "Textbezogenes Interpretieren", sprengt aber deren Rahmen, da sie sich<br />
nicht auf einzelne Texte bezieht, sondern eine Vielzahl von ihnen integriert. Die<br />
Anforderungen an die Lesekompetenz sind daher höher. Sie erfordern teilweise<br />
Abstraktionsfähigkeiten, die in der dritten Subskala "Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten"<br />
aufgeführt sind.<br />
Die "wissensbasierten Verstehensleistungen" des "textbezogenen Interpretierens"<br />
werden im PISA-Modell so definiert: "Bedeutung konstruieren <strong>und</strong><br />
Schlussfolgerungen aus einem oder mehreren Teilen des Textes ziehen. Hierzu<br />
gehören auch schlussfolgerndes Denken <strong>und</strong> der Vergleich von Textteilen im<br />
127
Hinblick auf Evidenz, die mit der bevorzugten Interpretation kompatibel ist. Eine<br />
Aufgabe dieser Subskala kann vom Leser auch verlangen, Schlüsse über die<br />
Absichten des Autors zu ziehen." 131<br />
4.5. Was verstehen <strong>und</strong> wie hermeneutisch deuten zwischen "Fremdheit<br />
<strong>und</strong> Vertrautheit"?<br />
Quelleninterpretation <strong>als</strong> hermeneutische Spirale in Auseinandersetzung<br />
mit Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas<br />
Die Hermeneutik ( griechisch hermeneuein = auslegen, übersetzen), noch älter <strong>als</strong><br />
die Heuristik, ist die Theorie, Kunst <strong>und</strong> Methode der Auslegung <strong>und</strong> Deutung. Der<br />
Götterbote Hermes hatte die göttlichen Gebote den sterblichen Menschen überbracht<br />
<strong>und</strong> sie ihnen verdolmetscht, z. B. mehrdeutige Orakel. Unter aristotelischem Einfluss<br />
wurde die Hermeneutik dogmatisiert <strong>und</strong> zum Regelkanon auch für die Theologie<br />
<strong>und</strong> Rechtswissenschaft. Mit der Autorität <strong>und</strong> Vorm<strong>und</strong>schaft antiker Autoren,<br />
insbesondere des "philosophus" (Aristoteles) im Mittelalter, hat erst die Aufklärung<br />
gebrochen; denn sie forderte für das menschliche Denken, es müsse eigenständig<br />
<strong>und</strong> unabhängig <strong>und</strong> so mündig werden.<br />
Sechste prozessuale Operation ist das hermeneutische Verstehen sui generis.<br />
Schleiermacher, Dilthey, Gadamer <strong>und</strong> Habermas haben dafür Vorschläge<br />
erarbeitet, die für die Auslegung nicht nur von Texten, sondern auch literarischen <strong>und</strong><br />
künstlerischen Werken gelten. Zwar befasst sich ihre Hermeneutik nicht vorrangig mit<br />
historisch-politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Quellen, doch sind insbesondere<br />
Anregungen wichtig, die Gadamer <strong>und</strong> Habermas für ihre Deutung unterbreiten.<br />
Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hat der protestantische Theologe, Pädagoge <strong>und</strong> Philosoph<br />
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 - 1834) die Hermeneutik neu definiert:<br />
<strong>als</strong> "Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu<br />
verstehen". Er unterscheidet dabei die grammatische von der psychologischen<br />
Reproduktion; sie erfordere, sich in den Autor <strong>und</strong> sein Gesamtwerk<br />
hineinzuversetzen, um die historische Distanz zu ihm aufzuheben. Schließlich soll<br />
der Interpret die Rede "zuerst ebenso gut <strong>und</strong> dann besser verstehen <strong>als</strong> ihr<br />
Urheber". Voraussetzung dafür ist allerdings nach Schleiermacher eine<br />
Seelenverwandtschaft zwischen beiden <strong>und</strong> ein "divinatorischer" (erahnender)<br />
Nachvollzug. 132<br />
131 PISA 2000. Seite 83. Vgl. auch Seiten 82 (Abbildung 2.1) <strong>und</strong> 89 (Tabelle 2.3 <strong>als</strong> Übersicht).<br />
132 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik <strong>und</strong> Kritik. Mit einem Anhang<br />
sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben von Manfred Frank. Frankfurt a- M.<br />
128
An Schleiermacher knüpft der Philosoph, Pädagoge <strong>und</strong> Psychologe Wilhelm Dilthey<br />
(1833 - 1911) an. Sein Hauptanliegen war, den so genannten Geisteswissenschaften<br />
die Hermeneutik <strong>als</strong> Dreischritt von Erleben, Ausdruck <strong>und</strong> Verstehen zuzuordnen<br />
<strong>und</strong> damit von den aufstrebenden Naturwissenschaften abzugrenzen. Während wir<br />
die physische Welt (Natur) "erklären", d. h. Gründe, Zwecke, Ursachen <strong>und</strong><br />
Kausalitäten erforschen, geht es in der menschlichen Welt um das "Verstehen": Sinn<br />
zu finden <strong>und</strong> Bedeutung zu entdecken, die aus dem Menschen selbst <strong>als</strong> Schöpfer<br />
<strong>und</strong> seinen "Objektivierungen des Geistes" stammen. Dilthey unterscheidet<br />
"elementares" Verstehen, das sich auf alltägliche, einzelne Lebensäußerungen<br />
bezieht, <strong>und</strong> "höheres" Verstehen, das Sinnzusammenhänge aufeinander bezogener<br />
Lebensäußerungen erhellt. Es vollzieht sich <strong>als</strong> "Hineinversetzen, Nachbilden,<br />
Nacherleben". So findet das Ich sich im Du wieder. 133<br />
Als Herausgeber der DVD-D-Dok. <strong>und</strong> <strong>als</strong> Autor dieses Begleitbuchs vermag ich<br />
nicht zu erkennen oder habe noch zu lernen, wie Schleiermachers <strong>und</strong> insbesondere<br />
Diltheys Hermeneutik sinnstiftend auf diese digitale Datenbank anzuwenden wären.<br />
Zwar geht es auch bei historisch-politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Quellen<br />
darum, in ihnen Bedeutung <strong>und</strong> Sinn zu entdecken. Aber nicht nach ihren Ursachen,<br />
Zwecken <strong>und</strong> Gründen zu fragen, ist ahistorisch <strong>und</strong> unkritisch. Kunst (Gemälde,<br />
Skulptur) oder Literatur (Roman, Poesie) können <strong>als</strong> "dauernde geistige<br />
Schöpfungen" immanent-einfühlend zu verstehen sein, aber nicht die vorliegende<br />
Quellensammlung. Politiker-Reden sind in der Regel keine künstlerischen oder<br />
literarischen Werke, neben Sinn <strong>und</strong> Bedeutung enthalten sie oft auch Unsinn <strong>und</strong><br />
Geschwätz. Gesetze <strong>als</strong> einzigartige Konkretisierungen des menschlichen Geistes<br />
hochstilisieren, heißt zu verkennen, dass es sich um wechselnde, normativ<br />
ausformulierte <strong>und</strong> sanktionierte politische Mehrheitsentscheidungen oder<br />
Kompromisse handelt. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, "Schleiermacherei"<br />
zu treiben, sondern darum, Quellen historisch-kritisch zu "entschleiern", <strong>und</strong> das<br />
heißt auch, nach ihren Zwecken <strong>und</strong> Nutzen, nach ihren Ursachen, Gründen <strong>und</strong><br />
Hintergründen, nach ihrem Sinn <strong>und</strong> Unsinn zu hinterfragen, <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />
nach ihren Folgen <strong>und</strong> Auswirkungen zu analysieren.<br />
Für die Quelleninterpretation bedeutsame Kritik an Diltheys Hermeneutik haben die<br />
Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) <strong>und</strong> Jürgen Habermas (geb. 1929)<br />
geübt. Gadamer spricht von "Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus"<br />
<strong>und</strong> von einem "Zwiespalt von Wissenschaft <strong>und</strong> Lebensphilosophie" in dessen<br />
Analyse des historischen Bewusstseins. 134 Auch wenn Autor <strong>und</strong> Interpret in einem<br />
1977. Seiten zit. 75, 94f. Vgl. dazu auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine.<br />
Textstrukturierung <strong>und</strong> -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977.<br />
133<br />
Wilhem Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M.<br />
1968. Seiten zit. 235, 254f.<br />
134<br />
Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit <strong>und</strong> Methode. Gr<strong>und</strong>züge einer philosophischen<br />
Hermeneutik. Tübingen 1990 (Gesammelte Werke. Band 1). Seiten 222ff. <strong>und</strong> 235ff.<br />
129
gemeinsamen, kulturell gewachsenen Traditions- <strong>und</strong> Normzusammenhang stehen,<br />
sei die "hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes" zwischen ihnen nicht<br />
durch ein Hineinversetzen oder durch Einfühlung unmittelbar zu überspringen; denn<br />
was verstanden werden soll, sei zunächst historisch fremd <strong>und</strong> distanziert, <strong>als</strong>o nicht<br />
vertraut, müsse erst in einem Verstehensakt "angeeignet" werden: <strong>als</strong> linguistische,<br />
poetologische/rhetorische <strong>und</strong> vor allem historische Differenz.<br />
Nach Gadamer besteht daher eine Polarität oder Spannung zwischen "Fremdheit<br />
<strong>und</strong> Vertrautheit": zwischen der "historisch gemeinten, abständigen<br />
Gegenständlichkeit <strong>und</strong> der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist<br />
der wahre Ort der Hermeneutik. Aus der Zwischenstellung, in der die Hermeneutik<br />
ihren Stand zu nehmen hat, folgt, daß ihre Aufgabe überhaupt nicht ist, ein Verfahren<br />
des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuklären, unter denen<br />
Verstehen geschieht....Die Vorurteile <strong>und</strong> Vormeinungen, die das Bewußtsein des<br />
Interpreten besetzt halten, sind ihm <strong>als</strong> solche nicht zu freier Verfügung. Er ist nicht<br />
imstande, von sich aus vorgängig die produktiven Vorurteile, die das Verstehen<br />
ermöglichen, von denjenigen Vorurteilen zu scheiden, die das Verstehen verhindern<br />
<strong>und</strong> zu Mißverständnissen führen." 135 Der Abstand der Zeit <strong>und</strong> die Lebensgeschichte<br />
des Interpreten müssten reflektiert <strong>und</strong> nutzbar bei der Textaneignung gemacht<br />
werden, denn sie sei ein "unendlicher Prozeß", der "nicht irgendwo zum Abschluß"<br />
komme. "Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit<br />
mitdenken....Eine sachangemessene Hermeneutik hätte im Verstehen selbst die<br />
Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen. Ich nenne das damit Geforderte<br />
'Wirkungsgeschichte'. Verstehen ist seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher<br />
Vorgang." 136<br />
Der Erkenntnisprozess ist nach Gadamer subjektiv vorstrukturiert <strong>und</strong> erfordert<br />
Selbstreflexion des Interpreten in seiner gegenwärtigen Situation <strong>und</strong> ihrem<br />
"Horizont". Verstehen wird damit historisch relativiert. Gadamer rehabilitiert deshalb<br />
auch die Vorurteile des Einzelnen <strong>als</strong> "Vor-Urteile" <strong>und</strong> Bedingungen des<br />
Verstehens. Bei den Geisteswissenschaften ist folglich das Forschungsinteresse<br />
"durch die jeweilige Gegenwart <strong>und</strong> ihre Interessen in besonderer Weise motiviert.<br />
Erst durch die Motivation der Fragestellung konstituiert sich überhaupt Thema <strong>und</strong><br />
Gegenstand der Forschung." 137 Dies unterscheide die Geistes- von den<br />
Naturwissenschaften, denn es gebe zwar eine "vollendete Naturerkenntnis", aber von<br />
einer "vollendeten Geschichtserkenntnis" zu sprechen, sei "sinnlos".<br />
Jürgen Habermas hat keine eigene Hermeneutik ausgearbeitet, sich aber im<br />
Rahmen seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" kritisch mit Dilthey, Husserl,<br />
135 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten 296ff., zit. 300f.<br />
136 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten zit. 303 <strong>und</strong> 305.<br />
137 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Seiten 281ff., zit. 289. - Zur Rolle seines Lehrers Heidegger<br />
vgl. Seiten 270ff. <strong>und</strong> Martin Heidegger: Sein <strong>und</strong> Zeit. 17. Auflage. Tübingen 1993. Seiten 142ff. <strong>und</strong><br />
148ff.<br />
130
Heidegger <strong>und</strong> vor allem Gadamers Hauptwerk auseinandergesetzt. Sprache ist für<br />
Habermas - anders <strong>als</strong> bei Gadamer - nicht autonom, sondern vergesellschaftet <strong>und</strong><br />
"verdinglicht". Es ist ein Medium, das von Herrschaft, Politik <strong>und</strong> Arbeit mitbestimmt<br />
wird. "Der Interpret muß sich den Kontext klarmachen, der von dem Autor <strong>und</strong> dem<br />
zeitgenössischen Publikum <strong>als</strong> gemeinsames Wissen vorausgesetzt worden sein<br />
muß, damit seinerzeit diejenigen Schwierigkeiten nicht aufzutreten brauchten, die der<br />
Text heute uns bereitet, <strong>und</strong> damit andere Schwierigkeiten unter den Zeitgenossen<br />
auftreten konnten, die uns wiederum trivial erscheinen. Allein auf dem Hintergr<strong>und</strong><br />
der kognitiven, moralischen <strong>und</strong> expressiven Bestandteile des kulturellen<br />
Wissensvorrats, aus dem der Autor <strong>und</strong> seine Zeitgenossen ihre Interpretation<br />
aufgebaut haben, kann sich der Sinn des Textes erschließen. Aber diese<br />
Voraussetzungen wiederum kann der nachgeborene Interpret nicht identifizieren,<br />
wenn er nicht zu dem mit dem Text verb<strong>und</strong>enen Geltungsansprüchen wenigstens<br />
implizit Stellung nimmt." 138 Zu berücksichtigen sei Quellenkritik <strong>als</strong> Ideologiekritik:<br />
Durch die Vergesellschaftung <strong>und</strong> die "innere Kolonisierung" entstehen<br />
Bewusstseinsformen, die Einzelne zwar befähigen, sich in den von Familien- ,<br />
Klassen- <strong>und</strong> politischen Strukturen geschaffenen Verhältnissen zurechtzufinden,<br />
deren tatsächlichen Charakter aber zugleich verschleiern.<br />
Habermas analysiert in diesem Zusammenhang auch die "familiäre Sozialisation <strong>und</strong><br />
Ich-Entwicklung" bei der "Diagnose der Entkopplung von System <strong>und</strong> Lebenswelt".<br />
Für die "marxistisch vereinnahmte Psychoanalyse" sei der Ödipuskomplex der<br />
"Angelpunkt", wie sich die "funktionalen Imperative des Gesellschaftssystems in den<br />
Über-Ich-Strukturen des herrschenden Sozialcharakters durchsetzen konnten".<br />
Habermas meint damit auch die Forschungen der Kritischen Theorie (Frankfurter<br />
Schule) über den autoritären Charakter, dem eine präfaschistische Disposition<br />
zugeschrieben wird. 139 Er konstatiert jedoch einen zeittypischen Symptomwandel von<br />
den klassischen Neurosen ( z.B. Hysterie oder Zwangsneurose) hin zu<br />
narzisstischen Störungen. Indem er sich auf Heinz Kohut <strong>und</strong> Christopher Lasch, in<br />
den Anmerkungen auch auf Alfred Lorenzer, Margaret S. Mahler, Edith Jacobson<br />
<strong>und</strong> Otto F. Kernberg beruft, sieht er "signifikante Veränderungen der Gegenwart",<br />
die sich einer sozialpsychologischen Erklärung durch den Ödipuskomplex entziehen.<br />
Die Theorie des kommunikativen Handelns bietet für ihn den Rahmen, "in dem das<br />
Strukturmodell von Ich, Es <strong>und</strong> Über-Ich reformuliert werden" könne. An die Stelle<br />
der Triebtheorie, die sich am Modell der Beziehungen zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />
orientiere, trete dann eine Sozialisationstheorie, die Strukturen der Intersubjektivität<br />
138 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität <strong>und</strong><br />
gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M. 1999. Seiten 158ff., zit. 190. Vgl. dazu auch Band 2:<br />
Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1999. Seiten 182ff.; zur kritischen<br />
Gesellschaftstheorie Seiten 548ff.<br />
139 Die Analysen gehen von der Hypothese aus, dass der autoritäre Charakter in der mittelständischen<br />
patriarchalischen Familie wurzele <strong>und</strong> dass seine "verborgenen" psychischen Bedürfnisse<br />
verantwortlich seien für antidemokratisches, potenziell faschistisches Verhalten, weniger für politische,<br />
gesellschaftliche <strong>und</strong> wirtschaftliche Überzeugungen. Vgl. Theodor W. Adorno: Studien zum<br />
autoritären Charakter. Vierte Auflage. Frankfurt a. M. 1982.<br />
131
<strong>und</strong> Identitätsbildung mit ihren intrapsychischen <strong>und</strong> interspychischen<br />
"Kommunikationsbarrieren" offenlege. 140<br />
Jürgen Habermas ist der Erste <strong>und</strong> Einzige, der sich - soweit ersichtlich - mit der<br />
Theorie der Hermeneutik beschäftigt <strong>und</strong> zugleich den Paradigmenwechsel von<br />
neurotischen zu narzisstischen Störungen erkannt hat. Sie werden in der<br />
Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft zunehmen <strong>und</strong> zerstörerische<br />
Wirkungen ausüben: <strong>als</strong> schwarze Löcher <strong>und</strong> alltäglicher Narzissmus (1.4. <strong>und</strong><br />
1.5.).<br />
Diltheys hermeneutischer Zirkel besagt, dass von den Teilen auf das Ganze <strong>und</strong> vom<br />
Ganzen auf das Einzelne geschlossen werden könne. Nach Gadamer beschreibt der<br />
Zirkel den Erkenntnisprozess zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit": Die<br />
Textaneignung beginnt mit dem historisch bedingten, wirkungsgeschichtlichen <strong>und</strong><br />
kulturellen Vorurteilshorizont <strong>und</strong> schreitet zur Textaneignung durch subjektives<br />
Verstehen fort: vom Vorverständnis zum Gegenstandsverständnis.<br />
Habermas steuert die ideologiekritische <strong>und</strong> narzisstische Dimension zu einer<br />
komplexeren Hermeneutik bei. Sie schließt die historische Zeitgeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> die<br />
jetzige Lebenserfahrung mit ein, <strong>und</strong> das heißt, dass sich das Textverstehen nicht<br />
nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart bezieht. Dafür ist<br />
"kritische Selbstreflexion" erforderlich. Sie ähnelt der Intrazeption, deren Negation <strong>als</strong><br />
"Anti-Intrazeption" Theodor W. Adorno <strong>und</strong> Mitautoren <strong>als</strong> Variable der<br />
Faschismus(F)-Skala eingeführt haben, definiert <strong>als</strong> "Abwehr des Subjektiven, des<br />
Phantasievollen, Sensiblen". 141<br />
Um den fortschreitenden Lernprozess der sechsten prozessualen Operation zu<br />
verdeutlichen, wird nicht von einem hermeneutischen Zirkel, sondern von einer<br />
hermeneutischen Spirale gesprochen. Sie ist offen <strong>und</strong> ermöglicht anstelle einer<br />
zirkulären Rückkehr zum Ausgangspunkt ein Textverstehen, das niem<strong>als</strong> <strong>als</strong><br />
abgeschlossen zu betrachten ist. Für ein <strong>und</strong> dieselbe Quelle sind vielfältige<br />
Interpretationen denkbar, die von den jeweiligen Fragestellungen abhängen - wer,<br />
wann, wo, wie <strong>und</strong> warum in den Spiegel schaut, versteht <strong>und</strong> sich selbst korrigiert.<br />
Dies vermag blockierte kreative Kräfte im Subjekt freizusetzen, sofern es sich<br />
Quellentexte zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit" (Gadamer) fortschreitend<br />
aneignet <strong>und</strong> so "versteht".<br />
140 Jürgen Habermas: Band 2. Seiten 567ff., zit. 569f., 571.<br />
141 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 1982. Seiten 45, 53f. Zur<br />
zweiten F-Skala (Form 60) vgl. Seiten 71ff., zit. 73, zu den endgültigen F-Skalensätzen (Form 45 <strong>und</strong><br />
40) Seiten 81ff., zit. 82f. - Der Begriff Intrazeption stammt von Murray (1938) <strong>und</strong> bedeutet "Dominanz<br />
von Gefühlen, Phantasien, Grübeleien, Sehnsüchten - eine vor allem auf Imaginationen gründende,<br />
subjektive Anschauungsweise". Extrazeption bezeichnet die Tendenz, "sich von konkreten, eindeutig<br />
wahrnehmbaren, physischen Bedingungen (tangiblen, objektiven Tatsachen) bestimmen zu lassen"<br />
(Adorno, Seite 54).<br />
132
4.6 Sind Hypothesen <strong>als</strong> Verallgemeinerungen möglich?<br />
Die Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen: Verknüpfungen von binären Variablen<br />
nach ihrem Wahrheitsgehalt<br />
Die Hypothesenbildung entspricht in der PISA-Studie I den obersten Stufen IV <strong>und</strong> V<br />
in der Subskala "Reflektieren <strong>und</strong> Bewerten". Die Stufe IV fordert "z.B. die kritische<br />
Bewertung eines Textes oder das Formulieren von Hypothesen über Informationen<br />
im Text, unter Zuhilfenahme von formalem oder allgemeinem Wissen", die Stufe V<br />
"...die kritische Bewertung oder das Bilden von Hypothesen, unter Zuhilfenahme von<br />
speziellem Wissen. Typischerweise verlangen Aufgaben dieses Niveaus vom Leser<br />
den Umgang mit Konzepten, die der Erwartung widersprechen." 142 Manchmal wird<br />
diese Aufgabe gelingen, aber oft auch misslingen. Dennoch sollte nicht darauf<br />
verzichtet werden, sich ihr zu stellen, weil sie das Abstraktionsvermögen<br />
herausfordert <strong>und</strong> erprobt. Experimente sind zu fördern. Wenn sie scheitern, sind sie<br />
ein Ansporn, es später erneut zu versuchen. Wer vor ihnen zurückscheut, verzichtet<br />
darauf, Erfahrungen zu sammeln <strong>und</strong> aus ihnen zu lernen.<br />
Dazu ist ein kurzer Rückgriff auf die Boolesche Algebra <strong>als</strong> Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Hypothesenbildung erforderlich. 143<br />
In der Mathematik besagt die Gleichung y= f(x), dass die Ausgangsvariable y eine<br />
eindeutig definierte Funktion der Eingangsvariablen x ist, wenn jedem zulässigen<br />
Zahlenwert von x ein fester Zahlenwert y gesetzmäßig zugewiesen ist. In der<br />
normalen Algebra können die Variablen x1, x2, x3 ......xn beliebige Werte annehmen<br />
<strong>und</strong> z. B. durch Addition <strong>und</strong> Multiplikation so miteinander verknüpft werden, dass<br />
eine neue Ausgangsvariable y entsteht. Solche Abhängigkeitsverhältnisse beruhen<br />
auf den Gesetzen der Mathematik <strong>und</strong> lassen sich nicht oder nur sehr eingeschränkt<br />
auf die Sozialwissenschaften übertragen.<br />
142 PISA 2000. Seite 89 (Tabelle 2.3).<br />
143 Siehe dazu Alexander Wynands: Boolesche Algebra <strong>und</strong> Informatik. Kastellaun 1977; Gert Böhme:<br />
Algebra. Anwendungsorientierte Mathematik. Berlin 1992; Franz Jehle: Boolesche Algebra. München<br />
1993; Peter Lesky u. a.: Boolesche Algebra. Stuttgart 1976; Heinz-Peter Gumm <strong>und</strong> Werner<br />
Poguntke: Boolesche Algebra. Mannheim 1981; Klaus Urbanski <strong>und</strong> Roland Woitowitz: Digitaltechnik.<br />
Ein Lehr- <strong>und</strong> Übungsbuch. Berlin 2000; Christoph Meinel <strong>und</strong> Martin M<strong>und</strong>henk: Mathematische<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der Informatik. Stuttgart 2000; Elliott Mendelson: Boolesche Algebra <strong>und</strong> logische<br />
Schaltungen. Hamburg 1982; Uwe Schöning: Theoretische Informatik - kurzgefasst. Heidelberg u.a.<br />
2001; Werner Nehrlich: Diskrete Mathematik. Basiswissen für Informatiker, eine Mathematicagestützte<br />
Darstellung. Leipzig 2003; Günter Hotz: Einführung in die Informatik. Stuttgart 1990. - Pavel<br />
S. Alexandrov: Einführung in die Mengenlehre <strong>und</strong> in die allgemeine Topologie. Berlin 1984; Dieter<br />
Haupt: Mengenlehre - leicht verständlich. Leipzig 1971; Arnold Oberschelp: Allgemeine Mengenlehre.<br />
Mannheim 1994.<br />
133
Anders <strong>als</strong> bei der normalen Algebra verknüpft die Boolesche Algebra, die nach dem<br />
englischen Mathematiker George Boole (1815-1864) benannt ist, logische Variablen<br />
(Aussagen), die nur zwei diskrete Werte annehmen: entweder 1 oder 0, entweder<br />
richtig oder f<strong>als</strong>ch, entweder wahr oder unwahr. Während die normale Algebra von<br />
Zahlen <strong>und</strong> Zahlenwerten handelt, geht es bei der Booleschen Algebra nur um den<br />
Wahrheitsgehalt von Aussagen <strong>und</strong> ihren Verknüpfungen - ja (1) oder nein (0).<br />
Tertium non datur. Eine Boolesche Größe (Aussage) hat somit binären Charakter.<br />
Eine Boolesche Funktion liegt vor, wenn die Ausgangsvariable y davon abhängt, ob<br />
eine oder mehrere Bedingungen in einer eindeutig definierten Weise richtig (1) oder<br />
f<strong>als</strong>ch (0) sind. Es gibt drei gr<strong>und</strong>legende Verknüpfungen zwischen Booleschen<br />
Größen: die Konjunktion, die Disjunktion <strong>und</strong> die Negation.<br />
134
Definition der Konjunktion (UND-, AND-Funktion): Die Ausgangsvariable y ist dann<br />
erfüllt (1), wenn alle Eingangsvariablen x1, x2...xn gleichzeitig erfüllt (1) sind. Ist eine<br />
Eingangsvariable f<strong>als</strong>ch (0), so ist auch die Ausgangsvariable f<strong>als</strong>ch (0).<br />
y = x1 Λ x2...Λ xn = x1 & x2....& xn = x1 ∗ x2...∗xn = x1 x2 ...xn<br />
Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen:<br />
x1 x2 y<br />
0 0 0<br />
0 1 0<br />
1 0 0<br />
1 1 1<br />
Definition der Disjunktion (Oder-, OR-Funktion): Die Ausgangsvariable y ist dann<br />
erfüllt (1), wenn wenigstens eine der Eingangsvariablen x1, x2...xn erfüllt (1) ist. Sind<br />
alle Eingangsvariablen f<strong>als</strong>ch (0), so ist auch die Ausgangsvariable y f<strong>als</strong>ch (0).<br />
y = x1 V x2 ... V xn = x1 + x2 ...+xn<br />
Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen:<br />
x1 x2 y<br />
0 0 0<br />
0 1 1<br />
1 0 1<br />
1 1 1<br />
Abbildung 21: Wertetafel bei zwei Eingangsvariablen<br />
Definition der Negation: Die Ausgangsvariable y ist dann erfüllt (1), wenn die<br />
Eingangsvariable x nicht erfüllt (0) ist. Ist x = 1, dann ist y= 0. Die Negation ist somit<br />
die Umkehrung der Identität y= x.<br />
y = nicht x<br />
Die Schaltalgebra (Switching Algebra) ist die Anwendung der Booleschen Algebra<br />
auf die EDV <strong>und</strong> Elektrotechnik (u.a. Mess-, Steuerungs- <strong>und</strong> Regeltechnik) <strong>und</strong><br />
kann deshalb auch im Physikunterricht behandelt werden. Anders <strong>als</strong> die<br />
konventionelle, analoge Schaltungstechnik arbeitet die elektronische mit zwei<br />
diskreten, <strong>als</strong>o binären Eingangs- <strong>und</strong> Ausgangsspannungen. Die drei<br />
Gr<strong>und</strong>funktionen lassen sich durch elektronische Schaltungen, den Gattern, nach<br />
DIN 40700 Teil 14 so realisieren <strong>und</strong> symbolisieren:<br />
135
Abbildung 22: Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> elektronische Schaltungen nach DIN<br />
Negation: Ruheschaltung<br />
Konjunktion (UND-, AND-Funktion): Serienschaltung<br />
Disjunktion (ODER-, OR-Funktion): Parallelschaltung<br />
In der Mengenlehre lassen sich die Booleschen Funktionen <strong>als</strong> Gebietsdarstellungen<br />
in einem Rechteck veranschaulichen, das alle zulässigen Werte der<br />
Eingangsvariablen <strong>und</strong> ihrer Verknüpfungen beinhaltet. Bei bis zu zwei<br />
Eingangsvariablen, die sich überlappende Kreise darstellen, ergeben sich bei den<br />
drei Gr<strong>und</strong>funktionen folgende Kombinationen <strong>und</strong> Teilmengen:<br />
136
Konjunktion<br />
Disjunktion<br />
Negation<br />
Abbildung 23: Gebietsdarstellungen (Schnittmengen) der Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen<br />
137
Die schraffierten Flächen (Schnittmengen) erfüllen die Funktion so, dass die<br />
Ausgangsvariable y = 1 ist. Die unschraffierten Flächen (Teilmengen) stellen jene<br />
Verknüpfungen von Wahrheitswerten der zwei Eingangsvariablen x1 <strong>und</strong> x2 dar, bei<br />
denen die Ausgangsvariable y = 0, <strong>als</strong>o nicht erfüllt ist. Bei der Negation <strong>als</strong><br />
Umkehrung der Identität y = x gibt es nur zwei Schnittmengen, da y = nicht x ist. Die<br />
NAND-Funktion entsteht durch Negation der Konjunktion, die NOR-Funktion durch<br />
Negation der Disjunktion.<br />
Die Gr<strong>und</strong>verknüpfungen Konjunktion, Disjunktion <strong>und</strong> Negation sind die Basis der<br />
Volltextsuche mit der Suchmaschine swish-e, deren Recherchemöglichkeiten in der<br />
DVD-D-Dok. ausführlich getestet <strong>und</strong> dokumentiert worden sind (Testversion: DVD-<br />
Laufwerk, Ordner: Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen). Die Junktoren lassen sich noch weniger <strong>als</strong><br />
die Verknüpfungen der normalen Algebra beim Textverstehen anwenden, da bei der<br />
Booleschen Algebra der Inhalt unwichtig ist <strong>und</strong> es nur um den Wahrheitsgehalt von<br />
Aussagen geht - ob sie richtig (1) oder f<strong>als</strong>ch (0) sind. Bei der Quelleninterpretation<br />
dagegen handelt es sich genau um das Gegenteil: um die spezifisch inhaltliche <strong>und</strong><br />
subjektive Deutung von Text-Aussagen, die sich nicht nach Verknüpfungsregeln von<br />
Variablen ( = x1, x2......xn) <strong>als</strong> Ergebnis-Aussage (= y) "errechnen" oder<br />
"programmieren" lassen. "Wahrheiten", "endgültige" Ergebnisse, Lösungen,<br />
Aussagen <strong>und</strong> Antworten gibt es in der "fertigen" Mathematik, aber nicht in der<br />
Geschichtswissenschaft <strong>und</strong> in den Sozialwissenschaften.<br />
4.7. Wie Hypothesen aus dem inhaltlich-subjektiven Quellenverständnis<br />
ableiten?<br />
Tendenziell-approximative Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen<br />
Unter drei Voraussetzungen lassen sich mit den Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen<br />
Konjunktion, Disjunktion <strong>und</strong> Negation historisch-politische Hypothesen bilden:<br />
1. indem historisch-individuelle Aspekte durch Abstraktion vernachlässigt <strong>und</strong> so<br />
generalisiert werden;<br />
2. indem Funktionen <strong>und</strong> Aussagen ihrer Logik, Gesetzmäßigkeit <strong>und</strong> Kausalität<br />
entkleidet <strong>und</strong> durch subjektive, aber nachvollziehbare Inhalte ergänzt werden;<br />
3. indem die Kopula = (ist gleich) durch das Symbol → ersetzt wird, <strong>und</strong> das<br />
heißt: dass y dazu tendiert, Ergebnis- oder Ausgangsvariable der<br />
Eingangsvariablen oder Einflussgrößen (Parameter) x1, x2....xn zu werden.<br />
138
Siebte prozessuale Operation ist der Versuch einer Generalisierung mit der<br />
Zielsetzung, aus dem subjektiven Textverstehen Hypothesen abzuleiten <strong>und</strong> sie <strong>als</strong><br />
Variablen zu verknüpfen. Je höher der Abstraktionsgrad wird, um so mehr verlieren<br />
historisch-politische Vorgänge ihre Individualität durch Verallgemeinerungen.<br />
Idealtypische Fragestellungen:<br />
Wie lassen sich die Ergebnisse des "subjektiven" Textverstehens <strong>und</strong> die Ergebnisse<br />
der "objektiven" Volltextsuche mit der Suchmaschine der D-Dok. kombinieren?<br />
Ist es möglich, sie zu verknüpfen <strong>und</strong> zu mathematisieren?<br />
Lassen sich so Funktionen mit Abhängigkeitsverhältnissen herstellen?<br />
An die Stelle mathematischer oder logischer Verknüpfungsgesetze <strong>und</strong> "Wahrheiten"<br />
der Booleschen Gr<strong>und</strong>funktionen treten damit tendenziell-approximative<br />
Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen: Möglichkeiten, Konstellationen, Trends,<br />
Wahrscheinlichkeiten. Sie sind dem historischen Wandel unterworfen, <strong>als</strong>o niem<strong>als</strong><br />
dauerhaft, kausal, determiniert oder programmierbar. Damit wird dem Umstand<br />
Rechnung getragen, dass in der Geschichte Menschen entscheiden, deren Verhalten<br />
oft irrationalen Gefühlen statt rationaler Logik folgt. Zwar gibt es ausnahmsweise<br />
auch Konstellationen, die menschliche Entscheidungen vorherbestimmen, wenn<br />
Zwang <strong>und</strong> Druck überhand nehmen. In der Regel bleiben aber<br />
Entscheidungsspielräume offen <strong>und</strong> damit Möglichkeiten, zwischen Alternativen<br />
auszuwählen.<br />
Auf die Möglichkeit, die Eingangsvariablen zu quantifizieren <strong>und</strong> damit zahlenmäßig<br />
zu gewichten, z. B. innerhalb einer Skala von -10 bis +10, wird hingewiesen. Davon<br />
wird allerdings aus zwei Hauptgründen abgeraten: 1. Ist es schwierig, qualitative<br />
Inhalte <strong>als</strong> rechnerische Größen zu quantifizieren, <strong>und</strong> 2. ist der subjektive Spielraum<br />
zu groß, zumal die jeweilige Interpretation in der jeweiligen Gegenwart die<br />
Retrospektive auf die Vergangenheit verändert.<br />
Am einfachsten zu arbeiten ist mit der Negation, da sie nur über eine<br />
Eingangsvariable verfügt. In der Zeit des Kalten Krieges war die Welt bipolarantagonistisch:<br />
zweigeteilt in Ost <strong>und</strong> West, in Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Feind, in dichotomen<br />
Denk- <strong>und</strong> Gefühlsschemata erstarrt - tertium non datur. Der "Antagonismus" <strong>und</strong> die<br />
"Konfrontation" der beiden deutschen Staaten vor allem in den 1950er Jahren bietet<br />
dafür Anschauungsmaterial: Sehr oft ist die Politik der BRD die Negation der Politik<br />
der DDR <strong>und</strong> die Politik der DDR die Negation dieser Negation - <strong>und</strong> umgekehrt.<br />
Allerdings verbietet sich eine schematische Betrachtungsweise anstelle einer<br />
differenzierten, da viele Ausnahmen die Regel bestätigen: So haben beide deutsche<br />
Staaten anfangs an der deutschen Einheit <strong>und</strong> an einer einheitlichen deutschen<br />
Staatsangehörigkeit festgehalten - bis die DDR die Zwei-Staaten-Politik vertreten,<br />
per Gesetz vom 20. Februar 1967 eine eigene Staatsbürgerschaft eingeführt <strong>und</strong><br />
unter Honecker schließlich sogar zwischen "zwei Nationen" unterschieden hat. Aus<br />
139
der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts, wonach die BRD mit dem<br />
Deutschen Reich identisch bzw. teilidentisch sei, lassen sich keine Identitäten<br />
ableiten (y= x), wohl aber rechtliche <strong>und</strong> politische Konsequenzen, z. B. das<br />
Wiedervereinigungsgebot <strong>und</strong> das Verbot, die DDR <strong>als</strong> Ausland zu betrachten.<br />
Die wichtigste Suchoption ist die Konjunktion, bei der mehrere, mindestens jedoch<br />
zwei Variablen gleichzeitig erfüllt sein müssen. In vielen Fällen werden sie den<br />
eingegebenen Suchbegriffen entsprechen oder direkt aus den ermittelten Quellen<br />
bzw. Quellenstellen entnommen werden können. Dies unterscheidet das hier<br />
vorgeschlagene wesentlich von empirischen Verfahren, die ihre Materialgr<strong>und</strong>lage<br />
nicht Quellen entnehmen, sondern durch Messungen <strong>und</strong> Auswertung von<br />
Fragebögen beschaffen. Aus ihnen hatten Theodor W. Adorno <strong>und</strong> seine Mitautoren<br />
die Eingangsvariablen "Konventionalismus", "autoritäre Unterwürfigkeit", "autoritäre<br />
Aggression", "Anti-Intrazeption", "Aberglaube <strong>und</strong> Stereotypie", "Machtdenken <strong>und</strong><br />
'Kraftmeierei'", "Destruktivität <strong>und</strong> Zynismus", "Projektivität" <strong>und</strong> "Sexualität"<br />
abgeleitet <strong>und</strong> definiert; sie sollten sich so ergänzen, dass sie den potenziell<br />
antidemokratischen Charakter <strong>als</strong> Ausgangsvariable messen. Dazu dienten die F-<br />
Skalensätze mit Fragebogenfassungen. 144 Die meisten Hypothesen waren aus<br />
Forschungsarbeiten <strong>und</strong> Interviews übernommen <strong>und</strong> <strong>als</strong> Fragebogensätze so<br />
umformuliert worden, dass sie - <strong>als</strong> Variablen verknüpft - das Konstrukt <strong>und</strong> Syndrom<br />
einer mehr oder weniger dauerhaften Charakterstruktur bilden sollten.<br />
Im Unterschied zu solchen empirisch beschafften Daten, die statistisch ausgewertet<br />
<strong>und</strong> nach ihrem Zuverlässigkeitsgrad interpretiert werden, geht die 7. prozessuale<br />
Operation den umgekehrten Weg: Die Daten sind historisch-politische <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftliche Quellen, die bereits vorliegen. Sie werden maschinell nach<br />
Suchbegriffen "objektiv" ausgewertet, subjektiv interpretiert <strong>und</strong> verstanden, sollen<br />
aber - soweit möglich - modellhaft funktionalisiert <strong>und</strong> generalisiert werden. Die<br />
Datenerhebung, die sich in der empirischen Sozialforschung in der Regel des<br />
klassischen Instruments der Befragung (neben der Inhaltsanalyse <strong>und</strong> Beobachtung)<br />
bedient <strong>und</strong> daher Fragebögen <strong>und</strong> Frageleitfäden entwickelt, entfällt daher. Anders<br />
<strong>als</strong> ursprünglich angenommen, dürfte der Zuverlässigkeitsgrad der<br />
"Quellenbefragungen" nicht höher sein <strong>als</strong> jener der empirischen Datenerhebung <strong>und</strong><br />
Datenauswertung. Schließlich ist die vorliegende Quellenauswahl subjektiv <strong>und</strong><br />
deshalb ebenso wenig repräsentativ wie Stichprobenbefragungen.<br />
144 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 1982. Seiten 45ff., 63ff.,<br />
91ff.<br />
140
In zwei Fällen habe ich versucht, historisch-politische Vorgänge zu generalisieren<br />
<strong>und</strong> modellhaft zu funktionalisieren: den Oder-Neiße-Konflikt <strong>und</strong> in einer<br />
"Remigrationsformel" die Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von Emigranten, nach 1945<br />
nach <strong>Deutschland</strong> zurückzukehren. 145 Diese Hypothesen- <strong>und</strong> Theoriebildung stützte<br />
sich allerdings weniger auf <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> vielmehr auf Forschungsergebnisse,<br />
<strong>als</strong>o wissenschaftliche Sek<strong>und</strong>ärliteratur.<br />
145 Hans Georg Lehmann: Der Oder-Neiße-Konflikt. München 1979. Seiten 184ff. (Konfliktsynthesen<br />
<strong>und</strong> Theoriebildung); Derselbe: Rückkehr nach <strong>Deutschland</strong>? Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von<br />
Emigranten. In: Rückkehr <strong>und</strong> Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben<br />
Nachkriegsdeutschlands. Herausgegeben von Claus-Dieter Krohn <strong>und</strong> Patrik von zur Mühlen.<br />
Marburg 1997. Seiten 39 - 70, vor allem 65ff.<br />
141
5. Evaluation der <strong>Quellenarbeit</strong> an Schulen: "Spieglein,<br />
Spieglein, an der Wand......"<br />
Primat der Praxis - Lernprogramm der D-Dok. - Standards,<br />
Methoden <strong>und</strong> Indikatoren - Spiegelszene<br />
Evaluation, d. h. Bewertung, ist "der Blick in den Spiegel". 146 Sie gibt es nicht erst,<br />
seitdem es angewandte Sozialwissenschaft <strong>und</strong> empirische Sozialforschung gibt,<br />
sondern solange es Menschen gibt. Evaluation ist ein lebenslanger Lernprozess. Er<br />
beginnt mit der Geburt <strong>und</strong> endet mit dem Tode. Insofern gilt auch hier das Leitmotiv<br />
der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der D-Dok.: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich.<br />
Der erste Spiegel sind die Augen der Mutter, <strong>und</strong> diese erste "Evaluation" ist meist<br />
lebenslang prägend <strong>und</strong> deshalb schicksalhaft (2.8.). In der Schule hat es Evaluation<br />
schon immer gegeben, wenngleich einseitig: Lehrer/innen bewerten <strong>und</strong> benoten<br />
Schüler/innen. Aber nach welchen Kriterien, Methoden, Zielsetzungen <strong>und</strong><br />
Indikatoren (Anhaltspunkten, Anzeichen)? Im Alltagsleben evaluiert irgendwer<br />
irgendwie sich selbst oder irgendjemand in irgendeiner Weise - sei es in der Familie,<br />
in der Gruppe, im Beruf, im Alter.<br />
Wer in den Spiegel sieht, hegt oft Erwartungen, die subjektiv-irrationalen<br />
Bedürfnissen entspringen, weniger objektiv-rational nachvollziehbaren<br />
Zielsetzungen: "Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen<br />
Land?" Wer ist der/die Größte? Wer der/die Beste? Wer der/die Stärkste? Wer<br />
der/die Mächtigste? Wer der/die Reichste? usw. Schneewittchen im Märchen der<br />
Brüder Grimm ist ein Objekt solch fragwürdiger Evaluation geworden, aber wir<br />
werden es tagtäglich auch in der Realität, ob wir es wollen oder nicht, bewusst oder<br />
unbewusst.<br />
5.1. Der Primat der Praxis in der Evaluation: Kontrolliertes Bewerten <strong>und</strong><br />
Verwerten von Informationen <strong>als</strong> Handlungswissen - Schule <strong>als</strong><br />
konkretes Beispiel<br />
Nicht nur im Alltag ist das Fremdwort Evaluation diffus, inflationär <strong>und</strong> unspezifisch,<br />
oft gilt dies auch für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Erforderlich sind daher<br />
146 So der Titel eines Sammelbandes mit 14 Beiträgen aus <strong>Deutschland</strong>, der Schweiz <strong>und</strong> Österreich<br />
"zur Praxis von Selbstevaluation <strong>und</strong> Schulentwicklung": Der Blick in den Spiegel. Herausgegeben von<br />
Edwin Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz mit Illustrationen von Andreas Breinbauer.<br />
Innsbruck/Wien/München 1999.<br />
142
Präzisierungen, Rollendefinitionen <strong>und</strong> Kompetenzklärungen. Dazu gehört,<br />
Bewertungskriterien (Indikatoren) offen zu legen.<br />
In der angewandten Sozialwissenschaft, nicht nur in der empirischen<br />
Sozialforschung ist Evaluation eine "methodisch kontrollierte, verwertungs- <strong>und</strong><br />
bewertungsorientierte Form des Sammelns <strong>und</strong> Auswertens von Informationen" 147 .<br />
Ausschlaggebend sind dabei nicht die Methoden, <strong>als</strong>o die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />
Evaluation durchgeführt wird, sondern ihre erkenntnisleitenden Zielsetzungen:<br />
Informationen für die Praxis zu analysieren <strong>und</strong> dahingehend zu bewerten, inwieweit<br />
sie sich für Innovationen <strong>und</strong> daraus ableitbare Maßnahmen eignen.<br />
Wer mit der D-Dok. arbeitet, kann nicht umhin, sich dieser Aufgabe zu stellen, <strong>und</strong><br />
hat sich ihr teilweise auch schon verschrieben; denn die in der Datenbank<br />
gespeicherten Informationen sind nach spezifischen Fragestellungen <strong>und</strong> sieben<br />
prozessualen Operationen recherchiert <strong>und</strong> gesammelt, ausgewählt, ausgewertet<br />
<strong>und</strong> bewertet <strong>und</strong> - soweit möglich - tendenziell funktionalisiert worden.<br />
Allerdings fehlt 1. die Evaluation der geleisteten <strong>Quellenarbeit</strong> im strengen Sinne, d.<br />
h. Kontrollen, ob die gesetzten Ziele erreicht worden sind, <strong>und</strong> 2. das Resultat dieses<br />
Evaluationsprozesses, d. h. seine Dokumentation <strong>und</strong> die Konsequenzen, die daraus<br />
zu ziehen sind. Mit anderen Worten: Evaluation ist ein integraler Bestandteil der<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>, gehört implizit zu ihr <strong>und</strong> zu ihrem Profil. Wenn Quellen, wie wiederholt<br />
hervorgehoben (2.6. <strong>und</strong> 2.7.), Spiegel sind <strong>und</strong> deshalb eine Spiegelfunktion<br />
ausüben, dann ist die Evaluation der Rückspiegel (summativ) oder der begleitende<br />
Spiegel (formativ).<br />
Die folgenden Hinweise sind für allgemein bildende Schulen gedacht <strong>und</strong> lassen sich<br />
nicht auf berufsbildende übertragen. Auf Schulen konzentriert sich die <strong>Quellenarbeit</strong><br />
deshalb, weil sie ein Angelpunkt politischer Bildung sind <strong>und</strong> nach dem PISA-Schock<br />
das Entwicklungspotenzial für Innovationen bieten. "Der Blick in den Spiegel", so die<br />
Evaluationsforscher Edwin Radnitzky (Wien) <strong>und</strong> Michael Schratz (Innsbruck), "<strong>und</strong><br />
die daraus abgeleitete bzw. damit verb<strong>und</strong>ene Entwicklungsaktivität - z. B. das<br />
Erstellen eines Schulprogramms - kann der Arbeit von Lehrer/innen langfristig mehr<br />
Sinn geben <strong>und</strong> ihre berufliche Zufriedenheit steigern." 148<br />
147 Helmut Kromrey: Evaluation - ein vielschichtiges Konzept. Begriff <strong>und</strong> Methodik von Evaluierung<br />
<strong>und</strong> Evaluationsforschung. Empfehlungen für die Praxis. In: Sozialwissenschaften <strong>und</strong> Berufspraxis<br />
(SUB) 24 , 2001. Seiten 105 - 131, zit. 112. Ergänzende Literaturangaben Seiten 130 - 131. Siehe<br />
dazu auch die Definitionen in: Claus G. Buhren, Dagmar Killus, Sabine Müller: Wege <strong>und</strong> Methoden<br />
der Selbstevaluation. Ein praktischer Leitfaden für Schulen. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 13 - 16. Vgl. auch<br />
Herbert Altrichter: Evaluation <strong>als</strong> Alltäglichkeit, <strong>als</strong> Profession <strong>und</strong> <strong>als</strong> Interaktion. In: Josef<br />
Thonhauser <strong>und</strong> Jean-Luc Patry: Evaluation im Bildungsbereich. Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis im Dialog.<br />
Innsbruck/Wien 1999. Seiten 103 - 120.<br />
148 Edwin Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz: Qualitätsentwicklung durch Selbstevaluation. In: Der Blick in<br />
den Spiegel. Seiten 9 - 21, zit. 12. Vgl. dazu auch Anton Strittmatter: Qualitätsevaluation <strong>und</strong><br />
Schulentwicklung. In: Josef Thonhauser <strong>und</strong> Jean-Luc Patry: Evaluation .... Seiten 173 - 188.<br />
143
Evaluation ist an Schulen in <strong>Deutschland</strong> zu einem Reizwort geworden. Der Begriff<br />
löst nicht nur Unbehagen aus, sondern schürt oft auch Unsicherheiten <strong>und</strong> Ängste.<br />
Der Gr<strong>und</strong>: Schulbehörden haben dieses Instrument - meist auf dem Umweg über<br />
das Schulprogramm - aufgegriffen <strong>und</strong> drangsalieren damit Lehrer/innen, um sie zu<br />
kontrollieren, zu "messen" <strong>und</strong> angeblich nach Leistungsstandards zu bewerten.<br />
Schulen <strong>und</strong> Lehrer/innen haben ihre eigenen "Instrumente" entwickelt <strong>und</strong> wissen,<br />
wie sie solche Zwangsmaßnahmen unterlaufen: Sie betreiben eine "Als-ob-<br />
Evaluation", inszenieren eine "Evaluation-Show" u. a. Bedauerlich ist allerdings, dass<br />
damit Evaluation diskreditiert <strong>und</strong> zu Schanden gemacht wird, obwohl nicht nur<br />
Schulen, sondern vor allem Lehrer/innen von ihr profitieren könnten.<br />
Wer in der Evaluation an Schulen "perfekt" sein will, findet nur den Anfang, aber kein<br />
Ende. Vor lauter Bäumen werden Sie keinen Wald mehr sehen, wie teilweise schon<br />
bei der Informationssammlung. Weniger ist daher mehr <strong>als</strong> viel - multum, non multa.<br />
Statt Fragebögen mit Alternativantworten auszuarbeiten, sie zu skalieren, zu<br />
diskutieren <strong>und</strong> zu testen, sollten Sie sich der Instrumente der Beobachtung <strong>und</strong><br />
Befragung (Interview) <strong>als</strong> empirischer Datensammlungsverfahren bedienen. Sie<br />
können sich dann auf Ihre Schüler/innen konzentrieren <strong>und</strong> sie individuell mit ihren<br />
Stärken <strong>und</strong> Schwächen wahrnehmen <strong>und</strong> auch fördern. Sie ersparen sich<br />
schriftlichen <strong>und</strong> "dokumentarischen" Aufwand. Und Sie sehen dann auch eher die<br />
positiven Ansätze der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> ihre Mängel, Lücken, Fehler. Kurzum: Es<br />
geht nicht um Theorien, <strong>und</strong> schon gar nicht um Schulbehörden, sondern um den<br />
Primat der Praxis: was für schulische Zwecke brauchbar <strong>und</strong> praktikabel ist.<br />
Standardisierte Verfahren <strong>und</strong> quantitative Indikatoren (z.B. statistische Kennzahlen)<br />
sollten daher entfallen.<br />
Als Herausgeber der D-Dok. <strong>und</strong> Autor dieses Begleitbuches kann ich Ihnen zwar<br />
nicht namens der Schulaufsicht, aber im eigenen Namen eine Generalabsolution für<br />
alle Sünden erteilen, die Sie <strong>als</strong> Lehrer/in wider Geist <strong>und</strong> Buchstaben der "richtigen"<br />
Evaluation in der "richtig" angewandten Sozialwissenschaft, der empirischen<br />
Sozialforschung, der Theory-based Evaluation, der Sozialethik, der Action Research,<br />
der Managementforschung, der Statistical Power Analysis, der Self-Efficay, der<br />
Komplexforschung u. a. begehen.<br />
Wenn Sie dies annehmen können, dann wird eine Last von Ihnen abfallen, die Sie<br />
vielleicht auch körperlich-seelisch wahrnehmen, indem Sie sich zurücklehnen <strong>und</strong> tief<br />
durchatmen. Was Ihnen alles erspart bleibt, können Sie der Literatur entnehmen<br />
oder dort nachblättern. 149<br />
149 Andreas Diekmann: Empirische Sozialforschung. Gr<strong>und</strong>lagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek<br />
bei Hamburg 1996; Helmut Kromrey: Empirische Sozialforschung. Modelle <strong>und</strong> Methoden der<br />
Datenerhebung <strong>und</strong> Datenauswertung. Opladen 1998; Jürgen Friedrichs: Methoden empirischer<br />
Sozialforschung. Opladen 1997; Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Band 1:<br />
Methodologie, Band 2: Methoden <strong>und</strong> Techniken. Weinheim 1995; Erwin Roth (Hrsg.):<br />
144
5.2. Evaluation an allgemein bildenden Schulen: Das Schulprogramm in<br />
<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> das Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong><br />
Die Schulgesetze der B<strong>und</strong>esländer, die in der D-Dok. digitalisiert sind, verpflichten<br />
die Schulen in der Regel dazu, sich ein Schulprogramm zu geben. Auf Gr<strong>und</strong><br />
verordneter Selbstständigkeit, oft auch Eigenständigkeit geheißen, sollen sie ohne<br />
inhaltliche Vorgaben ein gr<strong>und</strong>legendes Konzept entwerfen, das ihre fachlichen <strong>und</strong><br />
pädagogischen Ziele, deren Schwerpunkte <strong>und</strong> die Wege zu ihnen beschreibt.<br />
Indikatoren dienen <strong>als</strong> Messlatten <strong>und</strong> Notengeber, ob Schulen ihre selbstgewählten<br />
Ziele erreicht haben. Diese Schulentwicklungsarbeit, an der neben den<br />
Lehrern/innen auch die Schüler/innen <strong>und</strong> die Eltern einzubeziehen sind, bedarf<br />
einer Bestandsaufnahme (Ist-Analyse). Sie mündet in einer Soll-Analyse ein <strong>und</strong><br />
erfordert eine regelmäßige Überprüfung.<br />
Schulprogramme <strong>und</strong> Evaluation gelten <strong>als</strong> zwei voneinander abhängige<br />
Gestaltungselemente, über die Schulen sich selbst diagnostizieren, sich "benoten",<br />
weiterentwickeln <strong>und</strong> der Schulaufsicht darüber berichten. Damit soll zugleich<br />
innerschulische Qualitätssicherung <strong>und</strong> nicht zuletzt gewährleistet sein, dass<br />
Schulen mit ihren Leistungen <strong>und</strong> ihrem Entwicklungspotenzial vergleichbar <strong>und</strong><br />
messbar werden.<br />
Die D-Dok. bietet sich geradezu dazu an, sie im Rahmen von Schulprogrammen zu<br />
erproben, vorausgesetzt, dass Schulleitung, Kollegium, Schulkonferenz,<br />
Schüler/innen <strong>und</strong> nicht zuletzt die Eltern ihre Zielsetzungen billigen. Sie kann<br />
Schulen ein <strong>neues</strong> Gesicht geben, <strong>und</strong> zwar nicht kosmetisch verschönert, sondern<br />
durch ein <strong>neues</strong> Profil von Gr<strong>und</strong> auf: Ihre alte Schule wird nicht wieder zu erkennen<br />
sein, <strong>und</strong> Sie selbst werden sich so unsichtbar verändert haben, dass Sie Ihre<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler verunsichern, weil sie die "alte" Lehrerin oder den "alten"<br />
Lehrer vor sich zu sehen glauben, aber dennoch eine "neue" Lehrerin oder einen<br />
