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Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...

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1.8. Das Menetekel von Erfurt: Die Fassade der scheinbar heilen Welt<br />

oder die Singularität des Grauens?<br />

Ein singuläres Kind des Informations- <strong>und</strong> Medienzeitalters war ein Deutscher: der<br />

19jährige Schüler Robert Steinhäuser aus Erfurt in Thüringen. Er gehörte keiner<br />

sozialen Randgruppe an, sondern entstammte einer bürgerlichen Familie, die intakt<br />

zu sein schien. Aber die tabuisierte heile Welt, in der er mit weißen Spitzendeckchen<br />

auf den Tischen <strong>und</strong> mit weißen Rüschengardinen an den Fenstern aufwuchs, war<br />

eine blendende Fassade, hinter der sich Grauen, Gewalt, Unmenschlichkeit <strong>und</strong><br />

Terror verborgen hatten.<br />

An einer solch <strong>und</strong>urchdringbaren Mauer scheitert das herkömmliche<br />

Instrumentarium der Soziologen, Bildungsforscher <strong>und</strong> auch der PISA-Studien. Sie<br />

analysieren <strong>und</strong> messen, was sie sehen <strong>und</strong> erfassen können, aber nichts hinter der<br />

Maske - das empirisch Unergründliche, Undenkbare, Grauenvolle, die so verborgen<br />

bleiben, dass sie nicht existieren. Und sie existieren doch - unsichtbar <strong>und</strong> stets<br />

präsent.<br />

Robert Steinhäuser war ein Schulversager, Schulschwänzer <strong>und</strong> Urk<strong>und</strong>enfälscher.<br />

Deshalb hatte ihn das Erfurter Gutenberg-Gymnasium unbürokratisch, aber<br />

normenwidrig relegiert <strong>und</strong> ihn an das Königin-Luise-Gymnasium, das Erfurter<br />

Schulamt schließlich an das Martin-Luther-Gymnasium verwiesen. Dort meldete er<br />

sich nicht: Er hatte bereits aufgehört zu existieren, war "wie ein Stück Müll aus der<br />

Schule geworfen" (Christoph H. Werth) worden mit der Folge, dass er in einem in<br />

<strong>Deutschland</strong> einmaligen, nur in Thüringen geltenden Ausschluss-System nach dem<br />

zweiten gescheiterten Abiturversuch vor dem Nichts stand - ohne jeden<br />

Schulabschluss. 48 Aber statt sich selbst zu „entsorgen" <strong>und</strong> damit zu annihilieren, tat<br />

Steinhäuser so, <strong>als</strong> ob er weiter existiere <strong>und</strong> <strong>als</strong> ob er am 26. April 2002 eine<br />

Abiturklausur im Erfurter Gutenberg-Gymnasium schreibe.<br />

Er erschien dort aus seiner Sicht nicht <strong>als</strong> Täter, sondern <strong>als</strong> Opfer <strong>und</strong> Rächer: in<br />

„Ninja"- Kluft, schwer bewaffnet <strong>und</strong> ließ 17 Tote zurück. Eine Lehrerin erschoss er<br />

nicht sofort, sondern steckte ihr die Pistole in den M<strong>und</strong>, um sie zu quälen; um einen<br />

am Boden liegenden Lehrer schoss er erst demonstrativ herum, bevor er ihn gezielt<br />

hinrichtete, <strong>und</strong> dies möglichst vor den Augen von Mitschülern, von denen er auch<br />

zwei liquidierte. In seiner projektiven Identifizierung, die auf einer<br />

Bewusstseinsspaltung beruht, schrie er nach Rache – Rache für Demütigungen,<br />

Rache für Verletzungen, Rache für die Zerstörung seiner Existenz – bis sein<br />

48 Christoph H. Werth: "Amok-Schläfer". 26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium Erfurt: ein kritischer<br />

Rückblick. In: Mut. Forum für Kultur, Politik <strong>und</strong> Geschichte Nr. 419, Juli 2002. Seiten 20ff., zit. 22. In<br />

seiner Argumentation oft einseitig, aber mit seinen psychologischen Deutungen überzeugend ist<br />

Freerk Huisken: z.B. Erfurt. Was das bürgerliche Bildungs- <strong>und</strong> Einbildungswesen so alles anrichtet.<br />

Hamburg 2002. Seiten 48ff. (Kapitel 3: Beleidigtes Selbstbewusstsein <strong>und</strong> gekränkte Ehre)<br />

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