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Rundbrief 1 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV

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ISSN 0940-8665<br />

41. Jahrgang / Juni 2005<br />

5,00 €<br />

<strong>Rundbrief</strong> 1<br />

2005<br />

• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale <strong>Arbeit</strong> •<br />

• Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •<br />

In dieser Ausgabe:<br />

• Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser<br />

im Zeitalter der Globalisierung<br />

• Dokumentation Fachtag : Aus Erfahrung gut –<br />

Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation<br />

• Die Helsinki-Deklaration der IFS<br />

• Bündnis für Familien von<br />

Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum<br />

• Stadteilzentren als starke Partner<br />

von Stadtteil- und Quartiersmanagement<br />

<strong>Verband</strong> für<br />

<strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.


Der <strong>Rundbrief</strong> wird herausgegeben vom<br />

<strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.<br />

Tucholskystr. 11, 10117 Berlin<br />

Telefon: 030 280 961 03<br />

Fax: 030 862 11 55<br />

email: bund@sozkult.de<br />

internet: www.vska.de<br />

Redaktion: Herbert Scherer<br />

Gestaltung: newsign Werbeagentur GmbH<br />

Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin<br />

Der <strong>Rundbrief</strong> erscheint halbjährlich<br />

Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand<br />

Titelbild: Theater der Erfahrungen<br />

Theatergruppe „Die Spätzünder“: Szene aus dem<br />

Stück „Die viehische Komödie“,


Inhalt<br />

Miu Chung Yan:<br />

Brückenbau im fragmentierten Gemeinwesen:<br />

Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser im Zeitalter der Globalisierung 4-13<br />

Dokumentation Fachtag :<br />

Aus Erfahrung gut –<br />

Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation 14-28<br />

International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres (IFS):<br />

Helsinki Declaration „Neighbourhoods First: Making the world a better place“<br />

(„Leben in Nachbarschaft – Bausteine für eine bessere Welt“) 29<br />

Karl-Fried Schuwirth:<br />

ANIA - Aktives Netzwerk im Alter 30-32<br />

Renate Wilkening:<br />

Bündnis für Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum 34<br />

Armin Emrich<br />

Eröffnung des Sprengelhauses 35<br />

Dr. Eberhard Löhnert<br />

Stadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement 36<br />

Monika Schneider<br />

Grußwort zum 50jährigen Bestehens des NBH Urbanstr. 38<br />

Nachbarschaftswettbewerb / Ankündigung Jahrestagung 2005 39<br />

Vorwort:<br />

Die hier vorgelegte Ausgabe des <strong>Rundbrief</strong>s hat zwei Schwerpunkte, die einiges miteinander zu tun haben:<br />

Es geht um die Zukunftsfähigkeit des Modells Nachbarschaftshaus angesichts neuer Herausforderungen, denen<br />

sich unsere Gesellschaft gegenüber sieht.<br />

Der Aufsatz von Miu Chung Yan beschäftigt sich mit dieser Frage aus einer kanadischen, aber<br />

zugleich „globalen“ Perspektive, er sieht die größte Stärke der Nachbarschaftshäuser („Settlements“) in der<br />

Zusammenfassung von drei Funktionen, die sich gegenseitig ergänzen, stützen und in Bewegung halten: dem<br />

Angebot unmittelbar nützlicher <strong>sozial</strong>er Dienste, dem „Gemeinwesenaufbau“ (Gestaltung nachbarschaftlichen<br />

Zusammenlebens im Wohnquartier) und dem Eintreten für <strong>sozial</strong>e Reformen. Unser internationaler Dachverband<br />

IFS hat sich mit seiner „Helsinki Declaration“, die wir gleichfalls dokumentieren, in ähnlicher Weise in einem<br />

Grundsatzpapier positioniert.<br />

Unser <strong>Verband</strong> hat sich in letzter Zeit verstärkt Fragen zugewandt, die mit den demographischen<br />

Veränderungen zu tun haben, die ihre Schatten vorauswerfen und insbesondere unsere <strong>sozial</strong>en<br />

Sicherungssysteme unter einen enormen Veränderungsdruck stellen. Eines steht schon jetzt fest: unsere<br />

Gesellschaft wird es sich nicht länger leisten können, ihre älteren Mitbürger in ein „ruheständlerisches“<br />

Abseits zu schieben. Sie wird sie in ihre Mitte zurückholen müssen, weil ihre Potenziale gebraucht werden.<br />

Nachbarschaftshäuser, die sich seit Jahren, gestützt auf den Willen der älteren Menschen selber, für eine<br />

entsprechende Sicht der Dinge stark gemacht haben, stehen vor einer erweiterten Aufgabe, in der viele Chancen<br />

liegen. Wir dokumentieren im Innenteil dieses <strong>Rundbrief</strong>es einen Fachtag zum Thema, an dem sich unser<br />

<strong>Verband</strong> im April beteiligt hat und auf dem deutlich wurde, dass es einerseits eine breite Übereinstimmung in<br />

entsprechenden Zielsetzungen gibt, aber andererseits, abgesehen von den Nachbarschaftshäusern, nur wenige<br />

Strukturen, die schon jetzt für diese Zukunftsaufgabe gerüstet sind.<br />

Einer besonderen Beachtung empfehlen wir auf der letzten Innenseite dieses <strong>Rundbrief</strong>s dem Aufruf zur<br />

Jahrestagung Stadtteilarbeit, die vom 16.-18. November wieder in Hannover stattfinden und sich in diesem Jahr<br />

schwerpunktmäßig unter dem Generalthema „Stadtteilzentren im Wandel“ mit den Zukunftsaufgaben unserer<br />

Einrichtungen beschäftigen wird.<br />

Herbert Scherer


4<br />

Miu Chung Yan, PhD<br />

Brückenbau im fragmentierten<br />

Gemeinwesen:<br />

Die Wiederbelebung der Settlement-<br />

Häuser (= Nachbarschaftsheime) im<br />

Zeitalter der Globalisierung<br />

Dr. Miu Chung Yan ist Assistenzprofessor<br />

im Department für Sozialarbeit<br />

und Familienstudien an<br />

der Universität von British Columbia<br />

in Vancouver, Kanada.<br />

Vor Abschluss seiner Dissertation<br />

war er zwölf Jahre lang als Sozialarbeiter<br />

und Sozialmanager in<br />

Hongkong und Toronto tätig. Sein<br />

aktuelles Forschungsinteresse hat<br />

drei Schwerpunkte: Integration<br />

von Migranten, Rolle von Nachbarschaftszentren<br />

beim Aufbau von<br />

funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in<br />

inter<strong>kulturelle</strong>n Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbeitet<br />

Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines praktischen<br />

Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau<br />

eines Studienganges für Sozialarbeiter in China.<br />

email: mcyan@interchange.ubc.ca<br />

Einleitung<br />

Die Globalisierung mit ihren gewaltigen ökonomischen<br />

Implikationen hat die Rolle der Regierung, die<br />

u.a. darin bestand, ihre Bürger zu schützen, erschüttert<br />

und bedroht die Solidarität der schon geschwächten<br />

städtischen Gemeinwesen. Das Gemeinwesen wieder<br />

aufzubauen, haben liberale Kommunitarier als Aufgabe<br />

auf die Tagesordnung gesetzt. Das Nachbarschaftshaus,<br />

ein gemeinwesenorientiertes Modell für <strong>sozial</strong>e<br />

Dienste, das die Funktionen der Dienstleistung mit<br />

der Stärkung des Gemeinwesens und dem Eintreten<br />

für <strong>sozial</strong>en Wandel verbindet, kann als eine gemeinwesenbasierte<br />

