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Thema Transitional Justice - juridikum, zeitschrift für kritik | recht ...

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thema<br />

entsprechend entscheidend ist es für den Erfolg der Bemühungen,<br />

aus dem Zyklus der Gewalt auszubrechen, dass die<br />

Wahl von etwaigen Mechanismen zur Aufarbeitung der Vergangenheit<br />

von der Mehrheit der Bevölkerung mitbestimmt<br />

bzw getragen wird. 24<br />

4. Der Beginn einer Vergangenheitsbewältigung als<br />

Teil des Staatsbildungsverfahrens<br />

Der weltweite Krieg gegen den Terrorismus, der in Afghanistan<br />

seinen Ausgangspunkt nahm, hatte kaum begonnen als<br />

die von den Vereinten Nationen initiierten Bonner Gespräche<br />

im Dezember 2001 zur Unterzeichnung des sog Bonner Abkommens<br />

führten, welches Afghanistans Fahrplan für den<br />

Übergang zur Demokratie formulieren sollte. 25 Während das<br />

Abkommen selbst an einer mangelnden Legitimität aufgrund<br />

der unzureichenden Einbindung aller Parteien zum Konflikt in<br />

Afghanistan krankte, 26 sieht das Bonner Abkommen spezifische<br />

Verfahren vor, zur Errichtung demokratischer Staatsinstitutionen<br />

in einem Land, das über Jahrzehnte die verheerenden<br />

Folgen von Bürgerkrieg und Besatzung zu erdulden hatte. 27<br />

Im Kern bestimmt das Bonner Abkommen, dass unter der<br />

Obhut und Führung der internationalen Gemeinschaft eine<br />

nicht-repräsentative Übergangsverwaltung einem Demokratisierungsprozess<br />

folgen soll, der auf der Selbstaufgabe von<br />

interimistisch gewährter Regierungsgewalt zu Gunsten neuer<br />

demokratischer Institutionen beruhen würde. Dabei nimmt<br />

das Bonner Abkommen umfassend Bezug auf die Bedeutung<br />

der Vereinten Nationen „als der international anerkannten unparteiischen<br />

Institution“, der eine „besonders wichtige Rolle<br />

[...] in der Zeit vor der Errichtung permanenter Einrichtungen<br />

in Afghanistan“ zukommen würde. 28<br />

Bezeichnend für den im Bonner Abkommen enthaltenen<br />

Blick in die Zukunft und dem Versuch, die Vergangenheit in<br />

Anbetracht der Komplexität des afghanischen Konfliktes sowie<br />

der unausgeglichenen Machtverteilung aufgrund der Militärintervention<br />

zunächst auszuklammern, finden sich in dem<br />

Bonner Fahrplan keine Hinweise auf etwaige Mechanismen<br />

zur Vergangenheitsbewältigung. Es ist jedoch die Errichtung<br />

einer Unabhängigen Menschen<strong>recht</strong>skommission vorgesehen,<br />

deren Aufgabe es ist, die Einhaltung der Menschen<strong>recht</strong>e<br />

zu überwachen, Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen nachzugehen<br />

und nationale Menschen<strong>recht</strong>sinstitutionen einzurichten. 29<br />

Das Mandat der afghanischen Menschen<strong>recht</strong>skommission<br />

wurde im Zuge einer, von der Hohen Kommissärin der Vereinten<br />

Nationen für Menschen<strong>recht</strong>e organisierten, Arbeitsgruppe<br />

am 9. März 2002, auf die Durchführung eines nationalen<br />

Konsultationsverfahrens zur Vergangenheitsbewältigung und<br />

der Ausarbeitung einer Strategie zur Aufarbeitung der Vergangenheit<br />

erweitert. 30<br />

Mit Unterstützung der Vereinten Nationen und anerkannter<br />

Institutionen, allen voran dem Büro der Menschen<strong>recht</strong>skommissärin<br />

und dem International Center for <strong>Transitional</strong><br />

<strong>Justice</strong>, wurden Fragebögen ausgearbeitet und Gruppendiskussionen<br />

mit Vertretern der Bevölkerung aus allen Teilen<br />

Afghanistans durchgeführt. Der auf den Ergebnissen des<br />

8-monatigen Konsultationsverfahrens, das sich über alle 34<br />

Provinzen Afghanistans erstreckte, ausgearbeitete Bericht<br />

liefert ein erschreckendes Bild über die Ausmaße, in denen<br />

die Bevölkerung Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen im weitesten<br />