"neuen" Lehrer vor sich haben.<br />
Sozialwissenschaftliche Methoden. Lehr- <strong>und</strong> Handbuch für Forschung <strong>und</strong> Praxis. München u.a.<br />
1999; Rainer Schnell, Paul Bernhard Hill <strong>und</strong> Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung.<br />
München u.a. 1999. Zur Evaluation: Heinrich Wottawa <strong>und</strong> Heike Thierau: Lehrbuch Evaluation. Bern<br />
2003; Joachim König: Einführung in die Selbstevaluation. Ein Leitfaden zur Bewertung der Praxis<br />
Sozialer Arbeit. Freiburg 2000; James R. Sanders (Hrsg.): Handbuch der Evaluationsstandards. Die<br />
Standards des "Joint Committee on Standards for Educational Evaluation". Opladen 2000; Heinz<br />
Günter Holtappels: Schulqualität durch Schulentwicklung <strong>und</strong> Evaluation. Konzepte,<br />
Forschungsbef<strong>und</strong>e, Instrumente. München 2003; Michael Schratz: Qualität sichern: Schulprogramme<br />
entwickeln. Seelze 2003.<br />
145
Voraussetzungen dafür sind allerdings, 1. dass Sie langfristig den Mut haben, sich<br />
auf Ihre eigenen Quellen zu besinnen, 2. dass Sie sich trotz Ängsten <strong>und</strong><br />
wiederkehrender schmerzlicher Rückschläge den Herausforderungen der<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> stellen, 3. dass Sie sich selbstbestimmt mit ihren Lernzielen im<br />
Rahmen Ihrer Fächer identifizieren können, <strong>und</strong> 4. dass Sie Fähigkeiten entwickeln,<br />
sie praktisch umzusetzen - aus dem Bauch heraus, nicht theoretisch <strong>und</strong> kopflastig.<br />
Das idealtypische Lernprogramm der D-Dok. zur <strong>Quellenarbeit</strong> für allgemein bildende<br />
Schulen wird durchnummeriert, jedoch bedeutet die Reihenfolge keine Rangfolge. Es<br />
besteht aus 13 vernetzten, auch einzeln auswählbaren <strong>und</strong> modellhaft voneinander<br />
abgrenzbaren Teillernzielen, die sich am Leitmotiv orientieren. Soweit sie sich auf<br />
einzelne Fächer beziehen, sind sie zugleich auch fächerübergreifend, andere<br />
betreffen nicht festgelegte Inhalte, Gr<strong>und</strong>sätze, Formen <strong>und</strong> Methoden des <strong>Lernen</strong>s.<br />
Alles in allem ist es ein "offenes", wenig präzisiertes Lernprogramm. Es wirft Fragen<br />
auf, ohne Antworten auf sie zu geben. Deshalb steht hinter den 13 Teillernzielen ein<br />
Fragezeichen. Auch hier geht es wieder um Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen:<br />
Fragen an Sie, aber keine Antworten für Sie.<br />
Leitmotiv des weitgehend selbstbestimmten lebenslangen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an den<br />
Quellen: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum)<br />
Teillernziele:<br />
-1. Medienakzeptanz <strong>und</strong> Medienkompetenz: Schüler/innen <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />
Lehrer/innen fit machen für das Informationszeitalter?<br />
-2. Neue Politische Bildung (NPB): Neben den historischen, sozialwissenschaftlichen<br />
<strong>und</strong> fremdsprachlichen Kernfächern auch Mathematik, Informatik <strong>und</strong><br />
Naturwissenschaften interdisziplinär mit einbinden?<br />
-3. Quellenorientierter Geschichtsunterricht: Geschichte nicht <strong>als</strong> eine Sammlung von<br />
Daten, Namen, Fakten <strong>und</strong> Ereignissen reproduzieren <strong>und</strong> konsumieren, sondern <strong>als</strong><br />
eine Informationsquelle erschließen, die in uns Gestalt geworden ist?<br />
-4. Computergestützter Fremdsprachenunterricht <strong>als</strong> <strong>Quellenarbeit</strong>: Fremdsprachen<br />
<strong>als</strong> Quellcode, Quelltext oder Programmcode (Source Code), der zu entschlüsseln<br />
ist, um fremde Menschen, fremde Kulturen "zwischen Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit"<br />
(Gadamer) zu "verstehen", zu "übersetzen" <strong>und</strong> so fremde Welten zu "decodieren"?<br />
-5. "Offener", anwendungsorientierter Mathematik-, Informatik- <strong>und</strong><br />
naturwissenschaftlicher Unterricht: Fördert er Kreativität <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Teilhabe, indem er sich auf eine Entdeckungsreise (Logic of Mathematical<br />
Discoveries) begibt <strong>und</strong> so heuristisch Probleme löst (Problem Solving Strategies),<br />
146
statt sich mit "fertigen" Formeln abzuschotten <strong>und</strong> in "geschlossenen" abstraktentheoretischen<br />
Denkmodellen zu erschöpfen?<br />
-6. <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> Quellenkritik (im engeren Sinn) <strong>als</strong> vornehmlich primäres<br />
aktives <strong>Lernen</strong>: Nach weitgehend selbstbestimmten Fragestellungen, so dass<br />
Frontalunterricht sich von selbst erübrigt, <strong>als</strong>o nicht "abgeschafft" wird, sondern von<br />
selbst "verschwindet"?<br />
-7. Selbstentfaltung des Menschen nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz: Damit<br />
Kinder <strong>und</strong> Schüler/innen, aber auch Erwachsene sich zu selbstbestimmten<br />
mündigen Bürgern in der Demokratie entwickeln <strong>und</strong> vielfältige Informationsquellen<br />
nutzen können?<br />
-8. Individuelle Förderung von Kindern so frühzeitig wie möglich an ihren Wurzeln:<br />
Damit sie ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Begabungen entfalten, wahrnehmen <strong>und</strong> innovative<br />
Ideen kreieren können, die "professionellen" Beratern <strong>und</strong> Evaluatoren nicht im<br />
Traum einfallen, weil sie keine Träume mehr haben?<br />
-9. Generationenübergreifendes, weitgehend selbst organisiertes <strong>Lernen</strong>: Nicht nur<br />
die "Alten" unterrichten die "Jungen", sondern auch die "Jungen" die "Alten", nicht<br />
nur die Eltern ihre Kinder, sondern auch Kinder ihre Eltern oder Großeltern, so dass<br />
Eltern, Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen <strong>Lernen</strong>de werden?<br />
-10. Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong>: Kooperieren <strong>und</strong> Feedback der<br />
<strong>Lernen</strong>den, die sich Lernziele, Lerninhalte <strong>und</strong> Lernmethoden selbst setzen, sich<br />
selbst motivieren <strong>und</strong> sie jeweils selbst korrigieren <strong>und</strong> neu definieren?<br />
-11. Integration <strong>und</strong> Toleranz in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> Europa : Damit Westdeutsche <strong>und</strong><br />
Ostdeutsche zusammenwachsen <strong>und</strong> Deutsche <strong>und</strong> Ausländer zusammenleben<br />
können, indem sie sich wechselseitig respektieren, ohne ihre Identität zu verlieren,<br />
sie zu verleugnen oder sie anderen aufzuzwingen?<br />
-12. Von geschlechts- oder migrantenspezifischen sowie familiär- oder entwicklungsstufenbedingten<br />
Variablen abhängige Lernprozesse: Sie wahrnehmen, "verstehen"<br />
<strong>und</strong> soweit wie möglich in der Praxis berücksichtigen?<br />
-13. Implementierung neuer Paradigma, Referenzdesigns <strong>und</strong> Indikatoren: Für die<br />
innerschulische Evaluation <strong>als</strong> "Blick in den Spiegel", weil Evaluation <strong>und</strong> Innovation<br />
zwei Seiten ein <strong>und</strong> derselben Medaille sind?<br />
147
5.3. Der Spiegel <strong>und</strong> die Unberechenbarkeit der Schulaufsicht:<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok. <strong>als</strong> "Untergr<strong>und</strong>arbeit" an deutschen<br />
Schulen?<br />
Könnte Ihre allgemein bildende Schule in ihr Schulprogramm Elemente des<br />
Lernprogramms der D-Dok. aufnehmen? Und könnte sie sich mit ausgewählten<br />
Themen aus dem 13-Punkte-Katalog profilieren? Oder vielleicht zu einer der besten<br />
Schulen in Ihrer Stadt oder gar im Lande werden?<br />
Aber wenn Sie vor den Spiegel treten <strong>und</strong> ihn befragen: "Spieglein, Spieglein, an der<br />
Wand, was ist die beste Schule im ganzen Land?", müssen Sie befürchten, dass der<br />
Spiegel weissagt: "Ihr könntet die beste Schule sein im Lande, aber eure<br />
Schulaufsicht ist dazu nicht im Stande." Oder nach deutlicher: "Ihr könntet die beste<br />
Schule sein im Lande, aber eure Schulaufsicht ist eine Schande." Dies zu<br />
entschlüsseln, erfordert <strong>Quellenarbeit</strong>.<br />
Wenn der Spiegel so orakelt, wird er seine Gründe haben, denn er ist unbestechlich<br />
<strong>und</strong> "objektiv", auch wenn die Schulaufsicht gelb <strong>und</strong> grün werden sollte. Was auf<br />
dem Papier steht <strong>und</strong> in der Theorie taugt, entspricht oft nicht der Praxis. Vielleicht<br />
hat Ihre Schulaufsicht das Schulprogramm so lange zurückgewiesen <strong>und</strong> erst<br />
genehmigt, bis es kein Schulprogramm mehr war, wie gesetzlich vorgeschrieben,<br />
sondern ein Programm der Schulaufsicht, obwohl sie dazu nicht im Stande ist. Ihre<br />
Schule hat Autonomie, Eigenständigkeit oder Selbstständigkeit verordnet<br />
bekommen? Aber die Bürokratie an Ihrer Schule nimmt nicht ab, sondern zu. Und die<br />
Schulleitung darf trotz neuer Kompetenzen keine Lehrer/innen einstellen, die Ihrer<br />
Schule ein <strong>neues</strong> Profil geben könnten, sondern erhält Problemfälle zugewiesen, die<br />
das Kollegium demotivieren <strong>und</strong> Ihre Schule ruinieren.<br />
Vielleicht ist auch Ihre Dezernentin oder Oberschulrätin mitverantwortlich für das<br />
Votum des Spiegels, weil sie Ihrer Schule "neue Medien" <strong>und</strong> "Evaluation" verordnet<br />
hat , aber selbst mit dem Computer nicht umgehen kann <strong>und</strong> noch nichts von<br />
EVAluation gehört hat. Zwar hat die Schulaufsicht auf dem Papier eine<br />
Doppelfunktion erhalten, denn sie soll nicht nur kontrollieren, reglementieren,<br />
anweisen <strong>und</strong> gegebenenfalls strafen, sondern auch beraten, begleiten <strong>und</strong> helfen.<br />
Dies hat sich dort allerdings noch nicht herumgesprochen, abgesehen davon, dass<br />
Bürokratien viel Zeit brauchen, um ihr Selbstverständnis neu zu definieren <strong>und</strong> zu<br />
lernen.<br />
Der direkte Weg zur Erprobung der D-Dok. führt daher nicht über das<br />
Schulprogramm <strong>und</strong> damit über die Schulaufsicht <strong>als</strong> unberechenbarer<br />
Unbekannten, sondern über Ihre Schulleitung vor Ort. Ist es nicht eine Schande,<br />
dass computergestützte, fächerübergreifende <strong>Quellenarbeit</strong>, neue Lernziele <strong>und</strong><br />
Lernmethoden in <strong>Deutschland</strong> sich an Schulen "verstecken", sozusagen in den<br />
148
"Untergr<strong>und</strong>" flüchten müssen? Dass sie wie Schulbücher zensiert, nach Lehrplänen<br />
zurechtgestutzt <strong>und</strong> dann erst genehmigt werden, bevor sie von Amts wegen<br />
zugelassen sind? Früher war es die Kirche, die den Segen von oben verbürgte,<br />
heute ist es die Schulbürokratie. Sie hat auch nach PISA noch nicht begriffen, was<br />
die St<strong>und</strong>e geschlagen hat. Im internationalen Vergleich sind nur in <strong>Deutschland</strong><br />
Schulen nach wie vor eher Dienstbehörden, deren Administrator/innen "die<br />
Anweisungen der vorgesetzten Behörden entgegennehmen, umsetzen <strong>und</strong> nach<br />
oben berichten..." 150 Diese "verwaltete Schule" hat sich trotz vielfältiger Kritik, u. a.<br />
durch Hellmut Becker schon 1956, nur auf dem Papier, aber nur wenig in der Praxis<br />
verändert.<br />
Oder ist die Schulaufsicht nur ein Alptraum?<br />
Ein Missverständnis?<br />
Ein tief verwurzeltes Misstrauen?<br />
Ein Feindbild?<br />
Bitten Sie Ihre Schulleiterin oder Ihren Schulleiter um ein kurzes Gespräch, legen Sie<br />
das Lernprogramm der D-Dok. vor <strong>und</strong> fragen Sie ihn oder sie, ob Sie in Ihren<br />
Fächern Teillernziele aus diesem Katalog aufgreifen <strong>und</strong> an der Schule erproben<br />
könnten - nicht um die D-Dok. dort einzuführen, sondern um sie zu erproben. Ich bin<br />
fest davon überzeugt, dass Sie dazu seine oder ihre Zustimmung <strong>und</strong> folglich auch<br />
Unterstützung erhalten werden, es sei denn, er oder sie ist die an Ihrer Schule<br />
wandelnde Ausgeburt deutscher Schulaufsicht. Vielleicht kann sich Ihr Schulleiter<br />
oder Ihre Schulleiterin mit dem fächerübergreifenden Lernprogramm der D-Dok.<br />
selbst identifizieren <strong>und</strong> entscheidet sich, sie ebenfalls zu erproben. Gemeinsam<br />
könnten Sie die D-Dok. dann auch auf einer Lehrerkonferenz vorstellen.<br />
Sie "infizieren" so andere Kolleg/innen, kooperieren mit ihnen <strong>und</strong> treiben<br />
interdisziplinäre Arbeitsteilung: im Schutze Ihrer Schule <strong>und</strong> Klasse <strong>und</strong> ohne<br />
Einmischung der Schulaufsicht <strong>als</strong> unberechenbarer "Größe". Sie evaluieren<br />
schulintern selbstbestimmt statt fremdbestimmt durch eine "professionelle"<br />
Bürokratie. Und Ihre Schule behält sich die Option offen, die Schulaufsicht zu testen<br />
<strong>und</strong> zu evaluieren - statt umgekehrt. Ist dies nicht eine neue Perspektive zur<br />
"Qualitätsentwicklung" <strong>und</strong> "Profilierung" von Schulaufsicht (<strong>und</strong> Schulberatung?)<br />
durch Evaluation im ganzen Lande, zu der sie bisher nicht im Stande war?<br />
Während der Fachtagung "Auf dem Weg in die Bildungslandschaft" am 23. Januar<br />
2004 in Bonn hat NRW-Ministerpräsident Steinbrück (SPD) zum "heiklen Thema"<br />
150 Heinz Rosenbusch: Schulleitung <strong>und</strong> Schulaufsicht. In: Ernst Rösner (Hrsg.): Schulentwicklung <strong>und</strong><br />
Schulqualität. Kongressdokumentation 1. <strong>und</strong> 2. Oktober 1998. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 243 - 258, zit.<br />
251. - Zur Kritik an der "verwalteten Schule" vgl. Hellmut Becker: Kulturpolitik <strong>und</strong> Schule. Probleme<br />
der verwalteten Schule. Stuttgart 1956; Peter Posch <strong>und</strong> Herbert Altrichter: Möglichkeiten <strong>und</strong><br />
Grenzen der Qualitätsevaluation <strong>und</strong> Qualitätsentwicklung im Schulwesen. Innsbruck/Wien 1997.<br />
Seiten 217ff.<br />
149
Schulaufsicht betont: "Sie berät <strong>und</strong> unterstützt, aber soll nicht gängeln." 151 Auf dem<br />
Papier! Statt die sie verändernden Sollvorschriften umzusetzen, kontrolliert <strong>und</strong><br />
reglementiert Schulaufsicht auch heute noch Schulen: Sie schreibt ihnen "von oben"<br />
vor, was sie "unten" auszuführen, zu unterrichten <strong>und</strong> zu prüfen haben. Davon sind<br />
auch die derzeit 278 Schulen in 19 Regionen Nordrhein-Westfalens nicht<br />
ausgenommen, die sich am befristeten Modellprojekt "Selbstständige Schule"<br />
beteiligen. Versprochen worden ist ihnen "Freiraum", das soll heißen "Verlässlichkeit,<br />
Chancengleichheit <strong>und</strong> Selbstständigkeit", aber geerntet haben sie teilweise bisher -<br />
wie auf der Fachtagung bemängelt worden ist - das Gegenteil, Kompetenzgerangel<br />
inbegriffen. Unter dem Stichwort "Regionalisierung" hat sich die Schulaufsicht in<br />
NRW in "Steuergruppen" eingenistet, so dass sie mittlerweile nicht nur von den<br />
Bezirksregierungen aus kommandieren, sondern auch vor Ort <strong>und</strong> in Kreisen<br />
herumschnüffeln kann. Sie will jetzt "Inspektor/innen" ausbilden, die unangemeldet<br />
Schulen zum "Schul-Ranking" aufsuchen <strong>und</strong> kontrollieren sollen.<br />
Eine Schulaufsicht, die Schulen fremd-bestimmt, <strong>und</strong> die D-Dok., die selbstbestimmte<br />
Schulen braucht, verhalten sich zueinander wie Wasser <strong>und</strong> Feuer. Die<br />
hier vertretene selbstbestimmte <strong>Quellenarbeit</strong> kann sich erst entfalten nach dem<br />
Ende einer Schulaufsicht <strong>und</strong> Bildungsbürokratie, wie sie vor 1945 in Preußen-<br />
<strong>Deutschland</strong> entstanden ist <strong>und</strong> seitdem weitgehend unverändert fortwirkt - auch<br />
nach dem Stalingrad des deutschen Bildungswesens bei PISA.<br />
5.4. Gegenstand <strong>und</strong> Zweck der schulinternen Evaluation: Standards,<br />
Methoden <strong>und</strong> "weiche" Indikatoren auswählen<br />
Gegenstand der Evaluation ist die geleistete <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> in Ausnahmefällen<br />
auch die D-Dok. <strong>als</strong> Produkt. Einzubeziehen sind die beteiligten Lehrer/innen <strong>und</strong> die<br />
betroffenen Schüler/innen bzw. Klassen <strong>und</strong> - empfehlenswert - die Schulleitung,<br />
damit sie informiert ist.<br />
Zweck der Evaluation ist es, Erkenntnisse (Daten) über den Verlauf <strong>und</strong> die<br />
Ergebnisse der <strong>Quellenarbeit</strong> zu liefern <strong>und</strong> sie dafür auszuwerten. Damit wird nicht<br />
151 Zitiert nach Sascha Stienen: "Schulaufsicht soll beraten, aber nicht gängeln". Ministerpräsident<br />
Steinbrück bezeichnet das Projekt "Selbstständige Schule" <strong>als</strong> erfolgreich. Doch Schulleiter fordern<br />
mehr Freiraum: Die Bezirksregierungen sind noch keine Dienstleister". In: General-Anzeiger vom<br />
24./25. Januar 2004. Seite 5. - Wie Schulrealität <strong>und</strong> Lehreralltag aussehen, konnte Steinbrück im<br />
Lehrerzimmer der katholischen Sankt-Nikolaus-Gr<strong>und</strong>schule in Köln erfahren, <strong>als</strong> er sie am 2. Februar<br />
2004 besucht hat. Es war keine "Nikolausfeier", die das Kollegium für ihn vorbereitet hatte, sondern<br />
eher eine kalte Dusche; vgl. Sebastian Okada: "Aber erfrieren tut da keiner". Ministerpräsident<br />
Steinbrück besucht in Köln eine offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> weist Klagen von Lehrern über ihre<br />
Arbeitsbelastung zurück. In. General-Anzeiger vom 3. Februar 2004. Seite 5 (nach dpa).<br />
150
nur Rechenschaft über die <strong>Quellenarbeit</strong> abgelegt, auch Konsequenzen sind daraus<br />
zu ziehen:<br />
Ist sie erfolgreich?<br />
Sinnvoll?<br />
Weitgehend selbstbestimmt?<br />
Problematisch?<br />
Entwicklungsstufengerecht?<br />
Akzeptabel?<br />
Ausbaufähig?<br />
Gescheitert?<br />
Einzustellen?<br />
Fortzusetzen?<br />
Zu verbessern?<br />
Offen bleiben muss, welche Standards, Methoden <strong>und</strong> Indikatoren für die<br />
schulinterne Evaluation auszuwählen sind, denn sie hängen vom bisherigen Verlauf<br />
der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> somit Unterrichtsergebnissen ab. Wie bisher können daher nur<br />
Fragestellungen angeboten, aber keine Antworten auf sie gegeben werden. Das<br />
können nur Sie mit Ihren davon betroffenen Schüler/innen im Einvernehmen mit<br />
eventuell kooperierenden Lehrer/innen. Dazu werden Hinweise gegeben, die jedoch<br />
klasseninterne Entscheidungen nicht präjudizieren sollten.<br />
Idealtypische Fragestellungen:<br />
- 1. Wer evaluiert?<br />
Intern oder extern?<br />
Aus der weitgehend selbstbestimmten <strong>Quellenarbeit</strong> folgt die selbstbestimmte<br />
Evaluation, <strong>als</strong>o die schulinterne Evaluation (Selbstevaluation). Handeln Sie bitte mit<br />
Ihrer Klasse aus, wer welche Kompetenzen erhält <strong>und</strong> übernimmt. Dies kann die<br />
ganze Klasse sein, eine Gruppe ausgewählter Schüler/innen oder kooperierende<br />
Lehrer/innen. Abgeraten wird vorerst, die Schulaufsicht, die sich in eigenen<br />
Ausarbeitungen <strong>als</strong> Evaluator anbietet, einzuschalten, solange sie kontrolliert <strong>und</strong><br />
anweist statt zu beraten <strong>und</strong> tatsächlich zu helfen. 152<br />
152<br />
Eine gute Visitenkarte für die "Behörde für Schule, Jugend <strong>und</strong> Berufsbildung" (Amt für Schule) in<br />
Hamburg<br />
ist die von ihr herausgegebene Orientierungshilfe: Schulinterne Evaluation. Ein Leitfaden zur<br />
Durchführung. Hamburg 2000. Er gibt eine Übersicht über die schulinterne Evaluation im Rahmen des<br />
Schulprogramms aus der Sicht des Hamburgischen Schulgesetzes, sieht die "Doppelfunktion" von<br />
Schulaufsicht <strong>und</strong> Schulberatung<br />
<strong>als</strong> "neue Aufgabe" (Seite 30f.), führt konkrete Beispiele für Indikatoren <strong>und</strong> Evaluationsinstrumente<br />
auf ( Seiten 34 - 42) <strong>und</strong> kommentiert Literaturangaben, die auch mir weitergeholfen haben. -<br />
Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung <strong>und</strong> Medien: Qualitätsentwicklung in<br />
Schulen - Selbstevaluation: Handreichung zur Unterstützung von Schulen für ihre Evaluationsarbeit.<br />
Bad Berka 2003.- Für NRW vgl. Landesinstitut für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung (Hrsg.): Wie Schulen ihr<br />
151
- 2. Wann wird evaluiert?<br />
Projektbegleitend <strong>als</strong> formative oder abschließend <strong>als</strong> summative Evaluation?<br />
So wie das Projekt hier vorgestellt <strong>und</strong> präsentiert wird, ist die summative Evaluation<br />
zum Abschluss der <strong>Quellenarbeit</strong> die Regel, d. h. es folgt eine nachträgliche<br />
Erfolgskontrolle aus der Retrospektive. Formative, d. h. retrospektive <strong>und</strong> prospektive<br />
Evaluation kommt nur in sehr seltenen Ausnahmefällen infrage: Wenn Sie<br />
Spitzenschüler/innen haben, die nicht nur die geleistete <strong>Quellenarbeit</strong>, sondern auch<br />
die D-Dok. selbst "unter die Lupe" nehmen <strong>und</strong> so zum Evaluationsgegenstand<br />
machen.<br />
-3. Nach welchen Indikatoren <strong>als</strong> Bewertungskriterien oder Messinstrumenten wird<br />
evaluiert? Sind sie "weich" oder "hart"?<br />
"Offen" oder "eng" <strong>und</strong> "festgeschrieben"?<br />
Indikatoren (Anzeiger, Merkmale) sollen messen oder werten, ob <strong>und</strong> inwieweit<br />
Zielsetzungen erreicht worden sind, sei es auch nur teilweise, sei es nicht oder gar<br />
nicht. Verzichten Sie darauf, Kriterien festzulegen, die sich auf einen bestimmten<br />
Evaluationsbereich beziehen, um sie dann mit definierten "harten" Indikatoren zu<br />
besetzen. 153 Sie sind sonst bei Befragungen zwar überprüfbar, nachvollziehbar <strong>und</strong><br />
statistisch prozentual auswertbar (auch nach Erfolgs- <strong>und</strong> Misserfolgsraten), aber für<br />
schulische Zwecke meist steril <strong>und</strong> wenig ergiebig.<br />
"Weiche" Indikatoren lassen einen breiten Bewertungsspielraum "offen" statt ihn<br />
einzuschränken oder zu präzisieren. Aus vagen <strong>und</strong> "offenen " Antworten bei<br />
Befragungen können Sie mehr "heraushören" <strong>und</strong> auch nachfragen <strong>als</strong> bei<br />
bereinigten, geprüften <strong>und</strong> "sterilen". Ziel ist es, Informationen (Daten) zu erhalten,<br />
die ein breites Antworten- <strong>und</strong> Meinungsspektrum bieten, auch das persönliche<br />
Empfinden der Befragten berücksichtigen.<br />
Schulprogramm entwickeln. Bönen 1998. - Die Schulprogramme der Schulen sind in der Regel im<br />
Internet abrufbar.<br />
153 Dies entspricht nicht der "richtigen" Evaluation, wird aber aus schulischen <strong>und</strong> praktischen<br />
Gründen empfohlen. Nach den auch praxisorientierten Leitfäden für Schule <strong>und</strong> Unterricht sollen<br />
Indikatoren festgelegt, spezifiziert <strong>und</strong> messbar gemacht werden; vgl. dazu mit praktischen Beispielen<br />
<strong>und</strong> Fragebögen Guy Kempfert, Hans-Günter Rolff: Pädagogische Qualitätsentwicklung. Ein<br />
Arbeitsbuch für Schule <strong>und</strong> Unterricht. Weinheim/Basel 1999. Seiten 43 - 53 (Lehrerselbstevaluation),<br />
53 - 59 (Unterrichtsbeobachtung), 79 - 94 (Indikatoren <strong>und</strong> Lernerfolgsfeststellung). Eine<br />
Indikatorensammlung nebst Beispielen für Instrumente zur Datenerhebung bieten Claus G. Buhren,<br />
Dagmar Killus, Dietmar Kirchhoff <strong>und</strong> Sabine Müller: Qualitätsindikatoren für Schule <strong>und</strong> Unterricht.<br />
Ein Arbeitsbuch für Kollegien <strong>und</strong> Schulleitungen. Dortm<strong>und</strong> 1999. Hilfreich für die Praxis sind auch<br />
Elisabeth Fröhlich <strong>und</strong> Christof Thierstein: Qualitätsentwicklung in Bildungsorganisationen. Zürich<br />
1997; Herbert Altrichter <strong>und</strong> Peter Posch: Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die<br />
Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn 1994.<br />
152
Keinesfalls dürfen Indikatoren an Schulen nur Erfolgskriterien sein. Wichtiger ist, sie<br />
auch <strong>als</strong> Misserfolgskriterien zu nutzen. Die Chance, aus Fehlern zu lernen, wird oft<br />
vertan, wenn in Schulgesetzen Indikatoren <strong>als</strong> "Kriterien für die Zielerreichung"<br />
festgelegt <strong>und</strong> dann <strong>als</strong> "Erfolgsindikatoren" ausgelegt werden. 154 Entscheidend ist,<br />
das Leitmotiv der D-Dok. <strong>und</strong> die damit zusammenhängenden Teillernziele mit den<br />
Indikatoren so zu verknüpfen <strong>und</strong> zu vernetzen, dass Aussagen über die konkreten<br />
Ergebnisse der geleisteten <strong>Quellenarbeit</strong> wenigstens teilweise möglich sind.<br />
-4. Dokumentation <strong>und</strong> Archivierung?<br />
Schriftlich <strong>und</strong> unter Einhaltung von Formvorschriften?<br />
Abgeraten wird, die schulinterne Evaluation schriftlich zu dokumentieren, wie<br />
Schulprogramme oft vorsehen <strong>und</strong> die Schulaufsicht meist unter Berufung auf<br />
"Transparenz" <strong>und</strong> "Offenlegung" fordert. Wenn Sie - wie vorgeschlagen - auf<br />
standardisierte Fragebögen verzichten <strong>und</strong> statt dessen die Schüler/innen mündlich<br />
befragen, werden sie so antworten, wie ihnen "der Schnabel gewachsen" ist. Sie<br />
liefern Ihnen damit die zur Evaluation erforderlichen Informationen, die zugleich oft<br />
auch vertrauliche schulische <strong>und</strong> familiäre Mitteilungen enthalten, die dem<br />
Datenschutz unterliegen. Sie sollten deshalb nicht protokolliert werden. Sie speichern<br />
sie im Kopf, soweit sie für Evaluationsfragen wichtig sind, <strong>und</strong> ersparen sich damit<br />
auch bürokratischen Aufwand.<br />
5.5. Das Kaleidoskop von Antworten, Eindrücken, Meinungen,<br />
Empfindungen: Konkrete Beispiele <strong>als</strong> Bewertungskriterien<br />
Ob Lernziele erreicht worden sind, offenbaren Indikatoren, die mit dem Instrument<br />
der Befragung Erkenntnisse (Daten) liefern. Es folgen einige Beispiele, die fingiert<br />
werden, um zu veranschaulichen, wie Antworten in ihrer "bunten" Folge lauten <strong>und</strong><br />
bewertet werden könnten. Auch Problemfälle sind aufgeführt. Das Netzwerk<br />
zwischen dem Leitmotiv der D-Dok., den Teillernzielen des Lernprogramms für<br />
allgemein bildende Schulen (5.2.) <strong>und</strong> Fragestellungen im Didaktikteil (4.)<br />
verdeutlicht - sofern nachweisbar - ein Pfeil (→).<br />
So könnte das Kaleidoskop "bunter" Eindrücke, Meinungen <strong>und</strong> Empfindungen<br />
aussehen, die in aller Kürze kommentiert werden:<br />
154 Im Hamburgischen Schulgesetz vom 16. April 1997 heißt es im § 51 Absatz 1: "Die Schule legt die<br />
besonderen Ziele, Schwerpunkte <strong>und</strong> Organisationsformen ihrer pädagogischen Arbeit sowie Kriterien<br />
für die Zielerreichung in einem Schulprogramm fest." Zur Auslegung des Amtes für Schule <strong>als</strong><br />
"Erfolgsindikatoren" vgl. Schulinterne Evaluation. Seiten 9f., 13, 18f. Dort wird auch gefordert,<br />
schulinterne Evaluation schriftlich zu dokumentieren (Seite 23f.), wovon aus Gründen des Daten- <strong>und</strong><br />
Vertraulichkeitsschutzes abzuraten ist.<br />
153
"Miriam: Die Quellen, die ich aus dem Internet runtergeladen habe, hätten die D-Dok.<br />
gut ergänzt, hatten aber keine F<strong>und</strong>stellen, da hab ich lieber auf sie verzichtet. Tom<br />
hat dann noch gemerkt, dass sie gekürzt sind."<br />
Miriam weiß sich selbstbestimmt zu helfen: Sie recherchiert auch extern, arbeitet<br />
quellenkritisch <strong>und</strong> mit anderen zusammen. (→ Lernprogramm 5.2.-1./-6./-10.;<br />
Didaktik 4.3., 4.4.)<br />
"Andreas: Papa ist begeistert, dass wir Honecker-Reden gelesen haben, <strong>und</strong> wollte<br />
kaum glauben, dass wir auch andere Genossen so wie früher hören können. Er<br />
w<strong>und</strong>ert sich, dass so was an unserer Schule überhaupt erlaubt ist."<br />
Papa schwelgt in DDR-Nostalgie. Er ist wahrscheinlich SED-Anhänger, -Mitglied oder<br />
-Funktionär gewesen, identifiziert sich unkritisch mit DDR-Dokumenten <strong>und</strong> fühlt sich<br />
von ihnen aufgewertet. Solche Aussagen dürfen auf keinen Fall protokolliert werden,<br />
weil nicht Sinn von <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> ihrer Evaluation sein kann <strong>und</strong> darf, politische<br />
Gesinnungen von Eltern oder Schüler/innen auszuforschen. Unklar ist, wie bei<br />
Andreas selbst die Arbeit mit DDR-Dokumenten angekommen ist. Dies muss<br />
nachgefragt werden.<br />
"Gerd: Ich w<strong>und</strong>ere mich, dass es nach den Quellen mit der DDR immer aufwärts<br />
ging, auch wirtschaftlich noch in den 80er Jahren, obwohl sie ja dam<strong>als</strong> doch schon<br />
pleite war <strong>und</strong> ja auch bald verschwand. Wie war so was möglich? Mit Statistiken?<br />
Mit Wirtschaftswachstum usw.?"<br />
Gerd arbeitet quellenkritisch <strong>und</strong> entwickelt selbstbestimmt interdisziplinäre<br />
Fragestellungen oder Forschungsthemen, die Antwort geben könnten.<br />
(→Lernprogramm 5.2.-3./-6./-10.; Didaktik 4.3.)<br />
"Tina: Ich habe Opa <strong>und</strong> Oma, die immer wieder sagen, dass es ihnen <strong>als</strong> Rentner<br />
ganz schlecht geht <strong>und</strong> die SPD daran schuld ist, die Agenda 2010 runtergeladen<br />
<strong>und</strong> ein paar Gesetzesauszüge dazu. Sie haben auch darin etwas gelesen, meinten<br />
aber, was helfe ihnen das, solange Schröder Kanzler ist."<br />
Tina füttert ihre Großeltern mit Informationsquellen <strong>und</strong> hat teilweise Erfolg mit dem<br />
generationsübergreifenden <strong>Lernen</strong>. (→ Lernprogramm 5.2.-9./-12.; Didaktik 4.3.) -<br />
Politische Bekenntnisse der Großeltern oder Eltern dürfen - um dies nochm<strong>als</strong> zu<br />
wiederholen - nicht verwendet oder dokumentiert werden, da es um keine "richtige"<br />
Evaluation wie bei Forschungsprojekten oder Auftraggebern geht, sondern um eine<br />
schulinterne zur <strong>Quellenarbeit</strong>. Vor der von der Schulaufsicht über das<br />
Schulprogramm "kontrollierten" <strong>und</strong> auch "offen zulegenden" Evaluation wird daher<br />
erneut gewarnt.<br />
154
"Heike: Mir hat's nicht gefallen, in Geschichte jetzt Englisches zu lesen, aber<br />
inzwischen geht's so einigermaßen, <strong>und</strong> ich lerne dabei ja gleichzeitig Geschi <strong>und</strong><br />
Englisch. Die englischen Suchbegriffe zu finden, macht mir aber immer noch zu<br />
schaffen."<br />
Hier klappt nach Anlaufschwierigkeiten der fächerübergreifende Lernprozess, der<br />
Fremdsprachenunterricht mit historischen oder sozialwissenschaftlichen Fächern<br />
koppelt <strong>und</strong> ihre Quellen vernetzt. (→ Lernprogramm 5.2.-3./-4.; Didaktik 4.3.)<br />
"Gr<strong>und</strong>schülerin Anne: Da hat Mama aber gestaunt, <strong>als</strong> ich ihr zeigte, wie ich<br />
Buchstaben <strong>und</strong> auch schon ganze Worte in den Computer eingeben <strong>und</strong> mit der<br />
Maus arbeiten kann. Sie hat es dann nachgemacht <strong>und</strong> auch ganz gut hingekriegt.<br />
Sie will mir einen neuen Computer kaufen <strong>und</strong> auf meinem alten üben."<br />
Wenn das kein Erfolgsindikator für die D-Dok. in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> für<br />
generationenübergreifendes <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> unter Frauen ist - was dann?<br />
(→Lernprogramm 5.2. -1./-9./-12.; Didaktik 4.4.)<br />
"Gymnasiast Wolfgang, Leistungskurs Informatik: Da habe ich doch unter<br />
http://www.swish-e.org/ die dortige Release 2.4.0 gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> meine, dass die<br />
Suchfunktionen der D-Dok. nicht ganz auf dem <strong>neues</strong>ten Stand sind <strong>und</strong> verbessert<br />
werden könnten. Das zeigt auch die Testversion im Ordner Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen auf<br />
dem DVD-Laufwerk."<br />
Hier liegt ein Glücksfall <strong>und</strong> eine Ausnahme von der Regel vor, nämlich formative, d.<br />
h. begleitende <strong>und</strong> verbessernde Evaluation: nicht nur der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong><br />
Lernprozess, sondern der D-Dok. <strong>als</strong> Produkt. 155 (→ Lernprogramm 5.2.-5./-7./-13.;<br />
Didaktik 4.5.) Wolfgang ist zum "Systemforscher" <strong>und</strong> zum externen Evaluator<br />
geworden. Bitte daher eine neue Arbeitsgruppe bilden, damit Wolfgang<br />
selbstbestimmt die Software, die mit Perl von einem Web-Server <strong>als</strong> nicht kompilierte<br />
spezielle Version in die Anwendung hineingelinkt worden ist, weiter prüfen <strong>und</strong><br />
eventuell fortentwickeln kann.<br />
"Lehrerin: In Physik habt ihr ja gelernt, wie die wichtigsten Suchfunktionen <strong>als</strong><br />
Schaltungen oder Schnittmengen aussehen...." Zwischenfrage Schüler: "Warum<br />
eigentlich nicht in Mathe?"<br />
Zuruf Wolfgang: "Der kann das doch nicht, der hat nur Formeln..."<br />
155 Michael Schratz, der das Institut für Lehrer/innenbildung <strong>und</strong> Schulforschung an der Universität<br />
Innsbruck leitet, hat Selbstevaluation treffend definiert "<strong>als</strong> Bemühen, Qualität von Prozessen <strong>und</strong><br />
Produkten zu verstehen <strong>und</strong> zu entwickeln". (Pädagogisches Forum, Juni 1999, Seiten 219 - 222, zit.<br />
219.) Vgl. dazu auch Michael Schratz <strong>und</strong> Ulrike Steiner-Löffler: Die <strong>Lernen</strong>de Schule. Arbeitsbuch<br />
pädagogische Schulentwicklung. Weinheim 1998. (In diesem Buch gelingt es, Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />
miteinander zu verknüpfen <strong>und</strong> Evaluationsakzeptanz zu fördern.)<br />
155
Mit Physik ist kooperiert worden, aber nicht mit Mathematik. (→ Lernprogramm 5.2.-<br />
5./-10.; Didaktik 4.5.) Warum? Wollte der Mathematik-Lehrer nicht? Vertritt er die<br />
"fertige" Mathematik? Andere Gründe?<br />
So kann schulinterne Evaluation ungewollt Strukturen, Spannungen, Konflikte,<br />
Kompetenzen <strong>und</strong> die Zusammenarbeit im Kollegium offen legen - wie auch<br />
Einstellungen in Familien. Dies ist ein Nebenprodukt von Evaluation. Sie wird auch<br />
deshalb innerlich oft abgelehnt: Weil sie Lehrer/innen in ihrem Selbstbild narzisstisch<br />
kränken <strong>und</strong> Kolleg/innen narzisstisch verletzen kann, wenn sie ihre fachlichen <strong>und</strong><br />
pädagogischen Defizite aufdeckt. Erneut wird daher davor gewarnt, dies zu<br />
protokollieren <strong>und</strong> zu dokumentieren. Auch sind dann Schulbehörden im Stande,<br />
unter dem Vorwand von "Transparenz" in der Schule, im Kollegium <strong>und</strong> sogar in<br />
Familien "herumzuschnüffeln". Dies ist nicht Sinn der Evaluation.<br />
5.6. Die Spiegelszene <strong>als</strong> Abschied <strong>und</strong> Neuanfang: Ein Tag der<br />
Besinnung? Ein Tag der Abrechnung? Ein Tag der Freude? Ein Tag der<br />
Trauer? Ein Tag der Rache? Ein Tag des Loslassens?<br />
Die Evaluation <strong>und</strong> damit die <strong>Quellenarbeit</strong> enden mit der Spiegelszene. Sie ist kein<br />
Spiel, kein Theater. Wer sie mit einem Schauspiel, einem Planspiel, einem<br />
Rollenspiel, einem Lernspiel oder mit einem szenischen Spiel 156 verwechselt, hat<br />
nicht begriffen, worum es bei der <strong>Quellenarbeit</strong> geht. Die Spiegelszene eignet sich<br />
auch nicht zum Inspektions-, Qualifikations- oder Profilierungstheater, denn die<br />
Bühne <strong>und</strong> der Zuschauerraum sind leer, wenn der Vorhang hoch geht.<br />
Die Spiegelszene ist keine inszenierte Allegorie. Sie ist die letzte prozessuale<br />
Operation <strong>und</strong> dient der Katharsis: innere Spannungen zu lösen, sie emotional <strong>und</strong><br />
geistig zu verarbeiten. Denn <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> ihre Evaluation erfordern nicht nur<br />
rationale, intellektuelle Fähigkeiten aus dem Ich <strong>und</strong> damit Kopfarbeit, sondern auch<br />
Tiefenarbeit mit dem emotional-körperlichen Selbst (1.4.).<br />
Alles, was Sie benötigen, ist ein Spiegel. Es muss kein neuer Spiegel sein, auch ein<br />
alter, gebrauchter, noch verwendungsfähiger tut es. Stellen Sie ihn in der Klasse auf.<br />
Am besten an der Wand. Auch ein Handspiegel reicht aus, den man sich vorhalten<br />
kann.<br />
156 Markus Bernhardt: Geschichte inszenieren. Chancen <strong>und</strong> Probleme von szenischen Spielen im<br />
Geschichtsunterricht. In: GWU 55, Januar 2004, Heft 1. Seiten 20 -36 (immer noch ist es die<br />
Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer <strong>Deutschland</strong>s: 3.5.). Vgl. dazu auch Markus<br />
Bernhardt: Das Spiel im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2003 <strong>und</strong> Friedrich Jahn: Geschichte<br />
spielend lernen. Hilfen für den handlungsorientierten Geschichtsunterricht. Frankfurt a. M. 1995.<br />
156
Was dann folgt, ist der Urteilsspruch: Der Gerichtstag über die <strong>Quellenarbeit</strong>, die D-<br />
Dok. <strong>und</strong> Sie selbst; denn die Gerichtsverhandlungen, die Beweisaufnahmen <strong>und</strong> die<br />
Zeugenvernehmungen sind abgeschlossen. Und richtet damit der Spiegel nicht<br />
zugleich über die Klasse, Ihre Belastungs- oder Entlastungszeugen?<br />
"Selbstevaluation einzuführen, Spiegel zu installieren <strong>und</strong> ungeschminkt <strong>und</strong><br />
systematisch hinzublicken, kann wehtun." Dies schreibt Anton Strittmatter, der im<br />
Dachverband Schweizer Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer (LCH) die Pädagogische<br />
Arbeitsstelle leitet, <strong>und</strong> etwas von Selbstevaluation versteht, weil er dazu rät: "Was<br />
immer du erblicken wirst, weißt du im Gr<strong>und</strong>e bereits. Du wirst keine wirklichen<br />
Überraschungen erleben. Blicke aber nicht in Spiegel, von denen du genau weißt,<br />
dass du das, was du dort zu sehen bekommst, doch nicht ändern willst oder kannst.<br />
Wähle dir Themen, die für dich wirklich 'reif' sind, zu denen du was tun willst <strong>und</strong><br />
kannst." 157<br />
Dies zu missachten, ist nicht nur riskant, sondern auch gefährlich. Die Spiegelszene<br />
entfaltet sich sonst ichfremd (ichdyston) <strong>und</strong> unbewusst. Sie droht triebhafte<br />
Persönlichkeitsstrukturen gegen Ihren Widerstand offen zu legen <strong>und</strong> Sie mit<br />
narzisstischer Libido oder Wut zu überfluten. Mit anderen Worten: Nur wenn Sie die<br />
Spiegelszene vorher aufarbeiten <strong>und</strong> sie sich bewusst machen, werden Sie sie<br />
ichsynton erleben <strong>und</strong> dem Sog möglicher schwarzer Löcher (1.4.) entrinnen. 158 Dann<br />
kann während der Spiegelszene nichts "passieren".<br />
Also sollten Sie den Blick in den Spiegel proben <strong>und</strong> den "Gerichtstag" gut<br />
vorbereiten. Am besten zu Hause, <strong>und</strong> am besten morgens, wenn Sie erstm<strong>als</strong> -<br />
ungeschminkt - vor den Spiegel treten. Meistens ist es nur ein flüchtiger Blick, unter<br />
Zeitdruck stehend. Vielleicht können Sie sich ein paar Sek<strong>und</strong>en mehr Zeit nehmen<br />
<strong>als</strong> sonst <strong>und</strong> sich so den Spiegel "vorhalten".<br />
So naht - gut vorbereitet - der "Gerichtstag": Ihre Klasse, Sie <strong>und</strong> die beteiligten<br />
Kolleg/innen versammeln sich erwartungsvoll vor dem Spiegel. Niemand von ihnen<br />
wird dazu gezwungen, aber alle werden ermuntert <strong>und</strong> individuell gebeten, sich zu<br />
beteiligen: vor den Spiegel zu treten <strong>und</strong> ihn zu befragen - jetzt: "Spieglein, Spieglein,<br />
an der Wand...".Nun gibt kein Zurück mehr.<br />
157 Anton Strittmatter, in: Der Blick in den Spiegel. Seiten 281 - 284, zit. 281, 284. - Strittmatter hat<br />
1995 - 1997 das "Pilotprojekt Baselland" betreut. Zu Kontrakten <strong>und</strong> Beratungsbeziehungen vgl. auch<br />
Strittmatter in: Herbert Altrichter, Wilfried Schley <strong>und</strong> Michael Schratz (Hrsg.): Handbuch zur<br />
Schulentwicklung. Innsbruck/Wien 1998. Seiten 218 - 238.<br />
158 Gr<strong>und</strong>legend Hermann Argelander: Die szenische Funktion des Ichs <strong>und</strong> ihre Anteile an der<br />
Symptom- <strong>und</strong> Charakterbildung. In: Psyche 24, 1970, Seiten 325 - 345. Vgl. auch Hermann<br />
Argelander: Der Flieger. Eine charakteranalytische Fallstudie. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 10f. (zur<br />
bisher vorwiegend negativen Einstellung der Psychoanalyse zum Narzissmus), 12f. (zur ichfremd<br />
erlebten Szene); Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung <strong>und</strong> Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer<br />
Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1970. Seiten 104 - 107 u.a.<br />
157
Ist es ein r<strong>und</strong>er Spiegel?<br />
Ein eckiger?<br />
Ein ovaler?<br />
Ein geschliffener?<br />
Ein ebener?<br />
Ein gekrümmter?<br />
Ein blanker?<br />
Ein "reiner"?<br />
Ein fleckiger?<br />
Ein neuer?<br />
Ein alter?<br />
Ein glänzender?<br />
Ein gebrauchter?<br />
Ein glatter Spiegel?<br />
War die computergestützte <strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok. sinnvoll?<br />
Unnütz?<br />
Ergiebig?<br />
Langweilig?<br />
Informativ?<br />
Erfolgreich?<br />
Anstrengend?<br />
Lohnend?<br />
Gerechtfertigt?<br />
Überflüssig?<br />
Innovativ?<br />
Zu retrospektiv-historisch?<br />
Zu wenig prospektiv-sozialwissenschaftlich?<br />
Kreativ?<br />
Ist die D-Dok. <strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong>-Spiegel brauchbar?<br />
Entbehrlich?<br />
Klar?<br />
Verschwommen?<br />
"Objektiv"?<br />
Subjektiv?<br />
Kompetent?<br />
Hohl?<br />
Trübe?<br />
Sachk<strong>und</strong>ig?<br />
Blind?<br />
Lückenhaft?<br />
Unvoreingenommen?<br />
Projektiv?<br />
158
Parteilich?<br />
Ist sie kein <strong>Deutschland</strong>-Spiegel, sondern ein Deutschen-Spiegel?<br />
Sehen "Spiegel-Leser" wirklich klar, wie das deutsche Nachrichtenmagazin, dem der<br />
Spiegel seinen Namen geliehen hat, versichert?<br />
Ist es ein Hohlspiegel?<br />
Ein Fassadenspiegel?<br />
Ein Brennspiegel?<br />
Ein Rückspiegel?<br />
Ein Zerrspiegel?<br />
Ein blendender?<br />
Ein kränkender?<br />
Ein verletzender Spiegel?<br />
Liefert er Spiegelbilder?<br />
Spiegelfechterei?<br />
Selbstbespiegelung?<br />
Spiegeltäuschung?<br />
Vorspiegelei?<br />
Eine Fata Morgana?<br />
Sagt der Spiegel wirklich die Wahrheit?<br />
Ist er unbestechlich?<br />
"Objektiv"?<br />
Oder schmeichelt er?<br />
Ist er korrumpierbar?<br />
Was wäre Schneewittchen <strong>und</strong> den sieben Zwergen nicht alles erspart geblieben,<br />
wenn es dam<strong>als</strong> schon eine EVAluation gegeben hätte <strong>und</strong> nicht bloß eine böse<br />
Stiefmutter <strong>und</strong> Königin?<br />
Warum hat sie den Spiegel, der sie so kränkte, nicht zerstört?<br />
Sondern ihr Selbst?<br />
Und ihn trotzdem immer wieder neu befragt?<br />
Warum konnte sie nicht ertragen, dass Schneewittchen tausendmal schöner war <strong>als</strong><br />
sie?<br />
Der Spiegel hat es ihr immer wieder gesagt. Wollte sie es nicht glauben oder nicht<br />
wahrhaben?<br />
War sie dem Spiegel hörig?<br />
Oder litt sie unter der "Spiegel-Krankheit", weil sie alles glaubte, was "Der Spiegel"<br />
jede Woche montags verbreitet?<br />
Lügt der Spiegel?<br />
Verleumdet er?<br />
Will er sich rächen?<br />
159
Spricht Sie der Spiegel schuldig?<br />
Wäre es nicht besser, sich vorher an ihm zu rächen?<br />
Ihn zu zerstören, bevor er Sie zerstört?<br />
Und redet' irr <strong>und</strong> sang ein Lied -<br />
Auf dessen dunklen Spiegel bückt<br />
Sich einst ein Kind <strong>und</strong> wird entrückt.<br />
Und wächst <strong>und</strong> weiß nichts von sich selbst... 159<br />
Ist es ein "dunkler" Spiegel?<br />
Ein schwarzes Loch?<br />
Es wird Sie vernichten, wenn Sie in seinen Sog geraten?<br />
Der Spiegel muss vernichtet werden?<br />
Zerschlagen Sie ihn mit einem schweren Hammer, damit er in tausend Stücke bricht,<br />
bevor er die Kinder, Sie, das Kollegium <strong>und</strong> die ganze Schule verrückt macht? Aber<br />
Vorsicht: Aus diesem Scherbengericht kann blutiger Ernst werden. Der Spiegel kann<br />
Sie nicht nur kränken, sondern auch verletzen?<br />
In Extremfällen schwer verletzen?<br />
Was war <strong>als</strong>o die Spiegelszene?<br />
Ein Tag der Besinnung?<br />
Ein Tag der Abrechnung?<br />
Ein Tag der Freude?<br />
Ein Tag der Trauer?<br />
Vielleicht auch ein Tag mit Tränen?<br />
Der Irritation?<br />
Der Depressivität, des drohenden Selbstverlustes?<br />
Ein Tag der Erleichterung?<br />
Ein Schrei nach Rache?<br />
Ein Amoklauf?<br />
Ein Tag der Verloren- <strong>und</strong> Verlassenheit?<br />
Ein Tag der Trennung <strong>und</strong> des Trennungsschmerzes?<br />
Ein Tag des Loslassens <strong>und</strong> deshalb befreiend?<br />
Was es auch immer war, es war ein Tag, der Sie, Ihre Klasse <strong>und</strong> vielleicht auch Ihre<br />
Schule verändert hat - nicht im Großen, aber im Kleinen: unsichtbar, nicht messbar.<br />
Es war ein Abschied <strong>und</strong> Neuanfang zugleich - aber auch ein Abschied für immer,<br />
der wehtut:<br />
159<br />
Weltgeheimnis (4. Strophe). In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a.<br />
M. 1977. Seite 14.<br />
160
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:<br />
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage<br />
Fort sind, für immer fort, <strong>und</strong> ganz vergangen?<br />
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,<br />
Und viel zu grauenvoll, <strong>als</strong> daß man klage:<br />
Daß alles gleitet <strong>und</strong> vorüberrinnt<br />
Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,<br />
Herüberglitt aus einem kleinen Kind<br />
Mir wie ein H<strong>und</strong> unheimlich stumm <strong>und</strong> fremd.<br />
Dann: daß ich auch vor h<strong>und</strong>ert Jahren war<br />
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,<br />
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,<br />
So eins mit mir <strong>als</strong> wie mein eignes Haar.<br />
Und, Spiegel unsrer Sehnsucht, traumhaft funkeln,<br />
Und allen leisen Worten, allem Schweben<br />
Der Abendluft <strong>und</strong> erstem Sternefunkeln<br />
Die Seelen schwesterlich <strong>und</strong> tief erbeben<br />
Und traurig sind <strong>und</strong> voll Triumphgepränge<br />
Vor tiefer Ahnung, die das große Leben<br />
Begreift <strong>und</strong> seine Herrlichkeit <strong>und</strong> Strenge. 160<br />
160<br />
Terzinen über Vergänglichkeit (I, IV Teil). In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine<br />
Dramen. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 19 - 21.<br />
161
6. Politische Bildung (PB) <strong>und</strong> Neue Politische Bildung<br />
(NPB)<br />
Eine Abgrenzung <strong>und</strong> ein Kurzporträt<br />
Politische Bildung (PB) gehört zu den Hauptaufgaben <strong>und</strong> -zielen, die durch die D-<br />
Dok. gefördert werden sollen. Im Mittelpunkt steht die schulische politische Bildung<br />
an den allgemein bildenden Schulen. Sie ist <strong>als</strong> unverzichtbares Teillernziel in das<br />
Lernprogramm für die allgemein bildenden Schulen eingebettet (5.2.-2.). Es lässt<br />
sich allerdings nicht verallgemeinern <strong>und</strong> auf die Berufsschulen, auf die berufliche<br />
<strong>und</strong> auf die außerschulische politische Bildung übertragen.<br />
Die auf B<strong>und</strong>esebene tätigen Organisationen der außerschulischen politischen<br />
Bildung sind im B<strong>und</strong>esausschuss Politische Bildung (BAP) zusammengeschlossen.<br />
Dazu gehören die B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung, Kirchen, Gewerkschaften,<br />
Volkshochschulen, der Deutsche B<strong>und</strong>esjugendring, die politischen Stiftungen <strong>und</strong><br />
andere eigenverantwortliche Träger, die in der Jugendlichen- <strong>und</strong><br />
Erwachsenenbildung einschließlich Weiterbildung tätig sind.<br />
Politische Bildung (PB) wie sie neu verstanden <strong>und</strong> charakterisiert wird, heißt hier<br />
Neue Politische Bildung (NPB). Was berechtigt dazu, sie von der bisherigen<br />
politischen Bildung abzugrenzen <strong>und</strong> damit neu zu etikettieren? Ein neuer Name, ein<br />
<strong>neues</strong> Etikett reichen nicht aus. Erforderlich sind Charakterzüge, die für die Neue<br />
Politische Bildung (NPB) typisch sind, ihr ein unauslöschliches, tief verwurzeltes<br />
Gepräge verleihen.<br />
Wer in der politischen Bildung (PB) tätig ist, wird NPB meistens <strong>als</strong> ichfremd<br />
empfinden <strong>und</strong> sie folgerichtig ablehnen. So entsteht kein Zugang zu ihr, es sei denn,<br />
die Schwelle zum Ichbereich wird überschritten. Dann lassen sich die Gründe,<br />
Gewohnheiten oder Fixierungen vergegenwärtigen, die zur Identifikation des Ichs mit<br />
dem Objekt "politische Bildung" geführt haben. Erst wenn der Schatten des Objekts<br />
verblasst, der auf das Ich gefallen ist, hellt er auf: Bislang ichgerechte (ichsyntone),<br />
gewohnheitsmäßig fixierte Charakterzüge der politischen Bildung werden ichfremd<br />
(ichdyston) <strong>und</strong> damit erst dem Bewusstsein zugänglich.<br />
Dies ist ein Lernprozess, den oft berufliche <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene finanzielle Vorteile<br />
<strong>und</strong> Zweckmäßigkeitserwägungen hemmen oder gar blockieren werden: Die primäre<br />
Identifikation mit dem Objekt "politische Bildung" wenigstens teilweise aufzugeben,<br />
es zu verlassen <strong>und</strong> sich schrittweise dem Objekt "Neue Politische Bildung" (NPB)<br />
zuzuwenden, sich mit ihm sek<strong>und</strong>är zu identifizieren. Diese sek<strong>und</strong>äre Identifikation<br />
ist ein bewusster, aber konfliktreicher Lernprozess, während die primäre sich<br />
unbewusst <strong>und</strong> gewohnheitsmäßig, quasi konfliktfrei, z.B. beruflich vollzogen hat.<br />
162
Dies sind die vier idealtypischen unverzichtbaren Charakterzüge, die in ihren<br />
Abhängigkeiten (Interdependenzen) die Gr<strong>und</strong>lagen der NPB unverwechselbar <strong>als</strong><br />
Einheit bilden:<br />
6.1. Idealtypische Charakterologie I: Vorrangig Arbeit mit Quellen <strong>als</strong><br />
fachwissenschaftlich-rationales F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen<br />
Bildung (NPB)<br />
Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet primär mit Quellen <strong>und</strong> Daten <strong>als</strong> Rohstoff<br />
fächerübergreifender historischer, sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong> fremdsprachlicher<br />