Organisation des dritten Sektors dazu<br />

dienen, solche Gemeinwesen wieder aufzubauen.<br />

Die Nachbarschaftshaus-(Settlement-)Bewegung<br />

hatte im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert<br />

eine große Wirkung in vielen zersplitterten,<br />

insbesondere armen, von Einwanderung geprägten<br />

Nachbarschaften, obwohl jede Einrichtung andere<br />

Schwerpunkte und Zielsetzungen hatte. Settlements<br />

als Gemeinwesenzentren oder Nachbarschaftshäuser<br />

wurden in der ganzen Welt ins Leben gerufen, um<br />

unterschiedlichen Gruppen, die jeweils in der gleichen<br />

örtlichen Umgebung leben, das Gefühl eines gemeinsamen<br />

Besitzes zu geben. In vielen nord-amerikanischen<br />

Städten sind solche Nachbarschaftshäuser immer<br />

noch in vielen verschiedenen Stadtvierteln tätig<br />

(Chesler, 1996; Fisher & Fabricant, 2002; Husock, 1993;<br />

Koerin, 2003). Jedoch hat eine Reihe von Faktoren<br />

dazu beigetragen, dass die „Settlement-Bewegung“<br />

als stagnierend beschrieben worden ist (Trolander,<br />

1987).<br />

Dieser Aufsatz spricht sich dafür aus, dass im Zeitalter<br />

der Globalisierung <strong>sozial</strong>e Aktivisten und Fachleute<br />

der Stadtteilentwicklung eine „fließende“ Definition<br />

des Gemeinwesens zur Grundlage ihrer Überlegungen<br />

machen sollen, die davon ausgeht, dass im Gemeinwesen<br />

unterschiedliche Interessen strategische<br />

Gemeinsamkeiten suchen, während sie in anderen<br />

Aspekten im Wettbewerb miteinander stehen. Das<br />

Nachbarschaftshaus mit der ihm innewohnenden humanistischen,<br />

einbeziehenden und demokratischen<br />

Natur, die Kommunikation, Unterstützung und Solidarität<br />

unter den Einwohnern anregt, kann ein solider<br />

und wirksamer „Dritter Sektor“ zur Rekonstruktion<br />

des Gemeinwesens im Zeitalter der Globalisierung<br />

sein. Der Aufsatz schlägt eine Reihe von Strategien für<br />

die Profession der Sozialarbeit vor, wie das Nachbarschaftshaus<br />

in seiner alten Funktion „wiederbelebt“<br />

werden kann.<br />

Das lokale Gemeinwesen im Zeitalter der<br />

Globalisierung<br />

Globalisierung, ein Begriff, der in den 80er Jahren populär<br />

wurde, beschreibt nicht nur ein facettenreiches<br />

<strong>sozial</strong>es Phänomen, das schon lange existiert hat,<br />

sondern darüber hinaus – und noch wichtiger – die<br />

größere und umfassendere Qualität von gegenwärtigen<br />

Kontakt- und Austauschbeziehungen über die<br />

nationalen Grenzen hinaus (Albrow, 1993). Globalisierung<br />

impliziert ein „Eine-Welt-System“ (Midgley,<br />

2000), das alle Aspekte des Lebens berührt: Soziales,<br />

Bevölkerungsentwicklung, Politik, Kultur und Wirtschaft<br />

und das sich verschiedener Kanäle bedient:<br />

Internet, Massenmedien, internationale Wirtschaftsunternehmen<br />

und Finanzmärkte. Von allen Aspekten der<br />

Globalisierung hat die Wirtschaft, die die Entwicklung<br />

eines globalen Marktplatzes heraufbeschwört, die<br />

Meinungsführerschaft übernommen (Ife, 2000). Wie<br />

Giddens und Dahrendorf (2001) beobachten, weckt<br />

die Globalisierung Argwohn in dreierlei Hinsicht: „Dominanz<br />

des Westens über den Globalisierungsprozess,<br />

die Rolle der Macht der Konzern oder das Eindringen<br />

des Marktes in zu viele Sphären des <strong>sozial</strong>en Lebens<br />

und die globale Ungleicheit“ (S.4).<br />

Die weltweite Ökonomie hat zu einer Zunahme der<br />

wirtschaftlichen und <strong>sozial</strong>en Ungleichheit geführt,<br />

nicht nur zwischen verschiedenen Ländern sondern<br />

auch im Innern jedes Landes. Während die ökonomische<br />

Globalisierung wegen ihrer negativen Auswirkungen<br />

auf die Entwicklungsländer als eine neue<br />

Form des Imperialismus beschrieben worden ist, hat<br />

sie ihre Hand unsichtbar auch dann im Spiel, wenn es<br />

um die Zunahme der <strong>sozial</strong>en Unterschiede in den<br />

entwickelten Ländern geht. Gegenwärtig leiden viele


entwickelte Länder unter steigenden <strong>Arbeit</strong>slosenraten,<br />

wachsenden Einkommensunterschieden und<br />

dem Verlust von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit (Glyn, 1998).<br />

