Thema Transitional Justice - juridikum, zeitschrift für kritik | recht ...
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echt & gesellschaft<br />
muss ohnedies dem Justizministerium<br />
berichtet werden. Diese pauschalierende<br />
Vorgangsweise geht auf die<br />
Schwierigkeiten bei den vom Gesetz<br />
geforderten Prognoseentscheidungen<br />
zurück. Natürlich ist das schematische<br />
Unterstellen künftigen Wohlverhaltens<br />
bei erstmaliger Strafhaft genauso falsch<br />
wie die schematische Annahme des<br />
Gegenteils bei wiederholter. Wie aber<br />
kann vorhergesagt werden, was jemand<br />
im nächsten Jahr machen wird, oder im<br />
übernächsten oder in drei Jahren? Vermehrt<br />
sind Stimmen aus Wissenschaft<br />
und Praxis zu hören, die seriöse Prognosen<br />
für unmöglich halten; besonders im<br />
Bereich mittelschwerer Delikte mit der<br />
besonders großen Zahl an inhaftierten<br />
Verurteilten könne die Justiz demnach<br />
genauso gut würfeln statt Prognosen zu<br />
erstellen, es würde keinen Unterschied<br />
machen.<br />
In der Praxis schließen die Gerichte<br />
aus der Vergangenheit auf die Zukunft,<br />
sie prüfen, welches Leben der Betroffene<br />
bisher geführt hat, und beantworten<br />
so die Frage, wie er es künftig führen<br />
wird. In ihre Entscheidungen beziehen<br />
sie ein Argument ein, das wenig greifbar<br />
und schon gar nicht messbar ist, das<br />
der Generalprävention.<br />
Sie existiert, auch wenn sie noch keiner<br />
gesehen hat und exakt beschreiben<br />
könnte. Jeder hat eine Meinung zur Generalprävention,<br />
die sich so beharrlich<br />
jeder wissenschaftlichen Nachweisbarkeit<br />
entzieht. Tatsächlich festmachen<br />
lässt sich die Generalprävention in einzelnen<br />
Bereichen der Strafjustiz, etwa<br />
den gesetzlichen Strafrahmen oder den<br />
tatsächlich verhängten Strafen, wohl<br />
nicht. Hohe Strafrahmen, die nie angewendet<br />
werden, weil die Aufklärungsquoten<br />
so gering sind, können genauso<br />
wirkungslos sein, wie eine drakonische<br />
Strafe im Einzelfall. Die Strafjustiz<br />
insgesamt entfaltet wohl eine gewisse<br />
abschreckende Wirkung, die sich aus<br />
sehr vielen Details ergibt, unter denen<br />
das schnelle Verhängen der Untersuchungshaft<br />
auch eine Rolle spielt. Die<br />
Vorstellung und Erwartung einer generalpräventiven<br />
Wirkung existiert in den<br />
Köpfen der Rechtsanwender vermutlich<br />
ziemlich unabhängig davon, ob sie<br />
im Strafvollzugsgesetz oder im Strafgesetzbuch<br />
angeführt ist oder nicht, sodass<br />
eine Änderung des Gesetzes nicht<br />
unbedingt zu einer Änderung der Praxis<br />
führen muss.<br />
Liberale Türkei?<br />
Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang<br />
zwischen der Strafenpraxis<br />
und der Praxis der bedingten<br />
Entlassung, indem bei der Bestimmung<br />
der Strafhöhe bewusst oder unbewusst<br />
Wahrscheinlichkeit und Ausmaß einer<br />
bedingten Entlassung antizipiert werden.<br />
Vermutlich verhält es sich hier<br />
ähnlich wie bei kommunizierenden<br />
Gefäßen, sodass ein Herabsetzen der<br />
Latte für bedingte Entlassungen gegen<br />
den Willen eines guten Teils der Richter<br />
zu einer strengeren Strafpraxis führen<br />
könnte. Vielleicht muss man auch internationale<br />
Vergleiche über die Häufigkeit<br />
der bedingten Entlassung in Österreich<br />
und im Ausland unter diesem<br />
Gesichtspunkt sehen, also unter Berücksichtigung<br />
unterschiedlicher Strafenpraxen.<br />
Wenn etwa bedingte Entlassungen<br />
nach der Hälfte der Strafzeit<br />
in der Türkei die Regel oder jedenfalls<br />
wesentlich häufiger als in Österreich<br />
sind, dann stellt sich die Frage, ob die<br />
Türkei wirklich um so viel liberaler ist,<br />
oder ob sich dieser Umstand einfach<br />