Disziplinen (Stufe I der <strong>Quellenarbeit</strong>). Dies heißt nicht, dass sie sich ausschließlich,<br />
sondern nur, dass sie sich vorrangig auf Quellen <strong>und</strong> Daten stützt. Verarbeitete<br />
Informationen aus zweiter, dritter, oft auch vierter <strong>und</strong> fünfter Hand, <strong>als</strong>o z. B.<br />
Sek<strong>und</strong>ärliteratur <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärquellen (z. B. Memoiren), stehen folglich nicht mehr<br />
im Zentrum der Informationsrecherchen, erhalten einen nachrangigen Stellenwert,<br />
sind aber unverzichtbar - sei es analog oder digital, sei es offline oder online.<br />
Margarete Dörr, die lange am Gymnasium Geschichte unterrichtet <strong>und</strong> sich am<br />
Didaktikerstreit (3.4.) beteiligt hat, schreibt dazu, dass "zwischen der Tätigkeit des<br />
Forschers <strong>und</strong> der Tätigkeit des Schülers" im Gr<strong>und</strong>e "nur ein gradueller, aber kein<br />
prinzipieller Unterschied" bestehe. "Kein Schüler, kein Lehrer, kein Student, kein<br />
Hochschullehrer kann alle Quellen lesen, der Forscher allenfalls auf einem kleinen<br />
Spezialgebiet. Alle sind mehr oder weniger angewiesen auf die Vorarbeiten von<br />
anderen Wissenschaftlern, d. h. auf schon verarbeitete Information." 161<br />
Quellen <strong>und</strong> Daten haben in der NPB den gleichen Stellenwert wie Experimente in<br />
den Naturwissenschaften, Kunst- oder Musikwerke in den Künsten, Literaturlektüre in<br />
Deutsch oder den Fremdsprachen. Aber politische Bildung <strong>und</strong> insbesondere<br />
Geschichtsunterricht schöpfen häufig nur aus Sek<strong>und</strong>ärliteratur <strong>und</strong> Schulbüchern,<br />
somit subjektiv verarbeiteten Informationsquellen. Was im naturwissenschaftlichen,<br />
sprachlichen <strong>und</strong> musischen Unterricht schon im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong>enkbar war -<br />
keine Experimente, keine Literaturbeispiele, keine Präsentation von Kunst <strong>und</strong> Musik<br />
- , ist heute in der politischen Bildung <strong>und</strong> im Geschichtsunterricht in <strong>Deutschland</strong><br />
durchaus üblich. Eine solche politische Bildung <strong>und</strong> ein solches<br />
161 Margarete Dörr: Quellen, Quellen, Quellen - <strong>und</strong> die Alternative? In: GWU 34, 1983, Seiten 318 -<br />
329, zit. 326. Vgl. auch Margarete Dörr: Zur <strong>Quellenarbeit</strong> im Geschichtsunterricht. Interpretation<br />
zweier Reden (Truman <strong>und</strong> Shdanow 1947) <strong>und</strong> einige didaktische Schlußfolgerungen. In: Eberhard<br />
Wilms (Hrsg.): Geschichte. Denk- <strong>und</strong> Arbeitsfach. Heinz Dieter Schmid zum 65. Geburtstag. Frankfurt<br />
a. M. 1986. Seiten 154 - 175. Dörr betont, <strong>Quellenarbeit</strong> ermögliche, Lehrer "entbehrlich zu machen<br />
bzw. zum Ansprechpartner für die Fragen der Schüler" (Seite 168), sie führe auch zum<br />
"übersichtlichen Festhalten von Lernergebnissen" (Seite 169).<br />
163
Geschichtsverständnis, die authentische Quellen <strong>als</strong> ihr F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> ihren<br />
Rohstoff ignorieren, sind fachwissenschaftlich rückständig.<br />
Das Hauptproblem werden Historikerinnen - sofern sie sich wahrnehmen: 3.5. - <strong>und</strong><br />
Historiker sein, die sich so weit von ihrer Disziplin entfernt haben, dass sie nicht mehr<br />
mit dem Rohstoff der Geschichtswissenschaft arbeiten - mit Quellen (2.6.). Sie<br />
"lehren" <strong>und</strong> "entleeren" heute noch an Universitäten ein Fach, dessen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
ihnen fremd bleiben. Die fachwissenschaftliche - nicht nur didaktische -<br />
Rückständigkeit des Geschichtsunterrichts an vielen Schulen hat ihre "Quelle" häufig<br />
in einem rückständigen Geschichtsverständnis von Professoren/innen an deutschen<br />
Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten. Verschärfend kommt hinzu, dass Schulbuchverlage<br />
auch heute noch großenteils "fertige" Darstellungen liefern, die sich an den<br />
Lehrplänen der einzelnen B<strong>und</strong>esländer orientieren <strong>und</strong> sie mit Quellenzitaten<br />
ausschmücken.<br />
Wer nur noch Fachliteratur zur Kenntnis nimmt, wird wohl kaum über Jacob<br />
Burckhardt stolpern, der die "ewigen Vorzüge" der Quelle gegenüber Darstellungen<br />
gerühmt hat: "Vor allem gibt sie das Faktum rein, so daß wir erst erkennen müssen,<br />
was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon<br />
vorwegnimmt <strong>und</strong> das Faktum schon verwertet wiedergibt, d. h. eingefügt in einen<br />
fremden <strong>und</strong> oft f<strong>als</strong>chen Zusammenhang. Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer<br />
Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In<br />
ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz <strong>und</strong> ein großer Teil<br />
ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes." Jacob Burckhardt meint sogar, dass<br />
"unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in<br />
vollständigem Sinne" eingehen könne. 162<br />
6.2. Idealtypische Charakterologie II: Vorzugsweise Arbeit an den<br />
Quellen <strong>als</strong> psychologisch-emotionales F<strong>und</strong>ament der Neuen<br />
Politischen Bildung (NPB)<br />
Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet nicht nur primär mit Quellen <strong>und</strong> Daten,<br />
sondern erstrebt, vorzugsweise auch an den lebensgeschichtlichen Quellen zu<br />
arbeiten oder zu ihnen soweit wie möglich zurückzufinden - ad fontes (Stufe II der<br />
<strong>Quellenarbeit</strong>). Die meisten Menschen leben nicht an ihren Quellen nahe ihrer<br />
Geburt, sondern <strong>als</strong> Nach- <strong>und</strong> Ausgeburten ihrer Sozialisation - "bei den Wurzeln<br />
des verworrenen Lebens". Sie wissen davon nichts oder nur wenig, <strong>und</strong> oft wollen sie<br />
darüber auch nichts wissen oder erfahren. Sie überleben oder existieren in ihrer 2.,<br />
3., 4. Natur, vegetieren in Ausnahmefällen nahe den Abgründen ihrer Seele in ihrer<br />
162<br />
Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit Nachwort herausgegeben von Rudolf<br />
Marx. Stuttgart 1949. Seite 21.<br />
164
5. <strong>und</strong> 6. Natur, so wie sie ihre Informationen nicht aus erster Hand, sondern aus 2.,<br />
3., 4. Hand beziehen. Manchmal schöpfen sie sie sogar aus dem Hörensagen oder<br />
aus Gerüchten, denen sie sich mehr anvertrauen <strong>als</strong> ihren Fähigkeiten,<br />
Informationen selbstbestimmt zu beschaffen <strong>und</strong> zu verarbeiten.<br />
Die lebensgeschichtlichen Quellen bei Erwachsenen sind oft verschüttet <strong>und</strong> deshalb<br />
schwer ergründbar, manchmal sogar am Versiegen - wie ausgetrocknet. Die<br />
Möglichkeiten der NPB dürfen daher nicht überschätzt werden, Menschen so zu<br />
verändern, dass sie ihr f<strong>als</strong>ches Selbst aufgeben, um ihr wahres zu finden (III. <strong>und</strong><br />
letzte Stufe der <strong>Quellenarbeit</strong>). Sonderfälle wie Winnicotts Patientin, die nach 50<br />
Jahren Nichtexistenz an den Anfang ihres Lebens zurückkehrt, neu "geboren" ist,<br />
keine Vergangenheit, keine Erfahrung hat (3.5.), grenzen an W<strong>und</strong>er, die es auch<br />
gibt, aber in der Regel nicht mit NPB erreichbar sind:<br />
Manche freilich müssen drunten sterben,<br />
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,<br />
Andre wohnen bei dem Steuer droben,<br />
Kennen Vogelflug <strong>und</strong> die Länder der Sterne.<br />
Manche liegen immer mit schweren Gliedern<br />
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,<br />
Andern sind die Stühle gerichtet<br />
Bei den Sybillen, den Königinnen,<br />
Und da sitzen sie wie zu Hause,<br />
Leichten Hauptes <strong>und</strong> leichter Hände.<br />
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben<br />
In die anderen Leben hinüber,<br />
Und die leichten sind an die schweren<br />
Wie an Luft <strong>und</strong> Erde geb<strong>und</strong>en: 163<br />
Möglich <strong>und</strong> realistisch sind schrittweise Veränderungen im Kleinen <strong>und</strong> Stillen bei<br />
den "Wurzeln des verworrenen Lebens": Dass Menschen nach ihrer Identität fragen,<br />
sich ihrer Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft stellen <strong>und</strong> ihre schwarzen Löcher<br />
zu "erspüren" versuchen. Deshalb bedarf es der Psychologisierung <strong>und</strong><br />
Emotionalisierung der politischen Bildung: Angewandte Sozialwissenschaften (nicht<br />
nur empirische Sozialforschung), insbesondere Entwicklungs- <strong>und</strong> Sozialpsychologie<br />
sowie politische Psychologie, Pädagogik <strong>und</strong> Soziologie erhalten<br />
Schlüsselfunktionen zugewiesen. Dies geht teilweise auf Kosten der Pädagogik, die<br />
abgewertet wird, soweit sie sich mit dem Lehren befasst, aber zugleich aufgewertet,<br />
163<br />
Manche freilich... (Auszug) In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a.<br />
M. 1977. Seite 22.<br />
165
soweit sie sich dem <strong>Lernen</strong> zuwendet. Diese Entpädagogisierung der NPB darf<br />
allerdings nicht auf Kosten der allgemeinen <strong>und</strong> der Fachdidaktik gehen.<br />
Auch Geschichte <strong>und</strong> Politik werden in der NPB psychologisiert <strong>und</strong> emotionalisiert,<br />
d. h. Akteure <strong>und</strong> Vorgänge werden an <strong>und</strong> mit den Quellen auf ideologische,<br />
irrationale, vordergründige <strong>und</strong> widersprüchliche Motive überprüft <strong>und</strong> evaluiert. Es<br />
geht dabei darum, Gefühle <strong>und</strong> Irrationalität in Politik <strong>und</strong> Geschichte, die oft<br />
"rationalisiert" werden, offen zu legen <strong>und</strong> zu analysieren. Diese Problematik ist<br />
bisher sehr wenig erforscht, auch deshalb, weil Politik zu sehr <strong>als</strong> rationaler <strong>und</strong> viel<br />
zu wenig <strong>als</strong> emotionaler Bereich gilt. Birgit Sauer hat treffend formuliert: "Politik wird<br />
mit dem Kopf gemacht" <strong>und</strong> daraus Überlegungen zu einer "geschlechtersensiblen<br />
Politologie der Gefühle" abgeleitet. 164<br />
NPB wird Politiker/innen - regierenden wie oppositionellen - erschweren,<br />
Öffentlichkeit, Wähler/innen <strong>und</strong> Medien zu täuschen, indem sie ihnen f<strong>als</strong>che<br />
Beweggründe <strong>und</strong> Botschaften vorspiegeln, aber die tatsächlichen verschweigen.<br />
Deshalb sind Ideologie- <strong>und</strong> Quellenkritik ein Hauptanliegen der <strong>Quellenarbeit</strong> in der<br />
NPB. Erforderlich ist jedoch, dass sie stichhaltige Methoden, Indikatoren <strong>und</strong><br />
Instrumente entwickelt, damit Politiker/innen nicht Opfer psychologisierender<br />
Spekulationen werden.<br />
Wenn es weitgehend selbstbestimmt gelingt, mit den externen Quellen (Außenwelt)<br />
<strong>und</strong> zugleich an den internen Quellen (Innenwelt) zu arbeiten, wird der Alptraum des<br />
Oberstudiendirektors Dr. Gerhard Schoebe, vieler Historiker/innen sowie von<br />
Multiplikatoren in der politischen Bildung wahr werden: dass die <strong>Lernen</strong>den<br />
Geschichte "sich selbst lehren", dass es keine "endgültigen Erkenntnis-Ergebnisse"<br />
gibt <strong>und</strong> niemand vermeintliche Sachwalter der Objektivität mehr fragen wird: "Nun<br />
sagen Sie uns bitte: Wie war es denn nun wirklich?" (3.4.-6./-9./zu 6./zu 9.)<br />
164 In dem wichtigen Sammelband von Ansgar Klein <strong>und</strong> Frank Nullmeier (Hrsg.): Masse-Macht-<br />
Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen. Opladen 1999. Seiten 200 - 218. Vgl. auch<br />
Claudia Benthien, Anne Fleig <strong>und</strong> Ingrid Kasten (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle.<br />
Wien/Köln 2000; Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> die Erforschung des<br />
Ichs. München 1997; Agneta H. Fischer (Ed.): Gender and Emotion. Social Psychological<br />
Perspectives. Cambridge u.a. 2000; Catherine A. Lutz (Ed.): Language and the Politics of Emotion.<br />
Cambridge 1993; Claudia Wassmann: Emotionen. Wie Gefühle unser Denken <strong>und</strong> Handeln<br />
beeinflussen. Darmstadt 2002; Nancy J. Chodorow: Die Macht der Gefühle. Subjekt <strong>und</strong> Bedeutung in<br />
Psychoanalyse, Geschlecht <strong>und</strong> Kultur. Stuttgart u.a. 2001; Carola Meier-Seethaler: Gefühl <strong>und</strong><br />
Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. München 2000; June Crawford, Susan Kippax,<br />
Jenny Onyx: Emotion and Gender. Constructing Meaning from Memory. London 1992. - Ist es nicht<br />
auffällig, dass über diese Thematik fast nur Frauen forschen?<br />
166
6.3. Idealtypische Charakterologie III: Vornehmlich computergestütztes<br />
Suchen, Finden <strong>und</strong> Problemlösen <strong>als</strong> technologisch-mathematisches<br />
F<strong>und</strong>ament der Neuen Politischen Bildung (NPB)<br />
Neue Politische Bildung (NPB) arbeitet primär digital-computergestützt - online<br />
<strong>und</strong>/oder offline. Sie unterscheidet sich so von der traditionellen analogen politischen<br />
Bildung, die derzeit, aber sicher nicht auf Dauer, Printmedien bevorzugt. Auch NPB<br />
kann nicht auf sie verzichten.<br />
Während bei 6.1. die Fachwissenschaften im Vordergr<strong>und</strong> stehen, <strong>und</strong> bei 6.2.<br />
insbesondere Psychologie, Soziologie <strong>und</strong> Pädagogik, übernehmen bei 6.3. die<br />
Mathematik <strong>und</strong> Informatik die Schlüsselaufgaben. Jede "fertige" Mathematik, die<br />
standardisierte Ergebnisse liefert <strong>und</strong> sie auf Formeln oder Routine-Aufgaben<br />
verkürzt, ist für die NPB ebenso unbrauchbar wie eine Geschichtswissenschaft, die<br />
Jahreszahlen, Fakten <strong>und</strong> Inhalte "paukt" <strong>und</strong> abfragt - dem Auswendiglernen von<br />
mathematischen Formeln vergleichbar. Eine "entdeckende" <strong>und</strong> "werdende"<br />
Mathematik dagegen, die zu ihren Wurzeln zurückkehrt <strong>und</strong> insofern <strong>Quellenarbeit</strong><br />
leistet, wird neben der Psychologie zum wichtigsten Verbündeten NPB werden.<br />
Bahnbrechender Wegbereiter einer so verstandenen Mathematik war Georg Pólya<br />
(1887 - 1985). Er legte auf "praktisches Können" mehr Wert <strong>als</strong> auf den "Besitz von<br />
Kenntnissen". Mathematik sollte Fähigkeiten fördern, Probleme zu lösen, die einen<br />
"gewissen Grad von Unabhängigkeit, Urteilsfähigkeit, Einsicht, Originalität <strong>und</strong><br />
schöpferischer Tätigkeit" verlangten. Eine Schlüsselstellung nahm hierbei für ihn die<br />
Heuristik <strong>als</strong> "Untersuchung der Mittel <strong>und</strong> Methoden" des Problem- <strong>und</strong><br />
Aufgabenlösens ein (4.3.). Pólya hat "zehn Gebote" für Lehrer/innen aufgestellt mit<br />
der Bitte, "keine andere Autorität" <strong>als</strong> die "eigene gut verarbeitete Erfahrung" <strong>und</strong> das<br />
"eigene wohlüberlegte Urteil" anzuerkennen:<br />
167
ZEHN GEBOTE FÜR LEHRER<br />
1.Man soll sich für seinen Gegenstand interessieren.<br />
2. Man soll seinen Gegenstand kennen.<br />
3. Man soll über das Wesen des <strong>Lernen</strong>s Bescheid wissen: Die beste Art, etwas zu<br />
erlernen, ist, es selbst zu entdecken.<br />
4. Man soll versuchen, von den Gesichtern seiner Schüler ihre Reaktionen<br />
abzulesen, versuchen, ihre Erwartungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten zu erkennen, sich in<br />
ihre Lage zu versetzen.<br />
5. Man soll ihnen nicht nur Kenntnisstoff, sondern auch praktisches Können, geistige<br />
Einstellungen, methodische Arbeitsgewohnheiten vermitteln.<br />
6.Man soll sie erraten lernen lassen.<br />
7. Man soll sie beweisen lernen lassen.<br />
8. Man soll auf solche Schritte bei der Lösung der Aufgabe, die man gerade<br />
durchnimmt, achten, die bei der Lösung zukünftiger Aufgaben nützlich sein könnten -<br />
man soll versuchen, das allgemeine Schema freizulegen, das der gegebenen<br />
konkreten Situation zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />
9. Man soll nicht gleich sein ganzes Geheimnis preisgeben - man soll die Schüler<br />
raten lassen, ehe man es preisgibt - man lasse sie soviel wie irgend möglich selbst<br />
herausfinden.<br />
10. Man lege nahe, aber man zwinge nicht auf. 165<br />
Eine Mathematik, wie Pólya sie empfiehlt, ist eine unerschöpfliche Lebensquelle <strong>und</strong><br />
eine "produktive Kunst". Sie bietet offene, d. h. nicht eindeutig definierte<br />
Problemstellungen an <strong>und</strong> fördert heuristische Problemlösefähigkeiten. Damit wird<br />
Mathematik zu einer Entdeckungsreise, die Kreativität, Eigentätigkeit <strong>und</strong> Phantasie<br />
fördert.<br />
Zu einer Zeit, <strong>als</strong> Mathematiker noch Latein konnten <strong>und</strong> zur Philosophischen<br />
Fakultät gehörten, meinte der berühmte Leopold Kronecker (1823 - 1891): "Nos<br />
mathematici sumus isti veri poetae sed quod fingimus nos et probare decet." 166 Und<br />
165<br />
Georg Pólya: Vom Lösen mathematischer Aufgaben. Einsicht <strong>und</strong> Entdeckung. <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Lehren.<br />
Band 2.<br />
Basel 1967. Seite 175. Vgl. auch Band 1. Basel 1966. Seiten zit. 12f. Ferner Georg Pólya: Mathematik<br />
<strong>und</strong> plausibles Schließen. Band l: Induktion <strong>und</strong> Analogie in der Mathematik. Band 2: Typen <strong>und</strong><br />
Strukturen plausibler Folgerung. Basel 1988; Schule des Denkens. Vom Lösen mathematischer<br />
Probleme. Tübingen/Basel 1995. Vgl. auch Lutz Führer: Pädagogik des Mathematikunterrichts. Eine<br />
Einführung in die Fachdidaktik für Sek<strong>und</strong>arstufen. Braunschweig 1997; Peter Gallin <strong>und</strong> Urs Ruf:<br />
Dialogisches <strong>Lernen</strong> in Sprache <strong>und</strong> Mathematik. 2 Bände. Seelze 1998; Heinrich Winter:<br />
Entdeckendes <strong>Lernen</strong> im Mathematikunterricht. Einblicke in die Ideengeschichte <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />
für die Pädagogik. Braunschweig 1991; Albrecht Beutelspacher: In Mathe war ich immer schlecht.<br />
Braunschweig 1996; Robert Kanigel: Der das Unendliche kannte. Braunschweig 1993.<br />
166<br />
"Wir Mathematiker sind die wahren Dichter, nur müssen wir, was unsere Phantasie beflügelt, noch<br />
beweisen."<br />
168
in der Tat: Nicht nur das Dichten, auch das Lösen einer mathematischen Aufgabe ist<br />
ein schöpferischer Akt, sofern sie mehr <strong>als</strong> nur Routine erfordert. Dazu gehören<br />
Kreativität <strong>und</strong> Phantasie, <strong>und</strong> insofern ist Mathematik keineswegs so trocken <strong>und</strong> so<br />
abstrakt, wie viele in der Schule vermittelt bekommen haben.<br />
Für den Königsberger <strong>und</strong> Göttinger Professor David Hilbert (1862 - 1943) war die<br />
Mathematik die "verbindende Brücke" zwischen Theorie <strong>und</strong> Praxis, <strong>und</strong> dies, obwohl<br />
er sich mit dem "Unendlichen" befasste, das für ihn "wie keine andere Frage von<br />
jeher so tief das Gemüt des Menschen bewegt" <strong>und</strong> deshalb "wie kaum eine andere<br />
Idee auf den Verstand so anregend <strong>und</strong> fruchtbar gewirkt" habe. 167 Bereits um 1903<br />
hatte Hilbert bei Problemlösungen von Integralgleichungen den unendlichdimensionalen<br />
Euklidischen Raum eingeführt, der <strong>als</strong> Hilbert-Raum nach ihm<br />
benannt ist: Gr<strong>und</strong>lage seiner "Spektraltheorie", danach der Quantenmechanik sowie<br />
der Schrödingergleichung. 168 In der mathematischen Logik entwickelte Hilbert das<br />
"Entscheidungsproblem", das klären sollte, ob Aussagen richtig oder f<strong>als</strong>ch sind. Es<br />
hat zu Gödels Unvollständigkeitssatz (1931: Über formal unterscheidbare Sätze der<br />
Principia Mathematica <strong>und</strong> verwandter Systeme) 169 <strong>und</strong> zu den formalen Sprachen<br />
geführt, die heute neben der Booleschen Algebra Gr<strong>und</strong>lagen der Informatik <strong>und</strong><br />
Computertechnik sind.<br />
Eine solche entdeckende Mathematik ist die schöpferische Wissenschaft von<br />
Menschen für Menschen. Aber manche von ihnen haben eben, wie David Hilbert<br />
bedauert hat, "einen Gesichtskreis vom Radius Null <strong>und</strong> nennen ihn ihren<br />
Standpunkt". Zur Horizonterweiterung machte er mit seinen Studierenden lange<br />
Wanderungen, auf denen er mit ihnen über Mathematik, Bildung, Politik <strong>und</strong><br />
Wirtschaft sowie über ihre Zusammenhänge diskutierte. Und so könnte es durchaus<br />
sein, dass in den Wäldern bei Göttingen, die Hilbert so sehr liebte, schon etwas<br />
Ähnliches wie Neue Politische Bildung (NPB) konturenhaft entstanden ist. Aber dies<br />
ist nicht verbürgt <strong>und</strong> folglich "Phantasie". Sie reicht nach Hilbert nicht aus, sich die<br />
erforderliche mathematische "Klarheit" zu verschaffen.<br />
Zu Kronecker, der Hegel studierte, Vorlesungen Schellings hörte <strong>und</strong> eine Vorliebe für alte Sprachen<br />
hatte, vgl. Hans Reichardt (Hrsg.): Nachrufe auf Berliner Mathematiker des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Heidelberg 1988.<br />
167<br />
David Hilbert: Über das Unendliche (1925). In: Hilbertiana. Fünf Aufsätze von David Hilbert.<br />
Darmstadt 1964. Seiten 79- 108, zit. 81.<br />
168<br />
Wellengleichung der nichtrelativistischen Quantenmechanik <strong>als</strong> zeitlicher Zustandsentwicklung<br />
unbeachteter Systeme, 1926 von Erwin Schrödinger (1887 - 1961) veröffentlicht.<br />
169<br />
Alle widerspruchsfreien axiomatischen Formulierungen der Zahlentheorie enthalten<br />
unentscheidbare Aussagen. - Kurt Gödel (1906 - 1978) stürzte Logik <strong>und</strong> Mathematik im 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert in eine Krise, da er nachwies, dass es innerhalb einen vorgegebenen Zweigs der<br />
Mathematik immer Aussagen gibt, die mit Hilfe der Regeln <strong>und</strong> Axiome dieses Zweigs weder zu<br />
beweisen noch zu widerlegen sind. Sie sind richtig, aber ihre Richtigkeit lässt sich nicht beweisen. Vgl.<br />
dazu das auch für Nichtmathematiker verständliche Buch von Ernest Nagel <strong>und</strong> James R. Newman:<br />
Der Gödelsche Beweis. 7. Auflage. München 2003.<br />
169
Für die <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> die NPB ist die "entdeckende" Mathematik unentbehrlich.<br />
Zwar können sie derzeit keine - oder noch keine! - Reise in den Grenzwert des<br />
"Unendlichen" anbieten, aber doch schon fast "astronomische" Informations- <strong>und</strong><br />
Abenteuerreisen in das Unbekannte: in eine terra incognita, die es zu entdecken, zu<br />
enträtseln gilt. Von selbst gewählten Frage- <strong>und</strong> Forschungsstellungen ausgehend,<br />
sind heuristische Problemlösungsstrategien zu entwickeln: das Suchen <strong>und</strong> Finden<br />
spezieller Informationen in einem Meer von Informationen, in dem man unterzugehen<br />
oder zu ertrinken droht. Schwimmen allein reicht nicht aus, man muss schon tauchen<br />
können, um Tiefen <strong>und</strong> Untiefen auszuloten. Dies erfordert Teilbereiche technischer<br />
<strong>und</strong> mathematischer Kompetenz (4.3.) - ohne Spielräume einzuengen, ohne<br />
Antworten vorwegzunehmen. Sie darf sich auch nicht nur in Routine-Suchanfragen<br />
erschöpfen, wie sie in der Technischen Kurzanleitung der DVD-D-Dok. im Booklet<br />
aufgeführt sind.<br />
Der bereits zitierte Göttinger Spötter Georg Christoph Lichtenberg (4.4.) hat sich<br />
darüber beschwert, "wie unwissend" die studierende Jugend auf Universitäten<br />
komme, da ein Viertel "sanft einschlafe", wenn er "nur zehn Minuten rechne oder<br />
geometrisiere". Offensichtlich bevölkerten schon dam<strong>als</strong> wie heute die "fertigen"<br />
Mathematiker/innen die Schulen. Bitte gehen Sie ihnen aus dem Wege <strong>und</strong> suchen<br />
Sie einen Ausweg, indem Sie mit den Fächern Informatik, Physik oder auch Chemie<br />
kooperieren. Sonst schaden Sie der <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> der NPB mehr <strong>als</strong> ihnen zu<br />
nutzen. Denn wenn ihre Schüler/innen abschalten oder einschlafen, werden sie keine<br />
Probleme lösen: Informationen zu sammeln, herauszufiltern, auszuwerten <strong>und</strong> zu<br />
generalisieren (4.3. - 4.7.).<br />
6.4. Idealtypische Charakterologie IV: Persönlichkeitsbildung nach Artikel<br />
2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>als</strong> verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament<br />
der Neuen Politischen Bildung (NPB)<br />
Neue Politische Bildung (NPB) orientiert sich am Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz mit<br />
der erklärten Zielsetzung, zur Selbstentfaltung der "Persönlichkeit" beizutragen (4.2.-<br />
2.). Das Menschenbild des Gr<strong>und</strong>gesetzes ist das Leitbild, das lebenslange <strong>Lernen</strong><br />
das Leitmotiv. Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung <strong>als</strong> Persönlichkeitsbildung wird folglich <strong>als</strong><br />
lebenslanger Lernprozess verstanden. Er beginnt mit der Geburt, endet mit dem<br />
Tode: Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich, nicht: Ich konsumiere, <strong>als</strong>o bin ich.<br />
Die Voraussetzungen dafür bietet die freiheitlich-demokratische Ordnung: Sie<br />
ermöglicht den Zugang zu vielfältigen Informationsquellen, die das jeweilige Ich <strong>und</strong><br />
das dazu gehörende körperlich-emotionale Selbst befähigen, individuelles Potenzial<br />
bis an die Grenzen des Möglichen auszuschöpfen - sofern es gelingt, die eigenen<br />
Wurzeln freizulegen. Etwas aus sich selbst machen, Chancen dazu wahrnehmen, die<br />
170
den Menschen - schon <strong>als</strong> Kind - zum Selbstzweck machen <strong>und</strong> nicht<br />
instrumentalisieren - sei es ideologisch, sei es ökonomisch, sei es parteipolitisch.<br />
Neue Politische Bildung (NPB) ist insofern Bildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsbildung, aber<br />
keine Ausbildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsausbildung des Menschen: keine<br />
Funktionalisierung für politische, gesellschaftliche, ideologische, wirtschaftliche,<br />
"nützliche" Zwecke, keine e-education, keine e-instruction. Es geht zuallererst um<br />
menschliche Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, um Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit des<br />
Menschen. Dies sind Begriffe, die oft missverständlich benutzt werden, manchmal<br />
auch ideologisch besetzt oder indoktriniert sind. Dazu wird noch unter 6.5. Stellung<br />
genommen.<br />
NPB erhält mit Artikel 2 Absatz 1 GG, in dem sie verankert ist, ein<br />
verfassungsrechtlich-normatives F<strong>und</strong>ament. Ihre Legitimation bezieht sich explizit<br />
auf diese Verfassungsnorm, betrachtet aber das Gr<strong>und</strong>gesetz auch <strong>als</strong> Ganzes oder<br />
in Teilen <strong>als</strong> ihren Gegenstand.<br />
Schon in den 50er Jahren hatte im zeitbedingten Kontext der Adenauer-Ära Theodor<br />
Wilhelm unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger das Partnerschaftskonzept ("Seid<br />
nett zueinander") <strong>als</strong> Aufgabe demokratischer politischer Pädagogik verfochten. Sie<br />
war eine Antwort auf die NS-Indoktrination, aber zugleich implizit eingebettet in das<br />
Wertgefüge des Gr<strong>und</strong>gesetzes. 170<br />
Die mit Hermann Giesecke beginnende Konfliktdidaktik (Erstauflage 1965) sah - vor<br />
allem in den späteren Auflagen - "in unserem Staat mit seiner Basis des<br />
Gr<strong>und</strong>gesetzes <strong>und</strong> der Verfassungen" die Voraussetzungen dafür geschaffen, den<br />
historischen Prozess der "Demokratisierung" (u. a. der Emanzipation) weiter<br />
voranzutreiben. "Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist <strong>als</strong>o keineswegs das Ende<br />
des Demokratisierungsprozesses. Ihre Realität ist vielmehr eine ständige<br />
Herausforderung, die jeweils konkreten Möglichkeiten weiterer Demokratisierung <strong>als</strong><br />
Aufgabe zu thematisieren <strong>und</strong> praktisch in Angriff zu nehmen." 171 Ernst-August Roloff<br />
radikalisierte diesen Ansatz, indem er Schüler dazu aufforderte, ihre im Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
fixierten Selbstbestimmungsrechte gegen die schulische Fremdbestimmung<br />
durchzusetzen. 172<br />
170 Friedrich Oetinger: Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft <strong>als</strong> pädagogische<br />
Aufgabe. Stuttgart 1951. (Überarbeitet: Partnerschaft. Die Aufgabe politischer Erziehung. Stuttgart<br />
1953.)<br />
171 Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung. 6. Auflage München 1971. Seiten 211f.<br />
("Kritik der Kritik") - Seit der 7. Auflage 1972, einer Neubearbeitung, orientiert sich Giesecke an der<br />
Kritischen Theorie, nicht mehr wie vorher an der liberalen Konflikttheorie. Vgl. Ralf Dahrendorf:<br />
Konflikt <strong>und</strong> Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. München 1972.<br />
172 Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik. Band 1:<br />
Sozialwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen. Band 2: Didaktische Beispielsanalysen für die Sek<strong>und</strong>arstufe I.<br />
Göttingen 1972 - 1974.<br />
171
Für Bernhard Sutor ist das Gr<strong>und</strong>gesetz "Legitimations- <strong>und</strong> Konsensbasis<br />
politischer Bildung", allerdings mit der Einschränkung, dass "die Bildungsziele nicht<br />
unmittelbar aus ihm abgeleitet werden können". Er entwickelt eine "politische<br />
Anthropologie", die sich am aristotelischen Gemeinwohl (zoon politikon) orientiert<br />
<strong>und</strong> im Menschenbild des Gr<strong>und</strong>gesetzes, insbesondere der im Artikel 1 verankerten<br />
Menschenwürde, wurzelt. 173 Werner J. Patzelt betrachtet den "Bürger" <strong>als</strong><br />
"eigentlichen Schwachpunkt unserer Demokratie", da ein "latenter<br />
Verfassungskonflikt" bestehe: "zwischen der tatsächlichen Funktionsweise unseres<br />
verfassungsmäßigen parlamentarischen Regierungssystems <strong>und</strong> jenen<br />
Vorstellungen, anhand welcher die Bürger beurteilen, ob ihr Regierungssystem<br />
ordnungsgemäß funktioniert." 174 Er plädiert dafür, dieses Defizit des "Verfassungs-<br />
<strong>und</strong> Politikverständnisses" der Bürger auszugleichen. Carl Deichmann tritt daher für<br />
eine neu konzipierte Institutionenk<strong>und</strong>e in der politischen Bildung ein. 175<br />
Aus Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz folgt, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />
nur innerhalb der "verfassungsmäßigen Ordnung" geschützt ist, die "Rechte anderer"<br />
zu beachten sind (neminem laedere) <strong>und</strong> sie an das "Sittengesetz" geb<strong>und</strong>en ist.<br />
Diese drei Verfassungsgebote verpflichten ipso iure die Neue Politische Bildung<br />
(NPB), <strong>und</strong> darüber hinaus auch die aus der Gr<strong>und</strong>rechtsnorm abgeleiteten, bereits<br />
vorgestellten <strong>und</strong> belegten Forderungen nach Leistung <strong>und</strong> Toleranz (4.2.-2.). Mit<br />
anderen Worten: Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung heißt nicht Rückzug auf sich selbst,<br />
Anspruchs- <strong>und</strong> Konsumdenken sowie Bindungslosigkeit, sondern<br />
Persönlichkeitsbildung innerhalb der freiheitlich-demokratischen Ordnung, um sie <strong>als</strong><br />
conditio sine qua non zu erhalten <strong>und</strong> weiterzuentwickeln. Eine solche Selbst- <strong>und</strong><br />
Ich-Entfaltung erfordert auch die Erziehung zu Über- Ich-Werten, die oft <strong>als</strong><br />
sek<strong>und</strong>äre oder bürgerliche Tugenden abgewertet werden: Leistung, Disziplin,<br />
Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein, Treue, Fleiß, Toleranz, Pünktlichkeit,<br />
Zuverlässigkeit, Heimat- <strong>und</strong> Vaterlandsliebe, Verantwortungsbewusstsein.<br />
Nicht derzeit verfassungskonform sind andere Zielsetzungen der Neuen Politischen<br />
Bildung (NPB): Die Abschaffung der Schulaufsicht <strong>als</strong> Bürokratie, die kontrolliert,<br />
reglementiert <strong>und</strong> straft, zugunsten einer tatsächlich beratenden, unterstützenden<br />
<strong>und</strong> helfenden, staatlich finanzierten Schulpflegschaft (Artikel 7 Abs. 1 GG); die<br />
Einführung der offenen Ganztagsschule (vor allem im Primarbereich) <strong>als</strong><br />
Regelschule <strong>und</strong> die Wiederzulassung von Vorschulen, die Förderung privater,<br />
kirchlicher u. a. Ersatzschulen <strong>als</strong> Alternativen zum staatlichen Schulwesen (Artikel 7<br />
Abs. 4 bis 6 GG); die Einführung eines staatlichen Kinderschutzes, sofern Eltern ihr<br />
173<br />
Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Ein Beitrag zur Wiedergewinnung eines<br />
Minimalkonsenses im Streit um den Politikunterricht. Hannover 1976. Seiten zit. 38, 43ff.<br />
174<br />
Werner J. Patzelt: Die Bürger - Schwachstelle unseres Gemeinwesens? Ein latenter<br />
Verfassungskonflikt. In: Gotthard Breit <strong>und</strong> Siegfried Schiele (Hrsg.): Handlungsorientierung im<br />
Politikunterricht. Bonn 1998. Seiten 69- 100, zit. 91.<br />
175<br />
Carl Deichmann: Mehrdimensionale Institutionenk<strong>und</strong>e in der politischen Bildung. Schwalbach<br />
1996.<br />
172
Elternrecht zuungunsten ihrer Kinder missbrauchen oder sie <strong>als</strong> ihr "Eigentum"<br />
betrachten (Artikel 6 Abs. 2-3 GG); <strong>und</strong> nicht zuletzt die Abschaffung des<br />
Berufsbeamtentums an Schulen <strong>und</strong> Hochschulen (Artikel 33 Abs. 4-5 GG).<br />
6.5. Individuum est ineffabile: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>und</strong><br />
politisch-ideologische Instrumentalisierung von Geschichts- <strong>und</strong><br />
Politikdidaktik<br />
Politische Bildung (PB) hat sich in der alten BRD vor allem mit drei Ideologien <strong>und</strong><br />
ihren Ablegern auseinandergesetzt: dem Kommunismus (Bolschewismus),<br />
insbesondere in seiner staatlichen Ausprägung <strong>als</strong> Marxismus-Leninismus, dem<br />
Faschismus <strong>und</strong> dem Nation<strong>als</strong>ozialismus. Als Formen des Totalitarismus <strong>und</strong><br />
totalitärer Herrschaft galten sie in der Regel <strong>als</strong> ausschließlich politische Phänomene<br />
mit der Folge, dass bei ihnen übersehen wurde, wie stark pseudoreligiös sie<br />
verbrämt sind. 176<br />
In der BRD war politische Bildung teilweise selbst instrumentalisiert <strong>und</strong> ideologisiert.<br />
Dies soll wegen der zentralen Rolle, die Geschichte in der NPB spielt, am Beispiel<br />
einer ausgewählten Geschichtsdidaktik <strong>und</strong> curricularen Vorgaben für den politischen<br />
Unterricht kurz beleuchtet werden.<br />
In ihrer einführenden Geschichtsdidaktik befürwortet Annette Kuhn (Bonn) die "Idee<br />
der Mündigkeit", die "gesellschaftlich verwirklichte Identität des Ichs" <strong>und</strong> einen "am<br />
Lernziel Emanzipation orientierten Geschichtsunterricht". Die Operationalisierung soll<br />
aus Abhängigkeiten befreien, zu Selbstbestimmung, Kommunikation, Ideologiekritik,<br />
Parteinahme, Identifikationserweiterung u.a. befähigen. "Das historische <strong>Lernen</strong> kann<br />
<strong>als</strong> Prozeß der Identifikationsgewinnung bezeichnet werden; denn Identität<br />
konstituiert sich erst in der Zeit <strong>und</strong> durch die Identifizierung mit <strong>und</strong> Abgrenzung von<br />
dem historischen Anderen. Emanzipation heißt im historischen <strong>Lernen</strong> Abbau<br />
irrationaler <strong>und</strong> Aufbau rationaler Identitäten." 177 Diese Lernziele korrespondieren<br />
offensichtlich mit denjenigen, die in der NPB vertreten werden. Doch unterscheiden<br />
sie sich f<strong>und</strong>amental voneinander.<br />
Annette Kuhn bekennt sich zur Kritischen Theorie, führt namentlich Horkheimer,<br />
Adorno <strong>und</strong> Habermas auf (Frankfurter Schule). "Die Geschichtsdidaktik deckt sich<br />
nicht nur in ihrer Zielsetzung mit der Erkenntniskritik in der radikalisierten Form der<br />
176<br />
So die neue Blickrichtung der Forschung: Zwischen Politik <strong>und</strong> Religion. Studien zur Entstehung,<br />
Existenz <strong>und</strong> Wirkung des Totalitarismus. Herausgegeben von Klaus Hildebrand. München 2003.<br />
177<br />
Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. 2. Auflage München 1977. Seiten 13, 23,<br />
64, 70ff., zit. 72.<br />
173
Frankfurter Schule. Sie geht auch von einer gemeinsamen Prämisse aus." 178 Kuhn<br />
übernimmt damit Prämissen <strong>und</strong> setzt Parteinahmen voraus, die das jeweilige<br />
Individuum behindern, über sich selbst zu bestimmen <strong>und</strong> eigene Identität zu<br />
entwickeln. Die erstrebte "Befreiung des Subjekts" führt so letztendlich zur<br />
Bevorm<strong>und</strong>ung des lernenden "Objekts" durch eine "Gesellschaftstheorie", die a<br />
priori festgeschrieben ist, <strong>und</strong> die viel beschworene "Schülerorientierung" bleibt<br />
abstrakt. Mit Recht ist daher bemängelt worden, "daß im Konzept Annette Kuhns die<br />
Subjektivität des Einzelnen, verstanden <strong>als</strong> die Möglichkeit, selbstbestimmt zu<br />
lernen, überhaupt keine Rolle spielt". 179 Zwar ist in diesem Handbuch im Abschnitt<br />
4.5. zu Hermeneutik <strong>und</strong> Quellenkritik teilweise auch Jürgen Habermas zustimmend<br />
zitiert worden, aber damit ist keine Rezeption der Kritischen Theorie <strong>als</strong> Ganzes<br />
verb<strong>und</strong>en - anders <strong>als</strong> bei Annette Kuhn, die sich mit ihr seit 1968 identifiziert. Dies<br />
wirkt sich auch auf die Frauengeschichte aus, um die sich Kuhn bleibende<br />
Verdienste erworben hat. Sie steht allerdings unter einer "unabdingbaren"<br />
Voraussetzung: "Ohne feministische Geschichtstheorie keine rational-kritische<br />
Identitätsgewinnung durch Frauengeschichte." 180<br />
Auch <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> Hermeneutik haben bei Annette Kuhn einen anderen<br />
Stellenwert <strong>als</strong> in der NPB. "In einem Geschichtsunterricht auf Quellenbasis",<br />
schreibt Hans-Jürgen Pandel zutreffend, "erzeugen die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen mit<br />
dem historischen Wissen den Gegenstand ihres <strong>Lernen</strong>s selbst. Wenn so im<br />
schulischen Kommunikationsprozeß der Gegenstand der Kommunikation durch die<br />
Kommunikationsteilnehmer erzeugt wird, verbietet sich auch eine strategisch<br />
instrumentelle Verwendung von Quellen auf ein einseitig gesetztes Erkenntnisziel<br />
hin. Ein kommunikativer Geschichtsunterricht kann die Freiheitsgrade, die Lehrern<br />
wie Schülern beim Umgang mit den Quellen unseres heutigen Wissens verbleiben,<br />
nur um den Preis der Dogmatisierung aufgeben." 181 Annette Kuhn sieht dieses Risiko<br />
offensichtlich auch, lehnt aber ab, auf Bedenken einzugehen, dass <strong>Quellenarbeit</strong><br />
"durch vorgängige Prämissen, durch ideologisch befrachtete Erkenntnisinteressen<br />
verengt" werden könnte. 182 Wer von "historischen Quellen" ausgeht, um geschichtlich<br />
178 Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik...Seite 20.<br />
179 Jochen Hering: Geschichte erfahrbar. Zur Wiederentdeckung des erzählenden<br />
Geschichtsunterrichts. Dortm<strong>und</strong> 1985. Seiten 100ff., zit. 102.<br />
180 Annette Kuhn: Identitätsgewinnung durch Frauengeschichte - Gefahren, Grenzen, Möglichkeiten.<br />
In: Geschichtsdidaktik 10, 1985, Seiten 117 - 128, zit. 117.<br />
181 Hans-Jürgen Pandel: Quellen - eine endlose Geschichte. Ein Versuch, die Quellendiskussion<br />
weiterzuführen <strong>und</strong> vor Fehlentwicklungen zu warnen. In: Stationen einer Hochschullaufbahn.<br />
Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Udo Arnold, Peter Meyers, Uta<br />
C. Schmidt. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 112 - 126, zit. 115. Vgl. dazu auch Peter Schulz-Hageleit:<br />
Emanzipation <strong>und</strong> Geschichtsbewusstsein. Anregungen für die Wiederaufnahme <strong>und</strong> Fortsetzung<br />
einer Diskussion. In: Festschrift Kuhn. Seiten 52- 61.<br />
182 Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. München 1977. Seite 8. Zur<br />
Hermeneutik: Seiten 56ff. - Zur "fachdidaktischen Curriculumentwicklung" <strong>und</strong> ihrer Umsetzung vgl.<br />
Annette Kuhn <strong>und</strong> Gerhard Schneider: Geschichtsunterricht 5-10. München/Wien 1981. Mit einem<br />
Fragebogen (Seiten 168 - 177) macht Kuhn Ernst mit der von ihr geforderten "schülerorientierten <strong>und</strong><br />
themenspezifischen Bedingungsanalyse" (Seite 9).<br />
174
aufzuklären, muss auch bereit sein, darüber zu reflektieren, um was für eine Auswahl<br />
von Quellen es sich handelt, <strong>und</strong> auf welchen Prämissen sie beruht.<br />
Die hessischen Rahmenrichtlinien Sek<strong>und</strong>arstufe I Gesellschaftslehre (1972/73)<br />
sollten Schülern ermöglichen, "ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten <strong>und</strong> an<br />
gesellschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken. Dementsprechend bildet die<br />
Befähigung zur Selbst- <strong>und</strong> Mitbestimmung das oberste Lernziel der<br />
Gesellschaftslehre." Es wird mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz, der hessischen Verfassung <strong>und</strong><br />
mit der Zielsetzung begründet, ungleiche Lebenschancen aufzuheben . 183<br />
Über dieses politisch-pädagogische Konzept hinaus gehen die nordrheinwestfälischen<br />
"Richtlinien für den Politischen Unterricht" (1973) <strong>als</strong> Curriculum. Es ist<br />
theoretisch durchkonstruiert, in seinen Lernzielen für die politische Bildung<br />
verbindlich <strong>und</strong> wird in einem Theorieband der Schörken-Kommission begründet. 184<br />
Das "didaktische Strukturgitter" des Blankertz- <strong>und</strong> Habermas-Interpreten Gösta<br />
Thoma ist so engmaschig <strong>und</strong> das Curriculum so geschlossen, dass entgegen den<br />
Ankündigungen der Kommission detailliert in einem "Bannkreis fremdbestimmter<br />
Leitbilder" vorgeschrieben wird, wie jemand mündig, selbstbestimmt <strong>und</strong> emanzipiert<br />
zu sein hat. Es ist der "totale Perfektionismus" für den "staatlich geplanten Bürger". 185<br />
Das Curriculum, das sich an der Kritischen Theorie orientiert, ist in der 2. Auflage der<br />
Richtlinien teilweise revidiert <strong>und</strong> entschärft worden, ohne die ursprüngliche<br />
Konzeption aufzugeben. Kultusminister Girgensohn <strong>und</strong> die Schörken-Kommission<br />
trugen damit der öffentlichen Kritik Rechnung. Sie haben aber auch viel Zustimmung<br />
erfahren. Während Hartmut von Hentig ein im Wesentlichen positives Urteil abgab,<br />
sprach Christian Graf von Krokow überschwänglich von einer "Pioniertat": den<br />
"besten Richtlinien für den politischen Unterricht, die es in <strong>Deutschland</strong> je gab". 186<br />
Stärker instrumentalisiert <strong>als</strong> die "kritische Didaktik" Kuhns ist die "materialistische<br />
Geschichtsdidaktik", die Parteinahme <strong>als</strong> "Entscheidung für die Interessen benachteiligter Gruppen,<br />
Schichten, Klassen" begreift: Horst W. Jung <strong>und</strong> Gerda von Staehr: Historisches <strong>Lernen</strong>. Didaktik der<br />
Geschichte. Köln 1983. Seiten 78ff. (Emanzipation), 94ff. (Identität), 252ff. (materialistische<br />
Geschichtsdidaktik).<br />
183 Der Hessische Kultusminister (Hrsg.): Rahmenrichtlinien Sek<strong>und</strong>arstufe I Gesellschaftslehre. 1.<br />
Auflage 1972. Seite 7. Entschärft ist die 2. Auflage 1973.<br />
184 Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Richtlinien für den Politischen<br />
Unterricht. 1. Auflage Düsseldorf 1973. 2., entschärfte Auflage: Richtlinien für den Politik-Unterricht.<br />
Düsseldorf/Stuttgart 1974. - Rolf Schörken (Hrsg.): Curriculum "Politik". Von der Curriculumtheorie zur<br />
Unterrichtspraxis. Opladen 1974.<br />
185 So Christian Tomuschat: Der staatlich geplante Bürger. Verfassungsrechtliche Bemerkungen zu<br />
den Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes Nordrhein-Westfalen. In: Recht im Dienst des<br />
Friedens. Festschrift für Eberhard Menzel zum 65. Geburtstag am 21. Januar 1976. Berlin 1975.<br />
Seiten 21 - 40, zit. 37 <strong>und</strong> 39. Vgl. dazu auch Josef Isensee: Freiheit ohne Pflichten? - Zum<br />
verfassungsrechtlichen Status des Bürgers im Staat des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Münster 1983. Seiten 7f.<br />
186 Walter Gagel <strong>und</strong> Rolf Schörken (Hrsg.): Zwischen Politik <strong>und</strong> Wissenschaft. Politikunterricht in der<br />
öffentlichen Diskussion. Opladen 1975. Seiten zit. 21f. (Hartmut von Hentig), 132 (Christian Graf von<br />
Krockow in der ZEIT Nr. 2 vom 3. Januar 1975). Walter Gerschler hat die Reaktionen der<br />
175
Die Begriffe Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit, wie sie in der NPB <strong>und</strong> in<br />
der Geschichtsdidaktik Annette Kuhns sowie den hessischen <strong>und</strong> nordrheinwestfälischen<br />
Richtlinien verwendet werden, haben nichts miteinander zu tun. Es<br />
sind Homonyma, die gleich lauten, sich aber inhaltlich in ihrer Bedeutung<br />
unterscheiden. Der Weg des selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene<br />
Kompetenzerwerb sind in der Didaktik (4.) beschrieben worden <strong>und</strong> können<br />
abschließend überprüft <strong>und</strong> evaluiert werden (5.). Dies ist kein Bildungsprogramm mit<br />
verbindlichen Vorgaben, sondern ein historisch-politisches Bildungsangebot. Es ist<br />
offen, nirgends festgelegt. Für die Neue Politische Bildung (NPB) ist daher ein<br />
durchkonstruiertes geschlossenes Curriculum ein Unding, ein detailliert<br />
vorgeschriebener Lehrplan eine Zwangsjacke.<br />
Den <strong>Lernen</strong>den bleibt es überlassen, sich vorgeschlagenen idealtypischen Fragen zu<br />
stellen <strong>und</strong> sie jeweils individuell zu beantworten oder auch nicht. Die Arbeit mit <strong>und</strong><br />
an den Quellen, sofern sie eine Spiegelfunktion in der D-Dok. ausüben, kann den<br />
jeweils <strong>Lernen</strong>den den Weg zu Identität, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Mündigkeit ebnen,<br />
kurzum - sich selbst zu suchen <strong>und</strong> zu sich zu finden. Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
bietet dazu verfassungsrechtlich den Bezugsrahmen <strong>und</strong> markiert zugleich die<br />
Schranken. Das Individuum ist nicht, wird nicht <strong>und</strong> darf nicht programmiert werden:<br />
Individuum est ineffabile.<br />
6.6. Veränderung in der demokratischen Ordnung: Ideologische oder<br />
utopische Elemente in der Neuen Politischen Bildung (NPB)?<br />
Wer andere der Ideologie bezichtigt, ist oft blind für eigene Ideologieanfälligkeit.<br />
Deshalb ist unverzichtbar, danach zu fragen, ob <strong>und</strong> inwieweit die hier vorgestellte<br />
Neue Politische Bildung (NPB) theorielastig oder ideologisiert ist.<br />
Das Leitmotiv <strong>als</strong> oberstes Lernziel ist das Konzept des lebenslangen <strong>Lernen</strong>s (4.1.).<br />
Es leitet sich aus dem Selbstverständnis des globalen Wandels (Global Change) im<br />
Informationszeitalter <strong>und</strong> in der Wissensgesellschaft (1.1.) ab, ist aber nicht von einer<br />
rezipierten Gesellschaftstheorie übernommen worden - wie "Emanzipation" <strong>als</strong><br />
oberster Richtwert für Lernziele, Qualifikationen <strong>und</strong> Instrument ihrer Auswahl in<br />
Didaktiken <strong>und</strong> Curricula, die sich an der Frankfurter Schule orientieren. Bisher hat<br />
noch niemand behauptet, auch nicht in den <strong>neues</strong>ten Veröffentlichungen, 187 das<br />
Öffentlichkeit dokumentiert auf den Seiten 105 - 132.<br />
187 Uli Wessely: Politische Bildung in der globalen Wissensgesellschaft. In: Aus Politik <strong>und</strong><br />
Zeitgeschichte 7-8 vom 16. Februar 2004. Seiten 32 - 38 mit Literaturangaben <strong>und</strong> Internethinweisen.<br />
- Eine Übersicht bietet Günther Dohmen: Das lebenslange <strong>Lernen</strong>. Leitlinien einer modernen<br />
Bildungspolitik. (Gutachten für das B<strong>und</strong>esministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung <strong>und</strong><br />
Technologie.) Bonn 1996. Siehe vor allem Seiten 14ff. (Entstehung, Konzeption, Kritik), 44ff.<br />
176
lebenslange <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Antwort auf die Herausforderungen des<br />
Informationszeitalters <strong>und</strong> der Wissensgesellschaft sei eine ideologische<br />
Fehlleistung.<br />
Unbestritten ist, dass das lebenslange <strong>Lernen</strong> utopische Elemente enthält. Der<br />
Leitspruch "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin ich" (Disco, ergo sum), drückt Erwartungshaltungen<br />
<strong>und</strong> ein Bemühen aus, die auf die Zukunft gerichtet <strong>und</strong> insofern utopisch sind. Sie<br />
richten sich gegen einen weit verbreiteten Trend in der Gegenwart: "Ich konsumiere,<br />
<strong>als</strong>o bin ich" (Consumo, ergo sum). Dieser "historische" Weg zu sich selbst ist<br />
langwierig, meist steinig <strong>und</strong> schmerzlich, <strong>und</strong> er ist offen: Er begleitet den Menschen<br />
<strong>als</strong> Selbstzweck zu sich selbst, aber er verspricht kein Heil, kein Ideal, keinen<br />
Glückszustand, er verbürgt auch keinen Erfolg.<br />
Voraussetzung für die erstrebte Selbst- <strong>und</strong> Ich-Entfaltung nach Artikel 2 Absatz 1<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz ist eine politische demokratische Ordnung, die den freien Zugang zu<br />
multiperspektivischen Informationsquellen gewährleistet. "Freiheitliche<br />
Gr<strong>und</strong>einstellung kann in einem Leben jedoch nur richtig wachsen, wenn dem<br />
Menschen selbst von Anfang an in der Ausübung der Freiheit soweit wie möglich<br />
Raum gelassen wird." 188 Darüber entscheiden die frühen, auch schulischen<br />
Lebensjahre. Frei entfalten kann sich daher nur, wer keinen elterlichen, schulischen<br />
<strong>und</strong> staatlichen Bevorm<strong>und</strong>ungen oder anderen Manipulationen in seiner<br />
Sozialisation unterworfen ist.<br />
Verhängnisvoll sind vor allem narzisstische Selbst-, Ersatz- <strong>und</strong> idealisierte Objekte,<br />
die <strong>als</strong> "Idole" <strong>und</strong> Ideologien (Rechts- oder Linksextremismus, "Weltanschauung",<br />
Heilslehren), <strong>als</strong> Größen- <strong>und</strong> Allmachtsphantasien oder <strong>als</strong> Weltverbesserungsideen<br />
