Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
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An Schleiermacher knüpft der Philosoph, Pädagoge <strong>und</strong> Psychologe Wilhelm Dilthey<br />
(1833 - 1911) an. Sein Hauptanliegen war, den so genannten Geisteswissenschaften<br />
die Hermeneutik <strong>als</strong> Dreischritt von Erleben, Ausdruck <strong>und</strong> Verstehen zuzuordnen<br />
<strong>und</strong> damit von den aufstrebenden Naturwissenschaften abzugrenzen. Während wir<br />
die physische Welt (Natur) "erklären", d. h. Gründe, Zwecke, Ursachen <strong>und</strong><br />
Kausalitäten erforschen, geht es in der menschlichen Welt um das "Verstehen": Sinn<br />
zu finden <strong>und</strong> Bedeutung zu entdecken, die aus dem Menschen selbst <strong>als</strong> Schöpfer<br />
<strong>und</strong> seinen "Objektivierungen des Geistes" stammen. Dilthey unterscheidet<br />
"elementares" Verstehen, das sich auf alltägliche, einzelne Lebensäußerungen<br />
bezieht, <strong>und</strong> "höheres" Verstehen, das Sinnzusammenhänge aufeinander bezogener<br />
Lebensäußerungen erhellt. Es vollzieht sich <strong>als</strong> "Hineinversetzen, Nachbilden,<br />
Nacherleben". So findet das Ich sich im Du wieder. 133<br />
Als Herausgeber der DVD-D-Dok. <strong>und</strong> <strong>als</strong> Autor dieses Begleitbuchs vermag ich<br />
nicht zu erkennen oder habe noch zu lernen, wie Schleiermachers <strong>und</strong> insbesondere<br />
Diltheys Hermeneutik sinnstiftend auf diese digitale Datenbank anzuwenden wären.<br />
Zwar geht es auch bei historisch-politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Quellen<br />
darum, in ihnen Bedeutung <strong>und</strong> Sinn zu entdecken. Aber nicht nach ihren Ursachen,<br />
Zwecken <strong>und</strong> Gründen zu fragen, ist ahistorisch <strong>und</strong> unkritisch. Kunst (Gemälde,<br />
Skulptur) oder Literatur (Roman, Poesie) können <strong>als</strong> "dauernde geistige<br />
Schöpfungen" immanent-einfühlend zu verstehen sein, aber nicht die vorliegende<br />
Quellensammlung. Politiker-Reden sind in der Regel keine künstlerischen oder<br />
literarischen Werke, neben Sinn <strong>und</strong> Bedeutung enthalten sie oft auch Unsinn <strong>und</strong><br />
Geschwätz. Gesetze <strong>als</strong> einzigartige Konkretisierungen des menschlichen Geistes<br />
hochstilisieren, heißt zu verkennen, dass es sich um wechselnde, normativ<br />
ausformulierte <strong>und</strong> sanktionierte politische Mehrheitsentscheidungen oder<br />
Kompromisse handelt. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, "Schleiermacherei"<br />
zu treiben, sondern darum, Quellen historisch-kritisch zu "entschleiern", <strong>und</strong> das<br />
heißt auch, nach ihren Zwecken <strong>und</strong> Nutzen, nach ihren Ursachen, Gründen <strong>und</strong><br />
Hintergründen, nach ihrem Sinn <strong>und</strong> Unsinn zu hinterfragen, <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />
nach ihren Folgen <strong>und</strong> Auswirkungen zu analysieren.<br />
Für die Quelleninterpretation bedeutsame Kritik an Diltheys Hermeneutik haben die<br />
Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) <strong>und</strong> Jürgen Habermas (geb. 1929)<br />
geübt. Gadamer spricht von "Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus"<br />
<strong>und</strong> von einem "Zwiespalt von Wissenschaft <strong>und</strong> Lebensphilosophie" in dessen<br />
Analyse des historischen Bewusstseins. 134 Auch wenn Autor <strong>und</strong> Interpret in einem<br />
1977. Seiten zit. 75, 94f. Vgl. dazu auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine.<br />
Textstrukturierung <strong>und</strong> -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977.<br />
133<br />
Wilhem Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M.<br />
1968. Seiten zit. 235, 254f.<br />
134<br />
Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit <strong>und</strong> Methode. Gr<strong>und</strong>züge einer philosophischen<br />
Hermeneutik. Tübingen 1990 (Gesammelte Werke. Band 1). Seiten 222ff. <strong>und</strong> 235ff.<br />
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