Ökonomische und <strong>sozial</strong>e Auswirkungen der Globalisierung<br />

auf Nationalstaaten, Gemeinwesen und Individuen<br />

in den entwickelten Ländern sind enorm.<br />

Die ökonomische Globalisierung übt einen erheblichen<br />

Abwärtsdruck auf die jungen Nationalstaaten<br />

aus, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik anpassen,<br />

um sich dem globalen Wettbewerb stellen zu können.<br />

Im Gegenzug haben viele westliche Regierungen die<br />

Erfahrung des globalen Wettbewerbs genutzt, um<br />

öffentliche Ausgaben, insbesondere Sozialausgaben<br />

zurückzufahren (z.B. McQuaig, 1999; Mishra, 1999). Traditionelle<br />

Funktionen des Staates sind umstrukturiert<br />

worden, um mit den Herausforderungen der Globalisierung<br />

umgehen zu können (z.B. Giddens, 1994, 1998;<br />

Ife, 2000). Zentralisierte wohlfahrtsstaatliche Systeme<br />

sind nicht mehr zu finanzieren. Das macht ein dezentralisiertes<br />

System unumgänglich, das den lokalen<br />

Gemeinwesen aufbürdet, einen Großteil der Last von<br />

Abhängigkeit und Sozialunterstützung zu schultern.<br />

Der Rückzug der staatlichen Wohlfahrtssysteme hat<br />

die Fürsorge-Funktion vom Staat auf alternative<br />

Unterstützungssysteme in der „Zivilgesellschaft“ verlagert,<br />

ein Sammelbegriff für jede Form gesellschaftlicher<br />

Selbstorganisation jenseits des Staates (Hall,<br />

1995). In seiner weitesten Bedeutung umfasst der<br />

Begriff den freien Markt (Bottomore, 1979), die meisten<br />

privaten oder frei-gemeinnützigen und selbst-verwalteten<br />

Agenturen, Institutionen und Bewegungen<br />

sowie informellen <strong>sozial</strong>en Netzen (Putnam, 2000).<br />

Konzeptionell ist die „Zivilgesellschaft“ mehr als ein<br />

„Gemeinwesen“, wenn es um ihre Rolle in der <strong>sozial</strong>en<br />

Fürsorge geht. Das lokale Gemeinwesen mit der großen<br />

Menge <strong>sozial</strong>en Kapitals, das es in seinen umfangreichen<br />

informellen Unterstützungssystemen enthält,<br />

wird in der Regel als der wesentliche konstitutive<br />

Baustein der Zivilgesellschaft gesehen (Etzioni, 1993;<br />

Giddens, 1994; Putnam, 2000).<br />

Armitage (1991) stellt fest, dass ein Gemeinwesen<br />

einige unterscheidbare Funktionen hat, die es von<br />

seinen Mitgliedern fordert. Diese Funktionen können<br />

klassifiziert werden als Produktion, Verteilung, Konsum,<br />

Sozialisation, <strong>sozial</strong>e Kontrolle, gegenseitige Hilfe<br />

und <strong>sozial</strong>e Teilhabe. Etzioni (1993) betont, dass die<br />

gemeinnützige Natur des Gemeinwesens, in der Erscheinungsform<br />

von gegenseitiger Hilfe und <strong>sozial</strong>er<br />

Teilhabe, wichtig ist, um die vorherrschende Entfremdung<br />

und Demoralisierung der nach-traditionellen<br />

Gesellschaft in den entwickelten Ländern zu bekämpfen.<br />

Er schlägt einen Entwurf vor, wie die gemeinnützige<br />

Moralität dadurch wieder aufgebaut werden kann,<br />

dass die Gemeinwesen in den städtischen Gebieten<br />

wieder belebt werden. Giddens (1998) schlägt die Formulierung<br />

vor, dass Gemeinwesen „praktische Mittel<br />

seien, um die <strong>sozial</strong>e und materielle Instandsetzung<br />

von Nachbarschaften, Städten und Regionen zu befördern“<br />

(S. 79), die unter den Auswirkungen der globalen<br />

wirtschaftlichen Entwicklung leiden.<br />

Ist das Gemeinwesen verloren<br />

Noch ist das Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung<br />

desorientiert. Wie Giddens (1994) beobachtet, ist<br />

die Solidarität des traditionellen lokalen Gemeinwesens,<br />

insbesondere in städtischen Gebieten, durch die<br />

wohlfahrtsstaatliche Politik geschwächt worden, die<br />

eine neue Form des Individualismus hervorgebracht<br />

hat – „institutionalisierten Individualismus“ – der das<br />

Individuum als Basis für Rechtsansprüche auf Sozialleistungen<br />

überbetont. In der Folge beschleunigt die<br />

Individualisierung den Prozess der Entfremdung und<br />

Demoralisierung in der nach-traditionellen Gesellschaft<br />

(Etzioni, 1993). Diese Entfremdung findet ihren<br />

vollendeten Ausdruck im „Life Stile“ des Vorstadtlebens,<br />

der eine beinahe normative Bedeutung in den<br />

meisten Metropolen bekommt (Putnam, 2000).<br />

Der Abwärtsdruck der Globalisierung setzt das geschwächte<br />

lokale Gemeinwesen zusätzlich unter<br />

Druck. Die globale Ökonomie führt zu einer höheren<br />

Mobilität des Kapital Investments und der menschlichen<br />

Ressourcen in bestimmten Berufen. Manche<br />

Gemeinwesen in städtischen Gebieten werden destabilisiert<br />

oder sogar auseinandergerissen als Folge des<br />

Niedergangs der örtlichen Industrie und der schnellen<br />

Kapitalbewegungen. Die Globalisierung ermuntert,<br />

bzw. zwingt Nationen, ihre Grenzen nicht nur für Handels-<br />

und Kapitalströme zu öffnen sondern auch für<br />

Migranten, Touristen, Medienkommunikation, Information<br />

und Kultur.<br />

In Nord-Amerika wurde schon Anfang der 80er Jahre<br />

festgestellt, dass die meisten Gemeinwesen in den<br />

städtischen Ballungsgebieten „einen konstanten Zufluss<br />

von Neuankömmlingen“ erfahren als Folge von<br />

massiver innerer und äußerer Migration (Rivera & Ehrlich,<br />

1981). Diese Tendenz dauert weiter an (Putnam,<br />

2000). Das ursprünglich homogene Gemeinwesen<br />

wird in fragmentierte und vielfältige Einheiten zerlegt.<br />

Unterschiedlichkeit wird zur Norm in den meisten<br />

Metropolen in den entwickelten Ländern. In diesem<br />

Zusammenhang entstehen neue Identitäten. Und diese<br />

neuen Kräfte fordern die traditionelle <strong>sozial</strong>e und<br />

moralische Ordnung heraus.<br />

Folgerichtig trägt die Globalisierung zu der postmodernen<br />

Disposition (Ife, 2000) bei, in der <strong>sozial</strong>e und<br />

moralische Standards zweifelhaft sind. Es entstehen<br />

neue <strong>sozial</strong>e Bewegungen in der Form von politischen<br />

und <strong>sozial</strong>en Auseinandersetzungen zwischen<br />

unterschiedlichen Identitäten. Im nach-traditionellen<br />

Zeitalter scheint die Idee des Gemeinwesens dahin<br />

zu schwinden, ausgehöhlt durch die makro-ökonomischen<br />

und globalen Kräfte, deren negative Folgen von<br />

5


6<br />

vielen Gemeinwesen auf der ganzen Welt verspürt<br />

werden. Die Menschen fragen sich immer wieder, ob<br />

das Gemeinwesen „verloren“, „gerettet“ oder „befreit“<br />

ist (Smith, 1996, S. 253).<br />

Das fragmentierte und fremd gewordene Bild des Gemeinwesens<br />

kann fälschlich als Zusammenbruch der<br />

lokalen Gemeinschaft interpretiert werden (Putnam,<br />

2000). Trotz des Einflusses der globalen Ökonomie, der<br />

hochtechnisierten Kommunikation, der hohen geographischen<br />

Mobilität und des rapiden Zuwachses<br />

an Neuankömmlingen sind die meisten Menschen<br />

immer noch an eine bestimmte Gegend gebunden:<br />

„menschliche Bedürfnisse bleiben im Wesentlichen<br />

lokal und persönlich“ (Ife, 2000, S. 55). Insbesondere<br />

arme Menschen sind in ihren niedergehenden Nachbarschaften<br />

gefangen, denen es, wie Putnam (2000)<br />

beschreibt, an <strong>sozial</strong>em Kapital mangelt. Trotzdem<br />

sehnen sich die Menschen nach einem bedeutungsvollen<br />

humanen Lebensstil. Das Gemeinwesen ist, wie<br />

uns Ife (2000) versichert, immer noch eine bedeutsame<br />

Alternative, um sich den Auswirkungen der Globalisierung<br />

auf das Leben der Menschen zu widersetzen.<br />

Gemeinwesen neu denken<br />

„Gemeinwesen“ ist eines der unklarsten und am wenigsten<br />

greifbaren Konzepte in der Sozialwissenschaft<br />

(Shore, 1993). Diejenigen, die den Zusammenbruch<br />

des Gemeinwesens verkünden, nehmen vielleicht<br />

an, dass ein Gemeinwesen eine in sich geschlossene,<br />

kohärente und statische Einheit ist, die als „Gemeinschaft“<br />

begriffen werden kann. Ein lokales Gemeinwesen<br />

kann idealisiert werden als eine integrierte,<br />

vor-industrielle kleine Nachbarschaft, in der <strong>sozial</strong>e<br />

Beziehungen intim, anhaltend und vielfältig sind<br />

(Shore, 1993).<br />

Dieses idealistische Konzept, das von den Kommunitariern<br />

beschrieben wird, ist eine nostalgische Fehleinschätzung,<br />

die sich auf frühere Zeiten und Zusammenhänge<br />

bezieht. Es ignoriert die Tatsache, dass die<br />

Idee des Gemeinwesens weitgehend eine <strong>sozial</strong>e Konstruktion<br />

darstellt, die nicht ausschließlich auf objektiven<br />

geographischen Grenzen beruht, sondern sich auf<br />

die Vorstellung einer Gruppe von Menschen bezieht,<br />

die sich als Mitglied eines Gemeinwesens verstehen<br />

(Anderson, 1991). Wie Rose klarstellt, ist das „Gemeinwesen<br />

keine feste Größe sondern eine örtliche und<br />

situationsbedingte Konstruktion“ (Rose, 1999). Wir<br />

sollten uns ein stärker dynamisches Verständnis von<br />

Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung zu<br />

eigen machen. Identität und Zugehörigkeit werden<br />

fließende und gedachte Größen und nicht zwangsläufig<br />

fest umrissen und in sich schlüssig (Leonard, 1997).<br />

Ife (2000) teilt diese neue Sicht auf das Gemeinwesen<br />

und schlägt vor, dass die Profession der Sozialarbeit<br />

das Gemeinwesen als eine „fließende Konstruktion“<br />

akzeptieren sollte, die „eine ideale Basis für eine von<br />

<strong>kulturelle</strong>r Vielfalt und politischem Pluralismus geprägte<br />

nach-industrielle Gesellschaft darstellen könnte“<br />

(S. 56).<br />

Aktive Bürgerschaft.<br />

Verknüpfung von Gemeinwesen, Zivilgesellschaft<br />

und Staat.<br />

Wie Giddens (1994) nahe legt, ist die Zivilgesellschaft<br />

auf der Ebene des Gemeinwesens entscheidend für<br />

den Kampf gegen die Globalisierung. Bürokratisierung,<br />

Professionalisierung und Zentralisierung haben<br />

in vielen Wohlfahrtsstaaten die Zivilgesellschaft<br />

unterdrückt und die Gemeinwesen geschwächt. Um<br />

die Zivilgesellschaft mit frischem Leben zu erfüllen,<br />

müssen neue Wege für lokales Verwaltungshandeln<br />

gefunden werden, damit die Menschen ihre persönlichen<br />

und <strong>sozial</strong>en Angelegenheiten auf der Ebene<br />

des Gemeinwesens managen können. Giddens (1998,<br />

1994) schlägt deswegen vor, dass zur Ergänzung der<br />

staatlichen Funktionen, die vom Abwärtsdruck der<br />

Globalisierung geschwächt sind, das Gemeinwesen<br />

durch eine Partnerschaft gegenseitiger Ermöglichung<br />

und Kontrolle zwischen Regierung und Zivilgesellschaft<br />

wieder gestärkt werden muss.<br />

Nichtsdestoweniger entwickeln möglicherweise die<br />

Menschen im Zeitalter der Globalisierung nur ein Gefühl<br />

für das Gemeinwesen, „wenn eine neue <strong>kulturelle</strong><br />

Grundlage für ein solches Gefühl um einige wenige<br />

gemeinsame Werte und Institutionen gebildet wird,<br />

die Vielfalt und das Experimentieren mit unterschiedlichen<br />

Lebensstilen von Individuen und Gruppen<br />

erlauben sowie die Duldung eines nicht endenden<br />

Wettbewerbs zwischen verschiedenen <strong>kulturelle</strong>n Traditionen“<br />

(Perez-Diaz, 1995, S. 87). In anderen Worten:<br />

das Gefühl der Zugehörigkeit zum nach-traditionellen<br />

Gemeinwesen ist nicht durch Übereinstimmung sondern<br />

durch fortwährende „Verhandlungen“ zwischen<br />

unterschiedlichen Interessen gekennzeichnet, die<br />

zeitweise im Wettstreit miteinander stehen, teilweise<br />

aber auch strategisch und in bestimmten Kontexten<br />

in Angelegenheiten, die von örtlicher oder persönlicher<br />

Bedeutung sind, kooperieren. Deshalb ist es nicht<br />

überraschend, dass die meisten neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen,<br />