Lücken des Selbst füllen <strong>und</strong> reparieren. Sie können, sobald sich das unfertige<br />
Individuum mit ihnen primär oder sek<strong>und</strong>är identifiziert hat, aus<br />
Selbsterhaltungsgründen nicht aufgegeben werden, ohne es zu bedrohen: durch<br />
Tendenzen der Selbstauflösung (Fraktionierung) <strong>und</strong> des Selbstverlustes<br />
(Depressivität <strong>und</strong> Depression), die in extremen Ausnahmen zu Terrorismus, Suizid<br />
oder Amok führen können (1.4., 1.5., 1.8.). Uneingeschränkt zugestimmt wird daher<br />
im Endergebnis, wenngleich unter einem anderen Blickwinkel Bernhard Sutor, der<br />
gefordert hat: "Politische Bildung im öffentlichen Schulwesen darf sich nicht einseitig<br />
einer sozial- oder politikwissenschaftlichen Theorie verschreiben, sondern muß die<br />
Pluralität der Forschungsansätze, Theoriebildungen <strong>und</strong> Aussagen beachten." 189<br />
(Selbstgesteuertes <strong>und</strong> selbstorganisiertes <strong>Lernen</strong>), 61ff. (Lerngesellschaft), 98ff. (Literaturangaben).<br />
188<br />
Hartwig Ihlenfeld: Pflicht <strong>und</strong> Recht zum Besuch öffentlicher Schulen nach deutschem B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />
Landesrecht. Hamburg 1971. Seite 83.<br />
189<br />
Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Ein Beitrag zur Wiedergewinnung eines<br />
Minimalkonsenses im Streit um den Politikunterricht. Hannover 1976. Seite 106. - Das<br />
Überwältigungs- oder Indoktrinierungsverbot wurde 1976 <strong>als</strong> 1.Punkt im Beutelsbacher Konsens<br />
verankert; vgl. dazu Siegfried Schiele <strong>und</strong> Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der<br />
politischen Bildung. Stuttgart 1977.<br />
177
Dieser didaktische Leitsatz Sutors ist eine conditio sine qua non der Neuen<br />
Politischen Bildung (NPB).<br />
Bis zu meinem 65. Lebensjahr hatte ich Bernhard Sutor (Mainz, dann Eichstätt) in<br />
meinen Lehrveranstaltungen nicht nur <strong>als</strong> "konservativen" Interpreten der politischen<br />
Bildung vorgestellt, sondern <strong>als</strong> "Reaktionär" angeprangert <strong>und</strong><br />
"Gesellschaftsveränderungen" gefordert. Die Arbeit an der D-Dok. hat einen<br />
Lernprozess ausgelöst <strong>und</strong> einen Gesinnungswandel herbeigeführt, so dass ich jetzt,<br />
gemessen an meinen früheren Kategorien, selbst zum "Reaktionär" geworden bin.<br />
Mittlerweile meide ich solche Klassifikationen. Ich kann nicht ausschließen, dass es<br />
sich um eine Alterserscheinung handelt, der ich zum Opfer gefallen bin.<br />
Wenn ich die Kontroversen zur politischen Bildung Revue passieren lasse <strong>und</strong> in<br />
ihnen nachlese, sehe ich vieles unter einem neuen Blickwinkel <strong>und</strong> finde<br />
ausgerechnet bei Sutor Berührungspunkte zur hier vorgestellten Neuen Politischen<br />
Bildung (NPB): in seiner politischen Anthropologie, die sich am Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
orientiert, ohne es zu dogmatisieren; in seinen Forderungen nach einem breiten<br />
Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Fachwissen mit Fähigkeiten "zur Synopse <strong>und</strong> Reduktion des Vielfältigen<br />
auf das Gr<strong>und</strong>legende"; in seinem Respekt vor der Schülerpersönlichkeit, die<br />
gebiete, auf die autoritäre Steuerung von Lernprozessen, die nicht zu erzwingen<br />
seien, zu verzichten; in seiner Utopie vom "wahren Wesen" des Menschen, dem<br />
Politik dienen soll u.a. Sutor geht - anders <strong>als</strong> ich - vom "Gemeinwohl" <strong>und</strong> der<br />
aristotelisch-christlichen Sozialphilosophie (bonum commune) aus, <strong>und</strong> wenn er auch<br />
gelegentlich moralisiert, was zu den Berufskrankheiten von Didaktikern gehört, so<br />
präsentiert er doch stets ein materialreiches, sorgfältig belegtes, nirgends<br />
geschlossenes, allgemein verbindliches Konzept von Normen, Inhalten <strong>und</strong> Zielen, er<br />
wägt Pro <strong>und</strong> Contra ab - kurzum er ist offen <strong>und</strong> tolerant, nicht doktrinär, er<br />
missioniert nicht, er verkündet keine Heilslehren, <strong>und</strong> dies <strong>als</strong> Professor für Didaktik<br />
der Sozialk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> christliche Soziallehre an der Katholischen Universität Eichstätt!<br />
Dies korrespondiert mit seiner didaktischen Zielsetzung, zur politischen<br />
gewissenhaften Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> Beteiligung durch "möglichst<br />
unvoreingenommene Information" beizutragen. 190<br />
Die 68er-Didaktiker hatten nicht unvoreingenommene Information, sondern<br />
unrealistische "Gesellschaftsveränderung" auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sollte<br />
nach Hermann Giesecke, der seine innovative Konfliktdidaktik seit der 7. Auflage<br />
190 Bernhard Sutor: Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> politische Bildung. Seiten 64, 77f.,106f., 110f., 112f. Vgl. dazu<br />
auch Bernhard Sutor: Didaktik des politischen Unterrichts. Eine Theorie der politischen Bildung.<br />
Paderborn 1971. Vor allem Seiten 56ff. (Gemeinwohl), 106ff. (Demokratieverständnis); Politik. Ein<br />
Studienbuch zur politischen Bildung. Paderborn 1974. Vor allem Seiten 35ff. (Anthropologische<br />
Voraussetzungen), 51ff. (Gemeinwohl), 62ff. (Ideologie). Neubearbeitung <strong>als</strong>: Neue Gr<strong>und</strong>legung<br />
politischer Bildung. 2 Bände. Paderborn 1984. Zu den Kontroversen der 70er <strong>und</strong> 80er Jahre aus der<br />
Sicht Sutors: Politische Bildung im Streit um die "intellektuelle Gründung" der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>Deutschland</strong>. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 45 vom 11. November 2002. Seiten 17 - 27.<br />
178
(1972) an die Kritische Theorie angepasst hatte, in den politischen Bildungsprozess<br />
"einprogrammiert" werden, <strong>und</strong> Ernst-August Roloff sah in der "Würde des<br />
Menschen" nach dem Gr<strong>und</strong>gesetz einen uneingelösten Erziehungsauftrag: "Abbau<br />
von Herrschaft (Fremdbestimmung) <strong>und</strong> zunehmende Selbstbestimmung<br />
(Emanzipation)." 191 In Schwarz-Weiß konfrontiert Roloff zwei "Lager", zwischen<br />
denen Multiplikatoren nicht frei auswählen könnten, sondern sich gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
entscheiden müssten: "Entweder Behrmann, Sutor, Maier, Hennis, Assel, Andreae<br />
usw. oder Giesecke, Mollenhauer, Schmiederer, Hilligen, Fischer, von Friedeburg,<br />
von Oertzen u.a." 192 Ignoriert wird, dass zwischen diesen dualistisch-manichäistisch<br />
sortierten Interpreten der politischen Bildung beträchtliche, teilweise f<strong>und</strong>amentale<br />
Unterschiede bestehen.<br />
Während Giesecke <strong>und</strong> Roloff beanspruchen, unerfüllte Gebote des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
einzufordern, gehen antagonistisch-marxistische Ansätze weit darüber hinaus: Rolf<br />
Schmiederer unterscheidet im "spätkapitalistischen" System zwischen Herrschenden,<br />
die den Status quo zementieren <strong>und</strong> Schule dafür instrumentalisieren, <strong>und</strong> den<br />
Unterdrückten/Beherrschten, die ihn verändern wollen. Hans-Jochen Gamm,<br />
Johannes Beck u.a. diagnostizieren eine Erziehung in der "Klassengesellschaft",<br />
fordern eine "Kritische Schule" mit "Herrschaftsabbau", "Demokratisierung",<br />
"Schülerkollektiv", die Abschaffung der Pädagogik im Interesse der "unterdrückten"<br />
Schüler u.v.a. mehr. 193<br />
Was haben die Erziehungs- <strong>und</strong> Weltverbesserungsideen konkret verändert? Sie<br />
haben einen Sturm im Wasserglas ausgelöst, die politische Bildung radikalisiert,<br />
Hoffnungen geweckt <strong>und</strong> Illusionen genährt - aber geendet haben sie in<br />
Frustrationen, in der Bildungsmisere <strong>und</strong> im Katzenjammer. Die auf "Emanzipation"<br />
<strong>und</strong> "Chancengleichheit" programmierten Uhren sind längst auf den Rückwärtsgang<br />
geeicht. In keinem anderen vergleichbaren Industriestaat gibt es weltweit weniger<br />
Chancengleichheit <strong>als</strong> in <strong>Deutschland</strong>, hängen Bildung <strong>und</strong> Beruf so vom sozialen<br />
Status ab (1.6. <strong>und</strong> 1.7.). So war es, <strong>und</strong> so ist es heute noch. Soll es so bleiben?<br />
Die weltpolitischen Veränderungen der Jahre 1989/1990 haben Versatzstücke der<br />
Kritischen Theorie mit in den Abgr<strong>und</strong> gerissen, soweit sie den Marxismus,<br />
wenngleich noch nicht oder nur teilweise die abgestandene Psychoanalyse Freuds<br />
191<br />
Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik. Band 1:<br />
Sozialwissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen. 2. Auflage Göttingen 1972. Seite 127.<br />
192<br />
Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Band 2: Didaktische Beispielanalysen für die<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe I. Göttingen 1974. Seite 159.<br />
193<br />
Rolf Schmiederer: Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie <strong>und</strong> Didaktik des<br />
politischen Unterrichts. Frankfurt a. M. 1971. Seiten 9, 41 (Gemäßigt heißt es hier, politische Bildung<br />
solle Voraussetzungen schaffen für die Selbstbestimmung <strong>und</strong> Selbstverwirklichung des Menschen in<br />
der Demokratie), 32ff. (Zielsetzungen ); Hans-Jochen Gamm: Kritische Schule. Eine Streitschrift für<br />
die Emanzipation von Lehrern <strong>und</strong> Schülern. München 1970; Ders. (Hrsg.): Erziehung in der<br />
Klassengesellschaft. München 1972; Johannes Beck u.a. (Hrsg.): Erziehung in der<br />
Klassengesellschaft. München 1970.<br />
179
etreffen. Dieser Wandel scheint an den 68er-Didaktikern vorübergegangen zu sein.<br />
Die von ihnen versprochene, bei Habermas entlehnte Qualifikation "Ideologiekritik"<br />
(4.5.) gilt nicht für die eigenen Ideologien, sondern nur für fremde. Daher ablehnen<br />
sie ab, ihre Theorien auf den Prüfstand zu stellen, sie zu evaluieren oder sich von<br />
ihnen zu "emanzipieren". Ideologisch sind die anderen, nicht sie selbst.<br />
Annette Kuhn bekennt sich in ihrer Autobiographie nach wie vor zu ihrer<br />
Geschichtsdidaktik: "Meine Einführung drückt für mich noch heute meine<br />
fachdidaktische Gr<strong>und</strong>position aus, die ich mit anderen Kollegen der 68er-Bewegung<br />
teilte." 194 Die "Emanzipation" von der Frankfurter Schule ist <strong>als</strong>o nicht gelungen. Kuhn<br />
hinterlässt eine "feministische" Frauengeschichte mit theoretischen Versatzstücken<br />
aus 2. <strong>und</strong> 3. Hand. Ob sie Frauen wirklich hilft, zu ihren Quellen <strong>und</strong> damit zu ihrer<br />
Identität zu finden? Damit Frauen nicht nur sich sehen, sondern sich auch selbst<br />
besser wahrnehmen? Tua res agitur (3.5.). Und ist es nicht so, dass didaktische<br />
Konzepte oft mehr über ihre Urheber/innen unbeabsichtigt preisgeben, <strong>als</strong> ihr<br />
Gegenstand erahnen lässt? Dies gilt auch für dieses Begleitbuch zur D-Dok.<br />
Veränderungen schreibt auch die Neue Politische Bildung (NPB) auf ihre Fahnen,<br />
allerdings unter einem anderen Vorzeichen <strong>als</strong> die 68er-Didaktiker. Veränderungen<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> von anderen zu fordern, ist leicht, aber es ist schwer, sich<br />
selbst zu ändern: im Stillen, im Kleinen, im Selbst. Unter dieser Umkehrfunktion geht<br />
es in der Demokratie <strong>und</strong> in der Teilhabe an ihr um das lebenslange <strong>Lernen</strong>: sich zu<br />
suchen <strong>und</strong> zu finden auf dem Weg zu sich selbst im Hier <strong>und</strong> Jetzt. Dazu können<br />
Geschichte <strong>und</strong> Politik dienen, Neue Politische Bildung (NPB) kann dazu verhelfen.<br />
Ist es eine Utopie?<br />
Vielleicht auch ein Traum?<br />
Eine Sehnsucht?<br />
Eine Vision?<br />
Aber ist es deshalb eine Ideologie?<br />
Eine Doktrin?<br />
Eine Illusion?<br />
Oder ein Trauma?<br />
Friedrich Engels hat 1888 die Thesen über Feuerbach aus dem Nachlass von Karl<br />
Marx (geschrieben im Frühjahr 1845) <strong>als</strong> "genialen Keim der neuen<br />
Weltanschauung" überarbeitet herausgegeben. 195 Sie haben die Welt verändert, aber<br />
194 Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in <strong>Deutschland</strong>. Berlin 2003.<br />
Seiten 156ff., zit. 162. - Theoriebasis für Kuhns Frauengeschichte ist ihre Geschichtsdidaktik, vgl.<br />
Seiten 164ff., vor allem 173. Aus Intoleranz wurde Frauengeschichte <strong>als</strong> Prüfungsthema an der<br />
Universität Bonn vom Prüfungsamt meistens abgelehnt.<br />
195 Im Anhang zu seiner Schrift: Ludwig Feuerbach <strong>und</strong> der Ausgang der klassischen deutschen<br />
Philosophie (1888). Berlin 1970. Seite 73f. Abgedruckt in: Marx-Engels Werke. Band 3. Berlin 1969.<br />
Seiten 533-535. Vgl. Seiten 5ff. <strong>und</strong> MEW Band 21. Seite 264. Siehe auch Ernst Bloch:<br />
Weltveränderung oder Die elf Thesen von Marx über Feuerbach. In: Das Prinzip Hoffnung (1954).<br />
Berlin 1960. Seiten 270 - 312.<br />
180
nicht die Menschen. "Die Lehre von Marx" - so Lenin im März 1913 - "ist allmächtig,<br />
weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen <strong>und</strong> harmonisch, sie gibt den Menschen<br />
eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei<br />
Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt." 196 Aber<br />
gescheitert ist der Marxismus, genauer der Marxismus-Leninismus nicht an<br />
Kapitalismus <strong>und</strong> Bürgertum, nicht an Aberglauben <strong>und</strong> "Reaktion", nicht an Krieg,<br />
Bürgerkrieg, Hunger, Not oder Gewalt, sondern an den Menschen, die ihn abgelehnt<br />
haben. Er hat sie zeitweilig in den Bann ziehen, wie eine Religion faszinieren, aber<br />
nicht dauerhaft für sich gewinnen können.<br />
Lag dies nicht schon in der Logik der berühmten letzten 11. These über Feuerbach<br />
begründet? Sie lautet: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert;<br />
es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Marx hatte sie von den übrigen Thesen<br />
durch einen horizontalen Strich getrennt, um vermutlich ihre Schlüsselstellung<br />
hervorzuheben. Aber gefordert hatte er in seiner Schlussfolgerung nur, die Welt zu<br />
verändern, nicht jedoch von den Menschen, sich mit ihr <strong>und</strong> in ihr zu ändern. Dies<br />
hat sich <strong>als</strong> verhängnisvolle Fehlleistung erwiesen.<br />
Es geht nicht darum, andere oder die Welt zu verändern, es kommt vorrangig darauf<br />
an, sich selbst zu ändern. Wenn dies durch <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an den Quellen gelingt<br />
(<strong>Quellenarbeit</strong>), verändern sich zugleich die Mitmenschen <strong>und</strong> ihr Umfeld - im<br />
Kleinen <strong>und</strong> im Stillen: langsam, unmerklich, unsichtbar.<br />
196<br />
Wladimir Iljitsch Lenin: Drei Quellen <strong>und</strong> drei Bestandteile des Marxismus (März 1913). In: Werke.<br />
Band 19. Berlin 1977. Seiten 3 - 9, zit 3.<br />
181
7. Adressen für die Praxis I: Schulische <strong>und</strong><br />
außerschulische politische Bildung<br />
Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, Sek<strong>und</strong>arbereiche I<br />
<strong>und</strong> II sowie Erwachsenen- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />
Als größte <strong>und</strong> umfassendste digitale Quellenbibliothek zu <strong>Deutschland</strong> nach 1945<br />
bietet die D-Dok. fünfsprachige Informationen erster Hand von fast astronomischem<br />
Ausmaß an. Sie dienen <strong>als</strong> Rohstoff für mögliches Wissen, sind aber noch kein<br />
Wissen. Um es mit anderen Worten noch einmal zu wiederholen: Die Entwicklung<br />
von Wissen <strong>und</strong> die von ihm abhängige Wissensgesellschaft im Informationszeitalter<br />
(1.1. <strong>und</strong> 2.6.) setzen Informationen <strong>als</strong> Rohstoff voraus.<br />
Erst wenn Menschen mit der DVD-Datenbank arbeiten <strong>und</strong> ihre Informationen<br />
verarbeiten, entsteht aus Rohstoff <strong>als</strong> möglichem Wissen lebendiges Wissen: durch<br />
Fragestellungen <strong>und</strong> Recherchen, durch die Sammlung <strong>und</strong> Selektion von<br />
Informationen, durch Lesekompetenz <strong>als</strong> Lernprozess zwischen "Fremdheit <strong>und</strong><br />
Vertrautheit" (Gadamer), vielleicht auch durch Hypothesenbildung <strong>als</strong> Verknüpfung<br />
tendenziell-approximativer Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen.<br />
Gemäß ihrem Selbstverständnis <strong>als</strong> Datenbank für die fächerübergreifende politische<br />
Bildung <strong>und</strong> den Schwerpunkt, den sie setzt, wendet sich die digitale<br />
Quellenbibliothek vornehmlich an Lehrer/innen der allgemein bildenden Schulen.<br />
7.1. Zielgruppe <strong>als</strong> Schwerpunkt: Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer an allgemein<br />
bildenden Schulen<br />
Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer sind faul. Sie arbeiten nur halbtags <strong>und</strong> haben auch noch<br />
viel zu viele Ferien. Im öffentlichen Dienst brauchen sie sich um ihre "Jobs" nicht zu<br />
sorgen. Sie feiern deshalb oft krank <strong>und</strong> werden für das, was sie leisten, auch noch<br />
sehr gut bezahlt.<br />
So etwa lauten verkürzt gängige Parolen, die über Lehrer/innen in der Öffentlichkeit -<br />
nicht nur an Stammtischen - kursieren. Politiker haben mit dazu beigetragen, das<br />
ohnehin ramponierte Lehrerimage zusätzlich zu schädigen. So soll der damalige<br />
niedersächsische Ministerpräsident <strong>und</strong> jetzige B<strong>und</strong>eskanzler Schröder (SPD)<br />
erklärt haben, Lehrer seien "faule Säcke", <strong>und</strong> der Vorsitzende der CDU-<br />
Landtagsfraktion Baden-Württemberg Günther H. Oettinger behauptete, Lehrer über<br />
182
50 seien "faule H<strong>und</strong>e". 197 Wie kann man von einer Berufsgruppe Leistung <strong>und</strong><br />
Engagement erwarten, wenn man sie so gesellschaftlich, politisch <strong>und</strong> häufig auch<br />
administrativ diskriminiert <strong>und</strong> abwertet? Und wie sollen so kollektiv abqualifizierte<br />
Lehrer/innen ihr narzisstisches Selbstwertgefühl im Gleichgewicht halten? Über die<br />
Hälfte von ihnen fühlt sich nicht nur beruflich belastet oder überfordert, ein gutes<br />
Drittel von ihnen hat bereits resigniert - mit steigender Tendenz.<br />
Die 3. TIMMS (Third International Mathematics and Science Study)-Studie hatte<br />
schwerwiegende Mängel offen gelegt, weil deutsche Schulen neben<br />
Spitzenleistungen einen überproportional hohen Anteil "sehr leistungsschwacher"<br />
Schüler im Vergleich zu Nachbarländern aufgewiesen haben. 198 Dennoch vollzog sich<br />
erst im Zeichen des PISA-Schocks <strong>und</strong> des Lehrermangels ein Umdenken. So hat<br />
NRW-Schulministerin Ute Schäfer (SPD) jetzt eine Image-Kampagne für den<br />
Lehrerberuf gestartet. Referendare <strong>und</strong> Referendarinnen für Haupt-, Real- <strong>und</strong><br />
Berufsschulen erhalten Sondereinstellungstermine für den Vorbereitungsdienst.<br />
Die Realität sieht anders aus <strong>als</strong> die über Lehrer/innen verbreiteten Zerrbilder,<br />
wenngleich sie auch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Nur 9,4% der Lehrer/innen an<br />
allgemein bildenden Schulen halten bis zum 65. Lebensjahr <strong>als</strong> normalem<br />
Renteneintrittsalter durch. 36,2% gehen in den vorzeitigen Ruhestand, u. a. wegen<br />
Schwerbehinderung, aber 54,3% werden wegen Dienstunfähigkeit frühpensioniert. 199<br />
Darunter befinden sich zweifelsohne viele schwarze Schafe <strong>und</strong> auch "faule Säcke"<br />
(Gerhard Schröder). Sie missbrauchen ihren Beamtenstatus oder nutzen<br />
Sonderrechte des öffentlichen Dienstes aus, während die engagierten Lehrer/innen<br />
sich aufreiben, überfordern <strong>und</strong> so Opfer ihrer selbst werden. Leistung <strong>und</strong><br />
Motivation lohnen sich im deutschen Schulsystem meistens nicht <strong>und</strong> führen zum<br />
Burnout-Syndrom. Wer computergestützten Unterricht wagt, muss häufig befürchten,<br />
von den PC-Analphabeten, wenn sie im Kollegium in der Überzahl sind, gemobbt zu<br />
werden.<br />
Fast die Hälfte der deutschen Lehrer/innen ist um die 50 Jahre alt. Diese<br />
Überalterung bedeutet nicht, dass sie deshalb schlechter unterrichten <strong>als</strong> ihre<br />
jüngeren Kollegen/innen - obwohl ihnen dieses Vorurteil anhaftet. 200 Zutreffend ist<br />
197 Schröder in einem umstrittenen Interview mit der Schülerzeitung "Die Wühlmaus" des Zevener St.-<br />
Viti-Gymnasiums. Schröder korrigierte <strong>und</strong> entschuldigte sich später. Die Staatsanwaltschaft<br />
Verden/Aller hat das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt, da es sich um keinen strafrechtlichen<br />
Fall einer Beleidigung oder einer Volksverhetzung handele (Berliner Zeitung vom 16. Juni <strong>und</strong> 20. Juli<br />
1995). Zur Äußerung Oettingers vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. März 1999.<br />
198 Wilfried Bos <strong>und</strong> Jürgen Baumert: Internationale Schulleistungsforschung <strong>als</strong> Instrument externer<br />
Evaluation des Bildungswesens in <strong>Deutschland</strong> am Beispiel von TIMMS/III. In: Bernhard von<br />
Rosenbladt (Hrsg.): Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im<br />
Bildungssystem. Münster/München u.a. 1999. Seiten 63 - 92, zit. 89.<br />
199 Klassenkrampf. Warum Lehrer <strong>und</strong> Schüler versagen. In: Der Spiegel Nr. 46 vom 10. November<br />
2003. Seiten 46 - 68, zit. Zahlenangaben 47. Das durchschnittliche Pensionsalter liegt bei 59 Jahren.<br />
200 Stephan Lüke: Schulklima wichtiger <strong>als</strong> Lehrer-Alter. Fast die Hälfte aller Lehrer in Nordrhein-<br />
183
aber, dass ältere Lehrer/innen eher Frontalunterricht praktizieren <strong>als</strong> jüngere <strong>und</strong><br />
weniger aufgeschlossen sind für neue, offene oder alternative Lernmethoden. Wenn<br />
sie auch vornehmlich traditionell "lehren": Können sie deshalb nichts Neues "lernen"?<br />
Als ich einen Workshop über mein Projekt "<strong>Deutschland</strong>-Dokumentation" am 6./7.<br />
Juni 2002 vorbereitete <strong>und</strong> Lehrer/innen allgemein bildender Schulen in Bonn dazu<br />
einlud, hagelte es Absagen. Das hatte ich nicht erwartet. Ich bat Schulleiter/innen<br />
telefonisch um Unterstützung <strong>und</strong> stieß bei Gymnasien <strong>und</strong> Gesamtschulen auf<br />
offene Ohren, jedoch bei Re<strong>als</strong>chulen <strong>und</strong> vor allem Gr<strong>und</strong>schulen auf fre<strong>und</strong>liche,<br />
aber deutliche Vorbehalte gegenüber computergestütztem Unterricht. Ich nahm nach<br />
alten Teilnehmerlisten meiner Seminare mit ehemaligen Lehramtsstudierenden<br />
Kontakt auf: Sie waren zwar nicht arbeitslos, aber zwei von ihnen schon<br />
frühpensioniert. Andere jammerten über ihren beruflichen Stress <strong>und</strong> ihre<br />
Krankheiten. Und die restlichen fragten mich, ob sie auf dem Workshop etwas<br />
vortragen müssten, wenn sie teilnähmen, weil sie keine Zeit hätten, sich darauf<br />
vorzubereiten.<br />
Ich brachte am 6./7. Juni 2002 nach vielen Telefonaten zwar 38 Teilnehmer/innen<br />
zusammen, darunter engagierte Gymnasiallehrer/innen aus Bonn <strong>und</strong> Leipzig, aber<br />
die Real- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schullehrer/innen hatten abgesagt, oft in letzter Minute. Von den<br />
bei mir früher Studierenden kamen nur jene, die in die Schulaufsicht <strong>und</strong> in<br />
Schulbuchverlage gegangen waren, aber keine Lehrer/innen - trotz meines<br />
Angebots, die Reise- <strong>und</strong> Übernachtungskosten zu tragen.<br />
Offensichtlich stimmt die statistische Faustregel, die besagt, dass nur etwa 10 bis<br />
maximal 15% aller deutschen Lehrer/innen aufgeschlossen für Innovationen sind <strong>und</strong><br />
davon wiederum nur etwa die Hälfte auch tatsächlich fähig, sie von der Theorie in die<br />
Praxis umzusetzen. Diese 5 - 7% reduzieren sich nochm<strong>als</strong> auf jene wenigen<br />
Lehrer/innen, die bereit sind, sich außerhalb der Laufbahnregeln <strong>und</strong><br />
St<strong>und</strong>endeputate des öffentlichen Dienstes zu engagieren - <strong>als</strong> Realisten, Träumer<br />
<strong>und</strong> Utopisten zugleich. Es ist eine verschwindende Minderheit. Wo <strong>und</strong> wie sind<br />
einzelne Lehrer/innen in ihr zu finden?<br />
Könnte <strong>und</strong> müsste im Zeitalter des Internets nicht gelingen, neben deutschen auch<br />
ausländische Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen für <strong>Quellenarbeit</strong> zu gewinnen, damit sie<br />
internationalisiert wird? Dazu dienen die folgenden Aufrufe in den fünf Sprachen der<br />
Datenbank. Sie werden zugleich auf der Webseite der D-Dok. (www.d-dok.de)<br />
veröffentlicht.<br />
Ausländische Hilfe ist auch deshalb geboten, weil in <strong>Deutschland</strong> derzeit<br />
Historytainment <strong>und</strong> Politainment Hochkonjunktur haben, aber keine Geschichte <strong>und</strong><br />
politische Bildung. <strong>Quellenarbeit</strong>, wie sie hier vertreten wird, ist das Gegenteil von<br />
Westfalen hat ihren 50. Geburtstag hinter sich. In: General-Anzeiger vom 25. März 2004. Seite 5.<br />
184
Historytainment, das Geschichte mit Unterhaltung vermarktet, das Gegenteil von<br />
Politainment, das Politik multimedial inszeniert, <strong>und</strong> die D-Dok. ist das Gegenteil<br />
jener aufwändigen, populären „Dokumentationen“, die tagtäglich über die deutschen<br />
Bildschirme flimmern.<br />
Wenn Sie eine Sprache können, gleichgültig welche, die in den folgenden Aufrufen<br />
nicht berücksichtigt ist, dann bitte ich Sie, das deutschsprachige Original zu<br />
übersetzen, die Übersetzung mit Ihrem Namen, Land <strong>und</strong> Wohnort zu versehen <strong>und</strong><br />
<strong>als</strong> Dateianlage zu einer E-Mail an h.lehmann@uni-bonn.de zur Veröffentlichung auf<br />
der Webseite kostenlos freizugeben.<br />
7.2. Aufruf an Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland: Deutsch -<br />
Englisch - Französisch - Spanisch - Türkisch<br />
Deutsch (Originaltext)<br />
An Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im In- <strong>und</strong> Ausland<br />
Aufruf zur <strong>Quellenarbeit</strong><br />
Können Sie sich vorstellen, Ihren Unterrichtsstil <strong>und</strong> Ihre damit verb<strong>und</strong>enen Lern-<br />
<strong>und</strong> Lehrgewohnheiten quellenkritisch zu überprüfen, zu ändern <strong>und</strong> damit vielleicht<br />
auch sich selbst?<br />
Sind Sie neugierig <strong>und</strong> deshalb motiviert, weitgehend selbstbestimmt lebenslang <strong>und</strong><br />
neu zu lernen?<br />
Sind Sie bereit, die neuen Medien in Ihr <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> damit in Ihren Unterricht zu<br />
integrieren?<br />
Falls ja, dann könnten <strong>und</strong> sollten Sie <strong>Quellenarbeit</strong> in einem Ihrer Unterrichtsfächer<br />
erproben, evaluieren <strong>und</strong> daraus die emotionalen, logischen <strong>und</strong> praktischen<br />
Konsequenzen ziehen.<br />
Allume!<br />
Allumage prématuré?<br />
Allumage raté?<br />
Retard à l'allumage?<br />
Allumé?<br />
185
Englisch (Übersetzt von Berenike N. J. Oesterle, D-50939 Köln)<br />
To the Teachers in the Interior and Exterior<br />
Proclamation to Work with Source Material<br />
Can you imagine to change your way of teaching, your learning-methods and maybe<br />
even yourself by source material research?<br />
Are you curious and highly motivated to study your way a life long and by new<br />
means?<br />
Are you willing to incorporate the new media in your lessons?<br />
So you could and should make source material research part of one of your classes<br />
and draw the emotional, logic and practical conclusions based upon the learning<br />
experience.<br />
Allume!<br />
Allumage prématuré?<br />
Allumage raté?<br />
Retard à l’allumage?<br />
Allumé?<br />
Französisch (Übersetzt von Dr. Alexander Behrens, D-53175 Bonn)<br />
Aux instituteurs et institutrices<br />
en Allemagne et à l’étranger<br />
Proclamation pour l’étude des sources<br />
Pensez-vous de temps en temps à la possibilité de changer votre style<br />
d’enseignement ainsi que les habitudes qu’avez vous prises en tant qu’élève et<br />
instituteur? Pratiquez-vous dans ce contexte l’étude des sources? Pensez-vous de<br />
temps en temps à la possibilité de changer peut-être vous-même?<br />
Avez-vous assez de curiosité et de motivation pour apprendre pendant tout la vie et<br />
d’une façon indépendante et neuve?<br />
Est-ce que vous êtes prêt à intégrer les "nouveaux médias" dans vos méthodes<br />
d’apprendre et d’enseigner?<br />
186
Si la réponse est oui: éprouvez et évaluez les possibilités qui s’ouvrent à l’école par<br />
l’étude des sources. Il faut en tirer les conséquences logiques, émotionnelles et<br />
pratiques.<br />
Allume!<br />
Allumage prématuré?<br />
Allumage raté?<br />
Retard à l’allumage?<br />
Allumé?<br />
Spanisch (Übersetzt von Berenike N. J. Oesterle, D-50939 Köln)<br />
A los profesores y profesoras en el interior y el exterior<br />
Proclamación para trabajar con fuentes<br />
¿Pueden imaginarse cambiar su estilo de dar clases y através del estudio de las<br />
fuentes también examinar y modificar su hábito de aprender y enseñar y así talvez<br />
también su mismo?<br />
¿Están curiosos y por eso motivados a aprender autodeterminadamente y para toda<br />
su vida de una manera nueva?<br />
¿Están dispuestos de integrar los medios nuevos en su estilo de enseñar?<br />
Entonces podrían y deberían integrar el estudio de las fuentes en una de sus<br />
asignaturas y con respecto a los resultados sacar las consecuencias emocionales,<br />
lógicas y prácticas.<br />
Allume!<br />
Allumage prématuré?<br />
Allumage raté?<br />
Retard à l’allumage?<br />
Allumé?<br />
Türkisch (Übersetzt von Asiye Öztürk M. A., D-53121 Bonn)<br />
Yurtiçinde ve yurtdışındaki bütün öğretmenlere çağrı<br />
Tarihi kaynaklarımızla çalışalım!<br />
187
Ders verme şeklinizi ve buna bağlı olan öğrenme ve öğretme alışkanlığınızı gözden<br />
geçirip, onları ve muhtemelen kendinizi de değiştirmeyi düşünebilir misiniz?<br />
Meraklı, ve dolayısıyla özerk, sürekli ve yeniden öğrenmeye hazır mısınız?<br />
Yeni iletişim araçlarını öğrenmenize ve dersinize entegre etmeye hazır mısınız?<br />
Cevabınız evetse, tarihi kaynaklarla çalışmayı derslerinizde deneyebilir,<br />
değerlendirebilir ve ona göre mantıklı ve pratik sonuca varabilirsiniz!<br />
Allume!<br />
Allumage prématuré?<br />
Allumage raté?<br />
Retard à l'allumage?<br />
Allumé?<br />
7.3. Zwei Wege zur <strong>Quellenarbeit</strong>: Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong><br />
schulische Voraussetzungen<br />
Es gibt zwei Wege, <strong>Quellenarbeit</strong> in der Schule zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu erproben. Der<br />
erste, intellektuelle Weg erfordert Kopfarbeit, beschränkt sich somit auf<br />
fachwissenschaftliche <strong>und</strong> rationale Fähigkeiten (I. Stufe). Der zweite, steinige, meist<br />
schmerzliche Weg führt in die Tiefen des Selbst <strong>als</strong> Variable emotional-körperlicher<br />
Fähigkeiten (II. Stufe). Diese unterscheiden sich gr<strong>und</strong>legend vom Denken, hängen<br />
aber mit ihm zusammen; denn es wurzelt in frühkindlichen Gefühlen <strong>und</strong> entstammt<br />
somit dem "Bauch". Auch Kinder sind keine Kopfgeburten, sondern Bauchgeburten.<br />
Sie entstehen im Unterleib <strong>und</strong> kommen aus dem Unterleib.<br />
Nach dem mehrfach zitierten englischen Kinderpsychologen Winnicott, der neben<br />
René A. Spitz ("Vom Säugling zum Kleinkind", 1965) gr<strong>und</strong>legende Beiträge zur<br />
primären Sozialisation geliefert hat, ist es ebenfalls einem britischen Psychiater <strong>und</strong><br />
Verhaltensforscher gelungen, den Einfluss der Gefühle auf die Entwicklung des<br />
Gehirns <strong>und</strong> auf das menschliche Denken nachzuweisen: Hatte Peter Hobson<br />
(London) früher die These verfochten, dass Autismus stets auf angeborene<br />
genetische Defekte zurückzuführen sei <strong>und</strong> so Eltern autistischer Kinder einen<br />
Freispruch erster Klasse verschafft, so vertritt <strong>und</strong> belegt er jetzt, dass frühkindliche<br />
Vernachlässigung oder angeborene Blindheit Autismus hervorrufen können. Das<br />
Innenleben der Menschen, so Hobson, spiegelt wider, was sich zwischen ihnen vor<br />
allem vorsprachlich (präverbal) abgespielt hat <strong>und</strong> verinnerlicht (introjiziert) worden<br />
188
ist. Alles menschliches Denken wurzelt daher im frühkindlichen Austausch <strong>und</strong> seiner<br />
Umwelt. 201<br />
Nicht aus angeborenen, sondern aus nachgeburtlichen familiären Gründen sind viele<br />
Kinder in ihrem Selbst so geschädigt, dass sie später in der Schule stören, versagen,<br />
desinteressiert - kurzum nicht oder nur wenig lernfähig sind. Nach Susanne Gaschke<br />
brauchen Schulen infolgedessen zusätzlich zum Fachunterricht "mehr Menschen für<br />
die Menschen, die sie erziehen", <strong>und</strong> deshalb fordert sie, die Schule müsse "einen<br />
Familienersatz organisieren". 202<br />
Wenn Familie versagt, können sie Lehrer/innen jedoch nicht ersetzen. Als "fördernde<br />
Umwelt" (Winnicott) dagegen haben sie ex post begrenzte <strong>und</strong> ergänzende<br />
Möglichkeiten, Spiegelfunktionen auszuüben (2.9.). Diese sek<strong>und</strong>äre <strong>und</strong><br />
identitätsstiftende Sozialisation soll jedoch nicht die Eltern oder die Familie ersetzen<br />
<strong>und</strong> damit neue Abhängigkeiten schaffen, sondern sie abschaffen: durch das<br />
lebenslange, weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong>. Endziel ist daher, den Lehrer/die<br />
Lehrerin überflüssig zu machen. Sobald sie ihren Auftrag, zum selbstbestimmten<br />
<strong>Lernen</strong> anzuleiten <strong>und</strong> zu motivieren, erfüllt haben, werden sie nicht mehr benötigt.<br />
Wer selbstorganisiert lernt, braucht weder Lehrer/innen noch Belehrungen - sie sind<br />
überflüssig geworden.<br />
Welchen der beiden vorgeschlagenen Wege Sie auswählen, um <strong>Quellenarbeit</strong> zu<br />
erproben, hängt nicht nur subjektiv von Ihnen selbst ab, sondern auch von objektiven<br />
Gegebenheiten an Ihrer Schule. B<strong>und</strong>esbildungs- <strong>und</strong> -forschungsministerin<br />
Bulmahn, die nicht für Schulen zuständig ist, bemängelt rückblickend: "Wir haben<br />
jahrzehntelang minutiös die Rahmenbedingungen des <strong>Lernen</strong>s <strong>und</strong> Lehrens in<br />
unserem Land festgelegt. Wir haben Haushaltspläne aufgestellt <strong>und</strong> Mittel verteilt,<br />
Lehrpläne <strong>und</strong> Rahmenrichtlinien vorgegeben, Ausbildungsordnungen für Lehrer <strong>und</strong><br />
Prüfungsrichtlinien für Schüler entworfen." 203 Der von ihr befürwortete Wechsel von<br />
einer Input- zu einer Output-Steuerung erfordert, "unseren Schulen endlich mehr<br />
Selbständigkeit (zu) geben. Wir müssen weg von staatlicher Gängelung, weg von<br />
einer ungeheueren Zahl von Erlassen <strong>und</strong> Verordnungen. Der Staat muss die Ziele<br />
vorgeben, doch die Schulen müssen selbst entscheiden können, wie sie diese Ziele<br />
erreichen." 204 Dies ist leicht gesagt, doch schwer umzusetzen. Außer in Diktaturen<br />
201 Peter Hobson: Wie wir denken lernen. Gehirnentwicklung <strong>und</strong> die Rolle der Gefühle.<br />
Düsseldorf/Zürich 2003. Vgl. auch die von Hobson mitverfassten Artikel: Individual Differences in<br />
Young Children's IQ: A Social-developmental Perspective; Imitation and Identification in Autism. In:<br />
Journal of Child Psychology & Psychiatry 40, 1999, Seiten 455 - 464 <strong>und</strong> 649 - 659. Siehe dazu auch<br />
die Trilogie von Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen;<br />
Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre; Die emotionale Welt des Kindes.<br />
Frankfurt a. M. 1999 - 2001.<br />
202 Susanne Gaschke: Die Keller-Kinder. Pflegefall Familie. In: DIE ZEIT vom 1. April 2004. Seite 1.<br />
203 B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn am 18. Februar 2003 über nationale Bildungsstandards <strong>als</strong> Teil eines<br />
umfassenden Qualitätsmanagementsystems für die Schulen: www. bmbf.de/pub/mr-20030218.pdf.<br />
204 Bulmahn am 13. Dezember 2002: Fördern <strong>und</strong> Fordern - Perspektiven für das deutsche<br />
189
<strong>und</strong> autoritären Regierungssystemen gab <strong>und</strong> gibt es bisher weltweit keine staatliche<br />
Bürokratie, die Lehrer/innen stärker geknebelt, bevorm<strong>und</strong>et oder gegängelt hat <strong>als</strong><br />
die deutsche. 205 Jetzt sollen sie aus der ihnen aufoktroyierten Unmündigkeit<br />
entlassen <strong>und</strong> selbstständig werden, sich an den geplanten nationalen<br />
Bildungsstandards orientieren <strong>und</strong> neue Lehr- <strong>und</strong> Lernformen entwickeln, sie auch<br />
evaluieren.<br />
Solange an Ihrer Schule Lehrpläne <strong>und</strong> Richtlinien Ihren Unterricht bevorm<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> die Schulaufsicht darüber mit Argusaugen wacht, ist das weitgehend<br />
selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> mit <strong>und</strong> an Quellen aussichtslos, weil unmöglich.<br />
Ausnahmen bestätigen diese Regel: Wenn Ihr Schulleiter bzw. Ihre Schulleiterin <strong>und</strong><br />
die Schulkonferenz Ihnen Freiräume gewähren, Unterricht offen oder frei zu<br />
gestalten (3.6.). Oder die neuen Bildungsstandards treten in Kraft, die sich darauf<br />
beschränken, fachspezifische Kompetenzen einzuführen, die mindestens vermittelt<br />
werden müssen.<br />
Ist Ihre Schule oder sind Sie selbst von Schulbüchern abhängig? Deutsche<br />
Schulbuchverlage sind häufig die Kammerdiener der Schulaufsicht. Obwohl<br />
unabhängig <strong>und</strong> finanziell gut ausgestattet, setzen sie beflissen um, was ihnen die<br />
Bildungsbürokratie vorschreibt <strong>und</strong> ihnen dann auch "genehmigt". So preist der Klett-<br />
Verlag Schulbücher in Geschichte <strong>und</strong> Politik damit an, Lehrpläne der Länder<br />
"konsequent" umzusetzen, sie speziell für sie zu entwickeln oder sie ihnen<br />
anzupassen. 206 Klett. Ich weiß, es geht auch um Geld, Umsatz <strong>und</strong> den Kotau. Aber<br />
ich weiß nicht, ob Klett weiß, dass dieser vorauseilende Gehorsam <strong>und</strong> seine<br />
einträgliche Ehrerbietung nach oben auch viele Impulse von unten, anders <strong>und</strong><br />
individuell zu unterrichten, im Keime erstickt, auch wenig dazu beiträgt, dass<br />
<strong>Lernen</strong>de sich kreativ entfalten können.<br />
Der Cornelsen-Verlag fährt mit einem aufwändigen Edutainment-Sprachprogramm<br />
Schüler/innen durch britische Landschaften — ein teurer Spaß für 74,95 Euro. 207 Die<br />
CD-ROM begleitet das Englischbuch "G 2000" für die fünfte bis zehnte Klassenstufe,<br />
Bildungswesen: www.bmbf.de/pub/mr-20021213.pdf.<br />
205 In den deutschen Ländern gibt es darüber hinaus ein Durcheinander von Lehr- <strong>und</strong> Rahmenplänen<br />
sowie von Schulstrukturen, so dass man von einem deutschen Schulsystem <strong>und</strong> der Wahrung<br />
einheitlicher Bildungs- <strong>und</strong> Lebensverhältnisse in <strong>Deutschland</strong> nicht mehr sprechen kann. Vgl.<br />
Bildungsbericht für <strong>Deutschland</strong>: Erste Bef<strong>und</strong>e (Zusammenfassung). Federführung: Deutsches<br />
Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Frankfurt a. M./Berlin 2003. Seiten 4f.<br />
206 "Erinnern <strong>und</strong> Urteilen" setzt den "bayrischen Lehrplan konsequent um"; "Geschichte <strong>und</strong><br />
Geschehen" wurde speziell für einen neuen, bald überflüssigen Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe<br />
in Baden-Württemberg entwickelt; die neu bearbeitete Reihe "Sozialwissenschaften für die<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe II" folgt Lehrplan <strong>und</strong> Richtlinien für Nordrhein-Westfalen. Erfreulicherweise bietet der<br />
Klett-Verlag auch Quellenhefte (Quellen zur Geschichte <strong>und</strong> Politik), Übungs- <strong>und</strong> Arbeitsmaterialien,<br />
Lesebücher, Wandkarten, audiovisuelle Medien <strong>und</strong> narrative Zugänge zum Geschichtsunterricht an,<br />
die b<strong>und</strong>esweit sehr gute Unterrichtshilfen für Geschichte <strong>und</strong> Politik bieten.<br />
207 English Coach 2000 (Klasse 5-10) zum Lehrwerk English G 2000. CD-ROM WIN 95.<br />
190
jeder Ort bezieht sich inhaltlich direkt auf ein Kapitel im Schulbuch. Schulbuchverlage<br />
wollen so offensichtlich Schulbücher in das Informationszeitalter hinüberretten. Ob<br />
dies gelingt, bleibt abzuwarten. Denn Schulbücher, die "fertiges Wissen" nach<br />
Lehrplänen <strong>und</strong> Richtlinien liefern, sind nicht nur teuer, altmodisch <strong>und</strong> schon<br />
veraltet, wenn sie erscheinen, sie werden auch dann überflüssig, wenn Lehrer/innen<br />
<strong>und</strong> Schüler/innen frei sind, sich ihre Lernziele <strong>und</strong> Lerninhalte selbst zu setzen, ihre<br />
Arbeits- <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enblätter selbst zu entwerfen. Die althergebrachten Schulbücher<br />
haben dann ausgedient - nicht aber analoge <strong>und</strong> digitale Lernbücher, die Material-<br />
<strong>und</strong> Aufgabensammlungen, Lernhilfen, interaktive fehlerspezifische Rückmeldungen<br />
zum selbstständigen Üben u.a. bieten. Schulbücher, die "fertige" Meinungen<br />
verbreiten, werden so nicht abgeschafft, sie werden überflüssig.<br />
7.4. Ausstieg <strong>und</strong> Neueinstieg: Ein Alptraum oder ein archaischer Traum<br />
von großer Magie?<br />
Der zweite Weg wurzelt in den Tiefen des körperlich-emotionalen Selbst. Allerdings<br />
konfrontiert Sie dies mit den Blockaden Ihrer Seele, mit Ihren Ängsten, Abgründen,<br />
vielleicht sogar schwarzen Löchern (1.4.). Deshalb ist dieser Weg am Anfang<br />
schwer, auch riskant. Doch nur er befähigt zu einem wirklichen Neuanfang: aus der<br />
Schule auszusteigen, um neu in sie einzusteigen.<br />
Der Geschichtsdidaktiker Schulz-Hageleit hat den "Mangel an produktiver<br />
Freiheitserfahrung" offen gelegt, an dem alle guten Vorschläge, Pläne <strong>und</strong><br />
Programme bisher gescheitert sind, Schule tatsächlich zu verändern: "Wenn wir die<br />
gewohnten Bahnen der Chronologie <strong>und</strong> des Frontalunterrichts verlassen, werden<br />
Ängste ausgelöst. Diese Ängste müssen aufgenommen <strong>und</strong> bearbeitet werden,<br />
andernfalls wird es nie eine wirkliche Änderung geben." 208 Schulz-Hageleit ist, soweit<br />
ersichtlich, der einzige Didaktiker, der damit bewusst Konflikte aufdeckt, die andere<br />
unbewusst zudecken oder schönreden - mit immer wieder neuen, jedoch alten,<br />
längst gescheiterten Vorschlägen, Bildung <strong>und</strong> Schule in <strong>Deutschland</strong> zu<br />
reformieren. Frontalunterricht ist zwar seit langem verpönt, aufreibend, kräftezehrend<br />
<strong>und</strong> ineffizient — er gewährt aber auch Sicherheit <strong>und</strong> Schutz: Wer vorn im<br />
Mittelpunkt steht <strong>und</strong> belehrt, bestimmt <strong>und</strong> entscheidet allein darüber, was, wie <strong>und</strong><br />
warum - meist unreflektiert - gelehrt wird, kann sich auch darauf vorbereiten.<br />
Vom Baum der Erkenntnis nicht nur in der Evaluation, sondern auch in der<br />
EVAluation gegessen <strong>und</strong> deshalb seine "Unschuld" verloren hat der Schweizer<br />
208 Peter Schulz-Hageleit: Geschichtsdidaktik <strong>und</strong> Psychoanalyse oder Mea Res Agitur? In: Hans<br />
Georg Kirchhoff: Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Bochum 1986. Seiten 147 - 174, zit. 153.<br />
Schulz-Hageleit weist auch auf "Berührungszonen zwischen Geschichte <strong>und</strong> Lebensgeschichte" hin<br />
(Seite 156).<br />
191
Strittmatter. Er listet fünf zentrale Ängste auf, die in der Evaluation <strong>und</strong> bei der<br />
EVAluation entstehen: 1. Ängste vor narzisstischen Kränkungen; 2. Ängste andere<br />
narzisstisch zu kränken; 3. Ängste vor Urteilen <strong>und</strong> Unsicherheiten; 4. Ängste vor der<br />
Unberechenbarkeit kollegialen Verhaltens <strong>und</strong> nicht zuletzt 5. Ängste vor der<br />
Unberechenbarkeit von Behörden. 209<br />
Aus persönlichen, nicht vorrangig schulischen Gründen ist vorher zu prüfen, wo<br />
emotionale Grenzen liegen: Schranken, Blockaden, Sperren, die Sie nicht<br />
überschreiten dürfen, ohne Ihr narzisstisches Gleichgewicht zu gefährden oder gar<br />
zu verlieren. Dies lässt sich in der Entspannung (z.B. auch in der Meditation, nach<br />
Yoga-Übungen, während des Autogenen Trainings ) klären, indem Sie sich<br />
angsterzeugende Vorstellungen eingeben:<br />
Sie gehen unvorbereitet in Ihre Klasse?<br />
Sie stehen vorn, wissen nicht, was Sie erwartet?<br />
Informationen verunsichern, überfordern, überfluten Sie?<br />
Schwimmen Sie?<br />
Drohen Sie zu ertrinken?<br />
Ihre Schüler/innen starren Sie an?<br />
Sie wirken hilflos <strong>und</strong> inkompetent?<br />
Was passiert jetzt?<br />
Stockt der Atem?<br />
Bricht der Angstschweiß aus?<br />
Verlieren Sie den Halt?<br />
Flüchten Sie oder halten Sie stand?<br />
Werden Sie erregt, hektisch, aggressiv, panisch, beginnen zu stottern?<br />
Schämen Sie sich, fühlen Sie sich bloßgestellt, blamiert, exhibitioniert?<br />
Oder behalten Sie einen kühlen Kopf?<br />
Wird Ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen?<br />
Drohen Ohnmacht, Selbstfraktionierung, Depersonalisation <strong>und</strong> Selbstverlust?<br />
Es ist kein Alptraum, dem Sie sich in der Entspannung ausgeliefert haben. Er kann<br />
die Realität werden, die Sie erleben, wenn Sie mit dem Internet oder mit Quellen in<br />
der Schule arbeiten.<br />
Es könnte aber auch ein Traum von großer Magie sein. Die Phantasien, die Sie dann<br />
überwältigen, machen Sie allmächtig, grenzenlos, unwiderstehlich, schwerelos,<br />
einzigartig, zeitlos, unendlich. Es ist ein "ozeanisches Gefühl" (Freud), ein<br />
archaischer Traum, keine irdische Wirklichkeit. Und doch verändert er die Realität tief<br />
209 Anton Strittmatter: "Wer in den Apfel der EVAluation beißt, verliert seine Unschuld." Über Ängste<br />
bei der Einführung von Selbstevaluation. In: Der Blick in den Spiegel. Herausgegeben von Edwin<br />
Radnitzky <strong>und</strong> Michael Schratz. Innsbruck/Wien/München 1999. Seiten 281-284.<br />
192
greifend, weil sie ihm nicht standhalten kann. Er löst sie auf - wie im Gedicht Hugo<br />
von Hofmannsth<strong>als</strong>: 210<br />
Vom dünnen Quellenwasser aber fingen<br />
Sich riesige Opale in den Händen<br />
Und fielen tönend wieder ab in Ringen.<br />
Dann warf er sich mit leichtem Schwung der Lenden —<br />
Wie nur aus Stolz — der nächsten Klippe zu;<br />
An ihm sah ich die Macht der Schwere enden.<br />
In seinen Augen aber war die Ruh<br />
Von schlafend- doch lebendgen Edelsteinen.<br />
Er setzte sich <strong>und</strong> sprach ein solches Du<br />
Zu Tagen, die uns ganz vergangen scheinen,<br />
Daß sie herkamen trauervoll <strong>und</strong> groß:<br />
Das freute ihn zu lachen <strong>und</strong> zu weinen.<br />
Er fühlte traumhaft aller Menschen Los,<br />
So wie er seine eignen Glieder fühlte.<br />
Ihm war nichts nah <strong>und</strong> fern, nichts klein <strong>und</strong> groß.<br />
Und wie tief unten sich die Erde kühlte,<br />
Das Dunkel aus den Tiefen aufwärts drang,<br />
Die Nacht das Laue aus den Wipfeln wühlte,<br />
Genoß er allen Lebens großen Gang<br />
So sehr — daß er in großer Trunkenheit<br />
So wie ein Löwe über Klippen sprang.<br />
Cherub <strong>und</strong> hoher Herr ist unser Geist —<br />
Wohnt nicht in uns, <strong>und</strong> in die obern Sterne<br />
Setzt er den Stuhl <strong>und</strong> läßt uns viel verwaist:<br />
Doch Er ist Feuer uns im tiefsten Kerne<br />
— So ahnte mir, da ich den Traum da fand —<br />
Und redet mit den Feuern jener Ferne<br />
Und lebt in mir wie ich in meiner Hand.<br />
210<br />
Hugo von Hofmannsthal: Gedichte <strong>und</strong> kleine Dramen. Frankfurt a. M. 1977. Seiten 23f. (Ein<br />
Traum von großer Magie, Auszug).<br />
193
Brennt Ihre Schule?<br />
Sonst reden Sie mit dem Feuer <strong>und</strong> zünden Sie sie - im Traum - jetzt an!<br />
Brennt sie bis auf die Gr<strong>und</strong>mauern nieder?<br />
Oder noch besser: Sie liegt in Schutt <strong>und</strong> Asche?<br />
Dann ist Ihr archaischer Traum zu Ende <strong>und</strong> Ihre Realität beginnt: Ihre alte Schule<br />
steht unverändert wie gewohnt. Aber Sie selbst haben sich unsichtbar geändert. Aus<br />
Ihrer alten Schule sind Sie ausgestiegen <strong>und</strong> steigen jetzt in eine neue Schule ein.<br />
Sie wird nicht wieder zu erkennen sein zu Tagen, die fort sind - "für immer fort, <strong>und</strong><br />
ganz vergangen".<br />
Ihre Schule hat im Traum nicht gebrannt?<br />
Nicht brennen wollen?<br />
Obwohl Sie selbst Hand angelegt <strong>und</strong> Feuer gelegt haben?<br />
Oder haben Sie im Traum nicht daran gedacht?<br />
Vielleicht nur gezündelt?<br />
Mit dem Feuer gespielt?<br />
Das Feuer sogar gelöscht?<br />
So dass nicht Ihre Schule ab- <strong>und</strong> ausgebrannt ist, sondern Sie selbst ab- <strong>und</strong><br />
ausgebrannt sind - burnout?<br />
Dann ist nicht nur der Traum für immer zu Ende, sondern auch Ihr Feuer?<br />
Der Ofen ist aus?<br />
Es beginnt Ihr Alptraum, der kein Traum, sondern Ihre Realität in der Schule<br />
ist?<br />
Jeder Tag, jede St<strong>und</strong>e eine Qual, eine Schinderei, eine Pein?<br />
Wie lange halten Sie noch durch?<br />
Sie sind nur erschöpft, Ihre Brennvorräte noch nicht verbraucht?<br />
Oder sind Sie "fertig", am Ende?<br />
Und machen oder müssen trotzdem weitermachen?<br />
Das Geld?<br />
Ihre Familie?<br />
Ihre Versorgung? Die Pension?<br />
Ihre Kinder?<br />
Versagensgefühle?<br />
Ihre Kollegen <strong>und</strong> Kolleginnen, die Sie, wenn Sie ausfallen, vertreten - müssen?<br />
Ihre Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen, die Sie mit Ihrem Gequassel langweilen oder<br />
nerven?<br />
Ihre Krankheiten?<br />
Dienstunfähigkeit?<br />
Die Schulaufsicht?<br />
Das Ges<strong>und</strong>heitsamt? Der Amtsarzt?<br />
Ein weißer Zwerg - nur noch eine Fassade?<br />
Ein toter Stern - bereits kollabiert?<br />
194
Oder ein schwarzes Loch?<br />
Sie verschlingen <strong>und</strong> vernichten alle Energien in Ihrer Umgebung (1.3., 1.4.)<br />
<strong>und</strong> ruinieren Ihre Schule?<br />
