Thema Transitional Justice - juridikum, zeitschrift für kritik | recht ...
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thema<br />
der 1996er-Verfassung eine Präsidialdemokratie nach dem<br />
Vorbild Frankreichs. Sie zeichnet sich durch ihre besondere<br />
Weltoffenheit und Völker<strong>recht</strong>sfreundlichkeit aus 8 . So ist in<br />
der Verfassung etwa eine Förderung des Erlernens fremder<br />
Sprachen 9 und der wissenschaftlichen Beziehungen mit der<br />
Weltengemeinschaft enthalten 10 . Unterstrichen wird dieser<br />
Aspekt durch das in der Verfassung verankerte Leitziel der<br />
kooperativen Außenpolitik 11 . Darüber hinaus ist eine weitgehende<br />
Gleichstellung Fremder und Staatsbürger im Bereich<br />
des Grund<strong>recht</strong>sschutzes vorgesehen 12 .<br />
3. Annäherung an die Europäische Union<br />
Die Verfassungsentwicklung der Ukraine ist auch im Lichte<br />
ihrer Annäherung an Europa (in einem weiten Sinn) zu sehen<br />
13 . Die jüngere Entwicklung ist insbesondere durch den<br />
Wunsch nach einem Beitritt zur Europäischen Union gekennzeichnet.<br />
Die Ukraine ist deshalb seit Jahren bemüht, ihre<br />
Rechtsordnung an die in der EU geltenden Standards anzupassen<br />
14 . Trotz der dargestellten Verfassungsentwicklung ist die<br />
Ukraine in bestimmten Bereichen weit entfernt vom unionseuropäischen<br />
Standard. Das trifft etwa für das Justizsystem<br />
zu, das seit 2001 erformiert wird 15 .<br />
Der Weg der Ukraine in die Europäische Union hat vorläufig<br />
zu einem „Partnership and Cooperation Agreement“ 16<br />
aus 1994, das 1998 in Kraft getreten ist, geführt. Dieses Übereinkommen<br />
stellt die <strong>recht</strong>liche Basis für die wechselseitigen<br />
Beziehungen zwischen der Ukraine und der Europäischen<br />
Union dar, welches den politischen Dialog, wechselseitigen<br />
Handel, Investitionen, wirtschaftliche und <strong>recht</strong>liche Kooperation<br />
sowie kulturelle und wissenschaftliche Kooperation<br />
umfasst.<br />
Mit der „Orange Revolution“ haben die Bemühungen um<br />
einen Beitritt zur Europäischen Union neuen Schwung bekommen.<br />
Dies betrifft etwa Initiativen zur Anpassung des<br />
Rechtsbestandes, worauf sogleich näher eingegangen werden<br />
soll. Die Bereiche, in denen Reformen angestrebt werden,<br />
sind der Rechtszugang, die Einführung internationaler<br />
Menschen<strong>recht</strong>sstandards (insbesondere der EMRK), die<br />
Entwicklung einer unabhängigen und effizienten Gerichtsbarkeit,<br />
eine bessere richterliche Ausbildung, der Ausbau des<br />
individuellen Rechtsschutzes (insbesondere auf dem Gebiet<br />
der Menschen- und Bürger<strong>recht</strong>e) sowie die Öffentlichkeit<br />
und Zugänglichkeit staatlicher Akte (insbesondere auch aller<br />
Gerichtsentscheidungen; siehe dazu gleich unten 4.).<br />
4. Richterliche Unabhängigkeit und<br />
Informationsfreiheit in der Ukraine als typische<br />
Beispiele postkommunistischer Transition<br />
Am 28. und 29 April 2005 fand in Kiev eine parlamentarische<br />
Konferenz zum <strong>Thema</strong> „European Integration of the Ukraine<br />
– Legal Reform’s Strategy“ statt. Es waren einzelne Arbeitsgruppen<br />
eingesetzt, die die Themen Rechtszugang, Gerichtsverwaltung,<br />
Strafprozess<strong>recht</strong>, Strafverfolgung, Informationszugang,<br />
Probleme der Ausbildung berieten. Besonderes<br />
Augenmerk wurde auf den Bestellungsmodus der Richter sowie<br />
die Informationsfreiheit gelegt. Im Zuge der Diskussionen<br />
zeigte sich, dass das derzeitige System der Richterbestellung<br />
dem Präsidenten die ausschließliche Macht zur Erstbestellung<br />
in die Hände legt 17 und im Bereich der Informationsfreiheit<br />
eklatante Mängel hinsichtlich der Publizität einzelner Rechtsakte<br />
bestehen.<br />
Im Rahmen der Konferenz wurde ein Reformvorschlag<br />