„rebellische Graswurzelgruppen, die sich<br />

zu Fragen wie demokratische Teilhabe, persönliche<br />

Freiheit, Bürgerrechte und Lebensqualität“ (Fisher &<br />

Kling, 1997) zusammen gefunden haben, immer noch<br />

ihren Schwerpunkt auf der Ebene des Gemeinwesens<br />

haben (Leonard, 1997). Durch Wahrnehmung und Anerkennung<br />

der Unterschiede zwischen den Menschen<br />

gewinnen sie im Gegenzug den Besitz über das Gemeinwesen<br />

zurück.<br />

Um das Gemeinwesen als einen aktiven Bestandteil<br />

der Zivilgesellschaft wieder zu verjüngen, ist die Beteiligung<br />

der Bürger über die Grenzen der unterschied-


lichen Interessen hinweg notwendig. Ein gemeinnütziger<br />

Ansatz, der auf dem guten Willen der Menschen<br />

beruht, ist notwendig, aber nicht ausreichend, um<br />

die Beteiligung der Bürger lebendig zu halten. Wie<br />

Sites (1998) feststellt, ist der Gemeinnützigkeitsansatz<br />

ein Wert, der sich selbst beschneidet, weil er die<br />

berechtigten unterschiedlichen Interessen in einem<br />

Gemeinwesen unterschlägt. Statt dessen muss die<br />

Beteiligung vor Ort die unterschiedlichen Interessen<br />

der verschiedenen Gruppen anerkennen. Die neue<br />

Bürgerschaft im lokalen Gemeinwesen muss eine Art<br />

aktiver Bürgerschaft sein, die auf einem ausgewogenen<br />

Verhältnis von Rechten und Fürsorglichkeit beruht<br />

(Drover, 2000) – oder wie Giddens (1998) betont<br />

– so etwas wie „keine Rechte ohne die Übernahme<br />

von Verantwortung“.<br />

Aktive Bürgerschaft kann dadurch befördert werden,<br />

dass die lokale Selbstverwaltung gestärkt wird, die<br />

den Menschen im Gemeinwesen mehr Entscheidungsmacht<br />

gibt. Die Förderung lokaler Initiative<br />

und öffentlicher Einmischung in die Planung wird<br />

die Erneuerung des Gemeinwesens voran bringen.<br />

Entscheidungswege von unten nach oben als ein Ausdruck<br />

von Demokratie sind entscheidend. Der kollektive<br />

Entscheidungsprozess im Gemeinwesen erfordert<br />

gegenseitige Hilfe und Unterstützung von Bewohnern,<br />

die unterschiedliche Interessen haben. Solidarität<br />

zwischen unterschiedlichen Gruppen beruht nicht<br />

auf metaphysisch vorausgesetzten moralischen Werten,<br />

sondern auf kontinuierlicher Aushandlung mittels<br />

derer die Menschen interagieren und miteinander in<br />

Dialog treten über Rechte und Verantwortlichkeit untereinander<br />

und im Verhältnis zur Regierung, wenn es<br />

darum geht, die <strong>sozial</strong>en und persönlichen Probleme<br />

zu lösen, die der globale Wettbewerb verursacht hat.<br />

Lokale Selbstverwaltung umfasst die organisatorische<br />

Bewältigung der Verteilung von Ressourcen. Es gibt<br />

viele Wege für die Regierung, ihre Politik umzusetzen<br />

und ihre Ressourcen dem lokalen Gemeinwesen zur<br />

Verfügung zu stellen. Zwischen dem Nationalstaat<br />

und der Zivilgesellschaft steht der Dritte Sektor. Dieser<br />

umfasst Nachbarschaftsinitiativen, Selbsthilfegruppen<br />

und Wohlfahrtsorganisationen. Diese sind immer aktive<br />

Partner der Regierung, insbesondere auf der Ebene<br />

des Gemeinwesens. Sehr oft kann ihre Interpretation<br />

und ihre Antwort auf die Regierungspolitik den politischen<br />

Prozess aktiv beeinflussen (Yan, 1998). Die Rolle<br />

des gemeinwesenbasierten Dritten Sektors ist wichtig,<br />

wenn man die Funktion des nach-traditionellen Gemeinwesens<br />

neu untersucht.<br />

Die Relevanz der Settlements /Nachbarschaftsheime<br />

Tatsächlich ist der gemeinwesenbasierte dritte Sektor<br />

immer ein wichtiger <strong>sozial</strong>er Mechanismus für die<br />

Aktualisierung lokaler Partizipation durch die auf der<br />

örtlichen Ebene gewählten Vorstände und durch die<br />

Einbeziehung von Freiwilligen / Ehrenamtlichen. Diese<br />

Formen lokaler Partizipation sind ein Erbe, das von<br />

den Settlement-Häusern übernommen worden ist.<br />

Anders als viele von den anderen nicht gemeinwesenbasierten<br />

gemeinnützigen Organisationen, zeichnet<br />

sich das Settlement-Haus durch seine funktionale<br />

Integration von Dienstleistung, Gemeinwesenaufbau<br />

und <strong>sozial</strong>er Veränderung aus (Fabricant & Fisher,<br />

2002; Yan, 2002a). Diese Integration wird weiter charakterisiert<br />

durch ihre vier Wesensmerkmale: a) den<br />

nachbarschaftlichen Fokus, b) das traditionelle Engagement<br />

dafür, dass die Menschen sich ihr Gemeinwesen<br />

aneignen, c) den generationsübergreifenden<br />

Ansatz, und d) die tiefe Sensibilität und den Respekt<br />

für Verschiedenheit (Chesler, 1996). Diese Charaktereigenschaften<br />

zeigen deutlich, dass das Settlement-<br />

Haus nicht nur eine multifunktionale Servicefunktion<br />

hat, sondern auch eine gemeinwesenbasierte organisierende<br />

Agentur ist, die eine effektive Struktur lokaler<br />

Selbstverwaltung hervorbringen kann, durch die die<br />

Menschen in Angelegenheiten und politischen Zielsetzungen,<br />

die ihr Gemeinwesen betreffen, mitwirken<br />

können.<br />

Das Settlement-Haus<br />

Geschichte, Philosophie und Dienstleistungen<br />

Settlement-Häuser haben ihren Ursprung im späten<br />

19. und frühen 20. Jahrhundert, insbesondere in der<br />

englischsprachigen Welt (Ramey, 1992; Weil, 1997). Die<br />

Settlement-Bewegung mag in Nord-Amerika in den<br />

sechziger Jahren an Dynamik verloren haben, aber<br />

das Settlement-Haus als ein gemeinwesenbildender<br />

Ansatz hat sich über viele Entwicklungsländer verbreitet,<br />

z.B. Indien (Kaul, 1988), Hong Kong (Chow, 1980),<br />

Ost-Europa und China (Yan, 2002a). In vielen Ländern<br />

sind Settlement-Häuser in der neuen Form von<br />

Bürgerhäusern oder Nachbarschaftszentren starke<br />

nachbarschaftliche Einrichtungen, die einerseits einen<br />

Dienstleistungsmechanismus darstellen, mit dem auf<br />

<strong>sozial</strong>e Problemlagen geantwortet wird, und andererseits<br />

Motoren der zivilgesellschaftlichen Entwicklung<br />

sind, die die Solidarität unter den Stadtteilbewohnern<br />

befördern (Mizrahi & Rosenthal, 1998).<br />

Der Erfolg des Settlement-Hauses hat sowohl mit seinen<br />

humanistischen und kommunitarischen Grundsätzen<br />

als auch mit dem ganzheitlichen Dienstleistungsmodell<br />

zu tun (Husock, 1993). Schon beim ersten<br />

Settlement-Haus, Toynbee Hall, war es ein vorrangiges<br />

Ziel des Settlement-Hauses, Zersplitterung und Gegensätze<br />

unter den Stadtteilbewohnern zu überwinden<br />

(Abel, 1979). Jane Addams, die Gründerin von Hull<br />

House, gründete die Settlement-Bewegung auf ein<br />

humanistisch philosophisches Fundament, indem sie<br />

als den philosophischen Kern dieser Bewegung die<br />

„Solidarität der menschlichen Rasse“ (Addams, 1997)<br />

propagierte. Sie benannte drei Motive, die hinter der<br />

Settlement-Bewegung stünden: die Demokratie auf<br />

7


8<br />

das Feld des Sozialen auszuweiten, die volle Entfaltung<br />

aller Angehörigen der menschlichen Gattung zu<br />

fördern und die Humanität des Christentums neu zu<br />

beleben (Addams, 1999, S. 95).<br />

Für Addams sollte Demokratie nicht auf das politische<br />

Feld begrenzt bleiben. Sie sollte sich auch auf<br />

die Teilhabe im örtlichen Gemeinwesen erstrecken.<br />

Menschen lernen das Wesen der Demokratie durch<br />

ihre Mitwirkung im lokalen Bereich kennen. Dieser<br />

Prozess hat zum Ziel, Menschen zu einem Mehr an<br />

gesellschaftlichem Leben zu führen. Das zweite Motiv<br />

weist darauf hin, dass gegenseitige Hilfe unabdingbar<br />

ist, wenn die menschliche Gattung ihr volles Potential<br />

an Humanität entfalten will. Nur durch die gegenseitige<br />

Verknüpfung von Menschen – über die Grenzen<br />

von Alter, Geschlecht, Klasse, ethnischer Herkunft,<br />

Rasse oder anderer Merkmale – sei der Fortschritt der<br />

gesamten menschlichen Gattung möglich. Das dritte<br />

Motiv verweist auf ihre Überzeugung, die Verwirklichung<br />

der menschlichen Bestimmung liege in der<br />

brüderlichen Verbindung der Menschen zueinander.<br />

Für sie zeigt sich der Wert eines Menschen darin,<br />

„wie er sich mit seinesgleichen verbindet und von<br />

welchem Engagement und welcher Sensibilität seine<br />

Haltung zu anderen geprägt ist“ (1999, S. 95). Zusammengefasst<br />

bedeuten diese Motive, dass Settlement-<br />

Häuser ein institutioneller Ausdruck von demokratischer<br />

Teilhabe, gemeinschaftlicher Verantwortung<br />

und Gegenseitigkeit sind.<br />

Die drei Motive werden durch ein Bündel von Dienstleistungen<br />

verwirklicht. Settlement-Häuser betrachten<br />

die menschlichen Bedarfe ganzheitlich und orientieren<br />

sich am Modell umfassender integrierter Dienste<br />

(Hillmann, 1960a; Irving, Parsons & Bellamy, 1995). Addams<br />

beschrieb die Dienste der Settlement-Häuser in<br />

vier Hauptkategorien: <strong>sozial</strong>, bildungsbezogen, humanitär<br />

und bürgerschaftlich (Lasch, 1965). Alles in allem<br />

decken sie den Bedarf von nahezu allen Mitgliedern<br />

des Gemeinwesens ab, gleich welchem Alter, welchem<br />

Geschlecht und welcher Bildungsschicht sie angehörten.<br />

Weil jedes Settlement-Haus in einer spezifischen<br />

Nachbarschaft tätig ist, werden die Dienstleistungen<br />

immer auf den konkreten Bedarf des jeweiligen Gemeinwesens<br />

zugeschnitten. Die Bedarfslage im Gemeinwesen<br />

kann sich ändern, und damit werden auch<br />

die Dienstleistungen bedarfsentsprechend angepasst.<br />

Die Dienstleistungen des Settlement-Hauses sind flexibel,<br />

rechtzeitig und lokal.<br />

Hillman (1960b) hat herausgearbeitet, dass die Settlement-Häuser,<br />

ohne ihre universalistischen Prinzipien<br />

zu verletzen, besonderes Expertentum in der <strong>Arbeit</strong><br />

mit bestimmten Zielgruppen in Übereinstimmung<br />

mit der Charakteristik ihre Stadtteils entwickelt haben.<br />

Heute haben viele Settlement-Häuser Kindertagesstätten<br />

integriert, Beratungsdienste, Kliniken und<br />

Gesundheitszentren. Der umfassende integrierte<br />

Dienst des Settlement-Hauses dient nicht nur dazu,<br />

die Probleme von Individuen und Familien zu lösen,<br />

sondern ist auch ein Mittel, um das Ziel des Nachbarschafts-<br />