7.5. Primarbereich: Gr<strong>und</strong>schule <strong>als</strong> wichtigste Schule, insbesondere<br />
Theorie <strong>und</strong> Praxis des Peschel-Unterrichts <strong>und</strong> der<br />
Ganztagsgr<strong>und</strong>schule nach B<strong>und</strong>esministerin Bulmahn<br />
Die wichtigste Schule für die D-Dok. ist die Gr<strong>und</strong>schule oder noch besser, die seit<br />
September 2003 neu eingeführte fakultative offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schule. Anders <strong>als</strong><br />
ich vertreten dagegen meine Mitarbeiter/innen an der Universität Bonn die<br />
Auffassung, dass die Datenbank frühestens im Sek<strong>und</strong>arbereich I verwendet werden<br />
kann, besser noch erst im Sek<strong>und</strong>arbereich II an Gymnasien in den Leistungskursen<br />
sowie danach an den Universitäten in den geistes- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen<br />
Studiengängen. Auch meine Frau, die Re<strong>als</strong>chullehrerin ist, hält für "völlig<br />
ausgeschlossen", die D-Dok. im Primarbereich irgendwie zu nutzen.<br />
Ich bleibe vorerst bei meiner These, solange sie nicht widerlegt ist: dass die<br />
Datenbank nur dann das Schulwesen verändern kann, wenn es gelingt, sie von<br />
Anfang an bereits in der Gr<strong>und</strong>schule zu verankern; falls dies misslingt, wird die D-<br />
Dok. wenig bewirken - wie so viele andere digitale Arbeits- <strong>und</strong> Lernhilfen, die sich<br />
anpreisen, aber im Endergebnis nur werbewirksame Versprechungen gemacht<br />
haben, ohne sie einzulösen. 211<br />
Die Gr<strong>und</strong>schule ist die einzige Schule, die alle schulpflichtigen Kinder erfasst statt<br />
auszusortieren — nach Leistungen, Fähigkeiten, Begabungen, nach dem sozialen<br />
Status, nach Wünschen oder Einflussnahmen von Familien oder Lehrenden. Neben<br />
dem Elternhaus ist daher die Gr<strong>und</strong>schule die wichtigste Lebens- <strong>und</strong> Lernstätte für<br />
alle Kinder ab in der Regel sechs Jahren. Sie ist darüber hinaus die einzige<br />
schulische Schnittstelle, die den frühesten Zugang zu ihren Quellen ermöglicht — an<br />
<strong>und</strong> mit ihnen, wie das Konzept der <strong>Quellenarbeit</strong> lautet.<br />
Der Troisdorfer Lehrer Falko Peschel hat vier Jahre lang eine Klasse mit "Offenem<br />
Unterricht" durch ihre Gr<strong>und</strong>schulzeit begleitet, ohne sie zu "belehren" oder über sie<br />
211 Vgl. dazu Jörg Becker: Neue Medien <strong>und</strong> Internet. Herausforderungen an die Pädagogik. In: Aus<br />
Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 50/2001. Seiten 23 - 30, zit. 23: "Stets <strong>und</strong> ständig wurde bei der<br />
Einführung jedes neuen Mediums argumentiert, dass nun die gesamte Erziehung revolutioniert werde,<br />
dass Erziehung ohne dieses neue Medium nicht mehr denkbar sei, dass die Schule gefordert sei, auf<br />
diesem Gebiet technisch <strong>und</strong> didaktisch auf- <strong>und</strong> nachzuholen - kurz, dass zur jeweils neuen Moderne<br />
dieses ebenfalls neue Medium einfach dazugehöre." Mit Recht fragt Becker danach, ob Internet auch<br />
menschliche Gr<strong>und</strong>bedürfnisse nichtmaterieller Art befriedige <strong>und</strong> ob es dazu beitrage, Identität oder<br />
Autonomie zu bewahren oder wiederzugewinnen (Seite 29).<br />
195
zu bestimmen. Der Verzicht auf einen lehrer- oder materialorientierten Unterricht<br />
gewährte den Gr<strong>und</strong>schulkindern inhaltliche <strong>und</strong> methodische Freiheiten, so dass sie<br />
ihre Lernthemen <strong>und</strong> ihre Lernwege selbst, nicht nur virtuell auswählen konnten. Er<br />
führte zu hohen, effektiven Leistungen, die offenbar auch Peschel selbst verblüfft<br />
haben.<br />
Peschel hat nicht nur ein theoretisch f<strong>und</strong>iertes, sondern zugleich auch ein<br />
praxisorientiertes Konzept vorgelegt. Lehrer/innen sind dabei Partner von Kindern,<br />
aber nicht ihre Vorgesetzten. Nach einer Bestandsaufnahme setzt er sich kritisch mit<br />
modernen Unterrichtsformen (wie z. B. Freie Arbeit, Wochenplan-, Stations-,<br />
Werkstatt- <strong>und</strong> Projektunterricht) auseinander <strong>und</strong> konkretisiert seine<br />
fachdidaktischen Vorschläge am Beispiel des Sprach-, Mathematik- <strong>und</strong><br />
Sachunterrichts in der Gr<strong>und</strong>schule. 212<br />
Ob <strong>und</strong> inwieweit die theoretischen Prämissen Peschels dem konkreten "Offenen<br />
Unterricht" entsprechen, ob Anspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit übereinstimmen, vermag ich<br />
nicht zu beurteilen, da mir hierfür die "Quellen" <strong>und</strong> die praktische Kompetenz fehlen.<br />
Gr<strong>und</strong>schullehrer <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schullehrerinnen, mit denen ich darüber gesprochen<br />
habe, haben wiederholt Zweifel am Peschel-Unterricht angemeldet <strong>und</strong> ihn <strong>als</strong><br />
theoretische Fiktion bemängelt, die mit der Wirklichkeit an Gr<strong>und</strong>schulen wenig oder<br />
nichts zu tun habe. Zwar kann ich mich dazu nicht äußern, bekenne jedoch, dass<br />
Peschels angeblich "praxiserprobtes Konzept" des Offenen Unterrichts sich gut mit<br />
der noch nicht praxiserprobten <strong>Quellenarbeit</strong> an Gr<strong>und</strong>schulen verknüpfen ließe <strong>und</strong><br />
so beide Konzepte mit- <strong>und</strong> voneinander lernen könnten.<br />
Besonderheiten gelten für die neuen Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen. B<strong>und</strong>esbildungsministerin<br />
Bulmahn hat sie am 8. September 2003 auf der "Startkonferenz zum<br />
Investitionsprogramm" in Berlin <strong>als</strong> "das größte b<strong>und</strong>esweite Schulprogramm, dass<br />
es in <strong>Deutschland</strong> je gegeben hat", vorgestellt <strong>und</strong> so charakterisiert:<br />
"An Ganztagsschulen ist mehr Zeit. Mit Ganztagsschulen können wir Ernst machen<br />
mit einer Pädagogik der Vielfalt, die das einzelne Kind mit seinen Stärken <strong>und</strong><br />
Schwächen in den Mittelpunkt stellt. Also keine Einrichtungen, wo Kinder aufbewahrt<br />
werden, sondern Schulen, wo Kinder mit Freude <strong>und</strong> Neugier lernen. Wo ihr<br />
Wissensdurst geweckt <strong>und</strong> am Leben erhalten wird. Natürlich darf die<br />
Ganztagsschule deshalb nicht einfach eine Verlängerung der üblichen Schule von<br />
fünf auf acht St<strong>und</strong>en sein. Individuelle Förderung braucht eben nicht nur einen<br />
212 Vgl. Falko Peschel: Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive <strong>und</strong> ein praxiserprobtes<br />
Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische<br />
Überlegungen. Baltmannsweiler 2002; Ders.: Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive <strong>und</strong> ein<br />
praxiserprobtes Konzept in der Evaluation. Baltmannsweiler 2003; Ders.: Hohe Fachleistungen ohne<br />
Belehrung. Ein radikales Konzept offenen Unterrichts in der Evaluation. In: Angelika Speck-<br />
Hamdan/Hans Brügelmann/Maria Fölling-Albers/Sigrun Richter (Hg.): Jahrbuch Gr<strong>und</strong>schule 4, 2003,<br />
Seiten 143-148.<br />
196
anderen Zeitrahmen, sondern erfordert auch eine andere Organisation des<br />
Unterrichts.<br />
Ganztagsschulen geben den notwendigen Freiraum für neue Unterrichtsmethoden.<br />
Sie schaffen wichtige Voraussetzungen für ein besseres <strong>Lernen</strong>. Wir müssen endlich<br />
Abschied nehmen vom <strong>Lernen</strong> im verordneten Gleichschritt, wir müssen weg vom<br />
starren 45-Minuten-Takt, weg von der alten St<strong>und</strong>enplanwirtschaft. Die<br />
Ganztagsschule ist dafür genau der richtige Ort. Hier können sich Phasen des<br />
<strong>Lernen</strong>s im Unterricht <strong>und</strong> St<strong>und</strong>en für Spiel <strong>und</strong> Freizeit ergänzen. Hier stehen<br />
Gruppenarbeit <strong>und</strong> Einzelarbeit nicht einfach unverb<strong>und</strong>en nebeneinander, sondern<br />
ergänzen sich.<br />
In unseren Kindern stecken unzählige Talente. Wir wollen die Kinder fördern <strong>und</strong><br />
ihnen die Chance geben, ihre Talente zu entdecken! In Ganztagsschulen haben<br />
Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mehr Zeit, um sich selbst <strong>neues</strong> Wissen zu erschließen <strong>und</strong><br />
das Erlernte aktiv <strong>und</strong> praktischhandelnd anzuwenden. Im Chemielabor, im<br />
Schulgarten oder in der Theater-AG, die in eigener Regie Shakespeares<br />
Sommernachtstraum aufführt. Das hilft nicht nur denen, die mit bestimmten<br />
Lerninhalten Schwierigkeiten haben, das nutzt auch den Leistungsstärkeren, die ihr<br />
Wissen einsetzen <strong>und</strong> deshalb auch weiter entwickeln können.<br />
Wer gelernt hat, sich auszutauschen <strong>und</strong> mit anderen zusammenzuarbeiten, der lernt<br />
auf ganz konkrete Weise, was es heißt, Verantwortung für sich selbst, aber auch für<br />
andere zu übernehmen. Die Ganztagsschule kann ein Rahmen sein für eigene Ideen<br />
<strong>und</strong> individuelle Interessen, für Sport <strong>und</strong> Musik, für den Umgang mit den neuen<br />
Medien in der PC-Werkstatt genauso wie für das Mitwirken an einem<br />
Naturschutzprojekt in der nahen Umgebung. Dafür muss sich die Ganztagsschule<br />
nach außen öffnen. Sie muss Sportvereinen, Musikschulen oder Elterninitiativen die<br />
Möglichkeit geben, an der Gestaltung der Schule mitzuwirken.<br />
Schulen müssen mitten im Leben stehen <strong>und</strong> in ihrem Umfeld starke Partnerschaften<br />
aufbauen. Alles andere entspricht längst nicht mehr den Anforderungen unserer<br />
Gesellschaft. Schulen müssen über ihr Schulprogramm, ihr pädagogisches Konzept<br />
oder ihre finanziellen Mittel selbst entscheiden können. Sie müssen das Recht<br />
haben, selbst zu entscheiden, mit welchen Partnern sie zusammenarbeiten wollen.<br />
Wir müssen die Schulen in die Selbständigkeit entlassen!" 213<br />
Wenn diese Zielvorstellungen nicht Wunschdenken bleiben, sondern tatsächlich<br />
umgesetzt werden sollten, dann markieren sie keinen Wandel, sondern den Bruch<br />
mit dem bisher von oben reglementierten <strong>und</strong> bevorm<strong>und</strong>eten staatlichen<br />
Schulwesen vor <strong>und</strong> seit 1945 in <strong>Deutschland</strong>. So beeindruckend das Konzept der<br />
213 Bulletin (Presse- <strong>und</strong> Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung) Nr. 69 vom 8. September 2003.<br />
Dokument Nr. 69-2 (Online-Version, auch in der Dokumentation).<br />
197
Ganztagsschule ist, die auch auf die Sek<strong>und</strong>arbereiche I <strong>und</strong> II ausgedehnt werden<br />
soll: Zweifel sind vorerst aus mehreren Gründen angebracht, ob es gelingt, Theorie<br />
<strong>und</strong> Praxis miteinander in Einklang zu bringen:<br />
-1. Die B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> mit ihr Edelgard Bulmahn sind nicht für das Schulwesen<br />
zuständig, sie zahlen aber − das Investitionsprogramm, das mit den B<strong>und</strong>esländern<br />
abgesprochen ist, beläuft sich auf insgesamt vier Milliarden Euro;<br />
-2. Manche Kultusminister/innen bzw. Senator/innen in den B<strong>und</strong>esländern haben<br />
noch nicht begriffen, was die St<strong>und</strong>e geschlagen hat: dass es vorrangig darum geht,<br />
die ohnehin knappen staatlichen Ressourcen dort gezielt einzusetzen, wo sie am<br />
meisten nützen − in die frühestmögliche, individuelle Förderung von Kindern; denn<br />
sie sind in einem so rohstoffarmen Land das höchste Gut, das <strong>Deutschland</strong> zu bieten<br />
hat, wenn es nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft haben will; 214<br />
-3. Die von B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Landesregierungen bislang eingeleiteten <strong>und</strong><br />
versprochenen Bildungsreformen, darunter der sozialliberalen Koalition seit 1969<br />
(Chancengleichheit, Gesamtschule versus dreigliedrigem Schulsystem, Brandt:<br />
"Bildungschancen für alle"), haben nur zu politisch oder parteipolitisch motivierten<br />
schulorganisatorischen <strong>und</strong> Lehrplan-Änderungen geführt, aber zu keinem fachlichinhaltlichen<br />
oder pädagogisch-didaktischen Kurswechsel. Die Folgen: Es gibt heute<br />
kein deutsches Schulsystem, sondern nur ein Durcheinander in ihm, <strong>und</strong> in keinem<br />
anderen vergleichbaren Land entscheidet der soziale Status so vorrangig über den<br />
Bildungserfolg (1.6.);<br />
-4. Abzuwarten bleibt, ob es der für <strong>Deutschland</strong> charakteristischen<br />
Bildungsbürokratie/Schulaufsicht gelingt, Terrain <strong>und</strong> Zeit zurück zu gewinnen: durch<br />
Kommissionen, Berichte, Expertenbefragungen, interne <strong>und</strong> externe Gutachten,<br />
Erlasse, Verordnungen, "Inspektoren", reglementierte Evaluierungen. Dann dürfte es<br />
letztendlich wie bisher weitgehend beim Alten bleiben − von der doppelten Zeche<br />
214 In NRW sind im November 2003 schon 235 offene Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen an den Start gegangen;<br />
allerdings überwertet Schulministerin Ute Schäfer (SPD) m. E. die Zielsetzung, "die Vereinbarkeit von<br />
Familie <strong>und</strong> Beruf zu verbessern <strong>und</strong> gleichzeitig für Kinder ein attraktives Angebot in den Schulen<br />
einzurichten, mit dem ihre Fähigkeiten besser entwickelt <strong>und</strong> gefördert werden können". (GA-Interview<br />
im General-Anzeiger vom 7. November 2003. Seite 5.) Ihre Kollegin Doris Ahnen (SPD), seit Januar<br />
2004 KMK-Vorsitzende, sieht dagegen das "Geheimnis des Erfolges" der Ganztagsschulen in<br />
Rheinland-Pfalz in ihrer "Freiheit" <strong>und</strong> "Selbstständigkeit", die zugleich auch vergleichbare Standards<br />
<strong>und</strong> regelmäßige Überprüfung erfordern; vgl. GA-Interview vom 9. Januar 2004. Seite 3. Stephan<br />
Lüke: Die Ganztagsschule trägt ihre Handschrift; "In 20 Jahren ist die Ganztagsschule die Regel". In:<br />
General-Anzeiger vom 3./4. Januar <strong>und</strong> vom 9. Februar 2004. Jeweils Seite 5.<br />
Anfang September 2004 gibt es in NRW 641 Ganztagsschulen <strong>und</strong> dazu 703 mit Ganztagsangeboten;<br />
vgl. dazu <strong>und</strong> die Übersicht über die einzelnen B<strong>und</strong>esländer in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 16. September<br />
2004. Seite 83 (Jan Friedmann: Ganz ist nicht genug. Vor zwei Jahren startete die B<strong>und</strong>esregierung<br />
ihre Kampagne für Ganztagsschulen. Was ist daraus geworden? Eine Zwischenbilanz ).<br />
198
abgesehen, die der Staat nicht nur für vermeintliche "Bildungsreformen", sondern<br />
auch für eine kostspielige, teilweise überflüssige Bürokratie zu zahlen hat;<br />
-5. Ob <strong>und</strong> inwieweit durch die geplanten b<strong>und</strong>esweiten Bildungsstandards nicht<br />
wieder Lerninhalte <strong>und</strong> Lernmethoden festgeschrieben werden? Sie dürfen nur<br />
Zielvorgaben enthalten, die mindestens erreicht <strong>und</strong> regelmäßig evaluiert werden<br />
müssen;<br />
-6. Ob sich Gr<strong>und</strong>schullehrer/innen, die über die erforderliche Eigeninitiative <strong>und</strong><br />
Selbstständigkeit verfügen, finden <strong>und</strong> engagieren werden, um die neuen<br />
Ganztagsschulen mit Leben zu erfüllen? Es handelt sich nicht um eine von ihnen<br />
selbst verschuldete, sondern eine ihnen jahrzehntelang von oben aufoktroyierte <strong>und</strong><br />
verordnete Unmündigkeit. Als bislang bevorm<strong>und</strong>ete "Objekte" werden sie<br />
beträchtliche Umstellungsschwierigkeiten haben, zu selbstständigen "Subjekten" zu<br />
werden, wie die neuen Ganztagsschulen, der Offene Unterricht <strong>und</strong> auch<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> sie voraussetzen. Dies wird neue Konzepte für die Lehrer-Fort- <strong>und</strong> -<br />
Weiterbildung sowie ihre Praxis erfordern;<br />
-7. Ob Ganztagsschulen nicht nur Schulinvestitionen erleichtern, sondern vorrangig<br />
der Schulentwicklung dienen? Die Realität sieht derzeit so aus, dass viele Länder die<br />
zur Verfügung gestellten B<strong>und</strong>esgelder in erster Linie für Erweiterungsbauten,<br />
Sanierungsarbeiten <strong>und</strong> Nachmittagsbetreuungen verwenden. Daher warnt die<br />
Gewerkschaft Erziehung <strong>und</strong> Wissenschaft (GEW) vor "Halbtagsschulen mit<br />
Suppenküche <strong>und</strong> Verwahrangebot". Der Nachweis, dass Ganztagsschulen den<br />
Unterricht verändern <strong>und</strong> das <strong>Lernen</strong> an Schulen verbessern, steht noch aus.<br />
7.6. Elektronische Medien <strong>und</strong> Computer Literacy: Zielkonzepte <strong>und</strong><br />
Beispiele in der Gr<strong>und</strong>schule (1. - 4. Klasse)<br />
In der Gr<strong>und</strong>schule, vorzugsweise in den neuen Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen, lassen sich<br />
mit der D-Dok. zwei Zielkonzepte testen, die mit einigen praktischen Vorschlägen<br />
konkretisiert werden:<br />
-1. Geburtshelferdienste für die Wissensgesellschaft leisten<br />
Die elektronischen Medien, darunter TV, Computer, Internet, Handy, sind längst in<br />
die Kinderzimmer eingezogen. Spiele <strong>und</strong> Unterhaltung gelten <strong>als</strong><br />
Lieblingsbeschäftigungen: Zeichentrickserien, Gameboys, Hollywood- <strong>und</strong><br />
Actionsfilme, Daily Soaps, Casting-Shows, PC- <strong>und</strong> Videospiele, Mystery-Serien<br />
sowie nach 23 Uhr, sofern die Kinder über einen eigenen Fernseher verfügen (6 - 13-<br />
Jährige: 55% in den neuen, 28% in den alten B<strong>und</strong>esländern), auch<br />
199
jugendgefährdende Filme, darunter Gewalt- <strong>und</strong> Sch<strong>und</strong>darstellungen, vor allem an<br />
Wochenenden. Marktführer bei Kindern ist die RTL-Senderfamilie.<br />
Da exzessiver Medienkonsum für viele Kinder ein Statussymbol ist <strong>und</strong><br />
"Medienhelden" für sie Identifikationsfiguren sind, setzen sie ihre Eltern oft unter<br />
Druck, ihnen neuen Medienkitzel zu finanzieren: Consumo, ergo sum. Für diese<br />
"Medienkinder", die Walter Wüllenweber 1994 noch <strong>als</strong> "Fernsehkinder" vorgestellt<br />
hatte, gelten nicht mehr Familienangehörige, insbesondere die Eltern <strong>als</strong><br />
intersubjektive Bezugsobjekte, sondern die neuen Massenmedien sind <strong>als</strong><br />
Vergnügungs- <strong>und</strong> Bewusstseinsindustrie zu ihren narzisstischen Ersatzobjekten<br />
geworden (1.5.). Damit hängen emotionale Entwicklungsstörungen <strong>und</strong> häufig auch<br />
Schulversagen zusammen.<br />
Die informationelle Revolution (1.1.) hat somit längst im Kinderzimmer stattgef<strong>und</strong>en,<br />
allerdings außerhalb der Schule <strong>und</strong> unter einem negativen Vorzeichen. Christian<br />
Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in<br />
Hannover, spricht von "Medienverwahrlosung". Er macht sie mitverantwortlich für<br />
Schulversagen <strong>und</strong> Jugenddelinquenz. Daraus leitet er "geschlechtsbezogene<br />
Divergenzen" zwischen Jungen, vor allem bei Migranten, <strong>und</strong> den davon weniger<br />
betroffenen Mädchen ab. Pfeiffer plädiert dafür, "das für unser Land typische<br />
Missverhältnis, dass Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mehr Zeit vor ihren Fernsehern <strong>und</strong> PC-<br />
Bildschirmen verbringen <strong>als</strong> im Schulunterricht, durch eine deutliche Erhöhung der<br />
Zahl von Ganztagsschulen nachhaltig" zu verändern. 215 Sie seien vor allem für<br />
Familien hilfreich, die ihren Kindern aus finanziellen oder sonstigen Gründen<br />
nachmittags keine attraktive Alternative zur "Medienverwahrlosung" bieten könnten.<br />
Vorschlag: Stellen Sie Ihrer Gr<strong>und</strong>schulklasse die D-Dok. vor. Erforderlich dazu ist<br />
nur ein Exemplar, ein DVD-Laufwerk <strong>und</strong> ein Beamer, der den Bildschirm für alle<br />
sichtbar auf eine Wand oder Leinwand projiziert. Überlassen Sie dieses Arrangement<br />
den Kindern <strong>und</strong> beobachten Sie, was geschieht: Alles erinnert an eine<br />
Filmvorführung. Aber das - auch technische - Interesse wird in Enttäuschung<br />
umschlagen, sobald sich die DVD öffnet: Sie überflutet die Kinder mit Informationen,<br />
mit denen sie nichts anfangen können, <strong>und</strong> sie bietet, anders <strong>als</strong> erwartet, keine<br />
Unterhaltung. Insofern ist diese DVD genau das Gegenteil von dem, was Kinder -<br />
aber nicht nur sie - in der Regel von einer DVD erwarten.<br />
Jetzt ist Ihre St<strong>und</strong>e gekommen, Geburtshelferdienste <strong>und</strong> Überzeugungsarbeit für<br />
ein alternatives, <strong>neues</strong> Medienverständnis zu leisten: dass es nicht nur darum geht,<br />
Unterhaltung - passiv - zu konsumieren, sondern auch darum, Informationen - aktiv -<br />
zu verarbeiten. Vielleicht gelingt es Ihnen, den Unterschied zwischen Information <strong>und</strong><br />
Wissen zu vermitteln: dass die in der D-Dok. oder im Internet gespeicherten<br />
215 Christian Pfeiffer: Medienverwahrlosung <strong>als</strong> Ursache von Schulversagen <strong>und</strong> Jugenddelinquenz?<br />
(2003) In: Hans-Jürgen Kerner <strong>und</strong> Erich Marks (Hrsg.): Internetdokumentation<br />
www.praeventionstag.de, 7 Seiten, zit. Seite 6.<br />
200
Informationen "tot" sind, aber "lebendig" werden, wenn Menschen sich mit ihnen<br />
auseinandersetzen: sie aussuchen, sie befragen, sie zu eigenen Kenntnissen <strong>und</strong><br />
Erfahrungen verarbeiten; dass <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Konzentration erforderlich sind, um sich in<br />
einer verwirrenden Vielfalt von Informationen zurechtzufinden; dass dazu Arbeit <strong>und</strong><br />
Leistung gehören <strong>und</strong> sie deshalb in der Schule <strong>und</strong> gefordert sind.<br />
Wenn es gelingt, diese Medienakzeptanz zu wecken, die zugleich Voraussetzung für<br />
Medienkompetenz ist, sind Weichen für das künftige Leben <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> der Ihnen<br />
anvertrauten Gr<strong>und</strong>schulkinder gestellt. Diese pädagogische Leistung kann nicht<br />
hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist der Sprung von der quantitativen - passiven<br />
- Konsumentenmentalität <strong>und</strong> oft auch "Medienverwahrlosung" (Christian Pfeiffer) hin<br />
zur qualitativen - aktiven - Teilhabe an der Wissensgesellschaft - vom Consumo,<br />
ergo sum zum Disco, ergo sum (2.10. <strong>und</strong> 4.1.).<br />
Eine DVD ist für Kinder, aber auch für Erwachsene in der Regel ein<br />
Speichermedium, das der Unterhaltung, dem Spiel <strong>und</strong> dem Spaß dient. Die DVD<br />
der D-Dok. ist genau das Gegenteil: Ihr Unterhaltungswert tendiert gegen Null.<br />
Allenfalls die Original-Ton-Dokumente lassen sich (passiv) abspielen <strong>und</strong> so<br />
"konsumieren". Mit der D-Dok. in der Gr<strong>und</strong>schule arbeiten heißt, sich selbst <strong>und</strong> den<br />
Kindern klar zu machen, was dies bedeutet: Das Spiel ist aus! "Les jeux sont faites"<br />
(Sartre). The plays are made!<br />
Der bereits zitierte Troisdorfer Gr<strong>und</strong>schullehrer Falko Peschel betrachtet den<br />
Computer <strong>als</strong> "Werkzeug" im "Offenen Unterricht". Er unterscheidet zwischen dem<br />
Computer zu Hause, der <strong>als</strong> Spielgerät <strong>und</strong> Konsumartikel genutzt wird, <strong>und</strong> dem<br />
Computer in der Schule, der das "selbstgesteuerte <strong>und</strong> selbstregulierte <strong>Lernen</strong> der<br />
Kinder" unterstützt. Peschel wendet sich daher mit Recht dagegen, den PC<br />
"lehrgangsmäßig" oder "computerzentriert" <strong>als</strong> Lehrerersatz zu verwenden <strong>und</strong><br />
spricht sich auch gegen ein "<strong>Lernen</strong> durch Spaß" aus. Er hat den Computer direkt im<br />
ersten Gr<strong>und</strong>schuljahr eingesetzt, aber den Kindern nichts gezeigt. Der Lehrer "muss<br />
die Schüler arbeiten lassen können. Er kann ihnen Werkzeuge (wie den Computer)<br />
anbieten, aber er darf ihnen kein vorstrukturiertes (Lehrgangs-) Material geben, das<br />
die eigene Auseinandersetzung der Kinder mit dem Stoff verbaut. Er muss auch nicht<br />
alle ihre Zwischenschritte beim <strong>Lernen</strong> verstehen. Aber wenn er will, darf er fragen.<br />
Er darf sich Sachen erklären lassen. Er darf auch selber mitprobieren. Er darf<br />
Vorschläge machen. Er darf Lösungen vergleichen. Er darf Impulse geben. Aber er<br />
muss wirklich loslassen können <strong>und</strong> den Lernweg seines Gegenübers akzeptieren,<br />
so verschlungen ihm dieser auch manchmal erscheinen mag." 216 Laut Peschel kamen<br />
216 Falko Peschel: Was haben Computer, Offener Unterricht <strong>und</strong> Mengenlehre gemeinsam? Oder:<br />
Was muss passieren, damit Lehrer Schülern endlich vertrauen? Manuskript im Druck, 6 Seiten, zit.<br />
Seite 2. Vgl. dazu auch Falko Peschel: Vom Edutainment zur kreativen Herausforderung: Der<br />
Computer <strong>als</strong> Werkzeug des Offenen Unterrichts. In: Frank Thissen (Hg.): Multimedia-Didaktik in<br />
Wirtschaft, Schule <strong>und</strong> Hochschule. Berlin 2003. Seiten 9 - 25; Falko Peschel: Demokratie lernen im<br />
offenen Unterricht. Wider eine Inszenierung demokratischer Alibiaktionen in der Schule. In: Karlheinz<br />
201
auch motorisch zurückgebliebene <strong>und</strong> lernbehinderte Kinder mit dem Computer gut<br />
zurecht. Sie sollen ein "geregeltes Arbeitsverhalten" entwickelt haben. Sogar "schwer<br />
erziehbare Kinder" hätten sich so in die Klasse integrieren lassen.<br />
-2. Computer Literacy entwicklungsstufengemäß erarbeiten<br />
Zum Standard der Gr<strong>und</strong>schule gehört, in das Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Rechnen<br />
einzuführen. Als vierte neue, globale Kulturtechnik kommt Computer Literacy hinzu:<br />
Die Fähigkeit, mit Computern ebenso selbstverständlich umzugehen wie<br />
lesekompetente Menschen mit Schriftgut.<br />
Auf die Gr<strong>und</strong>schule bezogen, heißt dies: So wie Analphabeten das analoge Lesen<br />
sowie das manuelle Schreiben <strong>und</strong> Rechnen lernen müssen, um sich diese<br />
Kulturtechniken anzueignen, so geht es jetzt zusätzlich darum, sie dazu auch digital<br />
zu befähigen. Dabei ist von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung, dass Computer (Laptop,<br />
Notebook) <strong>und</strong> Internet in den regulären Unterricht für alle Kinder integriert <strong>und</strong> nicht<br />
in Informatikkurse <strong>und</strong> Arbeitsgemeinschaften für einige Schüler/innen abgedrängt<br />
oder in einem PC-Raum ausgelagert werden. Dieser häufigen Fehlentwicklung lässt<br />
sich gegensteuern, wenn die Weichen bereits in Primarbereich gestellt sind: dass<br />
Computer/Laptop/Notebook <strong>und</strong> Internetanschluss in jeden Klassenraum gehören<br />
("Verkabelung") <strong>und</strong> der Umgang mit ihnen in den jeweiligen Regelunterricht<br />
fächerübergreifend integriert wird.<br />
Computer Literacy in der Gr<strong>und</strong>schule verhindert von Anfang an die "digitale Teilung"<br />
(digital divide), die ein weltweites Phänomen ist. So nutzten im Jahre 2000 54,3 %<br />
der US-Bevölkerung das Internet, dagegen in Lateinamerika nur 2,3 % <strong>und</strong> in Afrika<br />
südlich der Sahara, die Manuel Castells <strong>als</strong> "vierte Welt" <strong>und</strong> "schwarze Löcher des<br />
informationellen Kapitalismus" bezeichnet hat (1.1.), nur 0,4% der Bevölkerung.<br />
In <strong>Deutschland</strong>, <strong>als</strong>o innerstaatlich-gesellschaftlich gesehen, ist diese digitale Teilung<br />
vor allem familiär bedingt, bei Kindern vom sozialen, finanziellen <strong>und</strong> Bildungs-<br />
Status abhängig. Die Gr<strong>und</strong>schule kann diese Defizite früh kompensieren, indem sie<br />
Schülern/innen unabhängig von ihrer sozialen <strong>und</strong> familiären Herkunft ermöglicht, am<br />
Informationszeitalter teilzuhaben, statt von ihm abgekoppelt zu werden.<br />
Zur Computer Literacy in der Gr<strong>und</strong>schule gehören:<br />
1. Technisch-handwerkliche Fertigkeiten (Know-how) mit dem PC<br />
Wer weiß, wie schwer es ungeübten Erwachsenen, aber zum Teil auch Jugendlichen<br />
später fällt, mit Maus <strong>und</strong> Tastatur umzugehen, wird zustimmen, dass leichter <strong>und</strong><br />
Burk/Angelika Speck-Hamdan/Hartmut Wedekind (Hg.): Kinder beteiligen - Demokratie lernen?<br />
Frankfurt a. M. 2003. Seiten 142 - 150.<br />
202
angstfrei lernt, wer früh damit beginnt. Dabei geht es allerdings nicht um aufwändige<br />
multimediale Showeffekte, mit denen Kinder oft verblüffen, sondern darum, wie<br />
Technik für besseres <strong>Lernen</strong> zu nutzen ist. Gr<strong>und</strong>sätzlich heißt dies: Inhalt geht vor<br />
Form. Dies fällt Kindern dann schwer, wenn sie durch Medienkonsum eine hohe<br />
sinnliche Bild-Lesefähigkeit (Viewing Literacy) erworben haben, aber noch keine<br />
Lesekompetenz (Reading Literacy).<br />
2. Schreiben, Korrigieren <strong>und</strong> Rechnen lernen mit dem PC<br />
Der Computer ist ein abwechslungsreiches zusätzliches <strong>und</strong> alternatives Schreib-,<br />
Korrigier- <strong>und</strong> Rechenwerkzeug zu Tafel, Heft <strong>und</strong> Papier. Er darf jedoch nicht das<br />
handschriftliche Mitschreiben <strong>und</strong> Rechnen völlig ersetzen, sondern nur ergänzen.<br />
Sonst entstehen Defizite, die sich erst später manifestieren: Wenn Studierende sehr<br />
gute Computerkenntnisse haben, aber weder die Rechtschreibung noch die<br />
Zeichensetzung beherrschen. Diese Rechtschreibschwäche, soweit sie nicht auf<br />
Legasthenie beruht, ist auf ein Versagen der Gr<strong>und</strong>schule zurückzuführen.<br />
Der Computer bietet bei Rechtschreibung (Orthografie), Korrekturen <strong>und</strong><br />
Textentstehung mannigfaltige Vorteile gegenüber der Papierversion: Fehler können<br />
auf dem Bildschirm jederzeit spurenlos gelöscht <strong>und</strong> verbessert, Texte überarbeitet<br />
<strong>und</strong> ergänzt werden - bis ihr gewünschter Endzustand erreicht ist. Als Lehrer/in ist<br />
die Maschine viel geduldiger <strong>als</strong> der Mensch. Sie ist zwar störanfällig, macht bei<br />
Rechtschreibfehlern, so häufig sie sich auch wiederholen, keine Vorwürfe, sondern<br />
zeigt sie geduldig durch Rückmeldung so lange an, bis sie korrigiert sind: durch die<br />
automatische Rechtschreibkontrolle, bei Suchfunktionen mit der D-Dok. durch die<br />
Trefferquote. Dabei ist es dem Computer - anders <strong>als</strong> Lehrer/in - gleichgültig, wie oft<br />
jemand f<strong>als</strong>ch schreibt, wie schnell, wann, wo <strong>und</strong> warum jemand lernt - kurzum der<br />
PC ist flexibler <strong>und</strong> interaktiv einsetzbar. Der Leistungsdruck lässt nach.<br />
Beispiele für Rechtschreibkontrollen mit Suchbegriffen in der D-Dok.; in Klammern ist<br />
die Trefferquote angegeben. Zielsetzungen: 1. Schreiben lernen mit dem PC:<br />
Singular <strong>und</strong> Plural von Gr<strong>und</strong>begriffen, 2. Kontrolle der Orthografie, 3.<br />
Fehlerkorrektur, 4. Aufbau <strong>und</strong> Erweiterung des Gr<strong>und</strong>wortschatzes.<br />
Deutsch:<br />
Mutter (343x), Mama (7x), Plural Mütter (293x); Rechtschreibfehler: Muttär (0x), Mutr<br />
(0x), Muter (2x: B<strong>und</strong>esberggesetz), Mitter (0x), Müter (0x); Rechtstrunkierung zur<br />
Erweiterung des Gr<strong>und</strong>wortschatzes: Mutter* (604x), z.B. Muttersprache (83x),<br />
Mutterschutz (15), Mütter* (357).<br />
Vater (225x), Papa (6x), Plural Väter (229x); Rechtschreibfehler: Vatter (0x), Vatr<br />
(0x), Vätr (0x); Rechtstrunkierung Vater* (868x), z.B. Vaterland (342x),<br />
Vaterlandsliebe (21x).<br />
203
Großvater (16x), Grosvater (0x), Großvatter (0x), Opa (2x), Großmutter (7x), Oma<br />
(3x), Grossmutter (0x).<br />
Kind (656x), Kinder (1551x); Rechtschreibfehler: Gind (0x), Kint (0x);<br />
Rechtstrunkierung Kind* (2302), z.B. Kindheit (50x).<br />
Katze (15x), Katse (0x), H<strong>und</strong> (12x), Hunt (0x), Pferd (18x), Pfärd (0x), Färd (0x).<br />
Englisch:<br />
(zur Zeit in NRW ab 3., in Baden-Württemberg ab 1. Klasse, im Saarland nur<br />
Französisch; die Trefferquote ändert sich mit <strong>und</strong> ohne Koeffizient ENG.)<br />
mother (12x), father (6x), grandmother (2x), grandfather (2x), child (ohne Koeffizient<br />
23x, mit Koeffizient ENG 20x), children (56x), grandchildren (6x); Rechtschreibfehler<br />
mosser (0x), fater (0x), faser (0x).<br />
Da es sich um eine historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Datenbank<br />
handelt, sind z.B. Begriffe wie Vaterland (342x) oder Mutterschutz (19x) vertreten,<br />
aber nicht Vaterhaus (0x) oder Muttermal (0x).<br />
Mathematik:<br />
Die vier Gr<strong>und</strong>rechenarten mit dem PC lernen: Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren<br />
<strong>und</strong> Dividieren mit dem Rechner (bei Zubehör) oder mit der numerischen Tastatur.<br />
Wenn die eingegebenen Zahlen <strong>und</strong> Operationen stimmen, stimmt auch das<br />
Resultat.<br />
Es gibt spezielle Rechtschreib- <strong>und</strong> Rechenprogramme, die auf Rechtschreib- <strong>und</strong><br />
Rechenkontrollen in der Gr<strong>und</strong>schule spezialisiert <strong>und</strong> deshalb diesbezüglich der D-<br />
Dok. überlegen sind. Aber auch hier ist der Computer nur ein Instrument, der das<br />
Denken nicht abnimmt: Ob etwas richtig oder f<strong>als</strong>ch geschrieben oder gerechnet<br />
worden ist, muss das Kind selbst herausfinden.<br />
3. Suchen <strong>und</strong> Finden eingegebener Begriffe:<br />
Bei geöffnetem Dokument lässt sich mit Strg +f der gesuchte Begriff, wenn er<br />
fehlerfrei eingegeben wird, im Dokument farbig markieren <strong>und</strong> so schnell an Ort <strong>und</strong><br />
Stelle identifizieren. Um Wortzusammensetzungen auszuschließen, sollte in der<br />
Regel nach dem ganzen Wort (Option) gesucht werden. Dieser Suchvorgang<br />
erfordert Sorgfalt <strong>und</strong> Übung. Er trainiert die Rechtschreibung <strong>und</strong> ist wichtig für<br />
künftige höhere "Weihen" im Computer Based Training and Learning (CBT + L)<br />
sowie im Web Based Training and Learning (WBT + L).<br />
204
7.7. <strong>Quellenarbeit</strong> im Sachunterricht der Gr<strong>und</strong>schule: Selbstbestimmtes<br />
Suchen <strong>und</strong> Finden, handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Problemlösen<br />
Bei der Erprobung der D-Dok. ist der Sachunterricht aus fünf Gründen das<br />
Zentralfach der Gr<strong>und</strong>schule: 217 1. Es verzahnt das Leben, die natürliche <strong>und</strong> soziale<br />
Umwelt sowie das natur-, sozial- <strong>und</strong> kulturwissenschaftliche <strong>Lernen</strong> des Kindes<br />
miteinander; 2. Es dient der Allgemeinbildung <strong>und</strong> zugleich der Selbstentfaltung der<br />
Persönlichkeit des Kindes, die sich am Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz orientieren<br />
soll (4.2. <strong>und</strong> 6.4.); 3. Es ist komplex-vieldimensional <strong>und</strong> deshalb geeignet,<br />
Unterricht fächerübergreifend <strong>und</strong> somit interdisziplinär statt singulär zu gestalten; 4.<br />
Es bietet wegen seines Fächerverb<strong>und</strong>es einen breiten Spielraum, individuelle<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> Interessen des einzelnen Kindes durch <strong>Quellenarbeit</strong> anzuregen, zu<br />
entfalten <strong>und</strong> zu fördern, aber auch Retardierungen zu diagnostizieren; 5. Es<br />
ermöglicht in Ansätzen bereits Problemlösen mit fächerübergreifenden<br />
Kompetenzen.<br />
Aus den genannten Gründen entspricht der Sachunterricht weitgehend den<br />
Forderungen nach Scientific Literacy im Gr<strong>und</strong>schulalter: einer exemplarisch an<br />
modernen sozial-, kultur-, natur- <strong>und</strong> technikwissenschaftlichen Kernfragen<br />
orientierten Persönlichkeit des Kindes. Da insofern Sachunterricht nicht nur<br />
zeitgemäß, sondern zukunftweisend ist, bleibt unerklärlich <strong>und</strong> befremdlich, weshalb<br />
es in einzelnen B<strong>und</strong>esländern Bestrebungen gibt, dieses zentrale Fach in der<br />
St<strong>und</strong>entafel der Gr<strong>und</strong>schule zu kürzen <strong>und</strong> in der Lehrerausbildung zu entwerten<br />
oder gar abzuschaffen. 218 Wenn es den Sachunterricht nicht schon gäbe, müsste er<br />
speziell für die Gr<strong>und</strong>schule erf<strong>und</strong>en oder neu eingeführt werden.<br />
Computergestützter Sachunterricht erfordert den Verzicht auf Frontalunterricht, bei<br />
dem lehrerzentriert unterrichtet wird. Wenn Sie für alle bestimmen, was zu lehren, zu<br />
reproduzieren <strong>und</strong> später abzufragen ist, werden Eigeninitiativen <strong>und</strong> Spontaneität<br />
der Kinder im Keime erstickt <strong>und</strong> damit ihre "Quellen" verschüttet. Wenn Sie dagegen<br />
"<strong>Quellenarbeit</strong>" helfend begleiten, werden Sie zur "fördernden Umwelt" (Winnicott:<br />
217 Ähnlich argumentiert Ingrid Prote: Politische Bildung <strong>und</strong> Erziehung in der Gr<strong>und</strong>schule. In:<br />
Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Bonn 1997. Seiten 157 - 172. Sie betrachtet<br />
den Sachunterricht <strong>als</strong> "zentralen Lernbereich der Gr<strong>und</strong>schule", der integrativ nach den Prinzipien<br />
des "offenen Unterrichts" <strong>als</strong> Antwort auf die "veränderte Kindheit" <strong>und</strong> den "familialen Wandel" (Seite<br />
158) durchgeführt werden sollte.<br />
218 Darüber berichtet die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts e.V. (GDSU) in ihrer<br />
Ausarbeitung vom April 2003: Sachunterricht in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> in der Lehrerbildung. 2 Seiten. -<br />
Die GDSU, gegründet 1992, besteht aus Lehrenden aus Hochschulen, Lehreraus- <strong>und</strong><br />
Lehrerweiterbildung sowie Schulen; sie will die Didaktik des Sachunterrichts in Forschung <strong>und</strong> Lehre<br />
fördern sowie die Belange des Schulfaches vertreten. F<strong>und</strong>stelle: www.sachunterricht-online.de/gdsu.<br />
205
Facilitating Environment: 2.8.). Deshalb sollten Kinder Freiräume haben, selbst<br />
gewählte Begriffe aus ihrem Alltag, ihrem Umfeld <strong>und</strong> Erfahrungsbereich abzufragen,<br />
zu suchen, zu finden <strong>und</strong> in Ansätzen zu verarbeiten. Kinder lernen am besten das,<br />
was sie selbst bestimmen <strong>und</strong> wofür sie Lösungen finden können. Falls sie keine<br />
Eigeninitiative entfalten, machen Sie ihnen Vorschläge, die geeignet sind, einen<br />
Lernprozess einzuleiten. Dabei geht es noch nicht um inhaltliches <strong>Lernen</strong>, sondern<br />
darum, Neugier zu wecken: das Suchen <strong>und</strong> Finden, das richtige Schreiben der<br />
Suchbegriffe sowie den Umgang mit Zahlen zu üben.<br />
-1. Vorschläge für Suchoptionen in der D-Dok. in den Aufgabenbereichen:<br />
a. Raumbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/Geografie (umfeldorientiert: Heimat,<br />
B<strong>und</strong>esland, <strong>Deutschland</strong>, Europa, Welt)<br />
Ist der Ort oder ist die Stadt enthalten, in der sich die Schule befindet?<br />
Die Kreisstadt?<br />
Nachbarorte?<br />
Die Landeshauptstadt?<br />
Beispiele: Neckarwestheim (4x), Ludwigsburg (18x), Sindelfingen (4x), Stuttgart<br />
(228x).<br />
Was für Großstädte in <strong>Deutschland</strong> kennt ihr?<br />
In Europa?<br />
In der Welt?<br />
Trefferquote?<br />
Hauptstädte in europäischen Staaten?<br />
Wie oft kommt die Hauptstadt, wie oft der Staat vor?<br />
Beispiele: Bukarest (72x), Rumänien (351x); Oslo (84x), Norwegen (238x); Zagreb<br />
(20x), Kroatien (123x); Lissabon (99x), Portugal (359x).<br />
Hauptstädte asiatischer, afrikanischer <strong>und</strong> lateinamerikanischer Staaten?<br />
Trefferquoten?<br />
Beispiele: Tokio (58x), Japan (482); Peking (89x), China (433x); Bagdad (37x), Irak<br />
(257); Nairobi (35x), Kenia (31x); Harare (14x), Simbabwe (36x); Lima (10x), Peru<br />
(31x); Quito (3x), Ecuador (17).<br />
b. Zeitbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/ Geschichte (personenorientiert) 219<br />
219<br />
Kerstin Michalik (Hg.): Geschichtsbezogenes <strong>Lernen</strong> im Sachunterricht. Bad Heilbrunn 2004 (mit<br />
vielen Unterichtsbeispielen <strong>und</strong> -vorschlägen).<br />
206
Namensgeber/in der Schule in der D-Dok. zu finden?<br />
Beispiele: Anne Frank (12x), Goethe (149x), Pestalozzi (9x), Rousseau (6x),<br />
Montessori (0x), Brecht (54x).<br />
Welche Namen von Personen, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, habt<br />
ihr schon gehört?<br />
Beispiele: Napoleon (16x), Marx (310x), Bismarck (78x), Ebert (95x), Hindenburg<br />
(11x), Lenin (170x), Hitler (444x), Stalin (149x).<br />
Deutsche <strong>und</strong> ausländische Politiker/innen seit 1945?<br />
Hinweis zur Namensuche: Die Suchmaschine zeigt alle Personen mit diesem Namen<br />
in der Datenbank an. Wer folglich Schmidt, Kohl oder Schröder eingibt, erhält nicht<br />
nur Trefferquoten zu den Politikern <strong>und</strong> B<strong>und</strong>eskanzlern Helmut Schmidt, Helmut<br />
Kohl oder Gerhard Schröder, sondern auch zu anderen Personen, die diesen<br />
Familien- <strong>und</strong> oft auch den gleichen Vornamen führen. Wer konkret gemeint ist, kann<br />
nur an Ort <strong>und</strong> Stelle durch <strong>Quellenarbeit</strong> geklärt werden.<br />
Deutsche B<strong>und</strong>eskanzler?<br />
Beispiele: Adenauer (835x), Erhard (322x), Kiesinger (120x), Brandt (545), Schmidt<br />
(589), Kohl (1055x), Schröder (723x).<br />
B<strong>und</strong>espräsidenten?<br />
Beispiele: Heuss (207x), Lübke (110x), Heinemann (179x), Scheel (243x), Carstens<br />
(118x) usw.<br />
Kennt ihr Namen von Politikern aus der ehemaligen DDR?<br />
Beispiele: Ulbricht (418x), Grotewohl (222x), Stoph (276x), Sindermann (59x),<br />
Honecker (707x) usw.<br />
Ausländische Politiker/innen?<br />
Und zu welchem Staat gehören sie?<br />
Beispiele: Eisenhower (68x), Thatcher (45x), Bush (215x), Chirac (99x), Clinton<br />
(120x), Blair (54x), Gorbatschow (396x).<br />
Welche von den gesuchten <strong>und</strong> gef<strong>und</strong>enen Politiker/innen sind auf einem Foto<br />
abgebildet <strong>und</strong>/oder auszugsweise im Original-Ton zu hören?<br />
207
Koeffizienten FOT <strong>und</strong>/oder TON einschalten <strong>und</strong> ermitteln. Auch diese Bild- <strong>und</strong><br />
Tondokumente sind Originalquellen, die zu suchen <strong>und</strong> zu finden, später zu<br />
interpretieren sind. Die sinnliche Qualität dieser Quellen kann den Zugang zu ihnen<br />
vor allem bei Kindern erleichtern, da sie Viewing Literacy meistens durch Fernsehen<br />
erworben haben.<br />
c. Institutionen: Suchen <strong>und</strong> Finden im sozialen <strong>und</strong> kulturellen Erfahrungsbereich<br />
des Kindes/Sozialwissenschaften (juristisch orientiert)<br />
Familie <strong>als</strong> Sozialgefüge?<br />
Beispiele: Familie (1116x), Familie* (2183x), z.B. Familienpolitik (73x), Kinderrechte<br />
(7x), Elternrecht (22x).<br />
Schule <strong>als</strong> Sozialgefüge?<br />
Beispiele: Schule (599x), Schule* (1162x), z. B. Schulpflicht (70x), Gr<strong>und</strong>schule<br />
(77x), Volksschule (22x), Schulrecht (12x).<br />
Vornamen in der Klasse?<br />
Ist mein eigener Vorname zu finden? (Die Wahrscheinlichkeit, neben den Vornamen<br />
von Deutschen auch die von Ausländern zu finden , ist groß.)<br />
Beispiele: Robert (196x), Iwan (20x), Achmed (3x), Erich (679x), Miriam (2x), Ali<br />
(31x), Osman (4x), Leyla (1x), Sarah (3x), Robin (15x), Giuseppe (7x), Ernst (1310x),<br />
Ernesto (3x), José (48x).<br />
Ausländer/innen in der Klasse?<br />
Beispiele: Türken (102x), türk* (627x); Araber (21x), arab* (397x); Chinesen (26x),<br />
chines* (206x); Japaner (37x), japan*(586x); Amerikaner (333x), amerik*(2217x);<br />
Italiener (71x), italien*(845x); Afrikaner (18x), afrikan* (246x); Polen (1211x),<br />
poln*(529x); Franzosen (251x), franz* (1685x); Slowaken (38x), slowak* (178x).<br />
d. Natur- <strong>und</strong> umweltbezogenes Suchen <strong>und</strong> Finden/ Naturwissenschaften<br />
(ökologisch orientiert)<br />
Ernährung <strong>und</strong> Haushalt?<br />
Beispiele: Lebensmittel (192x), Lebensmittel* (464x), Ernährung (414x), Ernährung*<br />
(540x), Haushalt (779x), Konsum (150x), Verbraucher (414x), Verbraucherpolitik<br />
(25x), Ges<strong>und</strong>heit (937x), Obst (97x), Gemüse (111x), Fleisch (146x),<br />
Chemie+Ernährung = Chemie Ernährung = Konjunktion = UND = AND (25x).<br />
208
Umwelt <strong>und</strong> Natur?<br />
Beispiele: Umweltschutz (620x), Umweltrecht (32x), Umwelt* (1822x), Nachhaltigkeit<br />
(135x), Wald* (327x), Kiefer (12x), Fichte (14x),Waldschäden (25x), Tierschutz (43x),<br />
Pflanzenschutz (60x), Artenvielfalt (56x), Boden* (1712x), z.B. Bodenschutz (18x),<br />
Wasser* (972x), Luft*(1284x), z.B. Luftverschmutzung (58x), Verkehr (1036x), Auto<br />
(122x), Benzin (57x), Smog (7x), Ozon (11x), Naturschutz (177x), Heizung (46x),<br />
Wohnung (533x), Erdöl (136x), Kohle (333x), Braunkohle (108x), Klima* (916x),<br />
Klimaschutz (91x).<br />
e. Technologien: Suchen <strong>und</strong> Finden im Erfahrungsbereich des Kindes/Technik <strong>und</strong><br />
Gesellschaft (medienorientiert)<br />
Computer <strong>und</strong> Bildung?<br />
Beispiele: Computer (160x), PC (43x), EDV (53x), Computer+Bildung (92x),<br />
Computer+Schule (44x), Computer+Verwaltung (48x), Computer+Post (27x),<br />
Informatik (44x), Technik (1060x), Mathematik (80x), Mathematik+Technik (47x),<br />
Physik (71x), Physik+Technik (40x).<br />
Fernsehen <strong>und</strong> andere Medien?<br />
Beispiele: Fernseher (21x), Fernseh* (762x), Medien (692x), Medien*(796x), z.B.<br />
Mediengesellschaft (15x), Telefon (74x), Telekommunikation (212x), Post (577x), Fax<br />
(7x), SMS (5x), E-mail (36x), Information (964x), Informations* (4443x), z.B.<br />
Informationszeitalter (41x), Wissen* (4409x), z.B. Wissensgesellschaft (75x),<br />
Multimedia (60x).<br />
-2. Lernbezogene inhaltliche Vorschläge: Quellenauswahl <strong>und</strong> Ansätze der<br />
Informationsverarbeitung durch Lesekompetenz (Reading Literacy)<br />
Ging es bislang um das Schreiben, Korrigieren <strong>und</strong> Rechnen mit dem PC, vor allem<br />
um Rechtschreibkontrollen, <strong>und</strong> danach um das Suchen <strong>und</strong> Finden von Begriffen<br />
<strong>und</strong> ihren Kombinationen mit Trefferquoten, so geht es jetzt erstm<strong>als</strong> darum,<br />
inhaltliche Konsequenzen zu ziehen: Nach von der Klasse mehrheitlich<br />
vorgeschlagenen oder mit ihr ausgehandelten Fragestellungen Quellen exemplarisch<br />
aus der D-Dok. auszuwählen <strong>und</strong> in Ansätzen zu interpretieren. Angesichts der<br />
verwirrenden Vielzahl hoher Trefferquoten sind die Kinder überfordert, sie heuristisch<br />
selbst zu selektieren. Das sollten in der Gr<strong>und</strong>schule Lehrer/innen <strong>als</strong> "fördernde<br />
Umwelt" übernehmen (4.3.).<br />
Anfänge einer Lesekompetenz (Reading Literacy) können dann erworben werden,<br />
wenn damit begonnen wird, Informationen nicht nur zu suchen <strong>und</strong> zu finden,<br />
209
sondern zu verarbeiten. Auf den Zwölf-Punkte-Fragenkatalog unter 4.4. - 1-12 wird<br />
verwiesen. Gr<strong>und</strong>schulkinder der Klasse 4 sollten nach den von ihnen<br />
vorgeschlagenen Themen <strong>und</strong> anhand der von Ihnen dazu ausgewählten Quellen<br />
fähig sein, einzelne - nicht alle - Fragen dieses Fragenkatalogs zu beantworten.<br />
Ausgenommen bleiben quellen- <strong>und</strong> ideologiekritische Fragestellungen sowie nach<br />
der Quellenauthentizität (4.4.-4.), die Gr<strong>und</strong>schulkinder überfordern. Dies ist<br />
allerdings strittig! So kommen Clotilde Pontecorvo <strong>und</strong> Hilda Girardet bei<br />
Fünftklässlern (4. Jahrgangsstufe) zu dem Schluss, dass sie mit Hilfe nicht nur fähig<br />
seien, eine historische Quelle über die Hunnen zu reproduzieren, sondern auch<br />
quellenkritisch zu verarbeiten - "very close to the procedures of historical<br />
reasoning". 220 Am Beispiel Ihrer Klasse könnten Sie dies konkret überprüfen, auch<br />
individuell bei einzelnen oder in einer Gruppe von Kindern. Es geht dabei um die<br />
Gr<strong>und</strong>satzfrage: Wie weit kann sich der Sachunterricht an wissenschaftlichen<br />
Zielsetzungen orientieren, ohne den "Kindbezug" zu verlieren? 221<br />
-3. Anfänge des Problemlösens im Anschluss an das Suchen <strong>und</strong> Finden: Drei<br />
Beispiele<br />
Weisen Sie die Kinder darauf hin, dass ihre bisherigen Such- <strong>und</strong> Findarbeiten<br />
Probleme aufwerfen, die sie übersehen <strong>und</strong> Sie ignoriert haben. Wer z.B. Fichte<br />
eingibt, erhält 14 Treffer - aber ist damit immer der Baum <strong>und</strong> nicht vielleicht auch<br />
eine Person mit diesem Namen gemeint? Also bitten Sie sie, anhand der 14<br />
F<strong>und</strong>stellen zu überprüfen, wann <strong>und</strong> warum ein Mensch, darunter der Philosoph<br />
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), oder das Nadelgehölz gemeint ist. Zu schwer?<br />
Nein, die Kinder sollen jetzt nicht nur mechanisch suchen, sondern mit Köpfchen<br />
finden, was gleich lautet <strong>und</strong> gleich geschrieben wird, sich aber inhaltlich in der<br />
Bedeutung unterscheidet (Homonyma).<br />
Was ist die Hauptstadt <strong>Deutschland</strong>s? Berlin: 4898 Treffer! Ist Berlin deshalb so<br />
häufig vertreten, weil es die Hauptstadt ist oder auch aus anderen Gründen? Was ist<br />
mit Bonn: 2736 Treffer. Suchbegriffe B<strong>und</strong>eshauptstadt 42x, B<strong>und</strong>esstadt 12x,<br />
Hauptstadt 594x. Jetzt zeigt es sich, ob die Gr<strong>und</strong>schulkinder das Suchen <strong>und</strong><br />
Finden gelernt haben, darunter auch mit Konjunktionen: Berlin+Hauptstadt (490x),<br />
Bonn+Berlin (1521x), Hauptstadt+<strong>Deutschland</strong>+Berlin (360x) usw. Wer suchet, der<br />
findet die entscheidenden Quellen, etwa Artikel 2 des Einigungsvertrags vom 31.<br />
August 1990 <strong>und</strong> den Bonn-Berlin-Beschluss des Deutschen B<strong>und</strong>estages vom 20.<br />
Juni 1991.<br />
220 Clotilde Pontecorvo/Hilda Girardet: Arguing <strong>und</strong> Reasoning in Understanding Historical Topics. In:<br />
Cognition and Instruction 11, 1993. Nr. 3 - 4. Seiten 365 - 395, zit. 392.<br />
221 Vgl. dazu Elard Klewitz: Sachunterricht zwischen Wissenschaftsorientierung <strong>und</strong> Kindbezug.<br />
