Rundbrief 1 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV
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Miu Chung Yan, PhD<br />
Brückenbau im fragmentierten<br />
Gemeinwesen:<br />
Die Wiederbelebung der Settlement-<br />
Häuser (= Nachbarschaftsheime) im<br />
Zeitalter der Globalisierung<br />
Dr. Miu Chung Yan ist Assistenzprofessor<br />
im Department für Sozialarbeit<br />
und Familienstudien an<br />
der Universität von British Columbia<br />
in Vancouver, Kanada.<br />
Vor Abschluss seiner Dissertation<br />
war er zwölf Jahre lang als Sozialarbeiter<br />
und Sozialmanager in<br />
Hongkong und Toronto tätig. Sein<br />
aktuelles Forschungsinteresse hat<br />
drei Schwerpunkte: Integration<br />
von Migranten, Rolle von Nachbarschaftszentren<br />
beim Aufbau von<br />
funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in<br />
inter<strong>kulturelle</strong>n Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbeitet<br />
Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines praktischen<br />
Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau<br />
eines Studienganges für Sozialarbeiter in China.<br />
email: mcyan@interchange.ubc.ca<br />
Einleitung<br />
Die Globalisierung mit ihren gewaltigen ökonomischen<br />
Implikationen hat die Rolle der Regierung, die<br />
u.a. darin bestand, ihre Bürger zu schützen, erschüttert<br />
und bedroht die Solidarität der schon geschwächten<br />
städtischen Gemeinwesen. Das Gemeinwesen wieder<br />
aufzubauen, haben liberale Kommunitarier als Aufgabe<br />
auf die Tagesordnung gesetzt. Das Nachbarschaftshaus,<br />
ein gemeinwesenorientiertes Modell für <strong>sozial</strong>e<br />
Dienste, das die Funktionen der Dienstleistung mit<br />
der Stärkung des Gemeinwesens und dem Eintreten<br />
für <strong>sozial</strong>en Wandel verbindet, kann als eine gemeinwesenbasierte<br />
Organisation des dritten Sektors dazu<br />
dienen, solche Gemeinwesen wieder aufzubauen.<br />
Die Nachbarschaftshaus-(Settlement-)Bewegung<br />
hatte im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert<br />
eine große Wirkung in vielen zersplitterten,<br />
insbesondere armen, von Einwanderung geprägten<br />
Nachbarschaften, obwohl jede Einrichtung andere<br />
Schwerpunkte und Zielsetzungen hatte. Settlements<br />
als Gemeinwesenzentren oder Nachbarschaftshäuser<br />
wurden in der ganzen Welt ins Leben gerufen, um<br />
unterschiedlichen Gruppen, die jeweils in der gleichen<br />
örtlichen Umgebung leben, das Gefühl eines gemeinsamen<br />
Besitzes zu geben. In vielen nord-amerikanischen<br />
Städten sind solche Nachbarschaftshäuser immer<br />
noch in vielen verschiedenen Stadtvierteln tätig<br />
(Chesler, 1996; Fisher & Fabricant, 2002; Husock, 1993;<br />
Koerin, 2003). Jedoch hat eine Reihe von Faktoren<br />
dazu beigetragen, dass die „Settlement-Bewegung“<br />
als stagnierend beschrieben worden ist (Trolander,<br />
1987).<br />
Dieser Aufsatz spricht sich dafür aus, dass im Zeitalter<br />
der Globalisierung <strong>sozial</strong>e Aktivisten und Fachleute<br />
der Stadtteilentwicklung eine „fließende“ Definition<br />
des Gemeinwesens zur Grundlage ihrer Überlegungen<br />
machen sollen, die davon ausgeht, dass im Gemeinwesen<br />
unterschiedliche Interessen strategische<br />
Gemeinsamkeiten suchen, während sie in anderen<br />
Aspekten im Wettbewerb miteinander stehen. Das<br />
Nachbarschaftshaus mit der ihm innewohnenden humanistischen,<br />
einbeziehenden und demokratischen<br />
Natur, die Kommunikation, Unterstützung und Solidarität<br />
unter den Einwohnern anregt, kann ein solider<br />
und wirksamer „Dritter Sektor“ zur Rekonstruktion<br />
des Gemeinwesens im Zeitalter der Globalisierung<br />
sein. Der Aufsatz schlägt eine Reihe von Strategien für<br />
die Profession der Sozialarbeit vor, wie das Nachbarschaftshaus<br />
in seiner alten Funktion „wiederbelebt“<br />
werden kann.<br />
Das lokale Gemeinwesen im Zeitalter der<br />
Globalisierung<br />
Globalisierung, ein Begriff, der in den 80er Jahren populär<br />
wurde, beschreibt nicht nur ein facettenreiches<br />
<strong>sozial</strong>es Phänomen, das schon lange existiert hat,<br />
sondern darüber hinaus – und noch wichtiger – die<br />
größere und umfassendere Qualität von gegenwärtigen<br />
Kontakt- und Austauschbeziehungen über die<br />
nationalen Grenzen hinaus (Albrow, 1993). Globalisierung<br />
impliziert ein „Eine-Welt-System“ (Midgley,<br />
2000), das alle Aspekte des Lebens berührt: Soziales,<br />
Bevölkerungsentwicklung, Politik, Kultur und Wirtschaft<br />
und das sich verschiedener Kanäle bedient:<br />
Internet, Massenmedien, internationale Wirtschaftsunternehmen<br />
und Finanzmärkte. Von allen Aspekten der<br />
Globalisierung hat die Wirtschaft, die die Entwicklung<br />
eines globalen Marktplatzes heraufbeschwört, die<br />
Meinungsführerschaft übernommen (Ife, 2000). Wie<br />
Giddens und Dahrendorf (2001) beobachten, weckt<br />
die Globalisierung Argwohn in dreierlei Hinsicht: „Dominanz<br />
des Westens über den Globalisierungsprozess,<br />
die Rolle der Macht der Konzern oder das Eindringen<br />
des Marktes in zu viele Sphären des <strong>sozial</strong>en Lebens<br />
und die globale Ungleicheit“ (S.4).<br />
Die weltweite Ökonomie hat zu einer Zunahme der<br />
wirtschaftlichen und <strong>sozial</strong>en Ungleichheit geführt,<br />
nicht nur zwischen verschiedenen Ländern sondern<br />
auch im Innern jedes Landes. Während die ökonomische<br />
Globalisierung wegen ihrer negativen Auswirkungen<br />
auf die Entwicklungsländer als eine neue<br />
Form des Imperialismus beschrieben worden ist, hat<br />
sie ihre Hand unsichtbar auch dann im Spiel, wenn es<br />
um die Zunahme der <strong>sozial</strong>en Unterschiede in den<br />
entwickelten Ländern geht. Gegenwärtig leiden viele