und Gemeinwesenaufbaus zu erreichen. Es ist<br />

ein ganzheitlicher gemeinschaftsstiftender Ansatz.<br />

Das Settlement-Haus: Kritiken und Vorhersagen<br />

Die Energie und Dynamik der Settlement-Bewegung<br />

beruhte auf der humanistischen Philosophie ihrer<br />

Begründer/innen wie Jane Addams, Lillian Wald und<br />

Helen Hall. In den heutigen Zeiten, haben sich alle<br />

Settlement-Häuser unterschiedlich entwickelt. In der<br />

Tat, angesichts der inneren Vielfalt und ihres unterschiedlichen<br />

historischen Horizontes sollten wir die<br />

bisherige Praxis der Settlement-Häuser nicht unkritisch<br />

betrachten. Zum Beispiel sind viele führende<br />

Mitglieder der Settlement-Bewegung zwar gegen<br />

den Rassismus aufgetreten und haben den Amerikanischen<br />

Chauvinismus kritisiert, aber sie haben doch<br />

an das traditionelle liberale Ideal von einer einheitlichen<br />

Amerikanischen Nation und Kultur geglaubt<br />

und sind deswegen eher für Anpassung als für Pluralismus<br />

eingetreten (Lissak, 1989). Folgerichtig hatten<br />

Hull House und viele andere Settlement-Häuser die<br />

Tendenz zu einem paternalistischen Verständnis von<br />

Integration: die unzivilisierten armen Einwanderer<br />

sollten „empor gehoben“, bzw. angepasst werden an<br />

die Errungenschaften der Viktorianischen Mittelklasse<br />

(Carson, 1990). Die „Fortschrittliche Zeit“, in der die<br />

Settlement-Bewegung ihre Blütezeit hatte, war gleichzeitig<br />

die Zeit der schärfsten Rassentrennung in der<br />

Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Vor<br />

diesem historischen Hintergrund haben viele Settlement-Häuser,<br />

obwohl einige in „schwarzen Wohngebieten“<br />

(Lasch-Quinn, 1993) gebaut wurden, die<br />

schwarze Community ausgeschlossen und Rassentrennung<br />

praktiziert (z.B. Berman-Rossi & Miller, 1994;<br />

Lasch-Quinn, 1993).<br />

Die Settlement-Bewegung in Nord-Amerika hat sich<br />

im letzten Jahrhundert verändert. Besorgnis über den<br />

Niedergang dieser Bewegung wurde schon in den<br />

1930er Jahren geäußert (Carson, 1990). Die Professionalisierung<br />

der Sozialarbeit wurde als Hauptursache<br />

der Schwächung von freiwilligem Engagement und<br />

Bürgerbeteiligung in den Settlement-Häusern identifiziert.<br />

Gewaltige Stadterneuerungsprogramme führten<br />

auch dazu, dass Gemeinwesen, auf die die Settlement-<br />

Häuser ihre Dienstleistungen ausgerichtet hatten,<br />

durcheinander gewirbelt wurden. Die Sozialreform-<br />

Strategie der Settlement-Häuser wurde als ein recht<br />

schwacher Ansatz zum Umgang mit der politischen<br />

Landschaft der Nachkriegszeit betrachtet, insbesondere<br />

während der Bürgerrechtsbewegung (Trolander,<br />

1987). Schwerwiegender noch war die starke Abhängigkeit<br />

von leistungsvertraglicher staatlicher Finanzierung,<br />

die die gemeinwesenbildenden Funktionen der<br />

Settlement-Häuser geschwächt und ihren ganzheitli-


chen Ansatz <strong>sozial</strong>er Dienste fragmentiert hat (Fabricant<br />

& Fisher, 2002; Koerin, 2003; Trolander, 1987).<br />

Ein Verständnis der Geschichte der Settlement-Häuser<br />

kann jeden Vorschlag für eine Wiederbelebung des<br />

Settlement-Hauses als wesentliches Element eines<br />

gemeinwesengestützten dritten Sektors für den Gemeinwesenaufbau<br />

nützen. Viele der hemmenden<br />

Faktoren, insbesondere die finanzielle Abhängigkeit,<br />

existieren weiterhin (Koerin, 2003). Allerdings muss<br />

das, was die Häuser in der Vergangenheit bedroht<br />

hat, im historischen Kontext verstanden werden. Trotz<br />

dieser Schwierigkeiten kann das alte Ideal des Settlement-Hauses<br />

von „einem gemeinsamen Glauben<br />

an die Fähigkeit des Menschen zu Selbsthilfe, Selbstbestimmung<br />

und Wachstum; von der Wünschbarkeit<br />

und Möglichkeit konstruktiver <strong>sozial</strong>er Reformen und<br />

von der Bedeutung die Gelegenheiten, <strong>sozial</strong>e Verantwortung<br />

zu übernehmen und auszuüben, für den<br />

Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganze haben“<br />

(Hillmann, 1960a, S. vi) weiterhin bewahrt und aufrecht<br />

erhalten werden.<br />

Dieser Glaube ist nicht irrelevant in einer nach-traditionellen<br />

Ära, in der menschliche gegenseitige<br />

Abhängigkeit und Selbstbestimmung als Prinzipien<br />

nebeneinander stehen, wenn es um die Suche nach<br />

dem Wohlbefinden des Individuums und seines Gemeinwesens<br />

geht. Das integrative Modell: „Dienstleistung<br />

– Gemeinwesenaufbau – <strong>sozial</strong>e Veränderung“<br />

macht das Settlement-Haus auch einzigartig und<br />

bedeutsam für das fragmentierte Gemeinwesen im<br />

Zeitalter der Globalisierung (Fabricant & Fisher, 2002;<br />

Husock, 1993). Der folgende Abschnitt beschäftigt<br />

sich unter Berücksichtigung ihrer historischen Einzigartigkeit<br />

mit der Frage, welche Rollen und Funktionen<br />

Settlement-Häuser beim Gemeinwesenaufbau in der<br />

Ära der Globalisierung übernehmen können.<br />

Settlement-Haus:<br />

Gemeinwesenaufbau im Zeitalter der Globalisierung<br />

Ife (2000) stellt die These auf, dass die Hauptaufgabe<br />

der professionellen Sozialarbeit der Gemeinwesenaufbau<br />

sein sollte, um die städtischen Gemeinwesen<br />

angesichts zahlreicher Herausforderungen wieder zu<br />

beleben. Der Zweck des Gemeinwesenaufbaus kann<br />

verstanden werden als „eine Kapitalanlage, die die<br />

Lebensqualität der Bewohner von einkommensarmen<br />

und einkommensschwachen Gemeinwesen erhöht,<br />

die als Nachbarschaften oder Sozialräume mit unterschiedlichen<br />

Nachbarschaften definiert werden“<br />

(Ferguson & Dickens, 1999, S. 5). Die meisten gemeinwesenbildenden<br />

Ansätze haben zum Ziel, die Solidarität<br />

unter den Bewohnern zu entwickeln, das <strong>sozial</strong>e<br />

Kapital des Gemeinwesens zu erhalten und zu verstärken<br />

sowie die Mitglieder des Gemeinwesens dahingehend<br />

zu organisieren, dass sie sich beteiligen, wenn es<br />

um Angelegenheiten und politische Entscheidungen<br />

geht, die in Bezug zu ihrem täglichen Leben stehen.<br />

Jedes gemeinwesen-aufbauende Projekt muss sich<br />

der Herausforderung stellen, die fragmentierten und<br />

unterschiedlichen Interessen im Gemeinwesen zu<br />

organisieren. Die Fragmentierung, die ein Resultat<br />

der Globalisierung ist, hat die lokalen Gemeinwesen<br />

zu Schauplätzen für Stadtpolitik und neue <strong>sozial</strong>e Bewegungen<br />

gemacht (Hasson & Ley, 1994). Fisher und<br />

Kling (1997) fassen die Charakteristiken der neuen<br />

<strong>sozial</strong>en Bewegungen zusammen als: gemeinwesengestützt,<br />

fragmentierte Identitäten transzendierend,<br />

neo-populistische Vision von Demokratie (nicht<br />

hierarchische Interaktion), Kampf um <strong>kulturelle</strong> und<br />

<strong>sozial</strong>e Identität, und Ausrichtung auf Gemeinwesen-<br />

Selbsthilfe und Empowerment. Die meisten dieser<br />

Charakteristiken sind in der Tat nicht notwendigerweise<br />

im Konflikt mit der ursprünglichen Philosophie<br />

und den Motiven der Settlement-Bewegung, obwohl<br />

es angesichts der ideologischen und historischen<br />

Differenzen falsch wäre, eine absolute Kompatibilität<br />

anzunehmen.<br />

Die neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen erkennen auch<br />

die Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit an<br />

(Leonard, 1997), die eine genaue Entsprechung der<br />

ursprünglichen Philosophie der Settlement-Häuser<br />

und ihren auf eine humanistische Brüderlichkeit ausgerichteten<br />

Motiven darstellt. Mittlerweile hat Cox<br />

(2001), um auf die neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen zu<br />

antworten, vorgeschlagen, dass ein effektives Modell<br />

für gemeinwesenbezogenes Handeln im 21. Jahrhundert<br />

Folgendes enthalten sollte: „(a) eine Beziehung<br />

herstellen zu der wachsenden Zahl von interessenbezogenen<br />

Bewegungen mit einer starken Betonung<br />

der politischen und ökonomischen Aspekte der Fragen,<br />

mit denen sie sich beschäftigen, und (b) effektive<br />

Wege finden, diese Bewegungen so zusammen zu<br />

bringen, dass sie zugleich die Unterschiede, die sie<br />

repräsentieren erkennen und anerkennen“ (S.45).<br />

Gemeinwesen-Aufbau, wie er vom Settlement-Haus<br />

praktiziert wird, hat als Grundlage die Idee der Einbeziehung.<br />

Trotz der in ihrer Geschichte aufzufindenden<br />

zeitweilig fehlenden Sensibilität gegenüber rassischer<br />

Diskriminierung kann das Settlement-Haus von heute<br />

eine nützliche Brücke über die unterschiedlichen<br />

Interessen im Gemeinwesen darstellen (Reinders,<br />

1982). Die Brückenfunktion ist besonders wichtig für<br />

das nach-traditionelle Gemeinwesen, dieses fragmentierte<br />

Gebilde, von dessen Bewohnern man kein<br />

einheitliches Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen<br />

erwarten kann. Die Interessen der Menschen<br />

und ihre Vorstellungen vom Gemeinwesen sind unterschiedlicher<br />

als je zuvor. Das nach-traditionelle Gemeinwesen<br />

kann ausschließend und unterdrückend<br />

sein (Giddens, 1994). Um das Ziel der Einbeziehung zu<br />

9


10<br />

erreichen, bedarf es eines andauernden Dialogs, um<br />

vorübergehende Übereinstimmungen und strategische<br />

Solidarität zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen<br />

zu erreichen.<br />

Das Settlement-Haus kann eine physische Plattform<br />

für den Dialog bereit stellen. Der „neutrale Boden“<br />

eines Settlement-Hauses erlaubt ihm, die Funktion<br />

eines „Wohnzimmers“ der Nachbarschaft darzustellen,<br />

in dem alle Mitglieder des Gemeinwesens – unterschiedlicher<br />

Generationen, rassischer, <strong>kulturelle</strong>r oder<br />

Geschlechts- Zugehörigkeit sowie politischer Orientierung<br />

– willkommen sind (Hiroto, Brown & Martin,<br />

1997). Die physische Existenz eines Settlement-Hauses<br />

in einem Gemeinwesen stellt auch so etwas wie<br />

eine symbolische Gestalt des Gemeinwesens dar. Die<br />

architektonische Gestalt vieler Settlement-Häuser und<br />

ihre Geschichte der <strong>Arbeit</strong> mit den Menschen im Gemeinwesen<br />