Antrittsvorlesung 10. Juni 1993. Humboldt-Universität Heft 58. Berlin 1996. - Zu Geschichte <strong>und</strong><br />
Konzeptionen des Sachunterrichts Bernd Feige: Der Sachunterricht <strong>und</strong> seine Konzeptionen.<br />
Historische, aktuelle <strong>und</strong> internationale Entwicklungen. Bad Heilbrunn 2004.<br />
210
Sie sollten den Kindern solches Wissen nicht mitteilen, sondern ihnen zunächst<br />
vorenthalten, um ihre Neugier zu wecken <strong>und</strong> ihren Ehrgeiz anzuspornen. Dies kann<br />
kreative Kräfte in ihnen freisetzen, damit sie sich aus vielen Informationsquellen ihr<br />
Wissen selbst erarbeiten. Dazu brauchen sie Zeit, Geduld, Köpfchen <strong>und</strong> Übung.<br />
Lassen Sie ihnen dafür Zeit. Kinder sind neugierig, aber auch ungeduldig. Und helfen<br />
Sie ihnen - auch in der Gruppenarbeit - nur dann, wenn sie wirklich nicht mehr weiter<br />
wissen, <strong>als</strong>o nicht von vornherein, sondern erst im Nachhinein.<br />
Wer Schröder eingibt, erhält 723 Treffer, darunter auch den Politiker <strong>und</strong> derzeitigen<br />
B<strong>und</strong>eskanzler Gerhard Schröder. Ist es nicht merkwürdig, dass Gerhard Schröder<br />
schon unter dem alten Konrad Adenauer B<strong>und</strong>esminister war <strong>und</strong> bei ihm <strong>als</strong><br />
Außenminister Karriere machte? Er blieb dies auch unter dem neuen B<strong>und</strong>eskanzler<br />
Erhard. Als Willy Brandt Außenminister wird, muss Gerhard Schröder dieses Amt<br />
zwar aufgeben, wurde aber Verteidigungsminister! Manche der bei mir<br />
Politikwissenschaft Studierenden wussten nicht warum, <strong>und</strong> vielleicht wissen Sie es<br />
auch nicht. Aber Ihre Gr<strong>und</strong>schulkinder werden das Problem lösen: durch<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> mit der D-Dok., durch Bildvergleiche <strong>und</strong> vielleicht auch durch<br />
Rechenaufgaben mit Geburtsdaten - <strong>als</strong>o fächerübergreifend im Sachunterricht.<br />
-4. Handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong> <strong>als</strong> Konsequenz des Sachunterrichts: Beispiele für<br />
die fünf Aufgabenbereiche 222<br />
Ist es gelungen, die Neugier, das Staunen <strong>und</strong> die Offenheit der Gr<strong>und</strong>schulkinder zu<br />
fördern?<br />
Damit sie ihre unmittelbare Erfahrungswelt nicht nur sinnlich-bildlich wahrnehmen,<br />
sondern auch begrifflich-abstrakt zu erfassen <strong>und</strong> zu erschließen vermögen: durch<br />
Suchen <strong>und</strong> Finden, in Ansätzen auch durch Lesekompetenz <strong>und</strong> Problemlösen?<br />
Welche Konsequenzen lassen sich ziehen, um diese Fähigkeiten in der Praxis zu<br />
erproben?<br />
Gibt es später in den Sek<strong>und</strong>arbereichen I <strong>und</strong> II ein Fach, das so prädestiniert ist,<br />
Theorie <strong>und</strong> Praxis miteinander zu verknüpfen, wie der Sachunterricht in der<br />
Gr<strong>und</strong>schule?<br />
Angenommen, die Kinder interessieren sich im raum-geografiebezogenen<br />
Lernbereich (7.7.-1a.) für eine Sehenswürdigkeit ( z.B. Denkmal, Gebäude, Kirche,<br />
Landschaft, Ortsteil, Dorf) oder Stadt ihrer Heimat, vielleicht auch für ein Land<br />
ausländischer Mitschüler/innen. Dann bietet sich an, dass sie Informationen darüber<br />
sammeln, auch extern, <strong>und</strong> sie zu einer analogen oder digitalen Dokumentation<br />
verarbeiten, vielleicht mit dazu verfügbaren Karten <strong>und</strong> Bildern. Dasselbe ist bei<br />
Politiker/innen, historischen Persönlichkeiten oder Institutionen eigener Wahl im zeit-<br />
222<br />
Siehe dazu Astrid Kaiser (Hg.): Praxisbuch handelnder Sachunterricht. Bände 1 - 3.<br />
Baltmannsweiler 1999 -2000.<br />
211
geschichtsbezogenen (7.7.-1b.) sowie im institutionell-sozialwissenschaftlichen<br />
Lernbereich (7.7.-1c.) zu empfehlen <strong>und</strong> machbar. An diese Materialzusammenstellungen<br />
dürfen keine hohen Ansprüche gestellt werden. Als<br />
Arbeitsergebnisse lassen sie sich auswerten, dokumentieren, ausdrucken oder<br />
multimedial präsentieren, z.B. <strong>als</strong> Audioproduktion mit Interviews <strong>und</strong> verbindenden<br />
Texten (Reportage).<br />
Auch Namensgeber oder Namensgeberin der Schule bieten Lernansätze aus dem<br />
Erfahrungsbereich. Ist es z.B. eine Anne-Frank-Gr<strong>und</strong>schule, so stellen sich wie von<br />
selbst historisch-politische Fragen:<br />
Wer war Anne Frank?<br />
Warum ist die Schule nach ihr benannt?<br />
Was gibt es für Quellen von ihr <strong>und</strong> über sie?<br />
Drängt sich <strong>Quellenarbeit</strong> - das Tagebuch der Anne Frank - nicht geradezu auf?<br />
Welche Unterrichtsmaterialien für Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen gibt es darüber im<br />
Internet?<br />
Haben die Gr<strong>und</strong>schulkinder im natur- <strong>und</strong> umweltbezogenen Lernbereich (7.7.-1d.)<br />
<strong>als</strong> Schwerpunkt Ernährung <strong>und</strong> Konsum gewählt? Dann könnten sie Obst <strong>und</strong><br />
Früchte mitbringen, die sie im Unterricht oder während der Pausen nach ihren<br />
Vorstellungen verarbeiten <strong>und</strong> verbrauchen, z.B. <strong>als</strong> Obstsalat oder eigenhändig<br />
gepresste Säfte. Dies ist <strong>Quellenarbeit</strong> in der Praxis: So wie die D-Dok. historischpolitische<br />
<strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Quellen anbietet, die <strong>als</strong> Rohstoff zu Wissen<br />
zu verarbeiten sind, so werden jetzt Getränke, Säfte, Salate <strong>und</strong> andere kleine<br />
Gerichte aus Rohstoffen selbst hergestellt - nach eigenen Kreationen, ohne<br />
chemische oder unbekannte Zusätze. Dann wissen die Kinder, was sie trinken oder<br />
verzehren. Natürlich könnten sie, wie meistens geschieht, "fertige" Getränke oder<br />
"Fast Food" kaufen. Sinn <strong>und</strong> Ziel von <strong>Quellenarbeit</strong> ist es jedoch, Wissen selbst zu<br />
erarbeiten <strong>und</strong> Obstsäfte oder kleine Salate selbst herzustellen - statt "fertiges"<br />
Wissen <strong>und</strong> "fertige" Gerichte zu konsumieren. Dies kann der "McDonaldisierung"<br />
nicht nur des Wissens, sondern auch der Ernährung von Kindern vorbeugen,<br />
vielleicht auch dazu beitragen, dass sie sich bewusster ernähren <strong>und</strong> in der Lage<br />
sind, sich zeitweilig selbst zu verpflegen.<br />
Natur <strong>und</strong> Umwelt eignen sich <strong>als</strong> Unterrichtsthemen dazu, das Umweltbewusstsein<br />
der Kinder zu schärfen <strong>und</strong> sie nachhaltig zum Umweltschutz anzuleiten. 223 Er beruht<br />
auf dem Gedanken, dass Umwelt aktive <strong>und</strong> verantwortungsbewusste Menschen<br />
braucht, die sich engagieren, um sie nachhaltig zu bewahren statt sie zu belasten<br />
223 Ute Stoltenberg: Nachhaltigkeit lernen mit Kindern. Wahrnehmung, Wissen <strong>und</strong> Erfahrungen von<br />
Gr<strong>und</strong>schulkindern unter der Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung. Bad Heilbrunn 2002; Hans<br />
Baier/Steffen Wittkowske (Hg.): Ökologisierung des Lernortes Schule. Bad Heilbrunn 2001<br />
(Schulgarten <strong>als</strong> Lernort für Umgang <strong>und</strong> Kontakt mit der Natur); Hedwig Wilken: Kinder werden<br />
Umweltfre<strong>und</strong>e. Umweltbildung in Kindergarten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schule. München 2002 (Zur Gestaltung von<br />
Umweltfesten).<br />
212
oder gar zu zerstören. Zu einer solchen Umwelterziehung <strong>und</strong> besseren<br />
Umweltwahrnehmung tragen ein Waldspaziergang <strong>als</strong> kleine "Exkursion" in das<br />
Umfeld, die Pflege des Schulgartens (sofern vorhanden), Baumpatenschaften u.ä.<br />
bei. Der Tag der offenen Tür oder das Schulfest lassen sich <strong>als</strong> "Umweltfest"<br />
gestalten. Sie beziehen so generationenübergreifend auch Erwachsene,<br />
insbesondere Eltern, mit ein. Lernziel einer solchen "Umweltbildung" ist die<br />
frühzeitige "ökologische Mündigkeit" von Kindern.<br />
Im technischen Lernbereich (7.7.-1e.) empfiehlt es sich im Sachunterricht, Hardware<br />
<strong>und</strong> Software des Computers <strong>und</strong> seine Konfiguration zu behandeln. Es genügt, die<br />
Gr<strong>und</strong>einheiten <strong>und</strong> ihre Hauptfunktionen zu erläutern: Zentraleinheit, Tastatur,<br />
Monitor, Endgeräte wie Drucker sowie Betriebssysteme <strong>und</strong> Programme. Wichtiger<br />
<strong>als</strong> technische Details sind Einblicke in die Auswirkungen der Elektronischen<br />
Datenverarbeitung (EDV) <strong>und</strong> damit von Technik auf Mensch, Gesellschaft, Bildung,<br />
Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Umwelt - nicht zuletzt auch auf die Schule. 224<br />
Theorie <strong>und</strong> Praxis lassen sich generationenübergreifend verknüpfen: Ermuntern Sie<br />
die Gr<strong>und</strong>schulkinder oder geben Sie ihnen <strong>als</strong> Aufgabe mit nach Hause<br />
("Hausaufgabe"), den Eltern <strong>und</strong> Großeltern gelegentlich vorzuführen, was sie mit<br />
dem Computer können. Dies korrespondiert mit dem obersten Lernziel, zum<br />
lebenslangen <strong>Lernen</strong> zu motivieren. Und können nicht auch Erwachsene von Kindern<br />
lernen - statt immer nur umgekehrt? Wenn Vater <strong>und</strong>/oder Mutter keine Zeit oder kein<br />
Interesse an den Computerfortschritten ihres Sprösslings haben, so bieten sich die<br />
Großeltern - sofern vorhanden - dazu an, dass die Enkel sie ihnen demonstrieren.<br />
Dies trägt zu generationenübergreifenden Kontakten <strong>und</strong> Denkanstößen bei.<br />
Vielleicht "staunen" Opa <strong>und</strong> Oma darüber, was sich aus Computer <strong>und</strong> Internet alles<br />
"hervorzaubern" lässt, <strong>und</strong> sie lernen mit. Ein "Gewinn" wäre auch, wenn Großeltern<br />
sich finanziell an der PC-Ausstattung der Enkel beteiligen, statt ihnen beliebte, aber<br />
fragwürdige Computerspiele zu schenken. 225<br />
Aufgeschlossene "alte Menschen" lassen sich in die Klasse einladen <strong>und</strong> "erzählen"<br />
Kindern: aus ihrer Lebens- <strong>und</strong> Erfahrungswelt, aus ihrer Schulzeit. So kann z.B.<br />
regionale oder lokale Alltagsgeschichte konkret generationenübergreifend<br />
nacherlebt, nicht nur abstrakt vermittelt werden. 226 Die Chancen, frühere <strong>und</strong> eigene<br />
224 Kornelia Möller: Technisches <strong>Lernen</strong> in der Gr<strong>und</strong>schule. Wege zum konstruktiven Denken im<br />
Sachunterricht. In: Gr<strong>und</strong>schule Heft 2, 2002. Seiten 51-54; Wolfgang Biester (Hg.): Denken über<br />
Natur <strong>und</strong> Technik. Zum Sachunterricht in der Gr<strong>und</strong>schule. Bad Heilbrunn 1991.<br />
225 Waldemar Grosch: Computerspiele im Geschichtsunterricht. Geschichte am Computer. Band 2.<br />
Schwalbach/Taunus 2002 fällt ein negatives Urteil, da Computerspiele süchtig machen können <strong>und</strong><br />
Geschichte "verbiegen" (Seite 8). Vgl. dazu auch Vadim Oswalt: Multimediale Programme im<br />
Geschichtsunterricht. Geschichte am Computer. Band 1. Schwalbach/Taunus 2002.<br />
226 Waltraut Holl: Alte Menschen erzählen Kindern. Erfahrungen in Gr<strong>und</strong>schulprojekten mit<br />
historischer Thematik. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht 38, 1987, Seiten 541-552. -<br />
Eigene Lebenserfahrungen der Lehrer/innen fließen mit ein in den Unterricht; vgl. Karl Pellens:<br />
Schülernaher Geschichtsunterricht. Freiburg i. Brsg. 1975. Seite 34ff.<br />
213
Lebenswelten selbstständig zu erk<strong>und</strong>en, sind an Ganztagsschulen mit ihren<br />
Nachmittagsangeboten größer <strong>als</strong> an konventionellen Gr<strong>und</strong>schulen.<br />
7.8. Diagnostik I im Primarbereich: Individuelle Fähigkeiten oder<br />
Retardierungen <strong>und</strong> familiäre Umwelt<br />
PC- <strong>und</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> schließen Frontalunterricht nicht gr<strong>und</strong>sätzlich aus. Sie<br />
erleichtern aber, den Unterricht offener <strong>und</strong> differenzierter zu gestalten <strong>und</strong> so<br />
blockierte Energien freizusetzen. Gr<strong>und</strong>schulkinder erhalten Spielraum, sich Themen<br />
zuzuwenden, die sie interessieren, <strong>und</strong> Lehrer/innen gewinnen Zeit, dieses<br />
individuelle Ausgangsniveau zu berücksichtigen.<br />
Aus Frontalunterricht, bei dem nur eine/r spricht <strong>und</strong> bestimmt <strong>und</strong> alle anderen<br />
zuhören oder abschalten, entsteht so eine neue Unterrichtsqualität <strong>und</strong> -forschung:<br />
Individuelle Fähigkeiten oder Retardierungen einzelner Kinder lassen sich<br />
diagnostizieren <strong>und</strong> binnendifferenziert testen, z.B. in Gruppen- oder Partnerarbeit.<br />
Da die Kinder noch nicht aussortiert sind, eignet sich die Gr<strong>und</strong>schule am besten<br />
dazu, kreativitätsfördernde <strong>und</strong> kreativitätshemmende Faktoren so frühzeitig wie<br />
möglich wahrzunehmen. Daraus lassen sich gezielte Förder- oder Stützmaßnahmen<br />
ableiten.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich verfügt jedes Kind über ein "schlafendes" kreatives Potenzial, das es<br />
zu "wecken" gilt. Kreativitätserziehung <strong>und</strong> die Entfaltung der Persönlichkeit des<br />
Kindes nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz (4.2.) gehören daher mit zu den<br />
Hauptaufgaben der Gr<strong>und</strong>schule. Nach <strong>neues</strong>ten Forschungen haben Säuglinge das<br />
absolute Gehör, das verkümmert <strong>und</strong> deshalb verschwindet - eine Begabung, die bei<br />
Erwachsenen, auch Musikern, äußerst selten <strong>und</strong> mysteriös ist. "Viele Menschen<br />
können ihr kreatives Potential nicht entfalten, weil sie durch die Art ihrer Erziehung in<br />
der Familie <strong>und</strong> ihre Erfahrungen bei der Ausbildung <strong>und</strong> im Beruf systematisch<br />
blockiert worden sind <strong>und</strong> heute noch - z.T. unbewußt - blockiert werden." 227 Solche<br />
"geistigen Trampelpfade" zu erkennen <strong>und</strong> zu überwinden, lässt sich üben <strong>und</strong><br />
trainieren.<br />
Wie ausgeführt, vermögen Lehrer/innen <strong>und</strong> Schule die Familie <strong>als</strong> "fördernde<br />
Umwelt" (Winnicott) zwar nicht zu ersetzen, aber doch nachträglich kompensatorisch<br />
zu wirken, wenn sie zielgerichtet intervenieren. Aber lassen sich so Familiendefizite,<br />
vor allem körperlich-emotionale des Narzissmus, nachträglich ausgleichen oder<br />
wenigstens mindern (1.4., 2.8.-2.9.)? Katharina z.B., etwas mehr <strong>als</strong> ein Jahr alt,<br />
spricht nur wenige Worte, "liest" aber, indem sie ihre familiäre Umgebung nachahmt<br />
227<br />
Reinhard Sellnow: Die mit den Problemen spielen...Ratgeber zur kreativen Problemlösung. Stiftung<br />
Mitarbeit (Hg.). Bonn 1997. Seite 14.<br />
214
<strong>und</strong> ein Stück Zeitung so hält, <strong>als</strong> lese sie. Eine solche primäre Identifikation<br />
verschafft Katharina einen enormen schulischen Vorsprung, so dass sich das<br />
Problem der sozial <strong>und</strong> familiär benachteiligten Kinder wie von selbst stellt: "ihnen<br />
liest niemand vor, sie sehen niemand lesen". 228<br />
In der Tat hängt der Schulerfolg wesentlich von der Familienbiografie ab:<br />
Benachteiligt sind Kinder von Alleinerziehenden, aus sozialen (so genannten<br />
Stieffamilien) sowie aus Adoptiv- <strong>und</strong> Pflegefamilien gegenüber Kindern aus<br />
traditionellen Familien mit beiden leiblichen Eltern. 229 Diese <strong>neues</strong>ten<br />
Untersuchungen erhärten den Bef<strong>und</strong> der PISA-Studien I <strong>und</strong> II, dass die soziale<br />
Herkunft den schulischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg in <strong>Deutschland</strong> weitgehend<br />
vorherbestimmt (1.6.). Durch frühzeitige Computer Literacy kann Gr<strong>und</strong>schule,<br />
insbesondere die Ganztagsschule, wenigstens verhindern, dass familiär bedingte<br />
Ungleichheiten durch die digitale Trennung oder Spaltung (digital divide) im<br />
Informationszeitalter noch weiter verstärkt werden (1.1. <strong>und</strong> 7.6.-2.).<br />
7.9. Diagnostik II im Primarbereich: Geschlechtsspezifische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />
Rollenerwartungen<br />
Geschlechtsspezifische Präferenzen beim <strong>Lernen</strong> lassen sich vermutlich in der<br />
Gr<strong>und</strong>schule früher <strong>und</strong> besser diagnostizieren <strong>als</strong> später in den Sek<strong>und</strong>arbereichen<br />
I <strong>und</strong> II oder gar Universitäten. Bestätigen sich z.B. in Ihrer Klasse Bef<strong>und</strong>e, dass<br />
Jungen mehr an Geschichte <strong>und</strong> Politik interessiert seien <strong>als</strong> Mädchen? 230 Oder<br />
hängt dies weniger vom Fach selbst <strong>als</strong> vielmehr von konkreten historischen <strong>und</strong><br />
politischen Themen ab, z. B. Krieg, Außenpolitik <strong>und</strong> Wirtschaft bei Jungen sowie<br />
Lebens- <strong>und</strong> Zukunftsfragen bei Mädchen?<br />
Klischeehaft wäre, Weiblichkeit mit "unpolitisch" <strong>und</strong> Männlichkeit mit "politisch" zu<br />
verknüpfen. Dagmar Richter (Braunschweig), Expertin für geschlechtsspezifisches<br />
politisches <strong>Lernen</strong>, betont daher mit Recht: "Das Individuum ist nicht abstrakt <strong>und</strong><br />
körperlos, sondern Mädchen <strong>und</strong> Jungen haben eine je unterschiedliche subjektiv-<br />
228 Mechthild Dehn u.a.: Lesen lernen - Lesenlehren. In: Handbuch Lesen. Im Auftrag der Stiftung<br />
Lesen <strong>und</strong> der Deutschen Literaturkonferenz. München 1999. Seiten 570 - 584, zit. 573. Vgl. dazu<br />
auch Mechthild Dehn: Bilderbuch, Zeitung <strong>und</strong> Autoatlas. Zur Entwicklung eines Begriffs vom Lesen.<br />
In: Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift 5, 1991, Heft 41. Seite 3.<br />
229 Elisabeth Schlemmer: Familienbiografien <strong>und</strong> Schulerfolg von Kindern. In: Aus Politik <strong>und</strong><br />
Zeitgeschichte B19 vom 3. Mai 2004. Seiten 26 - 32, zit. 30f.<br />
230 Hans Müller: Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts. Schülerverhalten <strong>und</strong> allgemeiner<br />
Lernerfolg durch Gruppenunterricht. Stuttgart 1972. Seiten 97ff., zum Gruppenunterricht Seiten 64ff.;<br />
Bodo von Borries: Geschlechtsspezifisches Geschichtsbewusstsein <strong>und</strong> koedukativer<br />
Geschichtsunterricht. In: Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65.<br />
Geburtstag. Dortm<strong>und</strong> 1999. Seiten 89 - 111, vor allem Seiten 90ff.<br />
215
emotionale Einstellung zum eigenen Körper." 231 Diese geschlechtstypische<br />
Körpererfahrung <strong>und</strong> das damit zusammenhängende Selbstwertgefühl beeinflussen<br />
politische Lernprozesse.<br />
Nach der PISA-Studie I erzielen Mädchen im Bereich der Lesekompetenz bessere<br />
Leistungen <strong>als</strong> Jungen. Umgekehrt erreichen Mädchen in Mathematik <strong>und</strong> Physik in<br />
allen Schulformen schwächere Ergebnisse <strong>als</strong> Jungen. Individuelle mathematischnaturwissenschaftliche<br />
Begabungen bei Mädchen werden gelegentlich vielleicht<br />
deshalb nicht wahrgenommen <strong>und</strong> gefördert, weil sie festgelegten<br />
Rollenerwartungen widersprechen. Wenn Mädchen sich im mathematischnaturwissenschaftlichen<br />
Bereich wenig zutrauen, liegt es manchmal nicht an ihren<br />
Fähigkeiten <strong>als</strong> vielmehr an ihrer Selbsteinschätzung, dass Jungen "besser" sind <strong>als</strong><br />
sie. Dementsprechend klassifizieren sie Lehrer/innen <strong>und</strong> Eltern. 232 "Viele Mädchen<br />
glauben daher inzwischen selbst, sie könnten mit Mathe nichts anfangen, halten gute<br />
Ergebnisse für Zufallstreffer, trauen sich im Unterricht aus Angst, sich wieder eine<br />
Blöße zu geben, kaum noch nachzufragen. Jungen dagegen wachsen in der<br />
Annahme auf, sie seien gut in Mathematik. Stimmt das Selbstbild nicht mit den<br />
Leistungen überein, haben sie entweder Pech gehabt oder es liegt am Lehrer oder<br />
der eigenen Faulheit." 233<br />
Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> in der Gr<strong>und</strong>schule ermöglicht vor allem im<br />
Sachunterricht, individuelle Interessen <strong>und</strong> Fähigkeiten, aber auch Schwächen von<br />
Gr<strong>und</strong>schulkindern frühzeitig zu beobachten, zu beschreiben <strong>und</strong> zu beurteilen. 234<br />
Durch innere Differenzierung lassen sich daraus Konsequenzen ziehen, sei es durch<br />
Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit, sei es durch Stützmaßnahmen z.B. bei Sprach-<br />
, Schreib- <strong>und</strong> Leseschwäche, sei es durch Förderung individueller Neigungen.<br />
231<br />
Dagmar Richter: Geschlechtsspezifische Zusammenhänge politischen <strong>Lernen</strong>s. In: Wolfgang<br />
Sander (Hg.): Handbuch der politischen Bildung. Bonn 1997. Seiten 403 - 414, zit. 409. - Weshalb die<br />
Diskriminierung von Frauen erfordert, "eine didaktische Position Kritischer Theorie" zu vertreten <strong>und</strong><br />
sie mit "Zielen der Emanzipation, Mündigkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmung" zu identifizieren, vermag Richter<br />
m. E. nicht schlüssig zu begründen: Dagmar Richter: Geschlechtsdifferente Aspekte<br />
handlungsorientierten <strong>Lernen</strong>s. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.): Handlungsorientierung im<br />
Politikunterricht. Bonn 1998. Seiten 170 - 176, zit. 170. Vgl. dazu auch Sibylle Reinhardt: Männlicher<br />
oder weiblicher Politikunterricht? Fachdidaktische Konsequenzen einer sozialen Differenz. In: Sibylle<br />
Reinhardt/Elke Weise (Hrsg.): Allgemeine Didaktik <strong>und</strong> Fachdidaktik. Fachdidaktiker behandeln<br />
Probleme ihres Unterrichts. Weinheim 1997. Seiten 37 - 66; Astrid Kaiser u.a.: Projekt<br />
geschlechtergerechte Gr<strong>und</strong>schule. Berichte aus der Praxis. Opladen 2003.<br />
232<br />
Vgl. Hildegard Macha: Rekrutierung von weiblichen Eliten. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 10<br />
vom 1. März 2004. Seiten 25 - 32, zit. 28.<br />
233<br />
Stephan Lüke: Von Mädchen, IT-Berufen <strong>und</strong> einem Defizit. Die nordrhein-westfälische<br />
Frauenministerin Birgit Fischer will die Dominanz der Männer in den Berufen der<br />
Informationstechnologie brechen. In: General-Anzeiger vom 5. Juli 2004. Seite 5.<br />
234<br />
Eckhardt Preuß/Ulrike Itze/Herbert Ulonska (Hg.): <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Leisten in der Gr<strong>und</strong>schule. Bad<br />
Heilbrunn 1999; Dietmar von Reeken (Hg.): Handbuch Methoden im Sachunterricht. Baltmannsweiler<br />
2003.<br />
216
Es wäre sicher verfrüht <strong>und</strong> voreilig, aus dem Interesse am Computer oder an<br />
Gesetzestexten schon auf technische oder normativ-juristische Fähigkeiten zu<br />
schließen; doch spricht nichts dagegen, Gruppen zu bilden, die sich an vornehmlich<br />
technischen, historischen, geografischen, sozial- <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen oder<br />
auch geschlechtsspezifischen Neigungen von Kindern orientieren. Daraus lassen<br />
sich hypothetisch später Leistungsbeurteilungen ableiten, die <strong>als</strong> Wegweiser für die<br />
Einschulung in den Sek<strong>und</strong>arbereich I dienen können. Dabei fließen auch<br />
geschlechtsspezifische Verhaltensweisen <strong>und</strong> Rollenmuster mit ein: Mädchen wird<br />
hauptsächlich ein Anpassungs- <strong>und</strong> Kooperations-, Jungen dagegen vornehmlich ein<br />
Dominanzprogramm zugeschrieben. 235<br />
7.10. Diagnostik III im Primarbereich: Migrantenbezogene, vor allem<br />
deutsch-türkische Schul- <strong>und</strong> Integrationsprobleme<br />
Ungelöst <strong>und</strong> für viele Gr<strong>und</strong>schulen unlösbar ist das Migrantenproblem, das im<br />
Amtsdeutsch SNDH heißt - "Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache". Der Anteil<br />
ausländischer Gr<strong>und</strong>schulkinder beträgt in städtischen Ballungszentren bis zu 50 <strong>und</strong><br />
60%, in Ausnahmefällen - wie in Berlin oder Köln - liegt er sogar darüber.<br />
Unterrichtssprache Deutsch!<br />
In NRW muss jedes zehnte Kind einen Deutschkurs besuchen, bevor es eingeschult<br />
wird, damit es den Unterricht überhaupt verstehen kann. Die Sprachkurse, die auf<br />
den Schulbeginn vorbereiten sollen, dauern sechs Monate, gezielte<br />
Sprachförderkurse zehn Monate. Das Angebot ist flächendeckend, reicht aber<br />
dennoch nicht aus, um die Voraussetzungen für einen geregelten Unterricht in der<br />
deutschen Sprache zu schaffen - nicht nur bei ausländischen, sondern auch bei<br />
deutschen Kindern, die ihre Sprache schlecht beherrschen.<br />
Mit der Einschulung beginnt die soziale Ausgrenzung vieler Ausländerkinder schon<br />
aus sprachlichen Gründen, wenn sich ihre Familien - wie z.B. in türkischen Vierteln -<br />
gettoisiert haben <strong>und</strong> eine Integration in <strong>Deutschland</strong> ablehnen - aus welchen<br />
Gründen auch immer. Migrantenkinder geraten deshalb in einen Circulus vitiosus,<br />
aus dem es offenbar kein Entrinnen gibt: Er beginnt in den Familien, in denen Kinder<br />
selbst in der dritten Generation kein oder nur gebrochen Deutsch lernen; er setzt sich<br />
in den Schulen fort, in die solche Kinder gehen müssen, ohne dem Unterricht folgen<br />
zu können; <strong>und</strong> er endet in Arbeitslosigkeit oder Hilfstätigkeiten, weil sie keinen<br />
Schulabschluss haben, oft <strong>als</strong> Teufelskreis auch im Außenseitertum <strong>und</strong><br />
Extremismus, ausnahmsweise sogar im Terrorismus. Denn wer nicht deutsch spricht<br />
235 Schlaue Mädchen. Dumme Jungen. Sieger <strong>und</strong> Verlierer in der Schule. In: Der Spiegel Nr. 21 vom<br />
17. Mai 2004. Seiten 82 - 95 (Titel), zit. 85. Vgl. dazu auch Doris Bischof-Köhler: "Von Natur aus<br />
anders." Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. Stuttgart 2002. (aus biologischer Sicht)<br />
217
<strong>und</strong> liest, kann sich nicht bilden <strong>und</strong> ausbilden in <strong>Deutschland</strong>, hat keine Berufs- <strong>und</strong><br />
Aufstiegschancen, keine Perspektiven.<br />
Das Migranten- <strong>und</strong> das damit zusammenhängende Schulproblem in <strong>Deutschland</strong> ist<br />
komplexer <strong>als</strong> oben verkürzt dargestellt. Anders <strong>als</strong> westeuropäische, auch<br />
osteuropäische <strong>und</strong> afrikanische Ausländer/innen, die in <strong>Deutschland</strong> leben <strong>und</strong> ihre<br />
kulturelle, sprachliche <strong>und</strong> religiöse Identität wahren, aber Deutsch lernen <strong>und</strong> zur<br />
Integration bereit sind, herrscht bei vielen Ausländern/innen aus dem orientalischislamischen<br />
Kulturkreis, insbesondere Türken/innen, der Wille zur Abschottung statt<br />
zur Integration vor. Manche türkischen Familien, vor allem in Köln <strong>und</strong> Berlin (z. B.<br />
Kreuzberg, z. T. auch in Wedding <strong>und</strong> Tiergarten), leben freiwillig im Getto. Sie hören<br />
<strong>und</strong> sehen nur türkische Programme <strong>und</strong> sondern sich ethnisch ab - trotz intensiver,<br />
auch finanzieller deutscher Bemühungen, sie zu integrieren, ohne jedoch ihre<br />
kulturelle, auch religiöse Identität in Frage zu stellen.<br />
Türkische Kinder, in der 3. Generation in <strong>Deutschland</strong> geboren, werden oft durch<br />
Wertvorstellungen familiär geprägt, wie sie vor dreißig oder fünfzig Jahren in der<br />
Türkei galten <strong>und</strong> dem Geist der Demokratie <strong>und</strong> Toleranz widersprechen. Dieses<br />
ethnische <strong>und</strong> geistige Getto programmiert ihre soziale Perspektivlosigkeit <strong>und</strong><br />
Exklusion. Als Kinder sind sie Opfer ihrer Familien, <strong>als</strong> Erwachsene gehören sie zur<br />
"gastarbeitertypischen" Reservearmee aus Ungelernten <strong>und</strong> Arbeitslosen (1.7). Ihre<br />
Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> ihre individuellen<br />
Fähigkeiten haben sie nie entfalten können, weil ihnen der Zugang zu ihnen versperrt<br />
blieb. Die Gr<strong>und</strong>schule konnte nicht kompensatorisch wirken, weil sie <strong>als</strong> Kinder nicht<br />
oder kaum Deutsch gelernt haben <strong>und</strong> deshalb gettoisiert blieben — wie ihre<br />
Ursprungsfamilien auch. In ihnen herrschen häufig starke interfamiliäre Spannungen<br />
mit psychosomatischen Störungen; denn die Kinder, die in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> damit<br />
einem anderen Kulturkreis aufwachsen, werden oft gezwungen, sich dem strengen<br />
patriarchalischen Regiment des Vaters, das manchmal auch die Mutter verinnerlicht<br />
hat <strong>und</strong> unterstützt, zu unterwerfen.<br />
Als langjähriger Leiter der Abteilung Politikwissenschaft am Seminar für Orientalische<br />
Sprachen der Universität Bonn (1992-2001) studierten bei mir großenteils Ausländer,<br />
vornehmlich türkische. Die türkischen Studenten hatten oft Sprachprobleme, so dass<br />
ich mich gefragt habe, wie sie ein deutsches Abitur hatten bestehen können, sie<br />
standen aber auch mit dem Türkischen <strong>und</strong> Englischen auf dem Kriegsfuß. Anders<br />
dagegen verhielt es sich häufig mit türkischen Studentinnen: Sie waren sprachlich<br />
<strong>und</strong> intellektuell ihren männlichen türkischen Kommilitonen nicht nur überlegen,<br />
sondern in Einzelfällen auch ihren deutschen haushoch überlegen <strong>und</strong> brannten<br />
förmlich vor Ehrgeiz <strong>und</strong> Leistungsbereitschaft. Meistens handelte es sich um<br />
Türkinnen aus Bayern, so dass ich manchmal gewitzelt habe, eine ausländische<br />
Familie in <strong>Deutschland</strong> müsse wohl nach Bayern ziehen, wenn sie ihren Kindern zu<br />
guten Deutschkenntnissen <strong>und</strong> zu einer guten Schulbildung verhelfen wolle. Wenn<br />
es sich auch um subjektive <strong>und</strong> vielleicht Zufallsbef<strong>und</strong>e handelt, die sich nicht<br />
218
verallgemeinern lassen: Immerhin ist Bayern in der nationalen PISA-Studie<br />
Spitzenreiter in <strong>Deutschland</strong> (1.2); <strong>und</strong> bei den türkischen Studentinnen wirkt sich<br />
offenbar eine geschlechtsspezifische Komponente aus: dass sie ihre familiär-<br />
patriarchalisch bedingte Diskriminierung gegenüber Jungen durch intellektuelle<br />
Leistungen unbewusst kompensieren wollen <strong>und</strong> damit gegen die ihnen<br />
aufoktroyierte traditionelle türkische Frauenrolle aufbegehren.<br />
In die D-Dok. sind türkischsprachige Originalquellen nebst deutschen Übersetzungen<br />
aufgenommen, die das türkisch-deutsch-europäische Verhältnis <strong>und</strong> die Lage der<br />
türkischen "Gemeinde" in <strong>Deutschland</strong> exemplarisch spiegeln sollen. Sie werden in<br />
diese vornehmlich deutschsprachige Datenbank integriert, um zu dokumentieren,<br />
dass Ausländer in <strong>Deutschland</strong> wahrgenommen werden <strong>und</strong> dort mit anderen leben<br />
können, ohne ihre Identität, ihre Sprache, ihre Religion, ihre Kultur, ihre Wurzeln<br />
aufgeben oder verleugnen zu müssen.<br />
Gleichberechtigt <strong>und</strong> chancengleich individuell entfalten können sich Ausländer/innen<br />
jedoch nur dann, wenn sie die Demokratie in <strong>Deutschland</strong> respektieren <strong>und</strong> die<br />
deutsche Sprache erlernen, um sich zu integrieren - statt sich abzuschotten, damit<br />
ins Abseits zu stellen oder gar Intoleranz, Hass <strong>und</strong> Terror zu predigen. Je schlechter<br />
junge Türken in <strong>Deutschland</strong> integriert sind, um so mehr neigen sie dazu, sich<br />
islamisch-f<strong>und</strong>amentalistischen Überzeugungen zu verschreiben oder politischnationalistischen<br />
Organisationen wie "Milli Görüº" (Nationale Sicht) oder<br />
"Bozkurtcular" (Graue Wölfe) anzuschließen. Integration heißt nicht Assimilierung im<br />
Gastland, verbietet aber auch, Gastrechte zu missbrauchen <strong>und</strong> auszubeuten.<br />
Ob <strong>und</strong> inwieweit es gelingt, die angebotenen fremdsprachlichen Quellen in der D-<br />
Dok. für die geschilderte migrantenspezifische Integration fruchtbar zu machen, ist<br />
keine theoretische, sondern eine praktische Frage. Es ist auch kein schulisches oder<br />
Bildungsproblem allein, sondern längst eine ungelöste nationale <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
eine europäische Aufgabe. Die Politik schiebt sie vor sich her <strong>und</strong> manövriert damit<br />
die Schulen in eine Sackgasse. Schon heute ist an vielen Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Hauptschulen<br />
mit hohem Migrantenanteil das Unterrichten in deutscher Sprache unmöglich — <strong>und</strong><br />
wird dennoch gefordert. Wenn Familien <strong>und</strong> Staat so versagen, kann auch Schule<br />
nichts daran ändern.<br />
7.11. Die erste Lernprobe: Die Vorstellung der D-Dok. in einer 4. Klasse<br />
der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid<br />
Die Abschnitte 7.5. - 7.10. habe ich ohne Schulerfahrung unter Auswertung der<br />
zitierten Literatur geschrieben. Da ich mich auch in Forschung <strong>und</strong> Lehre nicht mit<br />
dem Primarbereich befasst habe, liegt nahe, dass ich die Realitäten verkenne, die an<br />
Gr<strong>und</strong>schulen herrschen. Daher habe ich eine mir bekannte, erfahrene<br />
219
Gr<strong>und</strong>schullehrerin gebeten, die Abschnitte 7.5. - 7.10. kritisch durchzusehen, <strong>und</strong><br />
mich einer Lernprobe in einer Gr<strong>und</strong>schule gestellt.<br />
In einer "Lehrprobe", so meinten meine häuslichen <strong>und</strong> außerhäuslichen<br />
Kritikerinnen, <strong>und</strong> belehrten mich, was ich dabei alles beachten müsse. Nein, in einer<br />
Lernprobe, widersprach ich. Von einer "Lernprobe" hatten die Re<strong>als</strong>chullehrerinnen<br />
noch nichts gehört. Meine Frau mutmaßt, dass es so etwas gar nicht gebe <strong>und</strong> von<br />
mir erf<strong>und</strong>en worden sei, um die mir lästigen Fragen nach meinen pädagogischen<br />
Qualifikationen abzuschütteln.<br />
Dennoch hat die erste <strong>und</strong> bisher einzige Lernprobe mit der D-Dok. stattgef<strong>und</strong>en:<br />
Am 20. Juli 2004 in einer 4. Klasse der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid. Der<br />
Bonner General-Anzeiger hatte über offene Unterrichtsformen, über die Abkehr vom<br />
starren 45-Minutenschema, über den bevorzugten PC-Unterricht an dieser Schule<br />
<strong>und</strong> ihre Lehrerin Brigitte Dörpinghaus berichtet. 236 Anwesend war auch der Verfasser<br />
dieses Artikels, der Journalist Stephan Lüke.<br />
Zum ersten Male seit einem Schulpraktikum während meines Lehramtsstudiums,<br />
<strong>als</strong>o vor etwa 45 Jahren, stand ich zwar nicht mehr vor, sondern inmitten einer<br />
Klasse. Die Kinder schauten mich erwartungsvoll an. Ich hatte keinen<br />
Unterrichtsentwurf vorbereitet, damit alles offen bleibt.<br />
Ich will euch meine DVD mit Texten, Bildern <strong>und</strong> Tönen zeigen, so begann ich,<br />
nachdem ich mich <strong>und</strong> den Zeitungsartikel kurz vorgestellt hatte. Wie erwartet,<br />
wussten die Kinder, was eine DVD ist. Mehr <strong>als</strong> die Hälfte von ihnen verfügte, wie ich<br />
erfragte, über einen eigenen Fernseher.<br />
Zu einer Panne kam es gleich am Anfang. Mit dem Laufwerk der bereitgestellten<br />
PC's ließ sich die D-Dok. nicht starten. Brigitte Dörpinghaus besorgte kurzfristig<br />
einen Laptop, einen Beamer <strong>und</strong> einen Projektionsbildschirm. Dann erst begann -<br />
beträchtlich verspätet - die eigentliche Lernprobe.<br />
Die Kinder, um den Laptop geschart, bestimmten selbst, welche Bilder (Datei-<br />
Koeffizient: FOT) sie öffnen <strong>und</strong> betrachten wollten. Die erste Überraschung: Aus<br />
779 Bild-Dokumenten fischten sie ein Foto heraus, das B<strong>und</strong>espräsident von<br />
Weizsäcker am 2. November 1987 mit Prinzessin Diana zeigt. Von Lady Di trennten<br />
sie sich nur ungern, von mir gebeten, zu den Ton-Dokumenten überzugehen. Von<br />
den Politikern beeindruckte die Kinder vor allem Ernst Reuters Stimme (13 von 407<br />
Ton-Dokumenten) <strong>und</strong> das Pathos, mit dem er vor der Bedrohung Berlins warnte.<br />
236 Stephan Lüke: Der Spaß der Kinder hat sie alle überzeugt. Frontalunterricht <strong>und</strong> starre Regeln<br />
gehören in der Gr<strong>und</strong>schule Hackenberg in Remscheid der Vergangenheit an. Stattdessen<br />
entscheiden die Schüler über ihr Pensum <strong>und</strong> lernen am PC. In: General-Anzeiger vom 17. Februar<br />
2004. Seite 5.<br />
220
Der nächste Wunsch der Kinder, den ich nicht erfüllen konnte <strong>und</strong> wollte, hieß:<br />
"Lieder" - <strong>als</strong>o Unterhaltung. Der Ruf nach panem et circenses war unüberhörbar.<br />
Die Kinder begannen zu agieren. Ich hatte sie mit dazu verleitet, indem ich ihnen die<br />
D-Dok. über Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente, <strong>als</strong>o über die bei ihnen durch Fernsehen<br />
eingeübte Viewing Literacy, hatte nahe bringen wollen.<br />
Daher habe ich die Kinder mit neuen Fakten konfrontiert <strong>und</strong> sie insoweit belehrt:<br />
dass die D-Dok. keine McDonald-DVD sei, dass sie keine Spiele kenne <strong>und</strong> weder<br />
Madonna noch Michael Jackson, sondern allenfalls Marschmusik <strong>als</strong><br />
Hintergr<strong>und</strong>musik bieten könne; dass deshalb Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente nur<br />
Geschriebenes ergänzen <strong>und</strong> veranschaulichen sollen, dass das Lesen von <strong>und</strong> das<br />
<strong>Lernen</strong> mit Schriftlichem im Mittelpunkt stehe <strong>und</strong> dies Arbeit von ihnen erfordere.<br />
Um Schreiben, Lesen <strong>und</strong> Rechnen zu lernen, seien sie in der Schule, <strong>und</strong> nicht um<br />
zu spielen <strong>und</strong> sich zu unterhalten — dies könnten sie zu Hause tun.<br />
Die zweite Überraschung: Die Kinder hörten nicht nur die Botschaft, sie nahmen sie<br />
offensichtlich mehrheitlich auch an, obwohl ich nicht umhin gekommen war, sie zu<br />
belehren, <strong>und</strong> ich dies hatte vermeiden wollen. Manchen stand die Enttäuschung<br />
aber ins Gesicht geschrieben, da sie sich von der DVD Unterhaltung, Musik, Spiel<br />
<strong>und</strong> Spaß versprochen hatten.<br />
Wie von mir vorgeschlagen, mit der Rechtschreibung zu beginnen, gab ein Junge<br />
statt "Vater" f<strong>als</strong>ch "Vatter" ein. Trefferquote 0. Nach Verbesserung "Vater": 225<br />
Treffer. Die dritte Überraschung: Die Kinder haben, wenngleich auf Befragen, die -<br />
nicht immer, aber weitgehend zutreffende - Regel aufgr<strong>und</strong> der angezeigten <strong>und</strong><br />
teilweise geöffneten Dateien aufgestellt: Bei Rechtschreibfehlern gibt es keine<br />
Treffer, <strong>und</strong> Vater hat auch etwas mit Paragrafen zu tun. Mehr kann <strong>und</strong> ist von<br />
Gr<strong>und</strong>schulkindern nicht zu erwarten.<br />
Ist die Heimatstadt Remscheid in der D-Dok. zu finden? Das interessierte die Kinder,<br />
die Wert darauf legten, den Laptop selbst zu bedienen, <strong>und</strong> sich auf der Tastatur gut<br />
auskannten. Remscheid: 3 Treffer. Hackenberg (Stadtteil): 0 Treffer. Solingen: 32<br />
Treffer. Düsseldorf: 198 Treffer. Die vierte Überraschung: Die Kinder haben die<br />
Schlussfolgerungen aus diesen Trefferzahlen selbst gezogen; allerdings hatten sie<br />
anfangs nur geraten, <strong>und</strong> ich musste wiederholt nachfragen, bis sie stichhaltige<br />
Begründungen lieferten. So hatten sie auf die Frage: "Weshalb hat Remscheid 3,<br />
aber Solingen 32 Treffer?", zunächst spontan geantwortet: "Dort ist mehr los",<br />
"Solingen ist größer", "Es ist bekannter" u. a. Erst <strong>als</strong> ich darauf hinwies, was der<br />
Computer ausgespuckt hatte, verarbeiteten sie Informationen zum<br />
fremdenfeindlichen "Brandanschlag". Die Kinder ließen sich auch nicht verwirren, <strong>als</strong><br />
ich fragte, weshalb Düsseldorf, <strong>als</strong>o dem Namen nach ein Dorf, so häufig in der D-<br />
Dok. zu finden sei, aber ihr Stadtteil Hackenberg nicht.<br />
221
Damit endete die Lernprobe, da mich die Kinder darauf aufmerksam machten, dass<br />
ich die St<strong>und</strong>e mit etwa 20 Minuten mehr <strong>als</strong> überzogen hatte. Die Abkehr vom 45-<br />
Minutentakt hatte für sie offensichtlich Toleranzgrenzen, die zu beachten waren.<br />
Die fünfte Überraschung betrifft mich <strong>als</strong> <strong>Lernen</strong>den: Zwar haben die Kinder den<br />
Verlauf der Lernprobe weitgehend selbst bestimmt, doch habe ich wiederholt<br />
interveniert. Ich bin nicht ohne Belehrungen ausgekommen, obwohl ich auf sie hatte<br />
verzichten wollen. Mit anderen Worten: Interventionen <strong>und</strong> Belehrungen sind ebenso<br />
wie Frontalunterricht gelegentlich unvermeidlich <strong>und</strong> je nach Zielsetzungen auch<br />
sinnvoll, sofern sie nicht zur Routine <strong>und</strong> zur Unterrichtsregel werden - wie heute oft<br />
in den Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II.<br />
Meine studentischen Mitarbeiter/innen an der Universität Bonn, die ich gebeten hatte,<br />
die D-Dok. mit mir an der Gr<strong>und</strong>schule in Remscheid vorzustellen, schützten alle<br />
Ausreden vor, um mich nicht begleiten zu müssen - auch jene, die am 20. Juli 2004<br />
Dienst hatten. Der Hauptgr<strong>und</strong>: Sie halten die D-Dok. <strong>und</strong> ihre Quellentexte für<br />
Gr<strong>und</strong>schulkinder für zu schwer <strong>und</strong> deshalb für ungeeignet <strong>und</strong> unbrauchbar. Vor<br />
Gymnasiallehrern/innen in Bonn dagegen hatten sie die D-Dok. mit mir vorgestellt,<br />
einmal auch allein.<br />
Fazit: Es liegt nicht an den Kindern, es liegt an den Erwachsenen, wenn<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> nicht oder nur sehr schwer an Gr<strong>und</strong>schulen wird Fuß fassen können.<br />
Als Erwachsene bestimmen sie darüber, was Kinder zu lernen haben, <strong>und</strong><br />
Lehrern/innen wird oft minutiös vorgeschrieben, was sie ihnen zu lehren haben.<br />
Jahrzehntelang in der Schul-, Hochschul- <strong>und</strong> Referendarzeit eingeübte<br />
Lehrmethoden, die meistens zur Routine erstarrt sind, <strong>und</strong> nicht zuletzt eine<br />
Bildungspolitik <strong>und</strong> Schulbürokratie, die Lehrer/innen zur Unselbstständigkeit<br />
"erzogen" <strong>und</strong> von Richtlinien/Lehrplänen abhängig gemacht haben, lassen sich nur<br />
Schritt für Schritt reformieren. Denn es handelt sich nicht allein um geistigintellektuelle<br />
Umstellungen, sondern um eingefleischte emotionale Einstellungen, die<br />
in der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen verankert sind <strong>und</strong> sich deshalb nur<br />
langfristig <strong>und</strong> langsam werden ändern lassen.<br />
Vermutlich werden sich nur einzelne engagierte Lehrer/innen finden, die es wagen,<br />
die D-Dok. an Gr<strong>und</strong>schulen zu erproben. Vielleicht gehört die Gr<strong>und</strong>schullehrerin<br />
<strong>und</strong> Lehrbeauftragte Brigitte Dörpinghaus dazu, der ich zum Abschied ein<br />
Freiexemplar der D-Dok. überreicht habe, aber sicher nicht die Schulleiterin der<br />
angeblich auf computergestützten Unterricht spezialisierten Gr<strong>und</strong>schule<br />
Hackenberg in Remscheid. Als ich ihr die D-Dok. zeigte, war sie an ihr<br />
desinteressiert, <strong>und</strong> zwei Minuten hatte ich Zeit, sie ihr "vorzustellen".<br />
222
7.12. Durchsicht <strong>und</strong> "Überprüfung": Die Gr<strong>und</strong>schulteile 7.5. - 7.10. im<br />
Urteil der Fachleiterin Gisela Arnold<br />
Gisela Arnold (Bad Münstereifel) ist langjährige Gr<strong>und</strong>schullehrerin <strong>und</strong> Fachleiterin<br />
für Sachunterricht seit 1993 am Studienseminar Düren, jetzt Studienseminar<br />
Vettweiß. Sie hatte bei mir Ende der 70er Jahre ein SI-Examen abgelegt. Auf der<br />
Suche nach kritischer Begleitung im Primarbereich erinnerte ich mich jetzt an sie.<br />
Daher nahm ich telefonisch Kontakt mit ihr auf.<br />
Ich berichtete ihr, dass ich mich im Begleitbuch zur D-Dok. erstm<strong>als</strong> mit der<br />
Gr<strong>und</strong>schule befasse <strong>und</strong> mit 68 Jahren nicht wisse, ob ich mich auf einem Abweg,<br />
einem Irrweg oder einem Holzweg befände. Gisela Arnold bot mir von selbst an, die<br />
fraglichen Manuskriptteile zu lesen - <strong>als</strong> hätte sie geahnt, weshalb ich sie anrufe.<br />
Also schickte ich ihr die Abschnitte 7.5. - 7.10. per Post am 22. Juli 2004 mit der Bitte<br />
um "Durchsicht" zu.<br />
In ihrer zweiseitigen Stellungnahme <strong>und</strong> ihren Randnotizen stellte Gisela Arnold<br />
vorab klar, dass sie sich "aus zeitlichen Gründen" nicht in der Lage gesehen habe,<br />
das Manuskript "Satz für Satz" durchzugehen. "Ich kenne die D-Dok-DVD nicht <strong>und</strong><br />
kann deshalb nichts über die Eignung der Dokumente für Gr<strong>und</strong>schulkinder sagen,<br />
weder in inhaltlicher noch in sprachlicher Hinsicht." 237 Die DVD, die ich ihr angeboten<br />
hatte, konnte sie nicht prüfen, da ihr dafür das Laufwerk fehlte. Nach ihren<br />
Randnotizen besitzen Gr<strong>und</strong>schulen zu vielleicht 20-30% einen Beamer, <strong>und</strong> die in<br />
den Klassen vorhandenen PCs haben keine DVD-Laufwerke. Dies ist ein finanzielltechnisches<br />
Ausstattungsproblem.<br />
Zusammenfassend schreibt Gisela Arnold: "Ihre Aussagen zu den Tendenzen,<br />
Schulen, Lehrpersonen sowie Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern mehr Selbstständigkeit<br />
<strong>und</strong> Verantwortung zu übertragen für die Organisation von Lernumgebungen <strong>und</strong> für<br />
den Lernprozess selbst, entsprechen sicher dem aktuellen Konzept, wenn die<br />
Realisierung natürlich auch sehr unterschiedlich weit voran geschritten ist. Neu sind<br />
die Tendenzen allerdings in der Gr<strong>und</strong>schule nicht: im Prinzip waren sie schon in den<br />
Richtlinien <strong>und</strong> Lehrplänen für die Primarstufe von 1985 enthalten." Und sie fügt<br />
hinzu: "Kinder sollen recherchieren lernen im Sinne von Informationen sammeln <strong>und</strong><br />
Informationsquellen auswerten, ausdrücklich dabei auch neue Medien nutzen.<br />
Insoweit stimme ich Ihrer Argumentation voll zu <strong>und</strong> ich sehe sie auch in absoluter<br />
Übereinstimmung mit den amtlichen Vorgaben <strong>und</strong> den aktuellen Tendenzen in der<br />
Didaktik des SU (GDSU). Allerdings handelt es sich nicht um eine Fähigkeit, die an<br />
beliebigem Material <strong>und</strong> unter beliebiger Fragestellung erlernt werden kann, da der<br />
Sachunterricht durch die verbindlichen Aufgabenschwerpunkte <strong>und</strong><br />
Unterrichtsgegenstände sowie durch die verbindlichen Anforderungen des Lehrplans<br />
an Richtwerte geb<strong>und</strong>en ist." Gisela Arnold schlägt mir daher vor, die<br />
237 Zweiseitige Stellungnahme vom 5. August 2004; aus ihr wird auch im Folgenden zitiert.<br />
223
verfahrensorientierten Ziele mit inhaltlichen Zielen zu verknüpfen: Quellen<br />
kindorientiert <strong>und</strong> lehrplanorientiert exemplarisch den "Lehrpersonen wenigstens<br />
beispielhaft" nahe zu bringen <strong>und</strong> "die Einsatzmöglichkeit von Quellen aus der D-<br />
Dok. anhand des LP SU zu konkretisieren". Nur so ergäben sich "Kaufargumente für<br />
die DVD".<br />
Anders <strong>als</strong> zuvor hatte sich der Lehrplan 1985 für den Sachunterricht in NRW bereits<br />
durch Offenheit ausgezeichnet, da er Freiheiten einräumte, individuelle<br />
Schwerpunkte zu setzen. 238 Der neue Lehrplan-Entwurf 2003 ermöglicht darüber<br />
hinaus forschend-entdeckendes, fächerübergreifendes, medienorientiertes <strong>und</strong><br />
reflektierendes <strong>Lernen</strong> zur aktiven Wissensvermittlung. Sie krankt aber nach wie vor<br />
daran, dass die Unterrichtsgegenstände innerhalb der Aufgabenschwerpunkte<br />
verbindlich sind. Somit stehen nicht Fragestellungen der Kinder, deren individuelle<br />
<strong>und</strong> kindgerechte Fähigkeiten gefördert werden sollen, im Mittelpunkt des<br />
Sachunterrichts. Auch ist nicht das aktiv-forschende <strong>Lernen</strong> zur "Welterk<strong>und</strong>ung"<br />
entscheidend, sondern eher die passiv-vermittelnde Rolle, <strong>als</strong>o die Rezeption im<br />
Sachunterricht. 239<br />
Dies widerspricht dem Gr<strong>und</strong>anliegen des neuen <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an Quellen. Meine<br />
in der Tat unverbindlichen <strong>und</strong> bewusst auch idealtypischen Fragestellungen an die<br />
verbindlichen Vorgaben des LP SU eines B<strong>und</strong>eslandes - <strong>und</strong> warum NRW? -<br />
anzupassen, zu konkretisieren <strong>und</strong> demgemäß auch Quellen auszuwählen,<br />
vorzuschlagen oder gar festzulegen, lehne ich daher <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok. wie<br />
auch <strong>als</strong> Autor dieses Begleitbuches ab. Folglich habe ich, von kleinen Korrekturen<br />
abgesehen, die ursprüngliche Fassung der Manuskriptteile 7.5. - 7.10. in dieses<br />
Buch übernommen.<br />
Die Vorschläge Arnolds, <strong>Quellenarbeit</strong> lehrplan- <strong>und</strong> richtlinienverbindlich für den<br />
Sachunterricht inhaltlich aufzubereiten, sozusagen "den amtlichen Vorgaben <strong>und</strong> den<br />
aktuellen Tendenzen" anzupassen, legen offen, wie unfrei Lehrer/innen entgegen<br />
öffentlicher Bek<strong>und</strong>ungen in der Unterrichtsgestaltung noch heute bleiben. Sie sind<br />
jahrzehntelang zur Unselbstständigkeit nicht nur erzogen, sondern heute noch<br />
verpflichtet, obgleich sich vieles gelockert hat. Dies wird die Lehrerfortbildung nur<br />
wenig <strong>und</strong> dann auch nur langfristig ändern können.<br />
238 Der Kultusminister des Landes NRW: Richtlinien <strong>und</strong> Lehrplan Sachunterricht. Köln 1985. Vgl.<br />
dazu Ewald Kurowski u.a.: Kommentar zum Lehrplan. Heinsberg 1986. Seiten vor allem 38-42<br />
(Theorie), 80-127 (Praxis); Astrid Kaiser: Einführung in die Didaktik des Sachunterrichts.<br />
Hohengehren 1996; Hanna Kiper: Sachunterricht - Kindorientiert. Hohengehren 1997.<br />
239 Zur Überarbeitung der Richtlinien <strong>und</strong> Lehrpläne, die sich derzeit in der Erprobung befinden, sowie<br />
zur Stellungnahme des Gr<strong>und</strong>schulverbandes zum Lehrplanentwurf Sachunterricht (04.03)<br />
