Quellenarbeit als lebenslanges und neues Lernen - Deutschland ...

(1972) an die Kritische Theorie angepasst hatte, in den politischen Bildungsprozess
"einprogrammiert" werden, und Ernst-August Roloff sah in der "Würde des
Menschen" nach dem Grundgesetz einen uneingelösten Erziehungsauftrag: "Abbau
von Herrschaft (Fremdbestimmung) und zunehmende Selbstbestimmung
(Emanzipation)." 191 In Schwarz-Weiß konfrontiert Roloff zwei "Lager", zwischen
denen Multiplikatoren nicht frei auswählen könnten, sondern sich grundsätzlich
entscheiden müssten: "Entweder Behrmann, Sutor, Maier, Hennis, Assel, Andreae
usw. oder Giesecke, Mollenhauer, Schmiederer, Hilligen, Fischer, von Friedeburg,
von Oertzen u.a." 192 Ignoriert wird, dass zwischen diesen dualistisch-manichäistisch
sortierten Interpreten der politischen Bildung beträchtliche, teilweise fundamentale
Unterschiede bestehen.
Während Giesecke und Roloff beanspruchen, unerfüllte Gebote des Grundgesetzes
einzufordern, gehen antagonistisch-marxistische Ansätze weit darüber hinaus: Rolf
Schmiederer unterscheidet im "spätkapitalistischen" System zwischen Herrschenden,
die den Status quo zementieren und Schule dafür instrumentalisieren, und den
Unterdrückten/Beherrschten, die ihn verändern wollen. Hans-Jochen Gamm,
Johannes Beck u.a. diagnostizieren eine Erziehung in der "Klassengesellschaft",
fordern eine "Kritische Schule" mit "Herrschaftsabbau", "Demokratisierung",
"Schülerkollektiv", die Abschaffung der Pädagogik im Interesse der "unterdrückten"
Schüler u.v.a. mehr. 193
Was haben die Erziehungs- und Weltverbesserungsideen konkret verändert? Sie
haben einen Sturm im Wasserglas ausgelöst, die politische Bildung radikalisiert,
Hoffnungen geweckt und Illusionen genährt - aber geendet haben sie in
Frustrationen, in der Bildungsmisere und im Katzenjammer. Die auf "Emanzipation"
und "Chancengleichheit" programmierten Uhren sind längst auf den Rückwärtsgang
geeicht. In keinem anderen vergleichbaren Industriestaat gibt es weltweit weniger
Chancengleichheit als in Deutschland, hängen Bildung und Beruf so vom sozialen
Status ab (1.6. und 1.7.). So war es, und so ist es heute noch. Soll es so bleiben?
Die weltpolitischen Veränderungen der Jahre 1989/1990 haben Versatzstücke der
Kritischen Theorie mit in den Abgrund gerissen, soweit sie den Marxismus,
wenngleich noch nicht oder nur teilweise die abgestandene Psychoanalyse Freuds
191
Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik. Band 1:
Sozialwissenschaftliche Grundlagen. 2. Auflage Göttingen 1972. Seite 127.
192
Ernst-August Roloff: Erziehung zur Politik. Band 2: Didaktische Beispielanalysen für die
Sekundarstufe I. Göttingen 1974. Seite 159.
193
Rolf Schmiederer: Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des
politischen Unterrichts. Frankfurt a. M. 1971. Seiten 9, 41 (Gemäßigt heißt es hier, politische Bildung
solle Voraussetzungen schaffen für die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen in
der Demokratie), 32ff. (Zielsetzungen ); Hans-Jochen Gamm: Kritische Schule. Eine Streitschrift für
die Emanzipation von Lehrern und Schülern. München 1970; Ders. (Hrsg.): Erziehung in der
Klassengesellschaft. München 1972; Johannes Beck u.a. (Hrsg.): Erziehung in der
Klassengesellschaft. München 1970.
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