ist eingewoben in die Erinnerungen vieler<br />

Generationen der Bewohner. Für Neuankömmlinge<br />

bieten die physische Gegenwärtigkeit und die Dienste<br />

des Settlement-Hauses einen physischen Eintrittspunkt<br />

für die Integration in das neue Umfeld.<br />

Nach dem Beispiel von Toynbee Hall sind viele Settlement-Häuser<br />

auch „ein zentraler Punkt, an dem<br />

sich Menschen aller Schattierungen von Meinungen<br />

treffen und Probleme öffentlich diskutieren können“<br />

(Irving u.a., 1995, S. 6). Das Settlement-Haus bietet vor<br />

Ort einen Platz für Menschen mit unterschiedlichen<br />

Interessen, an dem sie teilhaben, sich engagieren und<br />

sich über Bedürfnisse, Probleme und Lösungen und<br />

über die Zukunft des Gemeinwesens verständigen<br />

können. Soziale Reform und Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />

sind wichtige Funktionen des Settlement-<br />

Hauses. Hull House und viele andere Settlement-Häuser<br />

waren z.B. hilfreich und wichtig in der Frühzeit der<br />

<strong>Arbeit</strong>sgesetzgebung und der Beschäftigungspolitik<br />

(Addams, 1999; Andrews, 1997). Das Settlement-Haus<br />

kann ein aktiver Faktor bei der Organisierung des Gemeinwesens<br />

(Communtiy Organizing) sein, insbesondere,<br />

wenn es darum geht, die <strong>sozial</strong>en Verhältnisse in<br />

belasteten Wohngebieten zu verbessern und etwas<br />

gegen Armut, schlechte Wohnverhältnisse, unzureichende<br />

Gesundheitssituationen und <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

zu unternehmen.<br />

Traditionell haben Settlement-Häuser Initiativen in<br />

der örtlichen Stadtplanung ergriffen, insbesondere<br />

in solchen Gemeinwesen, in denen es an Führungspersönlichkeiten,<br />

Fachpersonal und Einrichtungen<br />

mangelt (Hillmann, 1960a). Die Erfahrungen, die bei<br />

der Mitwirkung in den Settlement-Häusern gemacht<br />

und die Kenntnisse über das Gemeinwesen, die dabei<br />

gewonnen werden, geben den Bewohnern Macht.<br />

Durch den Ansatz der Gruppenarbeit haben Settlement-Häuser<br />

Menschen erfolgreich von anfänglicher<br />

nur auf die individuellen Interessen bezogenen<br />

Betroffenheit dazu gebracht, sich aktiv mit <strong>sozial</strong>en<br />

Fragen auseinander zu setzen (Yan, 2002b). Durch<br />

enge Beziehungen zu Universitäten und Akademien<br />

haben Settlement-Häuser ebenfalls eine Tradition,<br />

Forschungen und Untersuchungen im Gemeinwesen<br />

durchzuführen (Irving u.a., 1995). Durch programmatische<br />

Arrangements, wie z.B. Rathaustreffen, bieten<br />

Settlement-Häuser einen effektiven Weg, die öffentliche<br />

Meinungsbildung zu organisieren, die für die Formulierung<br />

der Regierungspolitik wichtig ist.<br />

Die pragmatische und humanistische Herangehensweise<br />

sowie das umfassende und ganzheitliche Diensleistungsmodell<br />

der Settlement-Häuser statten diese<br />

hundertjährige <strong>sozial</strong>e Bewegung und ihre Nachfolger<br />

mit der anpassungsfähigen Infrastruktur aus, die<br />

Antworten auf die neu entstehenden Bedarfslagen<br />

der meisten Gemeinwesen von heute finden kann.<br />

Im Unterschied zu manch anderen Gemeinwesenarbeits-Ansätzen,<br />

die kommen und gehen, wenn ihre<br />

Aufgaben im Gemeinwesen beendet sind, sind die<br />

Settlement-Häuser eine auf Dauer angelegte Infrastruktur,<br />

mit einer Dienstleistungskapazität, die ihren<br />

Platz mitten im Gemeinwesen hat. Die Dauerhaftigkeit<br />

der Settlement-Häuser erlaubt ihren nicht nur, auf die<br />

tagesaktuellen Problemlagen im Gemeinwesen zu reagieren,<br />

sondern ermöglicht ihnen auch, sich mit der<br />

Planung künftiger Veränderungen zu beschäftigen.<br />

Mit ihrer Dienstleistungskapazität und professionellen<br />

Kenntnis können Settlement-Häuser auch schnell<br />

auf Bedarfslagen im Gemeinwesen reagieren und ein<br />

Vehikel dafür sein, gegenseitige Hilfe anzuregen und<br />

Netzwerkzusammenhänge zu stiften, und das auf eine<br />

flexiblere Art und Weise.<br />

Wenn die Regierung im Zeitalter der Globalisierung<br />

ihre <strong>sozial</strong>en Dienstleistungen dezentralisieren will,<br />

kann sie ihre Wohlfahrtsressourcen über die Settlement-Häuser<br />

verteilen und damit sicherstellen, dass<br />

ihre Bürger in den Genuss qualitativ hochwertiger<br />

<strong>sozial</strong>er Dienste kommen, wenn dabei zugleich ein<br />

angemessenes System örtlicher Leitung und Überwachung<br />

geschaffen wird (Wharf, 1998). Der Ansatz<br />

örtlicher Leitung und Überwachung würde durch die<br />

Demokratie vor Ort geschaffen, die vom Settlement-<br />

Haus etabliert wird. Auch wenn die meisten Settlement-Häuser<br />

von ausgebildetem Personal geleitet<br />

werden (Trollander, 1987), ist die lokale Demokratie,<br />

deren Ideal in die zivilgesellschaftliche Funktion der<br />

Settlement-Häuser eingebettet ist, in vielerlei Form<br />

erhalten geblieben. Insbesondere sind die Mitglieder<br />

des Gemeinwesens in ihrer Eigenschaft als Bürger,<br />

nicht als Klienten, aktiv beteiligt an der Gestaltung<br />

der <strong>Arbeit</strong> des Settlement-Hauses beteiligt: im Vorstands-Management,<br />

in Planung und Durchführung<br />

der Programme und in der Verwaltung (Klein, 1968).<br />

Freiwillige und ehrenamtliche Mitwirkung in einem<br />

Settlement-Haus ist eine Form von lokaler Demokratie,<br />

mittels derer die Mitglieder des Gemeinwesens


ihre Bürgerrechte und Verantwortlichkeiten bei den<br />

Entscheidungen, die ihr Gemeinwesen betreffen, ausüben<br />

können. Im Gegenzug befördert die lokale Demokratie<br />

das Gefühl, Eigentümer des Gemeinwesens<br />

zu sein.<br />

Dieses Eigentumsgefühl basiert auch auf der gegenseitigen<br />

Hilfe. Freiwillige und ehrenamtliche Mitwirkung,<br />

wie sie die Settlement-Häuser verstehen, ist<br />

nicht auf die Durchsetzung von Rechten beschränkt.<br />

Settlement-Häuser setzen sich für eine aktive Bürgerschaft<br />

ein – ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten<br />

und Hilfeleistung unter den Einwohnern. Die meisten<br />

Settlement-Häuser von heute sind multifunktionale<br />

Dienstleistungsunternehmen geworden, die in einem<br />

hohen Maße auf Regierungsunterstützung angewiesen<br />

sind und Ressourcen im Rahmen von ausdifferenzierten<br />

Regierungsprogrammen weitergeben. Nichtsdestoweniger<br />

hat die Unterstützung durch privates<br />

Geld, das vom Gemeinwesen in Form von Spenden<br />

aufgebracht wird, nach wie vor eine hohe Bedeutung<br />

(Chesler, 1996). Traditionell spielen die Settlement-<br />

Häuser ebenfalls eine Rolle bei der Koordination von<br />

Ressourcen, die von den Einwohnern in Form von Zeit,<br />

Geld, Material und Engagement eingebracht werden.<br />

Sie fassen sie zusammen und geben sie an diejenigen<br />

im Gemeinwesen weiter, die einen entsprechenden<br />

Bedarf haben. Settlement-Häuser, die auf diese Weise<br />

Ressourcen bündeln und die informellen Hilfenetzwerke<br />

verknüpfen, generieren auf effektive Weise<br />

<strong>sozial</strong>es Kapital (Putnam, 2000). Das ist das Wesen der<br />

Settlement-Häuser: Solidarität zu verstärken und die<br />

Selbsthilfekräfte des Gemeinwesens durch die Beteiligung<br />

der Bürger auszubauen. In den Worten von<br />

Wharf und Clague (1997) liest sich das so: Settlement-<br />

Häuser sind „kraftvolle Agenturen für Hilfeleistung<br />

und für die Entwicklung der Fähigkeiten eines Gemeinwesens“<br />

(S. 321).<br />

Auswirkungen auf die Profession der Sozialarbeit<br />

Die Tradition der Sozialreform, die von der Settlement-Bewegung<br />

geerbt wurde, hat entscheidende<br />

Bedeutung für die Zielsetzung der Sozialarbeit (Abramovitz,<br />

1998; Hayes, 1998; Haynes & White, 1999;<br />

Ife, 2000). Deswegen kann die Wiederbelebung des<br />

Settlement-Hauses und seiner Nachfolger, der Nachbarschafts-<br />

und Gemeinwesenzentren, nicht ohne<br />

eine Überprüfung des Selbstverständnisses der Sozialarbeit<br />

realisiert werden (Epstein, 1999; Specht &<br />

Courtney, 1994). <strong>Arbeit</strong> in Settlement-Häusern – Nachbarschafts-<br />

