Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...
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Indem Medien das Weltbild stiften <strong>und</strong> zugleich begrenzen, bieten sie sich <strong>als</strong><br />
Ersatzobjekte für die Welt <strong>und</strong> das Leben, für Eltern, Kinder <strong>und</strong> Partner/innen<br />
geradezu an. Der Journalist Walter Wüllenweber hat mit seinem Generationenbuch<br />
"Wir Fernsehkinder" (1994) offen gelegt, welches Ausmaß dies annehmen kann: "Als<br />
ich auf die Welt kam, war der Fernseher schon da <strong>und</strong> gehörte zur Familie."<br />
Familienleben spielte sich nur noch vor der "Glotze" ab, um die sich alles drehte.<br />
Papa, Mutti <strong>und</strong> auch Oma erfüllten die finanziellen Wünsche <strong>und</strong> sorgten insofern<br />
für materielles Wohlergehen, aber Zuwendung, Orientierung <strong>und</strong> Halt gaben sie nicht<br />
- dies blieb dem Ersatzobjekt Fernseher überlassen. "Wir waren die ersten, die vor<br />
der Glasscheibe aufwuchsen. Beim Glotzen macht uns auch heute noch keiner so<br />
leicht was vor." Als unzumutbar galt, was nach "Arbeit oder gar Leistung roch".<br />
Technik <strong>und</strong> "Equipment" interessierten, aber nicht Politik, Probleme oder die<br />
Realität. Das ganze Leben wurde zum "Laborversuch", doch die Ergebnisse<br />
enttäuschten. "Wir waren nie auf der Bühne, sondern immer nur Publikum des<br />
Lebens. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Für alle Zeiten, so scheint es,<br />
hat das Fernsehen für uns einen Stammplatz auf der Tribüne reserviert - in der<br />
ersten Reihe natürlich." 33 Aber selbst dieser "Platz in der Gesellschaft" ist ein<br />
imaginärer.<br />
Das Neugeborene kommt <strong>als</strong> "physiologische Frühgeburt" (Adolf Portmann) zur Welt.<br />
Es benötigt taktile Reize, sensorische Stimulierung <strong>und</strong> emotionale Wärme, um zu<br />
überleben <strong>und</strong> jenes Urvertrauen zu entwickeln, das zur Entstehung des Selbst,<br />
danach zu Ich-Stärke, Individualität <strong>und</strong> Identität führen. Dies kann nur eine Umwelt<br />
mit menschlichem Gesicht bewirken, aber kein toter Apparat leisten. Und doch ist es<br />
heute in vielen Familien, unabhängig von ihrem sozialen Status üblich, Kleinkinder, in<br />
Ausnahmefällen sogar Säuglinge, dem Fernseher zu überantworten, wenn sie lästig,<br />
anstrengend sind oder keine Zeit für sie übrig bleibt. Anders <strong>als</strong> Eltern ist der<br />
Fernseher immer verfügbar: ein zur Familie gehörender kostenloser Kinderbetreuer,<br />
Kinderzerstreuer <strong>und</strong> Kinderentertainer.<br />
Seit Einführung des dualen R<strong>und</strong>funksystems Anfang 1984 hat sich dieser Trend<br />
durch den Wettbewerb zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern (ARD <strong>und</strong> ZDF)<br />
sowie den neuen privaten (zuerst SAT 1 <strong>und</strong> RTL) verschärft. Dem kommerziellen<br />
Fernsehen geht es um möglichst hohe Zuschauerquoten <strong>und</strong> die davon abhängigen<br />
Werbeeinnahmen. Daher verflachen die Programme. Ihr Überangebot macht den<br />
Zuschauer zu einem passiven Fernsehkonsumenten. Er zappt sich durch Kanäle <strong>und</strong><br />
wird mit Werbung überflutet. Vor allem Kinder vermögen nicht mehr zwischen der<br />
virtuellen Welt <strong>und</strong> der realen Welt zu unterscheiden, zwischen Schein <strong>und</strong> Sein.<br />
Bei aller Kritik am Fernsehkonsum von Kindern, vor allem am Wochenende: positiv<br />
zu bewerten ist, dass sie nicht sich selbst überlassen <strong>und</strong> verlassen sind; denn auf<br />
33<br />
Walter Wüllenweber: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Berlin 1994. Seiten 13,<br />
21, 34, 59, 104, 141.<br />
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