http://www.gr<strong>und</strong>schulverband-nrw.de. Die Texte sind über den Ritterbach-Verlag in Frechen online<br />
abrufbar.<br />
224
Folgender Passage Gisela Arnolds stimme ich nachträglich zu: "Die Aussagen zur<br />
Ganztagsschule finde ich problematisch, weil das, was derzeit in den Gr<strong>und</strong>schulen<br />
realisiert wird, den Namen Ganztags'schule' nicht verdient. Die jeweilige Ausformung<br />
der Angebote am Nachmittag folgt nicht einem inhaltlichen Konzept oder den<br />
Bedürfnissen der Kinder, sondern ist abhängig von den außerschulischen Anbietern<br />
<strong>und</strong> für viele Kommunen ein Sparmodell, da sie gleichzeitig die Hortplätze verringern<br />
<strong>und</strong> das eingesparte Geld keineswegs für die Aufgestaltung des<br />
Nachmittagsangebotes komplett einsetzen." Diesen wichtigen Sachverhalt hatte ich<br />
übersehen, weil ich ihn nicht kannte.<br />
Zweifel hat Gisela Arnold auch geweckt, ob der von Falko Peschel beschriebene<br />
beeindruckende "Offene Unterricht" in seinen Veröffentlichungen (7.5., 7.6.) den<br />
Tatsachen entspricht oder möglicherweise idealisiert <strong>und</strong> geschönt wiedergegeben<br />
ist. "Die von Herrn Peschel herabgewürdigten Unterrichtsformen wie 'Werkstatt' <strong>und</strong><br />
'Wochenplan' sind in der Tat keine vollkommen 'offenen' Formen, bieten aber für die<br />
Hinführung zu selbstständigem, eigenverantwortlichen Arbeiten mit Medien<br />
verschiedener Art: Sachbüchern, Lexika, Wörterbüchern - auch am PC mit Software<br />
oder mit einer Kinder-Suchmaschine - sehr gute Möglichkeiten. Öffnung von<br />
Unterricht ist nicht nur eine Frage der Unterrichtsmethode, die sich <strong>als</strong> entweder<br />
Frontalunterricht oder 'Peschel'-Unterricht darstellt, sondern es gibt ein sehr viel<br />
größeres Spektrum, das ich aber in diesem Zusammenhang nicht darstellen kann."<br />
Ich frage mich inzwischen, ob der "Offene Unterricht", wie ihn Peschel schildert, nicht<br />
zu schön ist, um wahr zu sein. Dies kann ich auch für das hier vertretene Konzept<br />
des weitgehend selbstbestimmten <strong>Lernen</strong>s mit <strong>und</strong> an Quellen nicht ausschließen,<br />
zumal es noch nicht praktisch erprobt worden ist.<br />
7.13. Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II, insbesondere Gymnasien: Idealtypische<br />
Fragestellungen, Aufzählungen <strong>und</strong> Vorschläge<br />
Wegen der Kontroversen darüber, ob sich die D-Dok. <strong>und</strong> <strong>Quellenarbeit</strong> im<br />
Primarbereich sinnvoll einsetzen lassen oder nicht, sind die Ausführungen darüber<br />
nicht nur relativ, sondern auch insgesamt umfangreich ausgefallen. Daher werden im<br />
Folgenden die Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II an allgemein bildenden Schulen<br />
zusammengefasst <strong>und</strong> stark verkürzt behandelt.<br />
Die idealtypischen Fragestellungen orientieren sich am vorgestellten "offenen", wenig<br />
präzisierten Lernprogramm (5.2.) <strong>und</strong> an der Zielsetzung, den tradierten<br />
Frontalunterricht, soweit er sich im Lehren von <strong>und</strong> im Belehren mit "fertigem"<br />
Wissen erschöpft, durch das weitgehend selbstbestimmte <strong>Lernen</strong> in der Klasse zu<br />
ersetzen. Dabei geht es, wie schon bei den PISA-Tests, nicht darum, abfragbares,<br />
insbesondere faktisches Wissen zu mehren <strong>und</strong> zu reproduzieren, sondern vorrangig<br />
225
darum, sich je nach Fragestellungen eigenes Wissen selbst zu erarbeiten. Dazu stellt<br />
die D-Dok. einen riesigen Informationspool aus zuverlässigen Quellen bereit. Sie gilt<br />
es zu erschließen, auszuwerten <strong>und</strong> so individuelle Fähigkeiten von Lehrern/innen<br />
<strong>und</strong> Schülern/innen zu fördern, je nach Fragestellungen selbstständig nach<br />
Problemlösungen zu recherchieren: sie zu suchen, zu finden, aus ihnen Schlüsse zu<br />
ziehen <strong>und</strong> sie im Alltag anzuwenden, damit sie in uns Gestalt gewinnen.<br />
Ein solches Wissen aus Quellen <strong>als</strong> Rohstoff ist lebendig - anders <strong>als</strong> gespeichertes,<br />
abfragbares Wissen, das wir "fertig" übernommen (rezipiert) haben. Es dient meist<br />
nicht dem Leben, sondern hauptsächlich Prüfungen, Klausuren, Benotungen <strong>und</strong><br />
Gedächtnisleistungen (oft nur dem Prüfungs-Kurzzeitgedächtnis) - kurzum der<br />
Reproduktion. Nur wer selbst lernt, gewinnt etwas eigenständig-kreativ für sich<br />
selbst: geistig-intellektuell, psychisch-emotional <strong>und</strong> körperlich-somatisch. Denn ein<br />
vor allem aus, mit <strong>und</strong> an den Quellen erarbeitetes Wissen erfasst den Menschen<br />
ganzheitlich, wenn es in den Tiefen des Selbst (1.4.) gründet <strong>und</strong> deshalb dazu<br />
befähigt, sich selbst zu lieben.<br />
Es folgen idealtypische Fragestellungen <strong>und</strong> Vorschläge, die einer inhaltlichdidaktisch-methodischen<br />
Konkretisierung vor Ort je nach Sek<strong>und</strong>arstufe, Schule <strong>und</strong><br />
Klasse bedürfen. Die Auswahl <strong>und</strong> die Bestandsaufnahme zu den 13 Teillernzielen<br />
des Lernprogramms (5.2.) beschränken sich auf Aufzählungen. Sie überschneiden<br />
sich gelegentlich <strong>und</strong> haben meist "Package"- <strong>und</strong> Syndrom-Charakter, d. h. sie<br />
enthalten Bündel von Themen <strong>und</strong> Symptomen, die eine quellenkritische Erarbeitung<br />
erfordern.<br />
Abgeraten wird vom Projekt-Unterricht <strong>und</strong> ähnlich ehrgeizigen Unternehmungen. 240<br />
Sie überfordern - von Ausnahmen abgesehen - Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen <strong>und</strong><br />
erfüllen oft nur Werbe-, Alibi- <strong>und</strong> Show-Funktionen.<br />
Medienakzeptanz <strong>und</strong> Medienkompetenz (5.2.-1.):<br />
Medien <strong>als</strong> virtuelle Welt <strong>und</strong> Demiurg der Wirklichkeit?<br />
Die Bewusstseins- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie der Medien <strong>als</strong> Spiegelbild der<br />
Informationsgesellschaft?<br />
Medien <strong>als</strong> narzisstische Selbst- <strong>und</strong> Ersatzobjekte?<br />
Schüler/innen <strong>als</strong> "Fernsehkinder"?<br />
Annahme <strong>und</strong> Erprobung neuer Medien in der Klasse?<br />
Freiwilliger, vorgeschriebener oder erzwungener Medieneinsatz?<br />
Technisch-finanzielle Ausstattung der Schule, z.B. DVD-Laufwerke, Beamer?<br />
Nutzung <strong>und</strong> Bereitstellung multimedialer Dienste?<br />
240 Zu 15 Jahren Projekterfahrung vgl. Peter Knoch: Der schwierige Umgang mit Geschichte in<br />
Projekten. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht 38, 1987. Seiten 527 540, Literaturangaben<br />
Seiten 537 - 539.<br />
226
Medienkompetenz von Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen?<br />
Internetanschluss <strong>und</strong> Internetnutzung in der Klasse?<br />
Medienkonsum: Durchschnittliche Fernsehdauer pro Tag? Am Wochenende?<br />
Eigener Fernseher: Prozentualer Anteil in der Klasse?<br />
Lieblingssender? Lieblingssendungen?<br />
Medienverwahrlosung?<br />
Computer Literacy, Reading Literacy, Viewing Literacy <strong>und</strong> Scientific Literacy?<br />
Einzelfälle: TV-, Handy- oder Internet-Sucht?<br />
Technische Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten am PC?<br />
Digitale Spaltung in der Klasse?<br />
Familiärer <strong>und</strong>/oder sozialer Hintergr<strong>und</strong>?<br />
Relative digitale Chancengleichheit?<br />
PC-Arbeit: lehrerbestimmt durch Frontalunterricht; schulbuchbestimmt;<br />
schülerorientiert?<br />
Medien <strong>und</strong> Politik?<br />
Vermitteln oder inszenieren Medien Politik?<br />
Unterhaltungs- <strong>und</strong> Informationswert von Historytainment <strong>und</strong> Politainment: z.B. im<br />
ZDF, bei Phoenix?<br />
Parteien- <strong>und</strong> Mediendemokratie?<br />
Medien <strong>und</strong> politische Meinungsbildung, z.B. Wahlverhalten?<br />
Medienpräsenz <strong>und</strong> Einschaltquoten?<br />
Medien <strong>und</strong> Gewalt?<br />
Politik in Talkshows?<br />
Das Sabine-Christiansen-Syndrom?<br />
Bad News are Good News?<br />
Meinungsfreiheit <strong>und</strong> heimliche Zensur?<br />
"Traumberufe" in den Medien?<br />
Propaganda <strong>und</strong> Medien, z.B. im Ost-West-Konflikt, im Nord-Süd-Konflikt?<br />
Medien <strong>und</strong> Werbung?<br />
Nachricht/Information <strong>und</strong> Kommentar/Deutung?<br />
Narzissmus <strong>und</strong> Selbstbespiegelung in den Medien?<br />
Sex and Crime in Medien <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funkanstalten?<br />
Medien in der Rechtsprechung?<br />
Ökonomische Gr<strong>und</strong>lagen der Medien?<br />
Öffentlich-rechtliche <strong>und</strong> private R<strong>und</strong>funkanstalten, vor allem Fernsehsender?<br />
Medien <strong>als</strong> vierte Gewalt?<br />
Bildung <strong>und</strong> Computerspiele?<br />
Schülerzeitung?<br />
Neue Politische Bildung (5.2.-2.):Vgl. auch Geschichtsunterricht<br />
Psychologisierung <strong>und</strong> Emotionalisierung der politischen Bildung?<br />
"Politik wird mit dem Kopf gemacht"?<br />
Emotionen <strong>und</strong> Affekte in der Politik?<br />
227
Politik <strong>als</strong> öffentlicher <strong>und</strong>/oder privater Sektor?<br />
Politik, Parteipolitik <strong>und</strong> Ideologie?<br />
Politischer Narzissmus?<br />
Politik <strong>und</strong> Sex?<br />
Politische Prostitution <strong>und</strong> Korruption?<br />
Politischer Lobbyismus, vor allem in Parlamenten?<br />
B<strong>und</strong>estagabgeordnete - Volksvertreter, Parteimitglieder, Lobbyisten?<br />
Politik <strong>als</strong> Verwaltung? Verwaltete Politik?<br />
Politische Institutionen <strong>und</strong> öffentlicher Dienst, vor allem Beamte?<br />
Parteipolitik, Sex <strong>und</strong> Postenschacher?<br />
Besatzungszonen, BRD, DDR <strong>und</strong> geeintes <strong>Deutschland</strong>: Ausgewählte Beispiele?<br />
Variablen <strong>und</strong> Konstanten der Außenpolitik: Konkrete Themen?<br />
Interdependenzen zwischen Innen- <strong>und</strong> Außenpolitik?<br />
Zwischen Politik <strong>und</strong> Wirtschaft?<br />
Zwischen Politik <strong>und</strong> Staatsrecht/Völkerrecht?<br />
Zwischen Politik <strong>und</strong> sozialer Sicherung/Sozialpolitik?<br />
Zwischen Politik <strong>und</strong> Umwelt, Ernährung, Ges<strong>und</strong>heitsfragen?<br />
Zwischen Politik <strong>und</strong> Verfassungswandel bzw. Regierungssystem?<br />
Gr<strong>und</strong>gesetzänderungen - wann, welche, warum, wie?<br />
Verfassungsrecht <strong>und</strong> Verfassungswirklichkeit in der BRD <strong>und</strong> in der DDR?<br />
Sozi<strong>als</strong>taatliche Gr<strong>und</strong>lagen?<br />
Soziale Sicherung <strong>und</strong> alternde Gesellschaft?<br />
Wirtschaftspolitische Leitlinien <strong>und</strong> Modelle?<br />
Wirtschaft, Sozialpolitik <strong>und</strong> Gesellschaft?<br />
Konjunktur, Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard?<br />
Arbeitslosigkeit, Steuern <strong>und</strong> soziales Netz?<br />
Demografie <strong>und</strong> Renten?<br />
Agenda 2010 - Kontext, Konflikte, Konsequenzen?<br />
Kalter Krieg/Ost-West-Konflikt <strong>und</strong> internationale Politik?<br />
B<strong>und</strong>eswehr <strong>und</strong> Sicherheit?<br />
Politischer Extremismus <strong>und</strong> Terrorismus?<br />
Berlin-Status, Berlin-Konflikt <strong>und</strong> Berlin-Regelung?<br />
Hauptstadtfrage: Bonn <strong>und</strong> Berlin?<br />
West- <strong>und</strong> Ostintegration- politisch, rechtlich, wirtschaftlich, sozial?<br />
BRD <strong>und</strong> DDR im Vergleich: Ausgewählte Beispiele?<br />
Deutsch-deutscher Konflikt: Ausgewählte Beispiele?<br />
Bilaterale <strong>und</strong> multilaterale Beziehungen der BRD <strong>und</strong> DDR: Ausgewählte Beispiele?<br />
Internationale <strong>und</strong> deutsche <strong>Deutschland</strong>politik?<br />
Deutsche Identität: in der BRD, in der DDR, im geeinten <strong>Deutschland</strong>, in Europa?<br />
Staatsrecht <strong>und</strong> Völkerrecht in den deutsch-deutschen Beziehungen?<br />
Staatsangehörigkeit in den beiden deutschen Staaten?<br />
Gewaltenteilung horizontal <strong>und</strong> vertikal?<br />
Europäische Integration: Stationen, Hemmnisse, Fortschritte, Institutionen?<br />
Europäische Architektur <strong>und</strong> deutsche Einheit?<br />
228
Europapolitik <strong>und</strong> Supranationalität?<br />
Internationale Organisationen: <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> UNO, KSZE/OSZE, Europarat,<br />
EWG/EG/EU: Ausgewählte Beispiele?<br />
Internationale Rechtsprechung <strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong>?<br />
Nord-Süd-Konflikt in der deutschen <strong>und</strong> internationalen Politik: Ausgewählte<br />
Beispiele <strong>und</strong> Länder?<br />
Dritte <strong>und</strong> Vierte Welt im Informationszeitalter?<br />
"Entwicklungshilfe" der BRD <strong>und</strong> DDR?<br />
Politik <strong>und</strong> Recht in der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts:<br />
Ausgewählte Beispiele?<br />
Völkerrechtliche Doktrinen im Wandel?<br />
Rolle der Besatzungsmächte/Verbündeten?<br />
Beziehungsgeflecht zwischen Parlament, Regierung, Opposition, Verbänden,<br />
Wirtschaft?<br />
Politik <strong>und</strong> Parteipolitik <strong>als</strong> Beruf <strong>und</strong> "Berufskrankheit"?<br />
"Eitle Selbstbespiegelung im Gefühl der Macht" (Max Weber)?<br />
B<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Länder-Verhältnis? Föderalismus?<br />
Persönliche Biografie <strong>und</strong> politische Bildung?<br />
Indoktrination <strong>und</strong> Utopien in der politischen Bildung <strong>und</strong> in der Neuen Politischen<br />
Bildung?<br />
Geschichtsunterricht (5.2.-3.):Vgl. auch Neue Politische Bildung<br />
Zeitgeschichte - erinnern, rekapitulieren, wiederholen, aufarbeiten, vergessen,<br />
"bewältigen", verinnerlichen?<br />
Zeitgeschichte <strong>als</strong> Variable <strong>und</strong> Funktion von Raum <strong>und</strong> Zeit?<br />
Geschichte <strong>als</strong> Antagonismus von Abhängigkeit/Unterwerfung <strong>und</strong> Macht-<br />
/Herrschaftsausübung?<br />
Wiederholungszwang in der Geschichte?<br />
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis?<br />
NS-Zeit aus der Retrospektive nach 1945?<br />
"Der Tod ist ein Meister aus <strong>Deutschland</strong>"?<br />
Kontinuität <strong>und</strong> Diskontinuität von Personen, Vorgängen, Ideen, Ereignissen?<br />
Schlüsselbegriffe <strong>und</strong> -daten im historischen Wandel?<br />
Jahrestage <strong>und</strong> Gedenkreden, z.B. Byrnes-Rede, Marshall-Plan?<br />
Reden zu Geburtstagen <strong>und</strong> Todestagen von Politikern im Wandel?<br />
Politische/staatliche Geschichte <strong>und</strong> Lebens-/Alltags-/Kulturgeschichte?<br />
Lebensgeschichtlich-biografische Schlüsseldokumente?<br />
Familien- <strong>und</strong> Politikgeschichte?<br />
Tabuisierte Bereiche im Geschichtsunterricht <strong>und</strong> in der Familiengeschichte, z.B. NS-<br />
Zeit?<br />
Wirkungsgeschichte <strong>und</strong> Mentalitätsgeschichte: Ausgewählte Beispiele?<br />
Geschichte von oben <strong>und</strong> von unten: Staat, Gesellschaft, Alltagsgeschichte?<br />
Archivarbeit vor Ort, z.B. Stadtarchiv, Familiendokumente?<br />
229
Geschichte der BRD <strong>und</strong> DDR nach politischen, nach rechtlichen, nach<br />
wirtschaftlichen, nach sozialen Bezugsfeldern?<br />
Krieg <strong>und</strong> Frieden: Ausgewählte Beispiele?<br />
Flucht <strong>und</strong> Vertreibung? Deutsche <strong>und</strong> europäische Dimension?<br />
Männer- <strong>und</strong> Frauengeschichte?<br />
"Feminismus" <strong>und</strong> Geschichte?<br />
Psychoanalyse <strong>und</strong> Geschichte?<br />
Technikgeschichte?<br />
Nation<strong>als</strong>taatliche <strong>und</strong> europäische Geschichte?<br />
Gr<strong>und</strong>satzentscheidungen der Siegermächte nach 1945?<br />
Die Teilung <strong>Deutschland</strong>s?<br />
Wiederaufbau, Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialreformen?<br />
Entstehung der beiden deutschen Staaten?<br />
Ihre Außenpolitik?<br />
Ihre Sicherheits- <strong>und</strong> Bündnispolitik?<br />
Ihre Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik?<br />
Ihre Umweltpolitik?<br />
Ihre Familien-, Jugend- <strong>und</strong> Altenpolitik?<br />
Ihre Bildungs- <strong>und</strong> Kulturpolitik?<br />
Weltpolitische Zäsuren 1989/90?<br />
Deutsche Einheit <strong>und</strong> innere Einheit?<br />
Weltpolitischer <strong>und</strong> gesamteuropäischer Bezugsrahmen der deutschen Frage?<br />
Historische Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumente <strong>als</strong> Ergänzung?<br />
Interpretation von Bild- <strong>und</strong> Ton-Dokumenten?<br />
Vermarktung von Geschichte: in Filmen, Spielen, "Dokumentationen", Soaps,<br />
"Realities", Quizsendungen, Magazinen, Historytainment?<br />
Fremdsprachenunterricht (5.2.-4.):<br />
Fähigkeiten der Decodierung?<br />
Fähigkeiten der Übersetzung?<br />
Der Aussprache?<br />
Der subjektiven <strong>und</strong> "objektiven" Wiedergabe?<br />
Des Interpretierens?<br />
Der Zusammenfassung?<br />
Des Verstehens zwischen "Fremdheit <strong>und</strong> Vertrautheit" (Gadamer)?<br />
Interdependenzen zwischen Übersetzung, Verstehen <strong>und</strong> Interpretation<br />
fremdsprachiger Texte?<br />
Lesekompetenz <strong>und</strong> Textverständnis <strong>als</strong> hermeneutische Spirale?<br />
Übersetzen <strong>und</strong> Dolmetschen?<br />
Kombination von deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachigen Quellen?<br />
Deutschsprachige Übersetzung der Originalquelle?<br />
Amtliche Übersetzung?<br />
230
Einsatz im bilingualen Unterricht, z.B. <strong>als</strong> Modul in Geschichte, in<br />
Sozialwissenschaften <strong>und</strong> anderen Fächern?<br />
Fremdsprache <strong>und</strong> historische <strong>und</strong> politische "Landesk<strong>und</strong>e"?<br />
Fremdsprachige Such- <strong>und</strong> Recherchemöglichkeiten?<br />
Vernetzung deutsch- <strong>und</strong> fremdsprachiger Dokumente, z. B. bei Recherchen?<br />
Verständnis für andere Kulturen <strong>und</strong> Kulturkreise durch Fremdsprachen?<br />
Pronunciation durch Muttersprachler <strong>und</strong> "Ausländer", z.B. in englischsprachigen<br />
Ton-Dokumenten?<br />
Mathematik-, Informatik <strong>und</strong> naturwissenschaftlicher Unterricht (5.2.-5.):<br />
Mathematik <strong>als</strong> schöpferische Wissenschaft für den Menschen <strong>und</strong> seine<br />
gesellschaftliche Teilhabe?<br />
Unterschiede zwischen offener, entdeckender <strong>und</strong> fertiger Mathematik?<br />
Heuristische Problemlösungen zur Reduktion der Informationsmenge?<br />
Red<strong>und</strong>ante <strong>und</strong> innovative Informationen?<br />
Informationen <strong>als</strong> potenzielles Rohstoffwissen in der D-Dok.?<br />
Boolesche Suchoperationen <strong>als</strong> Formeln?<br />
Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> Schnittmengen, z.B. in der Mengenlehre?<br />
Boolesche Gr<strong>und</strong>funktionen <strong>als</strong> Schaltungen, z.B. Schaltalgebra?<br />
Darstellung nach DIN?<br />
Mathematisch-naturwissenschaftlicher Schwerpunkt der Schule?<br />
EDV - Viren, Würmer, trojanische Pferde?<br />
Politik, Technik <strong>und</strong> Technikverständnis?<br />
Fächerübergreifender naturwissenschaftlicher Unterricht?<br />
Mathematik in der Neuen Politischen Bildung (NPB)?<br />
Physik in der NPB, z.B. Klimaschutz?<br />
Biologie in der NPB, z.B. Arten-, Tier- <strong>und</strong> Pflanzenschutz?<br />
Chemie in der NPB, z.B. Umweltschutz, Lebensmittelkonservierung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit,<br />
Landwirtschaft <strong>und</strong> Chemie?<br />
Hardware: Gr<strong>und</strong>einheiten des PC?<br />
Software: Betriebssysteme <strong>und</strong> Programme?<br />
Einfache Suche <strong>und</strong> Expertensuche mit der D-Dok.?<br />
Suche über den Index des Adobe Acrobat Reader 6?<br />
Datenmenge, Datenauswahl <strong>und</strong> Datenmessung?<br />
Die "Zehn Gebote für Lehrer" von Georg Pólya?<br />
Mathematisierung tendenziell-approximativer Abhängigkeitsverhältnisse von<br />
Variablen?<br />
Schwarze Löcher <strong>und</strong> ihre Parameter Masse, Drehimpuls, Ladung?<br />
Unendliche Dichte der Materie in schwarzen Löchern <strong>und</strong> ihre Singularität?<br />
Narzissmus <strong>als</strong> schwarzes Loch?<br />
Akkretion <strong>und</strong> Vernichtung von Energien in narzisstischen <strong>und</strong> schwarzen Löchern?<br />
Singularität im narzisstischen <strong>und</strong> im schwarzen Loch?<br />
Schwarze Löcher sozialer Exklusion in der Vierten Welt?<br />
231
Astrophysik: Hochenergetische Röntgenstrahlung mit Ionen-Emissionen?<br />
Gravitationskontraktion <strong>und</strong> Gravitationskollaps massereicher Sterne innerhalb <strong>und</strong><br />
außerhalb der Chandrasekhar-Grenze?<br />
Riemannsche Raum-Zeit-Krümmung <strong>und</strong> Einsteins Relativitätstheorie?<br />
Einsteinkreuze in Galaxien?<br />
Problemlösungen von Integralgleichungen nach David Hilbert <strong>und</strong> heute?<br />
Unendlichkeit - Zwangsvorstellung oder schöpferische Phantasie?<br />
Gödels Unvollständigkeitssatz <strong>und</strong> unentscheidbare Aussagen axiomatischer<br />
Formulierungen in der Zahlentheorie?<br />
Funktionalisierung politischer Entscheidungsprozess durch Verknüpfung von<br />
Parametern?<br />
Quellcode der verwendeten Suchmaschine swish-e in der D-Dok.?<br />
Stärken <strong>und</strong> Schwächen der verwendeten Software?<br />
Nichtimplementierte Boolesche Operatoren in der D-Dok., vor allem<br />
Abstandsoperatoren?<br />
Kostenfreie oder entgeltliche Software <strong>als</strong> Alternative?<br />
Verbesserungen der bestehenden Software <strong>und</strong> ihre Implementierung?<br />
Überprüfung <strong>und</strong> Ergänzung der Testergebnisse in den "Arbeitsgr<strong>und</strong>lagen" im DVD-<br />
Laufwerk der D-Dok.?<br />
Suchanfragen nach Zeitraum <strong>und</strong> Koeffizienten?<br />
Prozentuale Angaben in der Trefferquote <strong>und</strong> ihre Zuverlässigkeit, z.B. nach<br />
inhaltlichen, qualitativen Kriterien der Suchanfrage in der D-Dok.?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> (im engeren Sinne) <strong>und</strong> -dokumentation (5.2.-6.):<br />
Quellen <strong>und</strong> Daten <strong>als</strong> Rohstoff des Historikers <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlers?<br />
Quellen <strong>als</strong> Spiegel der Vergangenheit in der Gegenwart?<br />
"Objektivität" von Quellen <strong>und</strong> ihre subjektive Auswahl?<br />
Quellen <strong>als</strong> historisch-politische Spiegel <strong>und</strong> Selbstbespiegelung?<br />
Quellen sind der Stoff, aus dem Geschichte entsteht <strong>und</strong> gemacht wird?<br />
Vergleich historisch-politischer Dokumentationen (z.B. Phoenix, ZDF) mit der<br />
Quellendokumentation <strong>und</strong> -präsentation in der D-Dok.?<br />
Quellenpräsentation in Schulbüchern?<br />
Historytainment (z.B. im ZDF) <strong>als</strong> Gegenteil der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
Quellenauthentizität <strong>und</strong> Formatierung von Quellen?<br />
Chronologische <strong>und</strong> systematisch-inhaltliche Dokumentation von Quellen?<br />
Quellennachweis <strong>als</strong> Authentizitätsbeweis?<br />
PDF-Dokumentation von Quellen - Pro <strong>und</strong> Contra?<br />
Dateinamen <strong>als</strong> inhaltlicher Betreff?<br />
Begrenzter Zeichenvorrat bei WORD-Dateien?<br />
Zip-Dateien zur Speicherung, Dokumentation <strong>und</strong> Sicherung von Quellen?<br />
Primärquellen <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärquellen, z.B. Memoiren?<br />
Fachwissenschaftlich-interdisziplinäre Arbeit mit Quellen?<br />
Psychologisch-emotionale Arbeit an Quellen?<br />
232
Erkenntnisse aus Quellen <strong>als</strong> vornehmlich primärer aktiver Lernprozess?<br />
Unterschiede zum sek<strong>und</strong>ären, vornehmlich passiven Lernprozess aus<br />
Darstellungen/Sek<strong>und</strong>ärliteratur?<br />
Biographische Schnittstellen zwischen fachwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />
lebensgeschichtlichen Quellen?<br />
Themenvorschläge <strong>und</strong> Fragestellungen - spontan; selbstbestimmt; mehrheitsfähig?<br />
Didaktik der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
Einbeziehung technisch-naturwissenschaftlicher Fragestellungen?<br />
Arbeit an biografisch-lebensgeschichtlich-emotionalen Quellen?<br />
Schnittstellen mit staatlichen Quellen?<br />
Historische Erinnerungsarbeit an historischen Gedenkstätten <strong>als</strong> Quellen?<br />
Formale <strong>und</strong> inhaltliche Quellenkritik?<br />
Vornehmlich primär-aktive <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är-rezipierende Lernprozesse?<br />
Induktiver statt deduktiver Unterricht mit Quellen?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> aktive Stillarbeit?<br />
Deskriptive <strong>und</strong> normative (z.B. Gesetze, Verträge) <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
Sinnvoller oder erforderlicher Frontalunterricht, z.B. <strong>als</strong> Zusammenfassung <strong>und</strong><br />
Fokussierung punktueller <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong> St<strong>und</strong>entafel, vor allem Zeitprobleme mit dem 45-/50-Minutentakt?<br />
Weite, Breite <strong>und</strong> Multiperspektivität von Quellen?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> vor Ort: Familiendokumente, Archiv?<br />
Zeitzeugenarbeit mit Interviews <strong>und</strong> erfahrungsgeschichtliche Quellen (nach<br />
Friedhelm Boll)?<br />
Planspiele, Rollenspiele, Lernspiele oder szenische Spiele nach Quellen?<br />
Unterschiede zur Spiegelszene?<br />
Verteilte Rollen bei Interviews?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> Selbsttherapie, Identitätsfindung <strong>und</strong> Trauerarbeit?<br />
Marx <strong>und</strong> Engels <strong>als</strong> "Quellen" des Marxismus, des Kautskyanismus, des<br />
Revisionismus, der SPD, des Marxismus-Leninismus, der SED?<br />
Artikel 2 Absatz 1 Gr<strong>und</strong>gesetz (5.2.-7.):<br />
Das Selbst <strong>und</strong> das Ich?<br />
Die Entstehung des körperlich-emotionalen Selbst?<br />
Intrapsychische <strong>und</strong> interpsychische Objekte in Subjekt?<br />
Ideal-Selbst <strong>und</strong> Ich-Ziele?<br />
Normaler <strong>und</strong> pathologischer Narzissmus?<br />
Die vom Objekt abgezogene Libido <strong>als</strong> sek<strong>und</strong>ärer Narzissmus nach Freud?<br />
Narzissmus <strong>als</strong> libidinöse Besetzung des Selbst nach Hartmann?<br />
Descartes <strong>und</strong> die Selbstgewissheit des denkenden Ichs?<br />
Politische Bildung <strong>und</strong> Persönlichkeitsbildung nach Art. 2 Abs. 1 GG?<br />
Persönlichkeitsbildung <strong>und</strong> Informationsquellen in der Demokratie?<br />
Pflichten, Rechte <strong>und</strong> Teilhabe an ihr?<br />
233
Individuelle Selbst- <strong>und</strong> gesellschaftliche oder betriebliche Mitbestimmung, z.B. in<br />
Schule, Betrieb?<br />
Mündigkeit <strong>und</strong> "Emanzipation": Definitionen, Auslegungen, Doktrinen?<br />
Politische Handlungsorientierung?<br />
Engagement <strong>und</strong> Partizipation in Parteien, Gruppen, Institutionen?<br />
Selbstentfaltung - narzisstisch-familiäre <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är-schulische Voraussetzungen?<br />
Zusammenhänge zwischen Leistung <strong>und</strong> Selbstwertgefühl?<br />
Zwischen Leistungsdruck <strong>und</strong> Versagensängsten?<br />
Drogen- <strong>und</strong> Medikamentenkonsum <strong>als</strong> narzisstisches Defizit?<br />
Selbstentfaltung <strong>und</strong> Rollenverhalten in der Klasse?<br />
"Sek<strong>und</strong>ärtugenden" in der Klasse, z.B. Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin u.a.?<br />
Strafen <strong>und</strong> Belohnungen?<br />
Schüler-Rechte <strong>und</strong> - Pflichten?<br />
Kinderrechte <strong>und</strong> Kindpersönlichkeit?<br />
Klassenführung <strong>und</strong> Disziplin?<br />
Respektierung anderer, z.B. ihrer Rechte?<br />
Verfassungsrechtliche <strong>und</strong> "sittlich-moralische" Gr<strong>und</strong>orientierung?<br />
Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts: Menschenwürde, Menschen-<br />
/Bürgerrechte, Persönlichkeitsrecht?<br />
Gr<strong>und</strong>rechtsmündigkeit im Verfassungs- <strong>und</strong> Staatsrecht?<br />
Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG in Kommentaren <strong>und</strong> im Schrifttum?<br />
Der "Kernbereich der Persönlichkeit" <strong>und</strong> die "Menschenwürde" in der<br />
Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts?<br />
Individuelle Förderung (5.2.-8.):<br />
Bezugsperson <strong>und</strong> Mirroring in Familie (z.B. Mutter) <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schule (z.B.<br />
Klassenlehrer/in)?<br />
Familie <strong>und</strong> Schule <strong>als</strong> "fördernde Umwelt" (Winnicott)?<br />
Familiäre <strong>und</strong> schulische Voraussetzungen individueller Förderung?<br />
Diagnostik: Gehemmte, schüchterne, tonangebende <strong>und</strong> "stille" Kinder/Schüler?<br />
Diagnostik: Retardierte, "auffällige", behinderte, "altkluge" <strong>und</strong> selbstbewusste<br />
Schüler/innen?<br />
Frühzeitige Begabungsförderung <strong>und</strong> Kreativitätstraining in Ganztagsgr<strong>und</strong>schulen?<br />
Offener Unterricht in Gr<strong>und</strong>schulen nach Peschel: Pro <strong>und</strong> Contra?<br />
Klassengröße <strong>und</strong> Klassenklima?<br />
Schulprogramm <strong>und</strong> Schulprofil/e?<br />
Förderschwerpunkte der Schule?<br />
Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Autorität der Lehrer/innen?<br />
Kooperation mit Kinderhorten/-gärten, mit der Gemeinde, mit dem Schulträger?<br />
Ganztagsschule - positive <strong>und</strong> negative Auswirkungen?<br />
Nachmittagsbetreuung oder -unterricht?<br />
234
Generationsübergreifendes <strong>Lernen</strong> (5.2.-9.)<br />
Frühkindliche Sozialisation <strong>und</strong> Schulerfolg/-versagen?<br />
Schule <strong>und</strong> Bildung in <strong>Deutschland</strong> <strong>als</strong> weitgehend soziales Privileg?<br />
Lesekompetenz in der Familie <strong>und</strong> bei Kindern?<br />
Lehrer/innen <strong>als</strong> Lehrende <strong>und</strong>/oder <strong>Lernen</strong>de?<br />
Eltern/Großeltern <strong>als</strong> Helfer, <strong>als</strong> hilflose Helfer, <strong>als</strong> Ersatzlehrer?<br />
Nachhilfeunterricht - Ausmaß?<br />
PC- <strong>und</strong> Internetarbeit von Kindern/Schülern mit Eltern; mit Großeltern; mit<br />
Verwandten? Demonstrationseffekte?<br />
Spontaneität <strong>und</strong> Kreativität von Kindern?<br />
Familiäre Förderung von Medienkonsum, von Fernsehen, von Medienspielen, von<br />
Computer- <strong>und</strong> Internetarbeit?<br />
Oral History in der Schule?<br />
Nation<strong>als</strong>ozialismus in der I., II., III. <strong>und</strong> IV. Generation (Anita Eckstaedt)?<br />
Generationsübergreifendes historisches <strong>Lernen</strong>? 241<br />
Verschüttete oder tabuisierte Quellen zur Familiengeschichte?<br />
Generationskonflikte in der Familie; in der Politik; im Alter?<br />
Sek<strong>und</strong>äre Identifikation von Kindern/Schülern mit Eltern, Lehrern, Peer Groups?<br />
Pflege in der Familie; im Heim; bei Krankheiten?<br />
Kreativität <strong>und</strong> <strong>lebenslanges</strong> <strong>Lernen</strong> im Alter?<br />
Wiederentdeckung der Kindheit im Alter?<br />
Vertreibung, Heimatverlust <strong>und</strong> Entwurzelung <strong>als</strong> Generationsproblem?<br />
Die Vertreibung der Kindheit bei Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen?<br />
Jugend- <strong>und</strong> Schönheitskult in der Werbung?<br />
"Sprachlosigkeit" verschütteter Quellen bei erwachsenen <strong>und</strong> alten Menschen?<br />
Die Wiederkehr des Verdrängten/Verleugneten im Ruhestand/Alter?<br />
Zementierung des Über-Ichs im Alter?<br />
Die Unfähigkeit zu altern: Abwehrmechanismen?<br />
Weitgehend selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> (5.2.-10.):<br />
Selbstbestimmtes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> "selbstreguliertes <strong>Lernen</strong>" (PISA-Studie)?<br />
Frontalunterricht <strong>als</strong> Regel-; <strong>als</strong> Ritual-, <strong>als</strong> Routine-Unterricht?<br />
Lehrende <strong>und</strong> Belehrte oder gemeinsam <strong>Lernen</strong>de?<br />
Wer bestimmt über Lehr-/Lernziele, Lehr-/Lerninhalte <strong>und</strong> Lehr-/Lernmethoden?<br />
241 Dazu bietet der Geschichtswettbewerb um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten viel<br />
Anschauungsmaterial: Forschendes <strong>Lernen</strong> im Geschichtsunterricht. Herausgegeben vom<br />
Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten <strong>und</strong> dem Ernst Klett<br />
Schulbuchverlag. Stuttgart 1996; www. Geschichtswettbewerb.de; Geschichtsbewusstsein <strong>und</strong><br />
Methoden historischen <strong>Lernen</strong>s. Herausgegeben von Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann, Hartmut<br />
Voit. Weinheim 1998. Seiten 246ff., 335ff. - Zur Oral History: Handbuch der Geschichtsdidaktik.<br />
Herausgeber Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Gerhard Schneider. Seelze<br />
Velber 1997. Seiten 236ff. (Dorothee Wierling) mit Literaturangaben.<br />
235
Basisdemokratische Mehrheitsfindung <strong>und</strong> Abstimmung darüber?<br />
Konsens- <strong>und</strong> Kompromissbereitschaft?<br />
Rolle der Schulleitung, des Kollegiums, der Eltern/Schulpflegschaft, der<br />
Schulaufsicht?<br />
Lehrpläne, Richtlinien <strong>und</strong> Vorschriften an der Schule, evt. Freiräume?<br />
Vorgeschriebenes fremdbestimmtes Lehren <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> an Schulen?<br />
<strong>Lernen</strong> zwischen Neigung <strong>und</strong> Zwang?<br />
Kooperation <strong>und</strong> Feedback in der Klasse?<br />
Kooperatives <strong>Lernen</strong>, z.B. in Gruppen?<br />
Binnendifferenzierung mit Quellentexten?<br />
Rollenverteilung zwischen Klasse-Lehrer/in?<br />
Disziplin <strong>und</strong> Selbstmotivation beim <strong>Lernen</strong>?<br />
Lebenslanges <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> auf Vorrat?<br />
Selbstmotivation, Selbstkritik <strong>und</strong> Selbstkorrektur beim <strong>Lernen</strong>?<br />
Abfragbares, rekapitulierbares oder anwendungsbezogenes, handlungsorientiertes<br />
<strong>Lernen</strong>?<br />
Bildung, Wissen <strong>und</strong> Überleben <strong>als</strong> "Territorien des Selbst" (nach Maja Suderland)?<br />
Integration <strong>und</strong> Toleranz (5.2.-11.):<br />
Toleranzgebot <strong>und</strong> Indoktrinierungsverbot in der Neuen Politischen Bildung?<br />
Einstellungen zur deutschen Einheit?<br />
Einstellungen zum Bau <strong>und</strong> Fall der Mauer; zu Vaterland, Nation <strong>und</strong><br />
Nationalbewusstsein?<br />
Verhältnis Ost- Westdeutsche (Ossis - Wessis)?<br />
"Innere Mauern" in <strong>Deutschland</strong>?<br />
Identität - familiäre; personelle; nationale; europäische; supranationale?<br />
Politischer <strong>und</strong> religiöser Extremismus in der Klasse?<br />
Narzisstische Wut <strong>und</strong> Rache in Schulen: Ausgewählte Beispiele?<br />
Die Wurzeln von Wut <strong>und</strong> Hass?<br />
Minderheiten (z.B. Behinderte, Ausländer) <strong>und</strong> Einstellungen zu ihnen?<br />
Antisemitische Einstellungen <strong>und</strong> Akte in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> in Nachbarländern?<br />
Fremdenhass <strong>und</strong> Ausländer?<br />
Toleranz <strong>und</strong> F<strong>und</strong>amentalismus - politisch, religiös, national?<br />
Wahrnehmung ausländischer Mitschüler/innen?<br />
Identitäten <strong>und</strong> Vorurteile, z.B. zwischen Ost- <strong>und</strong> Westdeutschen?<br />
Zwischen Deutschen <strong>und</strong> Migranten?<br />
Zwischen Deutschen <strong>und</strong> Nachbarvölkern (z.B. Tschechen, Niederländern)?<br />
Migrantenkinder zwischen Integration <strong>und</strong> Abschottung?<br />
Integrationsbereitschaft <strong>und</strong> Deutschkenntnisse?<br />
Unterschiedlicher Fokus <strong>und</strong> unterschiedliche Sichtweisen der Migranten- <strong>und</strong> der<br />
deutschen Kinder?<br />
Asyl <strong>und</strong> Einwanderung in <strong>Deutschland</strong>?<br />
Vergleich mit europäischen Nachbarstaaten?<br />
236
Einstellungen zu Nachbarstaaten, z.B. Frankreich, Polen u.a.?<br />
Islamischer, christlicher <strong>und</strong> jüdischer F<strong>und</strong>amentalismus?<br />
F<strong>und</strong>amentalismus <strong>und</strong> Terrorismus?<br />
Geschlechts- <strong>und</strong> migrantenspezifische Lernprozesse (5.2.-12.):<br />
Rollenverteilung <strong>und</strong> Rollenerwartungen von Männern <strong>und</strong> Frauen in der Familie, in<br />
der Politik, in der Schule, im Alltag?<br />
Ichsyntone oder ichdystone Objektmanipulation an Säuglingen <strong>und</strong> Kindern durch<br />
Mutter/Vater?<br />
Gewerbliche <strong>und</strong> emotionale Prostitution von Frauen <strong>und</strong> Männern?<br />
Unterschiedliche Interessen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen, z.B. in historischen,<br />
naturwissenschaftlichen oder politischen Lernfeldern?<br />
Selbstwertgefühl bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen in Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften?<br />
Familiäre <strong>und</strong> schulische Hintergründe?<br />
Unterschiedliches Aggressionsverhalten bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen?<br />
Geschlechtsspezifisches Politik- <strong>und</strong> Geschichtsverständnis?<br />
Migration <strong>als</strong> Problem der I., II. <strong>und</strong> III. Generation?<br />
Einstellungen von Migranten: zum Aufnahmeland, zum Herkunftland der Familie?<br />
Zur deutschen Sprache <strong>und</strong> Kultur; zu Europa; zum Christentum?<br />
Einstellungen der deutschen Schüler/innen zu Migrantenkindern, zum Islam, zu<br />
Türken u.a.?<br />
Abschottung <strong>und</strong> Gettoisierung von Ausländern in <strong>Deutschland</strong>?<br />
Interfamiliäre Konflikte <strong>und</strong> psychosomatische Störungen bei Ausländer/innen?<br />
Die Frau im Christentum, im Judentum, im Islam <strong>und</strong> in anderen Religionen?<br />
Ausländer/innen <strong>als</strong> deklassierte Reservearmee von Ungelernten <strong>und</strong> Arbeitslosen?<br />
Geschlechtsspezifische Kompensation familiär-partriarchalischer Diskriminierung bei<br />
Ausländerinnen, vor allem Türkinnen?<br />
Schulinterne Evaluation ( 5.2.-13.):<br />
Evaluation <strong>als</strong> Blick in den Spiegel?<br />
Ergebnisse der <strong>Quellenarbeit</strong>?<br />
Handlungsorientiertheit?<br />
Verwertbarkeit der gesammelten Informationen?<br />
Evaluation im Alltag?<br />
In der Familie?<br />
In der Schule?<br />
Innovationen im Unterricht, z. B. in der politischen Bildung?<br />
Verhältnis zum Schulprogramm?<br />
Rolle der Schulaufsicht, der Schulleitung?<br />
Summative, evt. formative Evaluation?<br />
Indikatoren für die schulische Praxis?<br />
Weiche oder harte Indikatoren?<br />
237
Fragebogen <strong>und</strong> Befragungen?<br />
Dokumentation <strong>und</strong> Archivierung der Evaluation?<br />
Spiegelszene - brauchbar, riskant, innovativ?<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> <strong>als</strong> Spiegelarbeit?<br />
Neue Paradigma <strong>und</strong> Referenzdesigns?<br />
Ich bin mir bewusst, dass diese stichwortartige Auflistung ausgewählter<br />
idealtypischer Fragestellungen <strong>und</strong> Vorschläge ohne inhaltliche Konkretisierungen<br />
neue Fragen aufwirft, sie aber nicht beantwortet. Es sind Fragen an Sie, aber keine<br />
Antworten für Sie. Es geht um fachwissenschaftliche <strong>und</strong> didaktische Denkanstöße<br />
<strong>und</strong> die hinter ihnen stehenden emotionalen-affektiven Einstellungen - um Arbeit mit<br />
<strong>und</strong> an den Quellen <strong>als</strong> Rohstoffinformationen.<br />
Wenn Sie <strong>als</strong> Lehrer/in "fertiges" Wissen vermitteln, werden Sie mit den<br />
ausgewählten idealtypischen Fragen <strong>und</strong> Aufzählungen nichts anfangen können, es<br />
sei denn, Sie erhalten auf h<strong>und</strong>erten von Seiten "fertige" Rezepte nebst<br />
Regieanweisungen für den Unterricht. Sie finden sie in Schulbüchern, Lehrplänen,<br />
Richtlinien, auf Arbeitsblättern, im Internet, aber nicht in der D-Dok. <strong>und</strong> in diesem<br />
Begleitbuch. Sich selbst ändern <strong>und</strong> damit Ihren Unterricht ändern können Sie erst<br />
dann, wenn Sie ausgetretene Trampelpfade verlassen <strong>und</strong> die Zeit, den Mut, das<br />
Engagement <strong>und</strong> nicht zuletzt die Selbstständigkeit haben, sich auf eine<br />
Entdeckungsreise in das Unbekannte zu wagen, um selbst zu lernen - neu <strong>und</strong><br />
lebenslang.<br />
Am 14. September 2004 ist die jährliche OECD-Studie "Bildung auf einen Blick"<br />
erschienen. 242 Sie hat dem deutschen Bildungs- <strong>und</strong> Schulwesen drei Jahre nach<br />
dem PISA-Schock (1.2.) wieder ein schlechtes Zeugnis ausgestellt <strong>und</strong> ihm - trotz<br />
eingeleiteter Reformen - einen enormen Nachholbedarf attestiert. Die dadurch <strong>und</strong><br />
durch die PISA-Studie II ausgelösten öffentlichen Diskussionen drohen erneut in<br />
Strukturfragen (dreigliedriges Schulwesen, Gesamtschulen, Ganztagschulen,<br />
"Einheitsschule") einzumünden <strong>und</strong> damit Fehler vergangener politischer,<br />
parteipolitischer, pädagogischer <strong>und</strong> ideologischer Streitigkeiten zu wiederholen -<br />
statt Debatten <strong>und</strong> Anstrengungen zu beflügeln, wie Unterricht an den bestehenden<br />
Schulen qualitativ verbessert werden kann. 20 - 30% der Schüler/innen benötigen<br />
privat finanzierte Nachhilfe. 243 Hat dies mit der bestehenden Schulstruktur oder nicht<br />
doch mehr mit der Qualität des derzeitigen Unterrichts an den Schulen zu tun?<br />
242 Education at a Glance 2004: OECD Briefing Notes for Germany (www.oecd.org).<br />
243 Darauf wird im Interview mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Doris Ahnen, über die<br />
jüngste Bildungsstudie, die Entwicklung insbesondere an den Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> die Debatte über das<br />
dreigliedrige Schulsystem hingewiesen. In: General-Anzeiger vom 18./19. September 2004. Seite 3<br />
("Wir brauchen nicht noch mehr Prüfungen").<br />
238
Ergänzende OECD-Dokumente über die Lehrerschaft in <strong>Deutschland</strong> sind am 22.<br />
September 2004 vorgestellt worden. 244 Darin beklagt ein internationales<br />
Expertenteam, darunter der schwedische Erziehungswissenschaftler Mats Ekholm,<br />
Generaldirektor der Bildungsagentur "Skolverket", dass die deutschen Lehrer/innen<br />
wenig leistungsmotiviert, unzureichend für die Schulpraxis ausgebildet <strong>und</strong> kaum an<br />
Weiterbildung interessiert seien. Obwohl sie - international gesehen - zu den<br />
bestbezahlten gehören ( nur die Schweiz zahlt mehr) <strong>und</strong> ihre Arbeitsbelastung im<br />
Mittelfeld liege, hätten sie nur eine geringe "Arbeitszufriedenheit". Im Beamtenstatus<br />
sieht die OECD eine große Hürde: Zwar hätte die Lehrerschaft so eine<br />
Arbeitsplatzgarantie, aber zugleich auch wenig Anreize, flexibel zu sein, mehr zu<br />
leisten, sich weiter zu bilden <strong>und</strong> sich zu verändern. Die in der Regel vierstufige<br />
Schulbürokratie - Ministerien/ Dezernenten/Schulräte/Schulleiter - gängele<br />
Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen gleichermaßen. Immerhin begrüßt die OECD auch<br />
die eingeleiteten Reformen in <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> den Willen dazu.<br />
Nach dem Erscheinen der D-Dok. Mitte Juli 2004 hatte ich Schulen im Bonner Raum<br />
angeboten, die DVD mit studentischen Mitarbeitern vorzustellen. Das Interesse daran<br />
war gering. Als Schulleiter/innen hörten, dass die D-Dok. keine "fertigen"<br />
Unterrichtsmaterialien liefere, sondern selbstständige <strong>Quellenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />
innerschulische Evaluation erfordere, reduzierte sich das Interesse auf ein<br />
Freiexemplar zur "Prüfung" der DVD.<br />
Eine Ausnahme von dieser Regel war Oberstudiendirektor Willy Nikolay, Leiter des<br />
Clara-Schumann-Gymnasiums in Bonn. Er will die D-Dok. an seiner Schule erproben<br />
<strong>und</strong> die Unterrichtssequenzen ins Internet stellen (Schulen ans Netz, Lehrer-online).<br />
7.14. Außerschulische politische Bildung in der Erwachsenen- <strong>und</strong><br />
Weiterbildung: Neue Politische Bildung (NPB) <strong>als</strong> Alternative<br />
Außerschulische politische Bildung, die sich vornehmlich auf <strong>Quellenarbeit</strong> stützt, ist<br />
schwieriger <strong>und</strong> langwieriger <strong>als</strong> schulische politische Bildung. Denn häufiger <strong>als</strong> bei<br />
Kindern <strong>und</strong> Schülern sind bei Erwachsenen die Quellen <strong>und</strong> Wurzeln verschüttet,<br />
ausgetrocknet, verleugnet, verdrängt oder vernachlässigt. Da Erwachsene bereits auf<br />
eine eigene Lebensgeschichte zurückblicken, bringen sie oft auch ein Wissen mit,<br />
das "fertig" ist, <strong>und</strong> konzeptualisierte Einstellungen, auf die sie "fixiert" sind.<br />
244 Attracting, Developing and Retaining Effective Teachers - Country Note for Germany; OECD<br />
Recommends Reorientation of Teacher Policy in Germany (www. oecd.org 22. Sep. 2004). Vgl. dazu<br />
Martin Spiewak: Freiheit für die Pauker. Lehrer müssen lernen lehren. Doch ihre Ausbildung ist<br />
schlecht, ihre Abhängigkeit groß. Die OECD drängt auf konsequente Reformen. In: DIE ZEIT Nr. 40<br />
vom 23. September 2004. Seiten 41 - 42.<br />
239
Intellektualisierungen schützen vor allem Akademiker davor, ihren "Überzeugungen",<br />
darunter ihren politischen, auf den Gr<strong>und</strong> zu gehen. So vermögen sie zwar zu<br />
begründen <strong>und</strong> zu rationalisieren, weshalb sie Mitglied einer Partei, Stammwähler,<br />
Wahlverweigerer oder Politikverdrossene sind, doch sind sie sich oft über die<br />
verborgenen oder tabuisierten emotionalen Hintergründe solcher politischer<br />
Gr<strong>und</strong>haltungen im Unklaren. Gelegentlich ist es auch ein f<strong>als</strong>ches Selbst, das sie<br />
verinnerlicht haben <strong>und</strong> so in ihnen Gestalt geworden ist (1.4.).<br />
Friedhelm Boll, Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat wegweisend<br />
lebensgeschichtliche Erfahrungen in Interviews <strong>und</strong> "weitere<br />
erfahrungsgeschichtliche Quellen" ausgewertet, um "Zeitzeugenarbeit" mit<br />
Überlebenden des Nation<strong>als</strong>ozialismus <strong>und</strong> des Stalinismus in <strong>Deutschland</strong> zu<br />
leisten. Er brachte sie <strong>als</strong> lebende Quellen zum Reden, das sich in Interviews<br />
unterschiedlich artikulierte: <strong>als</strong> Last, <strong>als</strong> Befreiung, <strong>als</strong> Identitätsarbeit, <strong>als</strong><br />
Selbsttherapie, <strong>als</strong> Trauerarbeit, <strong>als</strong> deutsch-deutsche Erinnerungskultur, <strong>als</strong><br />
heilsame Wiederbegegnung mit <strong>Deutschland</strong>. 245<br />
In der Politischen Bildung (PB) überwiegt die Vermittlung oder Aneignung historischpolitischen<br />
<strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Wissens. Dies reicht nicht aus, um<br />
lebensgeschichtliche Bezüge herzustellen <strong>und</strong> sie mit Politik oder politischen<br />
Erfahrungsfeldern zu verknüpfen. Friedhelm Boll gelingt dies durch seinen<br />
bahnbrechenden Ansatz, biografisch-persönliche mit zeitgeschichtlich-politischen<br />
Quellen zu vergleichen <strong>und</strong> so Zeitzeugen- <strong>und</strong> Erinnerungsarbeit zu leisten. Anders<br />
<strong>als</strong> traditionelle politische Bildung vermag auch Neue Politische Bildung (NPB) dazu<br />
zu verhelfen, die Vergangenheit in der Gegenwart neu zu beleben: durch weitgehend<br />
selbstbestimmte Arbeit an <strong>und</strong> mit den Quellen, die <strong>als</strong> Rohstoffinformationen zu<br />
eigenem Wissen zu verarbeiten sind.<br />
Der Wissenschaftler, Publizist <strong>und</strong> SPD-Politiker Peter Glotz, 1939 in Eger (heute<br />
Cheb) geboren, mit seiner tschechischen Mutter im September 1945 nach Bayern<br />
245 Friedhelm Boll: Sprechen <strong>als</strong> Last <strong>und</strong> Befreiung. Holocaust-Überlebende <strong>und</strong> politisch Verfolgte<br />
zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Bonn 2003. Seiten 37ff.,<br />
59ff., 82ff., 99ff., 112ff., 335ff.<br />
Bei dieser Thematik geht es Maja Suderland (Territorien des Selbst. Kulturelle Identität <strong>als</strong> Ressource<br />
für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt a.M./New York 2004) in ihrer soeben<br />
erschienen Studie nicht um das <strong>Lernen</strong> für das Leben, sondern um das nackte Überleben. Die<br />
Soziologin an der Technischen Hochschule Darmstadt kommt zu dem Schluss, dass Bildung <strong>und</strong><br />
Wissen <strong>als</strong> individueller F<strong>und</strong>us kultureller Identität auch unter den Bedingungen des<br />
Konzentrationslagers <strong>und</strong> damit ständiger Todesnähe zum Überleben befähigten. Neu deutet<br />
Suderland die Kontroverse zwischen Jean Améry, der von einer "Abdankung" <strong>und</strong> den "Grenzen" des<br />
Geistes in Auschwitz III (Monowitz) spricht, während Primo Levi die Möglichkeiten des Intellektuellen<br />
betont, Identität auch in Auschwitz-Monowitz zu bewahren <strong>und</strong> so zu überleben. Suderland weist<br />
anhand biografischer Hintergründe <strong>und</strong> autobiografischer Texte von ehemaligen KZ-Häftlingen nach,<br />
dass ihre "Territorien des Selbst" der Zeit vor dem KZ-Aufenthalt entstammen, somit in ihrer Kindheit<br />
<strong>und</strong> Jugend verankert sind. Es war der "Blick nach innen", der <strong>als</strong> Reservat <strong>und</strong> Vergewisserung des<br />
Selbst das Überleben im Angesicht <strong>und</strong> im "Geruch des Todes" ermöglicht hat.<br />
240
vertrieben, kann auf eine ebenso wechselvolle wie beeindruckende Karriere<br />
zurückblicken: Wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität München,<br />
Landtagsabgeordneter (1970-1972), B<strong>und</strong>estagsabgeordneter (1972-1977, 1983-<br />
