Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
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eine Dokumentations-, Forschungs- <strong>und</strong> Begegnungsstätte werden soll. Er wird<br />
deshalb von vielen gescholten, teilweise mit "ewig Gestrigen" gleichgestellt.<br />
Übersehen wird dabei, dass Glotz sich wesentlich vom BdV unterscheidet, der<br />
allerdings ebenfalls betont, es gehe nicht nur um die Vertreibung der Deutschen,<br />
sondern um die europäische Dimension von Vertreibungen bis in die Gegenwart.<br />
Aber anders <strong>als</strong> manche Vertriebenenfunktionäre, die auf- <strong>und</strong> abrechnen wollen,<br />
anklagen oder in Ausnahmefällen sogar Entschädigungen fordern, will Glotz<br />
aufklären. Er ordnet die Vertreibung in ihren historischen Kontext ein <strong>und</strong> sieht darin<br />
ein "Lehrstück" des zerstörerischen Nationalismus auf beiden Seiten. Nur wer den<br />
Mut habe, seine "Verletzungen" offen zu bekennen, könne mit Verständigung<br />
rechnen, während "Versöhnungsgerede" oder "Versöhnungstourismus" nicht weiter<br />
führten. So hat Glotz die Vertreibung nicht nur <strong>als</strong> historisches Faktum, sondern auch<br />
persönlich-emotional verarbeitet. Daher wird ihm vorgeworfen, "dass seine<br />
dramatische Bilanz der europäischen Geschichte seinen eigenen persönlichen<br />
emotionalen Befindlichkeiten <strong>und</strong> nicht historischen Interessen entspringt". 248<br />
Die Neue Politische Bildung (NPB) geht von der These aus, dass intellektuelles<br />
Wissen <strong>und</strong> sein Erwerb allein nicht ausreichen, um sich <strong>als</strong> eigenständige<br />
Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG mit der dazu gehörenden Identität zu entfalten<br />
<strong>und</strong> so politisch mündig zu werden. Friedhelm Boll hat durch einfühlendes Zuhören<br />
Überlebenden zweier Diktaturen dazu verholfen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden<br />
<strong>und</strong> ihnen so eine Wiederbegegnung mit sich selbst <strong>und</strong> mit <strong>Deutschland</strong> ermöglicht.<br />
Peter Glotz ist ein Beleg dafür, dass jemand noch so sehr "politisch gebildet", noch<br />
so viel politisch wissen, noch so viel wissenschaftlich publizieren <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
Kommunikationswissenschaftler sein kann, ohne deshalb mit sich selbst in seiner<br />
Lebensgeschichte kommunizieren zu müssen. Erst <strong>Quellenarbeit</strong>, u.a. mit<br />
Familiendokumenten, führte einen Wandel herbei.<br />
Karl Kautsky (1854 - 1938), ein anderer Sozialdemokrat, wie Glotz ein "Böhmak", hat<br />
seine Quellen - Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels - nicht tiefer gehend verstanden. Sein<br />
"Kautskyanismus" rezipierte, interpretierte <strong>und</strong> popularisierte sie, war aber auch aus<br />
anderen Quellen, u.a. sozialdarwinistischen, gespeist. Da er sehr viel veröffentlichte,<br />
vor allem im von ihm 1883 begründeten <strong>und</strong> bis 1917 geleiteten theoretischen SPD-<br />
Organ "Die Neue Zeit", wurde er nach dem Tode Engels' (1895) das geistige Haupt<br />
der internationalen Sozialdemokratie. 249 Jedoch blieb ihm, um ein Zitat Gadamers<br />
abzuwandeln, vieles fremd, was ihm vertraut schien (4.5.).<br />
248 Eva Hahn <strong>und</strong> Hans-Henning Hahn: Peter Glotz <strong>und</strong> seine Geschichtsbilder. In: Zeitschrift für<br />
Geschichtswissenschaft 52, 2004. Seiten 72 - 80, zit. 73.<br />
249 Jürgen Rojahn/Till Schelz/Hans-Josef Steinberg (Hg.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl Kautskys<br />
Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M./New York 1992. Vgl. auch Hans<br />
Georg Lehmann: Die Agrarfrage in der Theorie <strong>und</strong> Praxis der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />
Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus <strong>und</strong> Bolschewismus. Tübingen 1970. Seiten<br />
30ff., 191ff., 200ff., 253ff., 267ff. u.a.<br />
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