dadurch erklärt, dass die Strafen in der<br />
Türkei drakonisch sind.<br />
In diesem Zusammenhang ist eine Zahl<br />
aus dem Sicherheitsbericht bemerkenswert,<br />
nämlich die so genannte Gefangenenquote,<br />
die angibt, wie viele Personen<br />
sich pro 100.000 Einwohner in<br />
einem Land in Haft befinden. Sie ist für<br />
Österreich ziemlich exakt die gleiche<br />
wie für Deutschland und liegt im EU-<br />
Durchschnitt. Spitzenreiter ist England<br />
mit einer um rund 30 % höheren Quote,<br />
obgleich dort bedingte Entlassungen<br />
angeblich wesentlich häufiger stattfinden.<br />
An dieser Stelle ist auch auf die<br />
Kriminalitätsentwicklung in Österreich<br />
insgesamt zu verweisen. Die Gesamtzahl<br />
aller strafbaren Handlungen betrug<br />
1989 rund 423.000, vierzehn Jahre später,<br />
2003, waren es rund 640.000. Bei<br />
Verbrechen im technischen Sinn war<br />
die Entwicklung mit einer Steigerung<br />
um mehr als 50 % allein in den letzten<br />
drei Jahren ähnlich.<br />
Zur Sicherheit bedingt entlassen?<br />
Diese Zahlen sollen nicht als Argument<br />
gegen vermehrte bedingte Entlassungen<br />
gelten. Wenn man aber – wie der Autor<br />
– für mehr bedingte Entlassungen in<br />
Österreich eintritt, darf man die Augen<br />
nicht vor der Realität einer stark steigenden<br />
Kriminalität verschließen. Es geht<br />
darum, sich mit diesen Zahlen auseinanderzusetzen<br />
und zu begründen, dass<br />
trotz dieser Entwicklung die Sicherheit<br />
durch einen Ausbau der bedingten Entlassungen<br />
nicht gefährdet wird, klug<br />
angewendet sogar erhöht wird. Ohne<br />
auf einzelne im Zusammenhang mit<br />
einer möglichen Reform der Bestimmung<br />
über die bedingte Entlassung gemachten<br />
Vorschläge einzugehen, sollte<br />
jedenfalls als Ziel angestrebt werden,<br />
dass bedingte Entlassungen nach zwei<br />
Drittel der Strafhaft Standard werden,<br />
wenngleich bestimmte Personen, etwa<br />
gefährliche Sexual- und Gewalttäter,<br />
davon ausgeschlossen werden müssten.<br />
Im Eck:<br />
Die gemeinnützige Leistung<br />
Zur Erreichung dieses ambitionierten<br />
Ziels wäre der Ausbau der Institution<br />
der gemeinnützigen Leistung sinnvoll.<br />
Gemeinnützige Leistungen sind derzeit<br />
nur im Rahmen der Diversion, also nur<br />
anstatt einer Bestrafung möglich, wären<br />
aber in bestimmten und keineswegs<br />
kleinen Bereichen eine gute Alternative<br />
zur Freiheitsstrafe.<br />
Die Erfahrungen mit gemeinnützigen<br />
Leistungen in Wien sind durchaus positiv,<br />
und zwar sowohl in Jugend- als<br />
auch Erwachsenenstrafsachen. Der<br />
Anwendungsbereich könnte wesentlich<br />
größer als derzeit sein, ist aber<br />
durch das Korsett der Diversion stark<br />
eingeschränkt. Bezüglich der Art der<br />
Tätigkeit ist die Bandbreite bei gemeinnützigen<br />
Leistungen beträchtlich, sie<br />
reicht von qualifizierten Arbeiten, die<br />
eine Berufsausbildung voraussetzen,<br />
bis zu ganz einfachen körperlichen Beschäftigungen.<br />
In Wien vermittelt der<br />
Verein Neustart derzeit Leistungen an<br />
rund dreißig Einrichtungen, die Wiener<br />
Jugendgerichtshilfe verfügt ebenfalls<br />
über ein umfangreiches Angebot.<br />
Gerade wegen dieser beträchtlichen<br />
Bandbreite ist auch der in Betracht<br />
kommende Personenkreis groß, jedenfalls<br />
deutlich größer als für Freigänge,<br />
die einen Arbeitsplatz und damit<br />
auch höhere Anforderungen bei den<br />
zu vermittelnden Personen voraussetzen.<br />
Verurteilte, insbesondere Insassen<br />
von Haftanstalten, sind tendenziell aus<br />
dem sozial angepassten Leben bereits<br />
ausgestiegen oder sie sind dabei auszusteigen.<br />
Jugendstrafsachen betreffen zu<br />
einem guten Teil Jugendliche, die ihre<br />
<strong>juridikum</strong> 2005 / 2 Seite 73