Sinn zu erdulden hatte: 69 Prozent der 4151 eingereichten<br />

Fragebögen gaben an, dass sie entweder selbst oder ihre<br />

Familienangehörigen Opfer von schweren Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen<br />

geworden sind; darüber hinaus erörterten 500<br />

der 2000 Gruppendiskussions-Teilnehmer, dass Angehörige<br />

im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Leben<br />

lassen mussten, während 400 angaben, entweder selbst oder<br />

ihre Familienangehörigen Folter oder Freiheitsentzug zu erdulden<br />

hatten. 31<br />

Die Ergebnisse des Berichtes der afghanischen Menschen<strong>recht</strong>skommission<br />

hinsichtlich der Wahl der Mechanismen<br />

zur Vergangenheitsbewältigung sind bemerkenswert. So<br />

scheint ein Großteil der Bevölkerung Afghanistans sich dem<br />

Grunde nach dafür auszusprechen, Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen<br />

und Kriegsverbrechen straf<strong>recht</strong>lich zu verfolgen, wobei<br />

besonderes Augenmerk auf jene gelegt werden soll, die dabei<br />

eine tragende Rolle einnahmen und weiterhin aufgrund ihrer<br />

militärischen Stärke politischen Einfluss ausüben wollen. 32<br />

Auch wenn sich eine Gegenmeinung dafür ausspricht, dass<br />

eine straf<strong>recht</strong>liche Ahndung früherer Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen<br />

im weitesten Sinn destabilisierend auf den Heilungsprozess<br />

auswirken kann, will die Mehrheit der (befragten)<br />

Bevölkerung nicht allzu lange auf Ge<strong>recht</strong>igkeit warten.<br />

Während offenbar eine große Nachfrage nach einer straf<strong>recht</strong>lichen<br />

Verfolgung besteht, dürfte die Volksmeinung<br />

eine innerstaatliche Lösung bevorzugen, wobei gemischte<br />

Tribunale nach dem Vorbild der Tribunale in Sierra Leone<br />

oder Kambodscha größeres Vertrauen, als nationale oder internationale<br />

Gerichte genießen. 33 Diesbezüglich wurde vielfach<br />

vorgebracht, dass straf<strong>recht</strong>liche Verfahren nicht nur<br />

auf afghanischem Boden, sondern auch unter Heranziehung<br />

des nationalen Rechts mit besonderer Berücksichtigung der<br />

Grundsätze des Islamischen sowie des Völker<strong>recht</strong>s durchgeführt<br />

werden sollten. 34<br />

Hinsichtlich der nationalen Rechtsprechung ist beachtlich,<br />

dass derzeit offenbar geringes Vertrauen bezüglich der Unabhängigkeit<br />

und Kompetenz des afghanischen Gerichtswesens<br />

besteht, und straf<strong>recht</strong>liche Maßnahmen zur Vergangenheitsbewältigung<br />

eng mit der Reform des Rechtswesens verbunden<br />

werden müssen. Darüber hinaus werden Mechanismen<br />

zur Ermittlung der Wahrheit, der Dokumentierung von Menschen<strong>recht</strong>sverletzungen<br />

im weitesten Sinn, der Leistung von<br />

Entschädigung, und der Ausgrenzung von Kriegsverbrechern<br />

24) Bericht des Generalsekretärs der Vereinten<br />

Nationen, supra fn 199, 7f.<br />

25 Agreement on Provisional Arrangements in<br />

Afghanistan Pending the Re-Establishment of<br />

Permanent Government Institutions, signed<br />

on 5 December 2001, Anhang zu dem Schreiben<br />

des VN Generalsekretärs an den Vorsitzenden<br />

des Sicherheitsrates vom 5 Dezember<br />

2001, UN-Doc. S/2001/1154.<br />

26 Rubin, Crafting A Constitution For Afghanistan,<br />

15/3 Journal of Democracy 5, 7 (2004).<br />

27 Zu den Elementen des Staatsbildungsverfahrens<br />

nach dem Bonner Abkommen, siehe<br />

Schoiswohl, supra fn 12.<br />

28 Präambel para 9, Bonner Abkommen, supra<br />

fn 23.<br />

29 Art 6, ibid.<br />

30 Art 9, Dekret des Präsidenten, Hamid Karzei,<br />

zur Errichtung der Menschen<strong>recht</strong>skommission<br />

(2002).<br />

31 Vgl AIHRC, supra fn 11, 6ff.<br />

32 Ibid, 19ff.<br />

33 Ibid, 22ff.<br />

34 Ibid, 25f.<br />

<strong>juridikum</strong> 2005 / 2 Seite 97

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