oder Gemeinwesenzentren – wird von<br />

Absolventen der Sozialarbeits-Ausbildungsstätten<br />

nicht mehr favorisiert. In einem Settlement-Haus zu<br />

arbeiten, kann im Vergleich zur klinischen Praxis niedriges<br />

Einkommen und Prestige bedeuten. Wir können<br />

natürlich die Regierung dafür kritisieren, dass sie den<br />

Settlement-Häusern nicht genügend Aufmerksamkeit<br />

und Geld zukommen lässt (Fabricant & Fisher,<br />

2002; Koerin, 2003). Allerdings sollten wir auch unser<br />

eigenes Engagement für das Gemeinwesen und die<br />

Settlement-Häuser kritisch überprüfen, aus denen<br />

die professionelle Sozialarbeit hervorgegangen ist.<br />

Obwohl das Settlement-Haus einmal die Profession<br />

der Sozialarbeit hervorgebracht hat, hat sich die Profession<br />

von den Menschen im Gemeinwesen abgewandt<br />

(Trolander, 1987). Im Gegenzug hat das Settlement-Haus<br />

seine traditionelle Funktion als Agent des<br />

Gemeinwesenaufbaus verloren. Folgerichtig sind das<br />

Settlement-Haus und seine Nachfolger – Gemeinwesen-<br />

und Nachbarschaftszentren – das Stiefkind der<br />

professionellen Sozialarbeit geworden.<br />

Fabricant und Fisher (2002) vertreten die These, dass<br />

das Settlement-Haus dadurch wieder belebt werden<br />

kann, dass es ein strategisches Bündnis mit anderen<br />

Organisationen im Gemeinwesen schließt. Eine dieser<br />

Organisationen könnte die örtliche Sozialarbeits-<br />

Schule sein, die historisch eine wichtige Rolle in der<br />

Settlement-Bewegung gespielt hat. Die Wiederbelebung<br />

des Settlement-Hauses braucht die Unterstützung<br />

von Lehrenden an den Ausbildungsstätten<br />

für Sozialarbeiter/innen, damit unsere Lehrpläne so<br />

überarbeitet werden, dass sie einen größeren Anteil<br />

an praktischer Gemeinwesenarbeit enthalten; dass sie<br />

unsere professionelle Ausbildung wieder mit unserer<br />

Verpflichtung zu <strong>sozial</strong>em Wandel verbinden; dass sie<br />

unsere Studenten motivieren, Praktika oder freiwillige<br />

<strong>Arbeit</strong> in örtlichen Settlement-Häusern zu leisten; dass<br />

sie kostenloses Training für Mitarbeiter/innen von<br />

Settlement-Häusern anbieten, die keine formelle Ausbildung<br />

in Sozial- oder Gemeinwesenarbeit haben;<br />

und dass sie kostenlose professionelle Beratung für<br />

örtliche Settlement-Häuser für Programmgestaltung,<br />

Planung und Evaluation bereit stellen (Johnson, 1998).<br />

Wenn wir darin übereinstimmen, dass überzeugende<br />

Praxis ein Weg ist, unsere Dienstleistungsqualität und<br />

unser professionelles Engagement zu sichern, dann<br />

ist mehr Forschung und Literatur notwendig, um die<br />

Dienste der Settlement-Häuser zu verbessern, um<br />

ihre Errungenschaften zu zeigen und um eine empirische<br />

Basis für <strong>sozial</strong>en Wandel im Gemeinwesen zur<br />

Verfügung zu stellen. Der Erfolg der frühen Settlement-Häuser<br />

war eng verbunden mit der freiwilligen<br />

Unterstützung von den Universitäten (Carson, 1990;<br />

Irving u.a., 1995). Wenn die Profession der Sozialarbeit<br />

im Zeitalter der Globalisierung sich dem Ziel des Gemeinwesenaufbaus<br />

durch die Wiederbelebung des<br />

Settlement-Hauses verpflichtet, müssen wir vielleicht<br />

als erstes diese Zusammenarbeit zwischen Gemeinwesen<br />

und Universität wieder beleben.<br />

Schlussfolgerung<br />

Im Zeitalter der Globalisierung sind die Gemeinwesen<br />

nicht untergegangen, aber sie sind unterschiedlich,<br />

11


fragmentiert und im Fluss. Um stark und verjüngt<br />

zu werden, brauchen die Gemeinwesen eine Form<br />

von Gemeinwesenaufbau, der die unterschiedlichen<br />

Interessen im Gemeinwesen überbrücken kann und<br />

eine Plattform für seine Mitglieder bietet, sich in permanenter<br />

Aushandlung mit dem Ziel strategischer<br />

Solidarität zu engagieren. Mit seinem geschichtlich<br />

verbürgten Erfolg bei der Brückenbildung über gesellschaftliche<br />

Unterschiede hinweg und bei der Generierung<br />

<strong>sozial</strong>en Kapitals, spielt das Settlement-Haus<br />

eine wichtige Rolle im Gemeinwesenaufbau unter<br />

den Bedingungen der Globalisierung. Die Wiederbelebung<br />

des Settlement-Hauses ist eine Verpflichtung<br />

auch für die Sozialarbeits-Profession, eine Profession,<br />

die ihre Wurzeln in der Settlement-Bewegung und<br />

eine Aufgabe im Gemeinwesenaufbau hat.<br />

Übersetzt von Herbert Scherer<br />

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Haworth Press<br />

Inc.<br />

Das Original des Artikels ist unter dem Titel<br />

„Bridging the Fragmented Community: Revitalizing<br />

Settlement Houses in the Global Era“ im Journal of<br />

Community Practice, Vol. 12(1/2) 2004 erschienen<br />

© des englischen Originals Haworth Document Delivery<br />

Service: 1-800-HAWORTH.<br />

Der Originaltext kann hier (gegen Gebühr) bezogen<br />

werden.<br />

E-mail address: docdelivery@haworthpress.com<br />

Konditionen auf der Website von Haworth Press: http:<br />

//www.haworthpress.com/web/COM<br />

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12


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Dokumentation<br />

Aus Erfahrung gut -<br />

Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Inovation<br />

20. April 2005<br />

12.00 bis 16.00 Uhr<br />

Rotes Rathaus / Berlin<br />

12. 00 Uhr Ankunft der Gäste, Kaffee und Imbiss<br />

12.30 Uhr Auftakt: Theater der Erfahrungen<br />

12.45 Uhr Begrüßung und Einleitung<br />

Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit, Soziales<br />

und Verbraucherschutz<br />

13.00 Uhr „Aktivsein für bürgerschaftliches Engagement“<br />

André Schmitz, Staatssekretär, Chef der Senatskanzlei,<br />

Beauftragter für Bürgerschaftliches Engagement<br />

13.20 Uhr „Im Fadenkreuz der Wirtschaft - ältere Menschen als Kunden und Mitwirkende“<br />

Frank Leyhausen, MedCom, Bonn<br />

13.40 Uhr „Age exchange and social engagement - a vision for the future“<br />

Pam Schweitzer, Age Exchange, London<br />

14.00 Uhr Zwischenspiel: Theater der Erfahrungen<br />

14.15 Uhr „Potenziale des Alters erkennen - ein überfälliger Paradigmenwechsel‘<br />

Georg Zinner, Geschäftsführer Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V.<br />

14.30 Uhr Diskussion mit:<br />

- Dr. Petra Leuschner, Staatssekretärin für Soziales, Senatsverwaltung<br />

Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz<br />

- Dr. Dorothea Kolland, Leiterin Kulturamt Berlin-Neukölln<br />

- Siegfried Rehberg, BBU-<strong>Verband</strong> Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen e. V.<br />

- Dr. Christian Hanke, Sozialstadtrat Berlin-Mitte<br />

- Michael Freiberg, Stadtrat für Gesundheit Berlin-Neukölln<br />

- Oswald Menninger, Geschäftsführer Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />

Moderation: Dr. Stefanie Schulze, Vorsitzende des Ausschusses Soziales und Gesundheit<br />

