P.T. MAGAZIN 02/2014
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Gesellschaft<br />
14<br />
soden zeigen deutlich Kraft der Veränderung,<br />
die dieses Gerät mit sich bringt:<br />
Vor kurzem stand eine Autofahrerin in<br />
Kalifornien vor Gericht. Sie hatte beim<br />
Autofahren die Datenbrille getragen<br />
und die Polizei warf ihr vor, unerlaubt<br />
telefoniert oder im Internet gesurft<br />
zu sein. Sie wurde freigesprochen. Ein<br />
Mann wurde mehrere Stunden von<br />
Beamten des amerikanischen Heimatschutzministeriums<br />
festgehalten, weil<br />
er während eines Kinobesuchs die Brille<br />
trug. Kontrolleure warfen ihm vor, den<br />
Film illegal mitgeschnitten zu haben<br />
– nur zwei Kleinigkeiten aus einer Zeit<br />
vor dem Verkaufsstart. Bisher konnte<br />
kaum jemand die Brille kaufen. Stellen<br />
Sie sich bitte vor, was geschieht wenn<br />
demnächst viele Menschen diese Brillen<br />
tragen? Zunächst 10%, dann 20%, dann<br />
40% und irgendwann 80%. Aber was hat<br />
eine neue Handygeneration mit unseren<br />
Schulen zu tun? Verdammt viel! Wenn<br />
sich diese Brille wie ein ständig verfügbares<br />
Universallexikon zwischen unsere<br />
Augen und die reale Welt schiebt, dann<br />
verändert sie das Grundprinzip unserer<br />
Schulen.<br />
Das Loch in der Mauer: Man muss nur die Neugierde der Kinder wecken, und sie werden eine<br />
Lösung finden – und damit neues Wissen gewinnen.<br />
(Foto: TofflerAnn/flickr.com)<br />
Nicht für die Schule, sondern für das<br />
Leben wird gelernt!<br />
Nach wie vor streben die Schulen nach<br />
einem humanistischen Bildungsideal,<br />
das davon ausgeht, dass die Schüler<br />
einen gewissen Kanon von Fakten und<br />
Zusammenhängen aus vielen Gebieten<br />
lernen müssen, um am gesellschaftlichen<br />
Leben und der politischen Willensbildung<br />
teilhaben zu können. Diesen<br />
Faktenkanon festzulegen ist Aufgabe<br />
der Kultusminister, ihn zu exekutieren<br />
ist Aufgabe der Lehrer. Müßig zu betonen,<br />
dass ein Google Glass locker auf<br />
das Faktenlernen verzichten kann. Wir<br />
haben, in der Schule wie in den Unternehmen,<br />
zwei Wege mit dieser technologischen<br />
Entwicklung umzugehen.<br />
Erstens könnten wir versuchen, Sie zu<br />
verbieten. Dabei kennen wir uns aus, wie<br />
die heute üblichen Handyverbote in den<br />
Schulen zeigen.<br />
Auf diese Weise kann man alte<br />
Regeln und Machtverhältnisse noch für<br />
kurze Zeit zementieren. Zugleich erhebt<br />
man die Technologie durch Verbote aber<br />
in den Rang einer „gleichwertigen Konkurrenz“<br />
zum Lehrer. Nur etwas wovor<br />
wir Angst haben, müssen wir verbieten.<br />
Zweitens könnten wir unser Leben<br />
und Lernen an die neue Technologie<br />
anpassen. Wir könnten sie adaptieren<br />
und lernen sie zu unserem Assistenten<br />
zu machen. Dann stünden Lehrer nach<br />
wie vor drüber. Allerdings müssten<br />
die Lehrer dann eine andere Aufgabe<br />
haben. Sie wären dann keine Faktenvermittler<br />
mehr. Und die Schüler müssten<br />
anders lernen. Für sie muss Schule ein<br />
Ort der Persönlichkeitsentfaltung werden.<br />
Diese Schule der Zukunft hätte also<br />
neue Schulfächer: Verantwortung, Mut,<br />
Herausforderung, Reflexion, logisches<br />
Denken, Kunst, Sport selbstverständlich<br />
auch die Basics von Rechnen, Schreiben<br />
und Lesen. Und: Das Programmieren als<br />
neue Kulturtechnik.<br />
Es liest sich eventuell wie die spinnerte<br />
Vision eines wohlmeinenden<br />