1996), Parlamentarischer Staatssekretär im B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong><br />
Wissenschaft (1974-1977), Senator für Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung in Berlin (1977-<br />
1981), B<strong>und</strong>esgeschäftsführer der SPD (1981-1987), Professor für<br />
Kommunikationswissenschaft, u.a. <strong>als</strong> Gründungsrektor der Universität Erfurt (1996-<br />
1999), zuletzt an der Universität St. Gallen. Sein Literaturverzeichnis umfasst<br />
h<strong>und</strong>erte von Büchern, Aufsätzen <strong>und</strong> vor allem auch Zeitungsaufsätze.<br />
Als zweites historisches Buch nach "Der Irrweg des Nation<strong>als</strong>taats" (1990) hat Glotz<br />
im Jahr 2003 <strong>als</strong> Selbstbetroffener "Die Vertreibung. Böhmen <strong>als</strong> Lehrstück"<br />
veröffentlicht. Er schildert darin, wie der "Mechanismus der Verfeindung" zwischen<br />
Deutsch-Böhmen <strong>und</strong> Tschechen seit 1848 seinen verhängnisvollen Lauf nimmt, so<br />
dass schließlich der wachsende Nationalismus auf beiden Seiten blutig endet. Glotz<br />
legt die persönlichen Gründe offen, die ihn bewogen haben, darüber zu schreiben:<br />
Jahrzehntelang habe er sich für seine Herkunft <strong>und</strong> seine Vertreibung nicht<br />
interessiert, sich an seine Umgebung anpassen <strong>und</strong> sich integrieren wollen; denn<br />
seine berufliche <strong>und</strong> politische Karriere, die er machen wollte, forderte von ihm alles,<br />
auch sich durchzusetzen; daher fand er keine Zeit, sich mit seiner Lebensgeschichte<br />
zu beschäftigen, wollte auch nicht <strong>als</strong> "Flüchtling" gelten. So hatte er einen<br />
"Identitätsverlust" erlitten. 246 Glotz in einem Streitgespräch: "Erst <strong>als</strong> ich älter wurde<br />
<strong>und</strong> anfing, die Dokumente meiner Mutter durchzusehen, nachdem sie gestorben<br />
war, kam ich überhaupt auf dieses Thema. Das wird übrigens bei vielen so sein. Es<br />
ist natürlich auch ein Generationsproblem." 247<br />
Die Jahre waren vergangen, aber die Zeit war stehen geblieben: Erst nach Arbeit mit<br />
<strong>und</strong> an Quellen, insbesondere Familiendokumenten, hatte der 6-jährige Junge, den<br />
Glotz so lange in sich verdrängt, verleugnet oder ignoriert - kurzum aus seinem<br />
Bewusstsein "vertrieben" hatte, in ihm Gestalt angenommen. Damit war Glotz zu<br />
seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er eckt seitdem öfter an, auch in seiner Partei, weil er<br />
sich nicht mehr wie früher anpasst. Er verficht sein Recht auf eigene Meinung, selbst<br />
wenn B<strong>und</strong>eskanzler Schröder oder Außenminister Fischer andere Ansichten<br />
vertreten.<br />
So sitzt Glotz zusammen mit Erika Steinbach (CDU), Vorsitzende des B<strong>und</strong>es der<br />
Vertriebenen (BdV), im Vorstand der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen", das<br />
246 Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen <strong>als</strong> Lehrstück. München 2003. Seite 10.<br />
247 Streitgespräch zwischen Micha Brumlik - Peter Glotz: Ein Zentrum gegen Vertreibungen? In: Neue<br />
Gesellschaft/Frankfurter Hefte 12/2003. Seiten 45 - 50, zit. 49; Petra Reski: Was vorbeji ist, ist vorbeji.<br />
Warum tun sich die Deutschen mit ihren Vertriebenen eigentlich so schwer? Eine Reise durch die Welt<br />
der Trachtenaufmärsche, Rübezahlgedichte <strong>und</strong> Opfer-Diskussionen. In: DIE ZEIT Nr. 47 vom 13.<br />
November 2003. Seite 43.Vgl. auch Dieter Bingen (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern?<br />
Historische Erfahrungen, Vergangenheitspolitik, Zukunftsoptionen. Wiesbaden 2003.<br />
241
eine Dokumentations-, Forschungs- <strong>und</strong> Begegnungsstätte werden soll. Er wird<br />
deshalb von vielen gescholten, teilweise mit "ewig Gestrigen" gleichgestellt.<br />
Übersehen wird dabei, dass Glotz sich wesentlich vom BdV unterscheidet, der<br />
allerdings ebenfalls betont, es gehe nicht nur um die Vertreibung der Deutschen,<br />
sondern um die europäische Dimension von Vertreibungen bis in die Gegenwart.<br />
Aber anders <strong>als</strong> manche Vertriebenenfunktionäre, die auf- <strong>und</strong> abrechnen wollen,<br />
anklagen oder in Ausnahmefällen sogar Entschädigungen fordern, will Glotz<br />
aufklären. Er ordnet die Vertreibung in ihren historischen Kontext ein <strong>und</strong> sieht darin<br />
ein "Lehrstück" des zerstörerischen Nationalismus auf beiden Seiten. Nur wer den<br />
Mut habe, seine "Verletzungen" offen zu bekennen, könne mit Verständigung<br />
rechnen, während "Versöhnungsgerede" oder "Versöhnungstourismus" nicht weiter<br />
führten. So hat Glotz die Vertreibung nicht nur <strong>als</strong> historisches Faktum, sondern auch<br />
persönlich-emotional verarbeitet. Daher wird ihm vorgeworfen, "dass seine<br />
dramatische Bilanz der europäischen Geschichte seinen eigenen persönlichen<br />
emotionalen Befindlichkeiten <strong>und</strong> nicht historischen Interessen entspringt". 248<br />
Die Neue Politische Bildung (NPB) geht von der These aus, dass intellektuelles<br />
Wissen <strong>und</strong> sein Erwerb allein nicht ausreichen, um sich <strong>als</strong> eigenständige<br />
Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG mit der dazu gehörenden Identität zu entfalten<br />
<strong>und</strong> so politisch mündig zu werden. Friedhelm Boll hat durch einfühlendes Zuhören<br />
Überlebenden zweier Diktaturen dazu verholfen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden<br />
<strong>und</strong> ihnen so eine Wiederbegegnung mit sich selbst <strong>und</strong> mit <strong>Deutschland</strong> ermöglicht.<br />
Peter Glotz ist ein Beleg dafür, dass jemand noch so sehr "politisch gebildet", noch<br />
so viel politisch wissen, noch so viel wissenschaftlich publizieren <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
Kommunikationswissenschaftler sein kann, ohne deshalb mit sich selbst in seiner<br />
Lebensgeschichte kommunizieren zu müssen. Erst <strong>Quellenarbeit</strong>, u.a. mit<br />
Familiendokumenten, führte einen Wandel herbei.<br />
Karl Kautsky (1854 - 1938), ein anderer Sozialdemokrat, wie Glotz ein "Böhmak", hat<br />
seine Quellen - Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels - nicht tiefer gehend verstanden. Sein<br />
"Kautskyanismus" rezipierte, interpretierte <strong>und</strong> popularisierte sie, war aber auch aus<br />
anderen Quellen, u.a. sozialdarwinistischen, gespeist. Da er sehr viel veröffentlichte,<br />
vor allem im von ihm 1883 begründeten <strong>und</strong> bis 1917 geleiteten theoretischen SPD-<br />
Organ "Die Neue Zeit", wurde er nach dem Tode Engels' (1895) das geistige Haupt<br />
der internationalen Sozialdemokratie. 249 Jedoch blieb ihm, um ein Zitat Gadamers<br />
abzuwandeln, vieles fremd, was ihm vertraut schien (4.5.).<br />
248 Eva Hahn <strong>und</strong> Hans-Henning Hahn: Peter Glotz <strong>und</strong> seine Geschichtsbilder. In: Zeitschrift für<br />
Geschichtswissenschaft 52, 2004. Seiten 72 - 80, zit. 73.<br />
249 Jürgen Rojahn/Till Schelz/Hans-Josef Steinberg (Hg.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl Kautskys<br />
Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M./New York 1992. Vgl. auch Hans<br />
Georg Lehmann: Die Agrarfrage in der Theorie <strong>und</strong> Praxis der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />
Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus <strong>und</strong> Bolschewismus. Tübingen 1970. Seiten<br />
30ff., 191ff., 200ff., 253ff., 267ff. u.a.<br />
242
8. Adressen für die Praxis II<br />
Forschung <strong>und</strong> Lehre - Politik <strong>und</strong> Medien - Behörden <strong>und</strong><br />
Gerichte - Bibliotheken <strong>und</strong> Archive - Dokumentationen<br />
<strong>und</strong> Editionen<br />
In Forschung <strong>und</strong> Lehre will die D-Dok. <strong>als</strong> historisch-politische <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftliche Datenbank zur <strong>Quellenarbeit</strong> bevorzugt in folgenden<br />
Fachwissenschaften ermuntern: in den Geisteswissenschaften, vor allem in der<br />
Zeitgeschichte, in den Sprachwissenschaften <strong>und</strong> Übersetzungswissenschaften, in<br />
den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Politologie, Soziologie, in Rechts-<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaft, auch in der Pädagogik, Didaktik <strong>und</strong> Psychologie. Die<br />
D-Dok. richtet sich folglich an alle Berufe, die damit in Zusammenhang stehen: vor<br />
allem an Hochschullehrer/innen, Dozent/innen <strong>und</strong> Studierende.<br />
Zu den Adressaten gehören auch Politiker/innen; denn sie artikulieren <strong>und</strong> bewirken<br />
im vornehmlich staatlich-öffentlichen Bereich, was sich in Quellen niederschlägt <strong>und</strong><br />
in der Datenbank dokumentiert wird. Journalist/innen <strong>und</strong> Medien vermitteln Politik,<br />
indem sie sie <strong>als</strong> Nachrichten verbreiten, kommentieren oder inszenieren.<br />
Die D-Dok. wendet sich darüber hinaus an Verwaltung <strong>und</strong> Rechtsprechung, soweit<br />
sie historisch-politische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche, insbesondere normative Quellen<br />
nutzen <strong>und</strong> verwerten, z.B. Ministerien, Behörden <strong>und</strong> Gerichte auf den<br />
verschiedenen Ebenen. Bibliotheken sammeln in der Regel gedruckte primäre <strong>und</strong><br />
sek<strong>und</strong>äre Informationen, Archive dagegen vornehmlich ungedruckte primäre<br />
Informationen, <strong>als</strong>o unveröffentlichte Quellen.<br />
8.1. Hochschullehre auf dem Prüfstand: Nicht-direkte Lehrmethoden<br />
anstelle direkter an Universitäten<br />
<strong>Quellenarbeit</strong> in der universitären <strong>und</strong> außeruniversitären Lehre <strong>und</strong> ihren Fächern<br />
erfordert eine eigene Didaktik <strong>und</strong> Evaluation. Sie bleiben in diesem Begleitbuch<br />
ausgeklammert; denn es beschränkt sich im Wesentlichen auf Denkanstöße <strong>und</strong><br />
Anregungen für die schulische <strong>und</strong> außerschulische politische Bildung (7.).<br />
Nur angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt werden kann die hier vertretene These,<br />
dass direkte Lehrmethoden, wie sie seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert trotz gr<strong>und</strong>legend<br />
veränderter Umstände in Vorlesungen an deutschen Universitäten überwiegen,<br />
mitverantwortlich für den Frontalunterricht an Schulen sind, insbesondere an<br />
243
Gymnasien. Um so wichtiger wäre es, die Hochschullehre zu verändern <strong>und</strong> zu<br />
verbessern; denn an ihr krankt hauptsächlich der deutsche Universitätsbetrieb. Er<br />
befindet sich bildungspolitisch, personell, finanziell, organisatorisch <strong>und</strong> administrativ<br />
in einer schweren Krise <strong>und</strong> im Umbruch.<br />
Soweit Erprobungen vorliegen, haben sie bewiesen, "dass auch in der Hochschule<br />
nicht-direktive Lehrmethoden, die forschendes, entdeckendes, erfahrungsbezogenes<br />
<strong>Lernen</strong> fördern, die Effektivität von Lernprozessen in entscheidendem Maße<br />
steigern". 250 Sie <strong>und</strong> nicht Vorlesungen ermöglichen Studierenden über den<br />
fachwissenschaftlichen Informationswert hinaus, ihr Selbstwertgefühl positiv zu<br />
besetzen. "Fast alle Studenten, die man fragt, was sie vom Studium erwarten,<br />
bringen das Recht auf Anerkennung zur Sprache, jeder auf seine Weise. 'Ohne<br />
Anerkennung kann man nicht studieren', sagt der Hamburger Geschichtsstudent<br />
Christian Unger. Und Antje Ebersbach, Fachhochschülerin in Jena, berichtet, wie sie<br />
ihr Universitätsstudium aufgab, weil es an der Uni an Orientierung <strong>und</strong> Anerkennung<br />
mangelte. 'Da fehlt die Motivation, sich durchzukämpfen.' Diese Studierenden, auf<br />
deren Zukunft die marode Republik lastet, verlangen nicht Mitleid oder bloß Geld,<br />
sondern individuelle Aufmerksamkeit für das, was sie können. Sie möchten fachliche<br />
wie menschliche Zuwendung <strong>und</strong> Kritik. Wer sich nach ein paar Semestern noch<br />
nicht zurechtfindet, flüchtet ... Immer mehr Studenten fordern deshalb eine bessere<br />
Lehre; sie berichten ausdrücklich von dem beglückenden Gefühl: Ich hab was<br />
geschafft! <strong>und</strong> von dem Zorn über Dozenten, die ihnen diese Erfahrung verweigern;<br />
die sich nichts einfallen lassen, um der Ausbildung Qualität zu geben <strong>und</strong> <strong>als</strong>o allen<br />
Studierenden eine faire Chance. Dabei ist es an vielen US-Unis üblich, dass in<br />
kurzen Abständen, ob wöchentlich oder zweiwöchentlich, Lehrende <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>de<br />
miteinander überlegen, was einer gelernt hat, was daraus folgen könnte. Betreuung<br />
durchs Gespräch, nicht nur durch Leistungstests." 251<br />
Dies ist allerdings gegenwärtig an deutschen Universitäten nicht machbar; denn die<br />
meisten Lehrveranstaltungen sind überfüllt <strong>und</strong> das Lehrpersonal ist überlastet.<br />
Deshalb <strong>und</strong> aus anderen Gründen "taugt das amerikanische Hochschulwesen nur<br />
bedingt <strong>als</strong> Modell für die deutsche Hochschulpolitik", zumal sich beide am meisten<br />
"im Umgang mit Studierenden" unterscheiden. 252 So kommt an US-<br />
Spitzenuniversitäten ein Hochschullehrer auf etwa zehn Studierende, in <strong>Deutschland</strong><br />
dagegen hat ein Professor oft 100 Studierende "durchzuschleusen". Er kennt<br />
deshalb nur wenige persönlich <strong>und</strong> namentlich.<br />
250 Michele Barricelli/Ruth Benrath: "Cyberhistory" - Studierende, Schüler <strong>und</strong> Neue Medien im Blick<br />
empirischer Forschung. Ein hochschuldidaktisches Experiment. In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Unterricht (GWU) 54, 2003. Seiten 337 - 353, zit. 353.<br />
251 Elisabeth von Thadden: Wie man in <strong>Deutschland</strong> studiert. Studenten wollen eine Ausbildung mit<br />
guten Karrierechancen. Die Universitäten wollen ein konkurrenzfähiges Profil. So sind alle auf der<br />
Suche. In: DIE ZEIT Nr. 48 vom 20. November 2003. Seiten 32 - 33, zit. 33.<br />
252 Hans W. Weiler: Hochschulen in den USA - Modell für <strong>Deutschland</strong>? In: Aus Politik <strong>und</strong><br />
Zeitgeschichte B 25/2004. Seiten 26 - 33, zit. 26 <strong>und</strong> 31.<br />
244
8.2. Digitalisierung <strong>als</strong> Mehrwert: Die D-Dok. <strong>als</strong> Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong><br />
Hilfsmittel für Recherchen in Lehre <strong>und</strong> Forschung<br />
Mit der D-Dok. wird eine Quellengr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> ein Hilfsmittel für Recherchen in der<br />
Lehre <strong>und</strong> Forschung an universitären <strong>und</strong> außeruniversitären Einrichtungen<br />
bereitgestellt. Welchen Mehrwert digitale Editionen gegenüber herkömmlichen<br />
analogen (gedruckten) bieten, lässt sich an zwei Beispielen demonstrieren: am<br />
Archiv der Gegenwart (AdG) <strong>und</strong> am Migne, Patrologia Latina (MPL).<br />
Der "Keesing" ist für alle, die sich mit Politik befassen, ein Begriff. Er erscheint seit<br />
1931, gegründet von Heinrich von Siegler, <strong>als</strong> Keesings Archiv, von 1945 - 1955 <strong>als</strong><br />
Keesing's Archiv der Gegenwart <strong>und</strong> seitdem <strong>als</strong> Archiv der Gegenwart (AdG). Es<br />
enthält, beginnend mit dem 1. Juli 1931, chronologisch nach Ländern geordnete<br />
weltweite Materialien zu Politik <strong>und</strong> auch Wirtschaft: Pressemeldungen, Nachrichten,<br />
Berichte über politische Ereignisse <strong>und</strong> wirtschaftliche Vorgänge, Quellen meist in<br />
Auszügen mit zusammenfassenden Zwischentexten, z.B. bei Reden. Fortlaufend<br />
aktualisiert <strong>und</strong> inzwischen auch mit einer englischen, französischen <strong>und</strong><br />
niederländischen Version erscheint das Archiv der Gegenwart im 74. Jahrgang 2004<br />
mit einem Gesamtumfang von schätzungsweise 55.000 Druckseiten - das ist etwa<br />
die Hälfte der in der D-Dok. digitalisierten Quellentexte. Bei ihr scheidet daher eine<br />
Druckversion von vornherein aus. Sie ist nur <strong>als</strong> digitale Bibliothek auf DVD denkbar -<br />
<strong>als</strong> <strong>Deutschland</strong> 1945-2004 auf einer Scheibe.<br />
Die Bände des Archivs der Gegenwart füllen ein ganzes Regal. Das Bedürfnis, die<br />
Suche in ihnen zu erleichtern, veranlasste den Verlag, eine digitalisierte Version<br />
herauszugeben. Dies spart Platz <strong>und</strong> ermöglicht auch die Volltextsuche. Sie<br />
befriedigt allerdings wenig, da die Ergebnisse, die sie liefert, oft nicht überzeugen.<br />
Ich hoffe, die Software der D-Dok. bietet bessere <strong>und</strong> vielfältigere<br />
Recherchemöglichkeiten.<br />
Während der "Keesing" vornehmlich informiert, weniger dokumentiert, bietet der<br />
Migne, Patrologia Latina (MPL) in 221 Bänden eine Textsammlung lateinischer<br />
Kirchenväter zwischen 200 <strong>und</strong> 1216 n. Chr. Die nach ihrem Herausgeber Jacques-<br />
Paul Migne benannte Edition aus der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bewog den<br />
britischen Verleger Chadwyck-Healey, das Wagnis einzugehen, sie in den 1990er<br />
Jahren auf CD-ROM mit einer Volltextsuche auf den Markt zu bringen - zum Preis<br />
von 25.000 Pf<strong>und</strong> für die Einzelplatznutzung! 253 Die Investition hat sich für den<br />
253 Patrologia Latina cursus completus: sive bibliotheca universalis....accurante J.-P. Migne. Parisiis<br />
1844 - 1855, 1862-1865. 221 Bände. Vgl. dazu Helmut Altrichter: Quelleneditionen auf CD-ROM? In:<br />
Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Berichtsjahr 2001.<br />
245
Verleger offenbar gelohnt, obwohl sich das Angebot nur an Spezialisten unter<br />
Kirchenhistorikern <strong>und</strong> Theologen richtete.<br />
Die D-Dok. bietet nicht nur die Möglichkeit, Quellen im Volltext auszuwählen <strong>und</strong> mit<br />
ihnen zu arbeiten, sondern auch, in ihnen nach eigenen Suchbegriffen zu<br />
recherchieren <strong>und</strong> sie so auszuwerten - auf über weitaus mehr <strong>als</strong> 100.000<br />
gespeicherten Textseiten: sek<strong>und</strong>enschnell, schnörkellos, übersichtlich nach<br />
Trefferquoten. Welcher Name, welcher Begriff, welcher Vorgang taucht wo, wann,<br />
warum <strong>und</strong> in welchen Zusammenhängen auf? Die ermittelten Ergebnisse lassen<br />
sich für private Zwecke speichern, markieren <strong>und</strong> ausdrucken. Der Raumbedarf für<br />
die D-Dok., die gedruckt schätzungsweise 400 Bände umfassen dürfte, reduziert sich<br />
beinahe auf Null - auf eine DVD-Scheibe.<br />
Der Mehrwert der Digitalisierung für Lehre <strong>und</strong> Forschung hat die Deutsche<br />
Forschungsgemeinschaft (DFG) veranlasst, seit 1997 ein Förderprogramm zu<br />
finanzieren, das auch die retrospektive Digitalisierung umfasst. Berücksichtigt werden<br />
- je nach den Prioritäten - Bibliotheksbestände, Enzyklopädien, Lexika,<br />
Bibliographien, Wörterbücher <strong>und</strong> Quelleneditionen.<br />
8.3. Politiker/innen <strong>und</strong> Journalist/innen: Akteure <strong>und</strong> Vermittler von<br />
Politik im Informationszeitalter?<br />
In seinem berühmten Vortrag "Politik <strong>als</strong> Beruf" (1919) hat Max Weber Politik <strong>als</strong><br />
ernste <strong>und</strong> mühselige Arbeit beschrieben: <strong>als</strong> "ein starkes langsames Bohren von<br />
harten Brettern". Vom Politiker fordert er vornehmlich drei Qualitäten: Leidenschaft<br />
im Sinne von Sachlichkeit, Verantwortungsgefühl, Augenmaß <strong>als</strong> "Distanz zu den<br />
Dingen <strong>und</strong> Menschen". Weber hat auch schon Schattenseiten des politischen<br />
Machtkampfes <strong>und</strong> Interessenbetriebes gesehen: Pfründenschacher, Eitelkeit,<br />
Ämterpatronage, Unsachlichkeit, Verantwortungslosigkeit, insbesondere die "eitle<br />
Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht". 254<br />
Zu allen Zeiten waren Herrschende, Machthaber <strong>und</strong> <strong>als</strong> Politiker agierende<br />
Personen bemüht, ihre Handlungen <strong>und</strong> ihre dahinter stehenden Absichten ins<br />
rechte Licht zu setzen <strong>und</strong> so publikumswirksam zu vertreten. Die<br />
Parteiendemokratie, in <strong>Deutschland</strong> seit 1918, erforderte, politische Zielsetzungen,<br />
Handlungen <strong>und</strong> "Erfolge" öffentlich <strong>und</strong> kontinuierlich zu legitimieren, wenn Politiker<br />
gewählt oder wieder gewählt werden wollten. Diese Kommunikation zwischen<br />
Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. München 2002. Seiten 56 - 62, zit. 57.<br />
254 Nina Grunenberg/Christian Graf von Krockow/Robert Leicht: Politik <strong>als</strong> Beruf heute; Max Weber:<br />
Politik <strong>als</strong> Beruf. Düsseldorf 1986 (Diskurs Politik Heft 2). Seiten zit. 62-63, 71.<br />
246
Wählern <strong>und</strong> Gewählten beruhte auf dem Gr<strong>und</strong>gedanken, dass Politiker die Akteure<br />
sind, <strong>und</strong> Medien, insbesondere Zeitungen, die Vermittler, die Staatsbürger mit<br />
Informationen versorgen, damit sie sich eine politische Meinung bilden können. Die<br />
im Kaiserreich <strong>und</strong> in der Weimarer Politik weit verbreitete Presse der Parteien, z.B.<br />
das SPD-Organ "Vorwärts", druckte oft auszugsweise Politikerreden aus dem<br />
Reichstag nach <strong>und</strong> lieferte so Quelleninformationen pur — wie heute in <strong>Deutschland</strong><br />
nur noch die Wochenzeitung "Das Parlament" über den B<strong>und</strong>estag. Kurzum: Die<br />
Medien sollten die Politik beobachten, über sie berichten <strong>und</strong> sie vermitteln, sie aber<br />
nicht bestimmen oder inszenieren.<br />
Als 1950 die ARD, die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen<br />
R<strong>und</strong>funkanstalten der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>, gegründet wurde, ging sie von<br />
der Prämisse aus, dass R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> Medien staatlicher Kontrolle entzogen seien,<br />
sie die Interessen der "Allgemeinheit" vertreten <strong>und</strong> so zur politischen Willensbildung<br />
beitragen. "Alles in allem ist von der öffentlich-rechtlichen Gründungsidee nicht mehr<br />
viel übrig geblieben." 255 Unter dem Einfluss der Festangestellten <strong>und</strong> der Parteien<br />
beeinträchtigen Politik, Verwaltung <strong>und</strong> Kommerz die journalistische Unabhängigkeit,<br />
so dass ARD, ZDF <strong>und</strong> <strong>Deutschland</strong>Radio längst nicht mehr, obgleich öffentlich<br />
finanziert, Medien für die "Allgemeinheit" <strong>und</strong> ihre Willensbildung sind: für<br />
Information, Politik, Kultur <strong>und</strong> Bildung.<br />
Im Informationszeitalter hat sich ein Wechsel von der Parteiendemokratie zur<br />
Mediendemokratie vollzogen. Nicht mehr Medien berichten über Politik, um sie zu<br />
vermitteln, sondern umgekehrt, die politischen Akteure beobachten die Medien <strong>und</strong><br />
passen sich ihnen an, um sich in ihnen publikumswirksam zu präsentieren <strong>und</strong> zu<br />
spiegeln. Politikvermittlung wird so zum Politainment: Politik <strong>und</strong> Unterhaltung<br />
verschmelzen zu einer Symbiose. 256<br />
8.4. Politikvermittlung <strong>und</strong> Politainment: Medien inszenieren Politik,<br />
Quellen spiegeln sie<br />
Politainment theatralisiert, personalisiert, verkürzt <strong>und</strong> fiktionalisiert Politik. Zwar ist<br />
Politik eine viel zu ernste Sache, <strong>als</strong> dass sie sich auf Unterhaltung reduzieren ließe,<br />
passt sich aber dennoch ihren Regeln an. Denn ohne dieses Politainment werden in<br />
den Massenmedien weder Politiker/innen noch ihre Politik wahrgenommen oder<br />
255 Thomas Assheuer: Kopfsprung ins Seichte. Der öffentlich-rechtliche R<strong>und</strong>funk steckt in der Krise.<br />
Immer stärker bedrohen Kommerz <strong>und</strong> Politik die journalistische Unabhängigkeit. Der Bildungsauftrag<br />
ist bloß noch lästiges Beiwerk, das Programm wird flott banalisiert. In: DIE ZEIT Nr. 3 vom 8. Januar<br />
2004. Seiten 11 - 13, zit. 13.<br />
256 Andreas Dörner: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M. 2001.<br />
247
ekannt. Sie existieren, überspitzt formuliert, nur innerhalb, aber nicht mehr<br />
außerhalb der Mediendemokratie.<br />
Um im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu bleiben, sind vor allem<br />
Spitzenpolitiker/innen darauf angewiesen, in den Massenmedien präsent zu bleiben.<br />
Dort zählt in erster Linie die schnelle <strong>und</strong> aller<strong>neues</strong>te Meldung vom Tage. Was<br />
gestern war, langweilt oft, ist verblasst. Was morgen, über den Tag hinaus geschieht,<br />
interessiert meist nur insoweit, <strong>als</strong> es heute Vorteile verspricht.<br />
Komplexe politische Sachverhalte, Entscheidungsprozesse <strong>und</strong><br />
Auseinandersetzungen werden oft auf den Augenblick verkürzt <strong>und</strong> so nicht<br />
nachvollziehbar. Entscheidend ist nicht mehr der Informationsgehalt, sondern die<br />
schnelle, unterhaltsame Abfolge neuer Meldungen in einer Art "Aktualitätenkino mit<br />
prominenter Besetzung". 257 Politik droht so zu einer Spielart des<br />
Unterhaltungsgewerbes zu werden, das den Marktgesetzen, den Einschaltquoten,<br />
der Kommerzialisierung, der Werbung <strong>und</strong> "Talkshowisierung" folgt. Thomas Meyer<br />
spricht daher von der "Theatralität der Politik in der Mediendemokratie". 258<br />
Die D-Dok. ist zwar ein Produkt des Informationszeitalters, aber nicht der<br />
Mediendemokratie. Politik <strong>und</strong> ihr Informationsgehalt werden daher nicht auf<br />
Minuten- oder Sek<strong>und</strong>en-Statements "eingedampft", sondern ungekürzt <strong>und</strong><br />
authentisch elektronisch in vornehmlich staatlichen Quellen <strong>als</strong> Rohstoff<br />
bereitgestellt. Sie sollen Politik aus historischer <strong>und</strong> sozialwissenschaftlicher<br />
Perspektive spiegeln <strong>und</strong> nach selbstbestimmten Fragestellungen recherchierbar <strong>und</strong><br />
nachvollziehbar machen.<br />
Politik wird damit in die Zeit <strong>und</strong> den Ort jener Auseinandersetzungen <strong>und</strong><br />
Entscheidungen zurückversetzt, die im Politainment marginalisiert werden: in das<br />
Parlament, in die Regierung, in die Parteien <strong>und</strong> in die Gesellschaft. Dies soll die<br />
Reichstagskuppel symbolisieren, die <strong>als</strong> Wahrzeichen des Deutschen B<strong>und</strong>estages<br />
auf dem Titelblatt der D-Dok. abgebildet ist.<br />
In der D-Dok. wird Politik zwar durch Spitzenpolitiker/innen vorgestellt, aber nicht<br />
medienwirksam inszeniert, sondern digitalisiert in Quellen, z.B. <strong>als</strong> ungekürzte<br />
Reden. Ihr Informationswert ist hoch, ihr Unterhaltungswert dagegen tendiert gegen<br />
Null, wenngleich es Spaß machen kann, in der Datenbank zu surfen.<br />
257 So Ulrich Sarcinelli: Das "Christiansen-Syndrom". Politik zwischen Medien- <strong>und</strong><br />
Verhandlungsdemokratie. In: Forschung & Lehre 8/2004, Seiten 422 - 424, zit. 422. Vgl. auch Klaudia<br />
Brunst: Leben <strong>und</strong> leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen. Essays, Analysen <strong>und</strong><br />
Interviews. Konstanz 2003.<br />
258 Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte B 53/2003. Seiten 12 - 19. Vgl. auch Thomas Meyer/Rüdiger<br />
Ontrup/Christian Schicha: Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen.<br />
Wiesbaden 2000. - Auch Protestk<strong>und</strong>gebungen werden mediengerecht inszeniert; vgl. Dieter Rucht<br />
(Hrsg.): Berlin, 1. Mai 2002. Zur Inszenierung politischer Rituale. Opladen 2003.<br />
248
Dennoch gibt es kein Politainment in der D-Dok. Gemäß ihren Zielsetzungen,<br />
vornehmlich staatliche Quellen zu dokumentieren, kommen Spitzenpolitiker/innen auf<br />
der obersten Ebene der Public Domain zu Wort: in der BRD Mitglieder vornehmlich<br />
der jeweiligen B<strong>und</strong>esregierungen, in der DDR der Staats- <strong>und</strong> Parteiführung, d.h.<br />
der SED. Original-Bild- <strong>und</strong> Original-Tondokumente treten ergänzend hinzu.<br />
Für Journalist/innen <strong>und</strong> Publizist/innen, die Politik für den Tag oder für den<br />
Augenblick inszenieren, ist die D-Dok. nicht brauchbar. Wer aber über den Tag<br />
hinaus recherchieren <strong>und</strong> schreiben will, auch historisches oder<br />
sozialwissenschaftliches Hintergr<strong>und</strong>wissen benötigt, für den ist die Datenbank ein<br />
riesiger Informationspool aus Quellen, auf die <strong>als</strong> Rohstoff zurückgegriffen werden<br />
kann.<br />
Dafür fehlt vielen Journalisten subjektiv <strong>und</strong> objektiv die Zeit. Auf der Jagd nach<br />
neuen <strong>und</strong> aller<strong>neues</strong>ten Meldungen stehen sie unter einem ernormen Druck. Sie<br />
müssen auch mit anderen Medien konkurrieren. Es ist ein mörderischer Job.<br />
Der Journalist Hendrik Lünenborg schreibt in seiner Rezension, die der NDR am 8.<br />
Januar 2005 im Info-Hörfunk über die D-Dok. <strong>als</strong> "F<strong>und</strong>grube für Interessierte"<br />
ausgestrahlt hat: "Auf multimediale Inszenierung haben Herausgeber Lehmann <strong>und</strong><br />
sein Team bewusst verzichtet." Und Lünenborg fügt hinzu: "Die <strong>Deutschland</strong>-<br />
Dokumentation ist <strong>als</strong>o das Gegenstück zum Historytainment. Wer sich wirklich für<br />
die jüngere deutsche Geschichte interessiert, der wird aber auch mit diesem<br />
vermeintlich trockenen Stoff seinen Spaß haben." 259 Hier hat ein Journalist die Zeit<br />
gef<strong>und</strong>en, <strong>Quellenarbeit</strong> zu leisten, statt die Pressemitteilungen der Universität Bonn<br />
vom 15. Juli 2004 oder der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vom 9. August 2004<br />
über die D-Dok. auszuschreiben.<br />
8.5. Digitale Angebote: Behörden <strong>und</strong> Gerichte, Bibliotheken <strong>und</strong><br />
Archive, Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen<br />
Mit dem Informationszeitalter hat ein Umstellungsprozess in Behörden <strong>und</strong> Gerichten<br />
begonnen; denn die Arbeitsvorgänge werden nicht mehr auf Papier, sondern nach<br />
<strong>und</strong> nach auf elektronischen Datenträgern gespeichert. So entstehen nur noch<br />
wenige Akten wie bisher, um so mehr aber virtuelle Akten. "Die Archivierung digitaler<br />
Angebote stellt neue Anforderungen an die Bibliothek - hier sind noch viele<br />
gr<strong>und</strong>legende Probleme zu lösen." 260 Und auf die Archive kommt "eine der wohl<br />
259<br />
NDR Info-Hörfunk. Das Forum - Thema Zeitgeschichte. 08. 01. 2005/ 19:20-19:50 Uhr<br />
(Manuskript).<br />
260<br />
Marianne Dörr: Fachinformation Geschichte im Internet. Angebote der Bayerischen<br />
249
größten Aufgaben ihrer Geschichte zu. Digitale Unterlagen sind von ihrer Natur her<br />
fragil <strong>und</strong> kurzlebig". 261<br />
Die D-Dok. ist <strong>als</strong> bislang größte <strong>und</strong> umfassendste Datenbank zur deutschen<br />
Geschichte <strong>und</strong> Politik nach 1945 bereits eine kleine Quellenbibliothek - auf einer<br />
Scheibe. Sie ist insoweit auch ein elektronisches Archiv, das allerdings vornehmlich<br />
staatliche gedruckte Dokumente speichert <strong>und</strong> deshalb den Gang ins Archiv nicht<br />
ersetzen kann. Die Digitalisierung ist nicht "fragil <strong>und</strong> kurzlebig", sondern meines<br />
Erachtens langlebiger <strong>und</strong> sicherer <strong>als</strong> eine ausgedruckte Papierversion der D-Dok.<br />
von etwa 400 Dokumentenbänden.<br />
Im Bibliotheksbereich federführend im elektronischen Zeitalter sind die Bayerische<br />
Staatsbibliothek (BSB) in München <strong>und</strong> die Staats- <strong>und</strong> Universitätsbibliothek<br />
Göttingen (SUB). Im Archivbereich am weitesten fortgeschritten bei der Erfassung<br />
<strong>und</strong> langfristigen Sicherung elektronischen Archivgutes sind offensichtlich die<br />
Staatlichen Archive Bayerns.<br />
Behörden <strong>und</strong> Gerichte sind darauf angewiesen, dass ihnen Gesetze <strong>und</strong> andere<br />
Rechtsnormen sowie die dazu gehörende Rechtsprechung nach dem <strong>neues</strong>ten<br />
Stand zugänglich sind. Dies erleichtern im Informationszeitalter wie nie zuvor digitale<br />
Rechtsbibliotheken. Dazu gehört u.a. die Datenbank der juris GmbH, die der größte<br />
Anbieter elektronischer Normen <strong>und</strong> Gerichtsentscheidungen in <strong>Deutschland</strong> ist. Die<br />
LexisNexis <strong>Deutschland</strong> GmbH macht B<strong>und</strong>esrecht, EU-Recht, alle 16 Landesrechte<br />
<strong>und</strong> dazu gehörende Leitsätze von Gerichtsurteilen auf einer CD-ROM nach dem<br />
jeweils aktualisierten Rechtsstand verfügbar; spätere Rechtsänderungen sowie die<br />
Volltexte von Gerichtsurteilen sind für K<strong>und</strong>en der CD-ROM kostenfrei im Internet<br />
abrufbar. "Das Deutsche B<strong>und</strong>esrecht" des Nomos-Verlags (Baden-Baden) ist eine<br />
Art "B<strong>und</strong>esgesetzblatt in Lose-Blatt-Form", das die in der BRD gültigen Gesetze <strong>und</strong><br />
Verordnungen des B<strong>und</strong>es nach Sachgebieten sammelt, erläutert <strong>und</strong> jeweils<br />
aktualisiert; es kann <strong>als</strong> gedruckte Loseblattsammlung, <strong>als</strong> CD-ROM oder über das<br />
Internet bezogen werden. 262<br />
Mit solchen Rechtsbibliotheken kann sich die D-Dok. <strong>als</strong> historisch-politische <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftliche Datenbank nicht messen. Aber in jenen Fällen, in denen es<br />
um zeitlich zurückliegende Verwaltungs- <strong>und</strong> Rechtsvorgänge geht, die nicht nach<br />
dem aktuellen, sondern nach ihrem dam<strong>als</strong> gültigen, datierbaren Rechtsstand zu<br />
Staatsbibliothek. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>.<br />
Berichtsjahr 2001. Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer<br />
Forschungseinrichtungen in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. München 2002. Seiten 63 - 68, zit. 67.<br />
261 Lothar Saupe/Karl-Ernst Lupprian: Das Internetangebot der Staatlichen Archive Bayerns im Jahr<br />
2001. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. Berichtsjahr 2000.<br />
München 2001. Seiten 49 - 51, zit. 49.<br />
262 Weitere Informationen im Internet: www. nomos.de; www.lexisnexis.de; www.juris.de.<br />
250
ewerten <strong>und</strong> zu entscheiden sind, kann sie ergänzende Hilfestellungen leisten, z.B.<br />
bei Recherchen im historisch-sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong> normativen Umfeld.<br />
Die D-Dok. digitalisiert die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts auch<br />
dann, wenn seine Beschlüsse <strong>und</strong> Urteile nur noch rechtshistorisch bedeutsam sind,<br />
da sich die aktuellen Rechtsnormen geändert haben. Insofern ist die D-Dok. eine<br />
F<strong>und</strong>grube für jene Verwaltungsangehörigen <strong>und</strong> Juristen, vor allem<br />
Rechtshistoriker, die darauf angewiesen sind, auf Rechts- <strong>und</strong> Informationsquellen<br />
zurückzugreifen, die Vergangenes in der Gegenwart spiegeln.<br />
Gr<strong>und</strong>legend veränderte Rahmenbedingungen schafft das Informationszeitalter für<br />
Dokumentationen <strong>und</strong> Editionen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die ich in der<br />
Editorengruppe des Auswärtigen Amts für die Herausgabe der "Akten zur Deutschen<br />
Auswärtigen Politik 1918 - 1945" (ADAP), <strong>als</strong> zeitweiliger Privatarchivar des<br />
B<strong>und</strong>eskanzlers Helmut Schmidt <strong>und</strong> jetzt <strong>als</strong> Herausgeber der D-Dok. gesammelt<br />
habe, fasse ich verkürzt in sechs Thesen zusammen:<br />
-1. EDV-Einsatz bietet bisher ungeahnte Möglichkeiten, praktisch unbegrenzte<br />
Informations- <strong>und</strong> Datenmengen (z.B. Massenquellen) authentisch <strong>und</strong> multimedial<br />
zu digitalisieren, virtuell zu veröffentlichen <strong>und</strong> dauerhaft zu sichern;<br />
-2. Im Unterschied zum analogen Buch <strong>und</strong> seinen konventionellen Registern sind<br />
digitale Bibliotheken nicht nur sehr Platz sparend <strong>und</strong> sehr kostengünstig, 263 sondern<br />
sie ermöglichen darüber hinaus, umfangreiche Informations- <strong>und</strong> Datenmengen zu<br />
verarbeiten, z.B. nach eigenen Fragestellungen auszuwählen, zu durchsuchen,<br />
auszuwerten <strong>und</strong> zu evaluieren;<br />
-3. Während ein gedrucktes Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen,<br />
somit "fertig" ist, sind elektronische Editionen immer prozesshaft, <strong>als</strong>o "unfertig" - mit<br />
ihrer Auswahl, mit ihren Zielsetzungen, mit ihren Ergebnissen, mit ihrer Hardware<br />
<strong>und</strong> Software;<br />
-4. EDV-Präsentation "demokratisiert" Informationen <strong>und</strong> den Zugang (open access)<br />
zu ihren vielfältigen F<strong>und</strong>stellen (z.B. Bibliotheken, Archive, Bücher, Zeitschriften,<br />
263 Für die Erarbeitung des druckfertigen Manuskripts der Edition "Akten der Reichskanzlei. Weimarer<br />
Republik" (Kabinette) ergab sich pro Band ein Durchschnittspreis von DM 520.000. Hinzu kamen<br />
Druckkosten pro Band von DM 80.000. Insgesamt betrugen die Gesamtkosten somit pro Band<br />
schätzungsweise DM 600.000. Vgl. dazu Friedrich P. Kahlenberg: Informationswert <strong>und</strong><br />
Voraussetzungen zeitgeschichtlicher Quelleneditionen. In: Lothar Gall/Rudolf Schieffer (Hrsg.):<br />
Quelleneditionen <strong>und</strong> kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica <strong>und</strong> der<br />
Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, 22./23. Mai<br />
1998. München 1999. Seite 115. - Die D-Dok. mit ihren weit über 100.000 abrufbaren Textseiten <strong>und</strong><br />
dieses Begleitbuch wurden vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) mit der<br />
Gesamtsumme von DM 886.130 gefördert.<br />
251
Zeitungen, Handschriften); dies begünstigt die Teilhabe an der Demokratie, sofern<br />
ihre Chancen wahrgenommen werden;<br />
-5. Weitgehend selbstbestimmte <strong>Quellenarbeit</strong> kann individuell dazu befähigen,<br />
historische <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche mit lebensgeschichtlichen Quellen zu<br />
verknüpfen <strong>und</strong> so dazu verhelfen, nicht nur Zugang zu Geschichte <strong>und</strong> Politik zu<br />
finden, sondern auch zu sich selbst - zur eigenen Identität, zum wahren Selbst (1.4.).<br />
-6. <strong>Quellenarbeit</strong> erfordert <strong>lebenslanges</strong> <strong>und</strong> <strong>neues</strong> <strong>Lernen</strong>. Sie ermöglicht,<br />
Informationen <strong>als</strong> Rohstoff zu Handlungswissen <strong>und</strong> nicht zuletzt in emotionale<br />
Einsichten umzuwandeln. Sie werden so in uns zur Gestalt: "Ich lerne, <strong>als</strong>o bin"<br />
(Disco, ergo sum).<br />
9. Dank <strong>und</strong> Kritik<br />
(folgen)<br />
252
10. Der Autor<br />
11. Januar 2004<br />
Fragen an Sie, aber keine Antworten für Sie<br />
253
Hans Georg Lehmann<br />
1935 geboren in Mährisch Schönberg/heute Sumperk in Tschechien<br />
1946 Vertreibung aus der Tschechoslowakei<br />
1956-<br />
1962<br />
Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Germanistik,<br />
Rechtswissenschaft <strong>und</strong> Psychologie an den Universitäten<br />
München <strong>und</strong> Tübingen<br />
1963 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in Stuttgart-<br />
Tübingen: Fächer Geschichte, Wissenschaftliche Politik,<br />
Deutsch<br />
1966 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen<br />
1966-<br />
1974<br />
1974-<br />
1976<br />
1976-<br />
1979<br />
1980-<br />
2001<br />
1978-<br />
1987<br />
1992-<br />
2001<br />
Seit 2001 im Ruhestand<br />
im Auswärtigen Amt in Bonn: Editorengruppe für die<br />
Herausgabe der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik<br />
1918 - 1945 (ADAP)<br />
Habilitandenstipendium der Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft (DFG) <strong>und</strong> Lehrbefugnis für<br />
Politikwissenschaft in Bonn<br />
Dozent für Politikwissenschaft an der Pädagogischen<br />
Hochschule Rheinland, Abteilung Bonn<br />
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn<br />
Privatarchivar <strong>und</strong> Mitarbeiter Helmut Schmidts<br />
Leiter der Abteilung Politikwissenschaft am Seminar für<br />
Orientalische Sprachen an der Universität Bonn<br />
254
Selbstständige Veröffentlichungen:<br />
Die Agrarfrage in der Theorie <strong>und</strong> Praxis der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />
Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus <strong>und</strong> Bolschewismus.<br />
Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1970.<br />
Italienische Übersetzung: Il dibattito sulla questione agraria nella socialdemocrazia<br />
tedesca e internazionale. Dal marxismo al revisionismo e al bolscevismo. Milano:<br />
Feltrinelli Editore1977.<br />
(Mithrsg.) Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918 - 1945. Aus dem Archiv des<br />
Auswärtigen Amts. Serie E (1941 - 1945). Bände 1 - 4. Göttingen: Vandenhoeck &<br />
Ruprecht 1969 - 1975.<br />
Deutscher Herold. Volks- <strong>und</strong> Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft 1921-1971.<br />
Essen: Hoppenstedts Wirtschafts-Archiv 1972.<br />
Der Reichsverweser-Stellvertreter. Horthys gescheiterte Planung einer Dynastie.<br />
Mainz: v. Hase & Koehler 1975.<br />
In Acht <strong>und</strong> Bann. Politische Emigration, NS-Ausbürgerung <strong>und</strong> Wiedergutmachung<br />
am Beispiel Willy Brandts. München: C. H. Beck 1976.<br />
Carlo Schmid Bibliographie. Herausgeber: Archiv der sozialen Demokratie (Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung). Bonn 1977.<br />
Der Oder-Neiße-Konflikt. München: C. H. Beck 1979.<br />
(Hrsg.) Die Europäische Integration in der interdisziplinären Lehrerbildung. Bonn:<br />
Europa Union 1981.<br />
Öffnung nach Osten. Die Ostreisen Helmut Schmidts <strong>und</strong> die Entstehung der Ost-<br />
<strong>und</strong> Entspannungspolitik. Bonn: Neue Gesellschaft 1984.<br />
Nation<strong>als</strong>ozialistische <strong>und</strong> akademische Ausbürgerung im Exil. Warum<br />
Rudolf Breitscheid der Doktortitel aberkannt wurde. Herausgeber: Der Präsident<br />
der Philipps-Universität Marburg. Marburg 1985.<br />
Die Oder-Neiße-Grenze aktuell <strong>und</strong> historisch. Herausgeber: Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung. Bonn 1985.<br />
Chronik der DDR. 1945/49 bis heute. 2. Auflage München: C. H. Beck 1988.<br />
255
Chronik der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong>. 1945/49 bis heute. 3. Auflage München:<br />
C. H. Beck 1989.<br />
<strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 -1995. Bonn: B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />
<strong>und</strong> Bouvier 1995. Nachdrucke Bonn 1996 -1999.<br />
<strong>Deutschland</strong>-Chronik 1945 - 2000. Bonn: B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />
<strong>und</strong> Bouvier 2000. Nachdrucke 2002 <strong>und</strong> 2004.<br />
(Hg.) D-DOK. <strong>Deutschland</strong>-Dokumentation 1945 - 2004. Politik, Recht, Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Soziales. Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 2004 (DVD mit Booklet).<br />
Aufsätze zu zeitgeschichtlichen, politikwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />
rechtswissenschaftlichen Themen in Zeitschriften <strong>und</strong> Sammelbänden:<br />
Hitlers Unterredung mit dem amerikanischen Publizisten Stoddard. In: Publizistik.<br />
Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Jg.16, 1971, H. 2, S. 194-200.<br />
Die Technik japanischer Landungsoperationen im Zweiten Weltkrieg. In: Marine-<br />
R<strong>und</strong>schau, Jg.68, 1971, H. 9, S. 527-539.<br />
Ernst Reuters Entlassung aus dem Konzentrationslager. In: Archiv für<br />
Sozialgeschichte, Bd. 13, 1973, S. 483-508.<br />
Gefangenen-Vernehmungen nach St. Nazaire <strong>und</strong> Dieppe. In: Marine-R<strong>und</strong>schau,<br />
Jg. 70, 1973, H. 3, S. 153-167.<br />
Unternehmen Panzerfaust. Der Putsch der SS in Budapest am 15.Oktober 1944. In:<br />
Ungarn-Jahrbuch. Zeitschrift für die K<strong>und</strong>e Ungarns <strong>und</strong> verwandte Gebiete, Bd. 5,<br />
1973, S. 215-231.<br />
Adenauer <strong>und</strong> der rheinische Separatismus 1918/19. Clives Intervention zugunsten<br />
Adenauers vom Januar 1935. In: Adenauer Studien III. Untersuchungen <strong>und</strong><br />
Dokumente zur Ostpolitik <strong>und</strong> Biographie, hrsg. von Rudolf Morsey <strong>und</strong> Konrad<br />
Repgen. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1974, S. 213-225. 2. Auflage ebenda.<br />
Das Kriegstagebuch des sowjetischen Majors der Staatlichen Sicherheit Sabalin<br />
(Brjansker Front). In: Wehrforschung, Nr. 2, 1974, S. 55-62.<br />
Leitmotive nation<strong>als</strong>ozialistischer <strong>und</strong> großjapanischer Wirtschaftspolitik. Funks<br />
Unterredung mit Matsuoka am 28. März 1941 in Berlin. In: Zeitschrift für Politik, Jg.<br />
21, 1974, H. 2, S. 158-167.<br />
256
Kommunistischer Widerstand in Frankreich, in Belgien <strong>und</strong> in den Niederlanden im<br />
Urteil des Reichssicherheitshauptamtes. In: Wehrforschung, Nr. 5, 1975, S. 144-151.<br />
Der analytische Bezugsrahmen eines internationalen <strong>und</strong> intergesellschaftlichen<br />
Konflikts am Beispiel der Genesis des Oder-Neiße-Konflikts. In: Das deutschpolnische<br />
Konfliktverhältnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Multidisziplinäre Studien<br />
über konfliktfördernde <strong>und</strong> konfliktmindernde Faktoren in den internationalen<br />
Beziehungen, hrsg. von Carl-Christoph Schweitzer <strong>und</strong> Hubert Feger. Boppard am<br />
Rhein:Verlag Harald Boldt 1975, S. 19-95.<br />
Die Entstehung des Oder-Neiße-Konfliktes im Spannungsfeld zwischen Ost <strong>und</strong><br />
West. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS<br />
PARLAMENT, Nr. B 43/76 vom 23. Oktober 1976, S. 21-38.<br />
Erster gesamtdeutscher Dialog. Die Ministerpräsidentenkonferenz in München. In:<br />
DAS PARLAMENT, Nr. 22 vom 4. Juni 1977, S. 14-15. Englische Übersetzung: The<br />
Conference that Marked the Parting of the Ways. In: The German Tribune, Nr. 791<br />
vom 12. Juni 1977, S. 4.<br />
Schulreform <strong>und</strong> Politik. Der Konflikt um die Kooperative Schule <strong>und</strong> ihre<br />
Orientierungsstufe. In: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung<br />
DAS PARLAMENT, Nr. B 36/78 vom 9. September 1978, S. 3-23.<br />
Europa im Unterricht. Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 8. Juni<br />
1978. In: Gegenwartsk<strong>und</strong>e. Zeitschrift für Gesellschaft, Wirtschaft, Politik <strong>und</strong><br />
Bildung, Jg. 27, 1978, H. 4, S. 437-446.<br />
Europäische Bildungspolitik im Vergleich. Staatenverbindungen, Institutionen <strong>und</strong><br />
Zwischenergebnisse. In: Hans Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration<br />
in der interdisziplinären Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 261-291.<br />
Die europäische Dimension im Unterricht. Eine Dokumentation für Lehrer. In: Hans<br />
Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration in der interdisziplinären<br />
Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 293-313.<br />
Sozialwissenschaftliche Auswahlbibliographie zur Europäischen Integration. In: Hans<br />
Georg Lehmann (Hrsg.): Die Europäische Integration in der interdisziplinären<br />
Lehrerbildung. Bonn 1981, S. 315-371.<br />
Helmut Schmidt: A Biographical Political Profile. In: Wolfram F. Hanrieder (Ed.):<br />
Helmut Schmidt. Perspectives on Politics. Boulder/Colorado USA 1982, S. 227-236.<br />
Bespitzelt <strong>und</strong> ausgebürgert. Deutscher Widerstand im politischen Exil. In: DAS<br />
PARLAMENT Nr. 4-5 vom 29. Januar/5. Februar 1983, S. 11-12.<br />
257
Die deutsch-polnische Grenzfrage. Eine Einführung in den Oder-Neiße-Konflikt. In:<br />
Werner Plum (Hrsg.): Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong> zu Polen. Bonn 1984, S. 37-54.<br />
Acht <strong>und</strong> Ächtung politischer Gegner im Dritten Reich. Die Ausbürgerung deutscher<br />
Emigranten 1933-45. In: Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933-45<br />
nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen. Hrsg. von Michael Hepp,<br />
eingeleitet von Hans Georg Lehmann <strong>und</strong> Michael Hepp. Bd. 1 (Listen in<br />
chronologischer Reihenfolge). München/New York/London/Paris: Verlag Saur 1985,<br />
S.IX-XXIII.<br />
Mit der Mauer leben? Die Einstellung zur Berliner Mauer im Wandel. In: Aus Politik<br />
<strong>und</strong> Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT B 33-34 vom 16.<br />
August 1986, S. 19-34.<br />
Die individuelle Ausbürgerung deutscher Emigranten 1933-1945 (mit Michael Hepp).<br />
In: Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht, Jg. 38, Heft 3 (März 1987), S. 163-<br />
172.<br />
Oder-Neiße-Linie <strong>und</strong> Heimatverlust. Interdependenzen zwischen Flucht/Vertreibung<br />
<strong>und</strong> Revisionismus. In: Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene in der westdeutschen<br />
Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung <strong>und</strong> Perspektiven für die künftige<br />
Forschungsarbeit. Hrsg. von Rainer Schulze, Doris von der Brelie-Lewien <strong>und</strong> Helga<br />
Grebing. Hildesheim 1987, S. 107-116.<br />
Wiedereinbürgerung, Rehabilitation <strong>und</strong> Wiedergutmachung nach 1945. Zur<br />
Staatsangehörigkeit ausgebürgerter Emigranten <strong>und</strong> Remigranten. In: Exilforschung.<br />
Ein internationales Jahrbuch Bd. 9 (Exil <strong>und</strong> Remigration), 1991, S. 90-103.<br />
Karl Kautsky <strong>und</strong> die Agrarfrage. In: Jürgen Rojahn, Till Schelz, Hans-Josef<br />
Steinberg (Hg.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der<br />
sozialistischen Arbeiterbewegung. Frankfurt/New York 1992, S. 100-115.<br />
Rückkehr nach <strong>Deutschland</strong>? Motive, Hindernisse <strong>und</strong> Wege von<br />
Remigranten. In: Rückkehr <strong>und</strong> Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im<br />
öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn <strong>und</strong> Patrik<br />
von zur Mühlen. Marburg 1997. S. 39-70.<br />
258