zur Regelung der Rechtsstellung der Richter, ihres Bestellungsmodus<br />
und Aufgaben sowie der Sicherung ihrer Unabhängigkeit<br />
diskutiert. Umstritten war dabei insbesondere die<br />
Änderung des Erstauswahlverfahrens. Das Vorschlags<strong>recht</strong><br />
zur Richterernennung sollte demnach nicht mehr beim Präsidenten<br />
der Ukraine, sondern bei einer speziellen Kommission<br />
liegen 18 .<br />
Die Beratungen über dieses <strong>Thema</strong> waren geprägt von<br />
vehementen und emotionalen Auseinandersetzungen, wobei<br />
deutlich erkennbar war, dass ein Teil an der Fortführung der<br />
bisherigen Situation (Systemerhalter), der andere an der Erneuerung<br />
des Systems interessiert war (Reformer). Allerdings<br />
zeigte sich auch, dass der Systemerneuerung nicht nur demokratiepolitische,<br />
sondern durchwegs auch wirtschaftliche<br />
Motive im Sinne einer Öffnung gegenüber ausländischen Investoren<br />
zugrunde lagen.<br />
Deutlich emotionsloser lief die Diskussion zu Informationsfreiheit<br />
und Informationszugang ab 19 . Einer der vehementesten<br />
Kritikpunkte an der jetzigen Situation war der<br />
Umstand, dass es trotz „Orange Revolution“ immer noch<br />
staatliche Rechtsakte gibt, die den Stempel „Verschlussakte“<br />
tragen und für die Öffentlichkeit unzugänglich sind. Dies<br />
8) Die außergewöhnliche Fremdenfreundlichkeit<br />
der ukrainischen Verfassung lässt sich<br />
exemplarisch daran zeigen, dass in der Südukraine<br />
ein aus Afrika stammender, nicht ukrainischer<br />
Staatsbürger zum Bürgermeister einer<br />
Kleinstadt gewählt wurde – eine in Österreich<br />
unvorstellbare Konstellation. Siehe VfGH G<br />
218/03 v 30.6.2004 betreffend das Wahl<strong>recht</strong><br />
für Nicht-EU-Bürger auf Bezirksebene in Wien<br />
und dazu Perchinig, Kein Wahl<strong>recht</strong> ohne roten<br />
Pass, <strong>juridikum</strong> 2004, 178. Dem VfGH zufolge<br />
steht von Verfassungs wegen das Wahl<strong>recht</strong><br />
zu den allgemeinen Vertretungskörpern<br />
grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgern<br />
zu.<br />
9) Art 10 Abs 4 der 1996er Verfassung.<br />
10) Art 54 Abs 3 der 1996er Verfassung.<br />
11) Art 18 der 1996er Verfassung.<br />
12) Art 26 der 1996er Verfassung.<br />
13) Die Ukraine ist seit 9.11.1995 Mitglied<br />
des Europarates. Der Europarat ist eine jener<br />
Institutionen, zu denen postkommunistische<br />
Staaten rasch beigetreten sind; siehe Dupré,<br />
Post-Communist Transitions 19.<br />
14) Siehe Commission of the European Communities,<br />
Commission Staff Working Paper.<br />
European Neighbourhood Policy. Country Report<br />
Ukraine, COM (2004) 373final.<br />
15) Es finden regelmäßig Trainingsprogramme<br />
für Richter im Rahmen von Europarats-<br />
Programmen statt, die von der EIDHR (European<br />
Initiative for Democracy and Human<br />
Rights) finanziert werden.<br />
16) Siehe Commission of the European Communities,<br />
Commission Staff Working Paper.<br />
European Neighbourhood Policy. Country Report<br />
Ukraine, COM (2004) 373final.<br />
17) Vgl Art 128 der 1996er Verfassung.<br />
18) Mindesterfordernisse zur Aufnahme in<br />
den richterlichen Dienst sind derzeit ein Mindestalter<br />
von 25 Jahren, der Kandidat muss<br />
die letzten 10 Jahre in der Ukraine gelebt haben,<br />
die ukrainische Sprache sprechen, eine<br />
höhere <strong>recht</strong>liche Ausbildung haben und in<br />
den letzten drei Jahren in Bereich des Rechts<br />
gearbeitet haben. Diese Mindesterfordernisse<br />
variieren hinsichtlich der Aufnahme an Gerichtshöfe<br />
höherer Instanz.<br />
19) Ein Grund dafür dürfte auch die Zusammensetzung<br />
des Arbeitskreises gewesen sein,<br />
der ausschließlich mit NGO-Vertretern beschickt<br />
wurde.<br />
Seite 102 <strong>juridikum</strong> 2005 / 2