Science Fiction-Autors. Doch die Wahrscheinlichkeit<br />
ist groß, dass die Schule<br />
der Zukunft nicht nur ein Hirngespinst<br />
bleibt, sondern Realität wird. Es hat<br />
etwas mit unseren Unternehmen zu<br />
tun. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden<br />
sie in den kommenden Jahren die<br />
Schulen der Zukunft für ihre Mitarbeiter<br />
gründen.<br />
Das Loch in der Mauer<br />
Es war ein gewagtes Experiment. Sugata<br />
Mitra kaufte einen alten Computer,<br />
stellte ihn mitten in die Slums von Neu<br />
Delhi und sorgte dafür, dass der Rechner<br />
eine Internetverbindung hatte.<br />
Mitra war eigentlich überzeugt davon,<br />
dass das Gerät binnen weniger Stunden<br />
geklaut und weiterverkauft oder aus<br />
Frust demoliert werden würde.<br />
Mitra war entsprechend erstaunt,<br />
als er einige Tage später an die Stelle<br />
seiner Installation zurückkehrte und ein<br />
paar Kinder vor seinem Computer stehen<br />
sah. Sie surften im Internet, feixten und<br />
redeten wild durcheinander. Niemand<br />
hatte ihnen zuvor erklärt, wie ein Browser<br />
funktioniert. Niemand hatte ihnen<br />
Englisch beigebracht, jene Sprache, auf<br />
die das Betriebssystem eingestellt war.<br />
Zunächst hatten die Kinder Maus und<br />
Tastatur lediglich als Spielzeug betrach-<br />
P.T. <strong>MAGAZIN</strong> 2/<strong>2014</strong><br />
P.T. <strong>MAGAZIN</strong> 2/<strong>2014</strong><br />
tet, doch schon schnell festgestellt, dass<br />
man mit diesen eigenartigen Geräten<br />
etwas auf dem Bildschirm, der da in<br />
einer Maueröffnung stand, auslösen<br />
konnte.<br />
Keine Hoffnung in Bildungssystem<br />
Bei dem Experiment ging es Mitra um<br />
zwei Dinge:<br />
1. Können Kinder ohne Steuerung<br />
durch Lehrplan und Lehrer zum Lernen<br />
motiviert werden?<br />
2. Ist die Motivation, Wissen zu erlangen<br />
von unserem sozialen Umfeld<br />
abhängig?<br />
Mitra entwickelte aus den Ergebnissen<br />
seinen Bildungsansatz des selbstorganisierten<br />
Lernens: „Ich muss nur die Neugierde<br />
der Kinder wecken, und sie werden<br />
eine Lösung finden und damit neues<br />
Wissen gewinnen.“ Die Frage, wie und<br />
was unsere Kinder lernen sollen, steht<br />
auch bei den meisten Eltern in Deutschland<br />
ganz oben auf der Agenda. Die<br />
Hoffnung auf eine zentrale und von allen<br />
anerkannte Idee unseres Schulsystems,<br />
geschaffen durch die Bundesregierung<br />
oder einen neu zu schaffenden Deutschen<br />
Bildungsrat, wird immer unrealistischer.<br />
Das haben die vergangenen<br />
Jahrzehnte gezeigt.<br />
Doch die kleinteilige deutsche Schullandschaft<br />
mit ihren mehr oder minder<br />
bunten Blüten birgt auch Chancen<br />
durch ihre Freiräume. Eben diese Räume<br />
werden im kommenden Jahrzehnt noch<br />
intensiver genutzt. Dabei wird es weniger<br />
darum gehen, ob die Schule in privater<br />
oder staatlicher Hand ist. Einzig<br />
das pädagogische Konzept entscheidet.<br />
Stößt das auf ein großes Maß an öffentlicher<br />
Anerkennung, entsteht für andere<br />
Schulen automatisch ein gewisser<br />
Zwang, das eigene Konzept zu überdenken<br />
oder eigene neue Ansätze zu<br />
entwickeln. Es entsteht somit ein steigender<br />
Wettbewerb der pädagogischen<br />
Modelle, unsere Schullandschaft wird<br />
noch ein wenig bunter werden.<br />
Was bedeutet Grundwissen?<br />
Die Gestaltung von Lernprozessen wird<br />
auch grundlegenden technischen Veränderungen<br />
unterworfen werden. Dabei