16.00 Uhr Schlusswort<br />

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />

Veranstalter:<br />

BERLIN<br />

NACHBARSCHAFTSHEIM SCHÖNEBERG E.V.<br />

<strong>Verband</strong> für<br />

<strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.<br />

13


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Aus Erfahrung gut<br />

Zum Auftakt der Veranstaltung singt das „Theater<br />

der Erfahrungen“ ein schwungvolles Lied, in dem es<br />

heißt: „Ihr werdet euch noch wundern, die Alten ziehn<br />

durch’s Land ...“ Und so, wie die älteren und alten<br />

Damen vor den Zuhörern mitreißend swingen, kann<br />

man sich durchaus vorstellen, dass sich dadurch einiges<br />

verändern könnte, wenn die Alten durch’s Land<br />

ziehen. „Mit 88 Jahren sind wir noch gut in Schuss ...“,<br />

wahrhaftig, sie halten sich nicht nur beweglich auf<br />

den Beinen, sondern strahlen sogar optimistische<br />

Kraft aus.<br />

Die Theatergruppe „Die Spätzünder“ spielt Szenen<br />

aus ihrem Stück „Die viehische Komödie“, in dem es<br />

um Alleinsein, die Bereitschaft zum Sterben und um<br />

Profiteure der unerfahrenen Gutwilligkeit vieler alter<br />

Menschen ging. Ein sehr alter Kranich, der Letzte<br />

seiner Familie, hat sich entschlossen, das Ende seines<br />

Lebens nicht an der Müritz, sondern in Berlin zu verbringen.<br />

Noch einmal mit letzter Kraft das Abenteuer<br />

zu suchen und vielleicht auch Freunde zu finden.:<br />

„Noch mal verrückt sein und aus allen Ängsten fliehn“.<br />

Auf dem Friedhof trifft er auf eine Ratte, die sich als<br />

Beerdigungsunternehmer durchschlug. Wie hier zwei<br />

Welten aufeinander prallen – der clevere, skrupellose<br />

Organisator stimmungsvoller Beerdigungs-„Events“<br />

und der zarte, weltfremde Kranich – das hat professionelles<br />

Niveau.<br />

Begrüßung und Einleitung<br />

Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit,<br />

Soziales und Verbraucherschutz:<br />

„Was soll ich jetzt noch zu<br />

Potenzialen des Alters sagen,<br />

wo wir hier gerade so eindrücklich<br />

erleben konnten,<br />

welche Potenziale in dieser<br />

Stadt vorhanden sind.“<br />

Der Senatorin liegt daran,<br />

dass in der Gesellschaft die Erfahrungen alter Menschen<br />

sehr viel stärker als Erfahrungs-Schatz erkannt<br />

und genutzt werden. „Dass hier Veränderungen nötig<br />

sind, das spüren wir alle. Und angesichts der demographischen<br />

Entwicklung und der damit verbundenen<br />

<strong>sozial</strong>politischen Herausforderungen muss eine moderne<br />

Seniorenpolitik Rahmen dafür schaffen, dass<br />

das Altern in Würde sichergestellt wird. Und das heißt<br />

immer auch: sich einmischen, Teilhabe an gesellschaftlichen<br />

Prozessen zu ermöglichen.“<br />

Bisher standen im Zusammenhang mit alten Menschen<br />

Fragen der Pflege und Versorgung im Mittelpunkt.<br />

Und das bleibt selbstverständlich ein sehr<br />

wichtiger Bereich. „Aber es wäre verheerend, die<br />

Fragen des Alterns auf diese Fragen zu reduzieren.“<br />

Immer noch hat die Gesellschaft ein schlechtes und<br />

falsches Bild von alten Menschen, was sich in Schlagworten<br />

wie „Überalterung“ und „Vergreisung“ niederschlägt.<br />

Die Vielfalt der Lebenslagen der älteren Generation<br />

muss hingegen in den Blick gerückt werden.<br />

Wie auch im letzten Gesundheitsbericht in Zahlen belegt<br />

ist, heißt Altwerden eben nicht mehr nur Krankheit<br />

und Pflegebedarf. Altsein bedeutet mehr und<br />

mehr auch Aktivität und sich einmischen. Frau Dr. Knake-Werner<br />

betont, dass die große Gruppe der aktiven<br />

50- bis 80jährigen, die heute in der Wahrnehmung der<br />

Gesellschaft einfach ausgeblendet wird, mit all ihren<br />

Aktivitäten zur Kenntnis genommen werden muss.<br />

Denn diese Gruppe wird im Jahre 2050 die Mehrheit<br />

der Bevölkerung stellen.<br />

Es gilt, in den kommenden Jahren Bedingungen zu<br />

schaffen, die für die jung gebliebenen Alten attraktiv<br />

sind, die sie in <strong>sozial</strong>e Prozesse einbinden, die ihnen<br />

verantwortungsvolle Aufgaben anvertrauen. Wenn<br />

dies nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass das gesellschaftliche<br />

Zusammenleben in dieser Stadt aus der<br />

Balance gerät und dass <strong>sozial</strong>e Netze, die wir mehr<br />

denn je brauchen, zerfallen.<br />

Die Senatorin ist davon überzeugt, dass sich nicht<br />

jeder ältere Mensch ein Leben als „Oma im Schaukelstuhl<br />

oder als Opa im Gemüsebeet“ wünscht. Im Gegenteil:<br />

„Die meisten Älteren wollen heute viel mehr,<br />

sie sind vielfältig interessiert und heute mit Dingen<br />

beschäftigt, für die ihnen früher die Zeit und die Kraft<br />

fehlten. Gerade die Älteren kombinieren ihr Können<br />

und ihre Fähigkeiten mit Erfahrung, Solidität und<br />

Kontinuität. Und ist es nicht so, dass wir uns alle genau<br />

so die eigene Zukunft vorstellen – möglichst gesund,<br />

<strong>sozial</strong> eingebunden und selbstbestimmt“ Bei einer<br />

aktivierenden Seniorenpolitik kommt es darauf an,<br />

das gesellschaftliche Engagement älterer Menschen<br />

zu fördern, die Bereitschaft, etwas für sich selbst, aber<br />

auch für andere zu tun, positiv aufzugreifen.<br />

Es gibt von der Sozialverwaltung geförderte Koordinierungsstellen,<br />

die diese beiden Aufgaben in<br />

sinnvoller Weise bündeln: Hilfebedarf anmelden und<br />

sich ehrenamtlich einbringen. Wer sich ehrenamtlich<br />

betätigt, tut das aus einem <strong>sozial</strong>en, politischen, gesellschaftlichen<br />

Anliegen heraus. Egal, ob er seinem<br />

pflegebedürftigen Nachbarn zur Seite steht oder ob<br />

er oder sie – wie die Spielerinnen und Spieler des<br />

14


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Theaters der Erfahrungen dies tun – ihre Lebenserfahrungen<br />

und ihre politischen Anliegen mit lauten<br />

und leisen Tönen der Öffentlichkeit nahe bringen; ob<br />

sie mit Schülerinnen und Schülern im gemeinsamen<br />

Workshop darüber reden, was sie als Ältere in den<br />

Zeiten von Krieg und Unterdrückung erleben mussten.<br />

Ob im Sport, auf <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>m Feld, beim<br />

Vorlesen in der Schule, der Nachhilfe im Jugendfreizeitheim,<br />

beim Generationen übergreifenden Dialog<br />

über unterschiedliche Wohnbedürfnisse – die Liste<br />

des möglichen Engagements ist lang und die Zahl der<br />

Engagierten groß. Und die Bereitschaft zum Mitmachen<br />

ist viel größer, als allgemein angenommen wird.<br />

Sie in Praxis umzusetzen, dazu sind Ermunterung und<br />

eine unterstützende Infrastruktur nötig, wie sie beispielsweise<br />

die Stadtteil- und Nachbarschaftszentren<br />

bieten. „Mit anderen Worten: Wir können und müssen<br />

die Gruppe der engagierten älteren Menschen dazu<br />

einladen, gemeinsam mit uns die gesellschaftlichen<br />

Aufgaben zu lösen.“<br />

Die Senatorin versichert, dass die Lebenslagen der<br />

älteren Menschen in Berlin ein Schwerpunkt zukünftiger<br />

Senatspolitik sein werden. „Den Veränderungen<br />

in den Lebensgewohnheiten und –bedürfnissen dieser<br />

wachsenden Bevölkerungsgruppe soll Rechnung<br />

getragen werden, und wir werden sie auch weiterhin<br />

im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten fördern.“<br />

Die Verwaltung will im Hinblick auf eine „ganzheitlich<br />

strukturierte Altenpolitik“ gemeinsam mit den<br />

institutionalisierten Seniorenvertretungen prüfen,<br />

in welcher Richtung Veränderungen im Sinne einer<br />

besseren Partizipation der älteren Bevölkerung notwendig<br />

sind.<br />

„Die Berliner Seniorenpolitik wird auch in Zukunft von<br />

dem Grundsatz geprägt sein, ein Altern in Würde zu<br />

ermöglichen. Dazu ist es unerlässlich, die Selbständigkeit,<br />

Selbstbestimmung und Teilhabe der älteren<br />

Generation zu erhalten und zu stärken und dabei<br />

auch die unterschiedlichen Interessen von Frauen<br />

und Männern zu berücksichtigen.“ Das gilt ganz<br />

besonders für das Wohnen im Alter. Hier existieren<br />

mitlerweile unterschiedliche alternative Wohnformen<br />

als Alternative zur Heimunterbringung. Die Weiterentwicklung<br />

professioneller Hilfesysteme, die auch bei<br />

umfangreicher werdendem Hilfe- und Pflegebedarf<br />

ein Leben in der selbst gewählten Häuslichkeit und<br />

Nachbarschaft ermöglicht, ist eine wichtige unterstützende<br />

Zukunftsaufgabe. Auf Grund der Vereinzelung<br />

der Gesellschaft werden <strong>sozial</strong>e Netzwerke teilweise<br />

familiäre Strukturen ersetzen müssen. Selbstorganisation,<br />

Selbsthilfe, ehrenamtliches und bürgerschaftliches<br />

Engagement müssen auch deshalb gefördert<br />

werden. „Die Lebenserfahrung und das Erfahrungswissen<br />

der älteren Generation sind häufig unvollständig<br />

genutzte gesellschaftliche Potenziale, die es zu erhalten<br />

und zu reaktivieren gilt. Darauf kann und sollte die<br />

Gesellschaft nicht verzichten.“<br />

Nicht zuletzt sieht der Senat auch eine Aufgabe darin,<br />

den in Berlin lebenden älteren Menschen ausländischer<br />

Herkunft die Teilhabe an den <strong>kulturelle</strong>n, <strong>sozial</strong>en<br />

und gesundheitlichen Angeboten zu ermöglichen.<br />

In nur 5 Jahren wird sich die Zahl der über 65jährigen<br />

Migrantinnen und Migranten auf 28.700 verdoppelt<br />

haben. Frau Dr. Knake-Werner weist darauf hin, dass<br />

diese Bevölkerungsgruppe verstärkt auf die Dienste<br />

der offenen und stationäre Altenhilfe angewiesen sein<br />

wird. Weshalb sie dringend einer intakten Informations-<br />

und Beratungsinfrastruktur bedarf.<br />

André Schmitz, Staatssekretär, Chef der Senatskanzlei,<br />

Beauftragter für Bürgerschaftliches Engagement:<br />

„Aktiv sein für bürgerschaftliches Engagement“<br />

Dieses Thema vereint die europäischen<br />

Länder, es reicht<br />

weit über den Berliner Horizont<br />

hinaus. Große Metropolen<br />

erfüllen beim Blick auf<br />

die sich wandelnden Gesellschaften<br />

die Funktion eines<br />

Seismographen, hier erkennt man Entwicklungsprozesse<br />

und Trends früher als in ländlichen Gebieten.<br />

„Man kann bei nüchternem Blick auf die Metropolen<br />

auch früher Schlussfolgerungen ziehen und Konzepte<br />

für eine Gesellschaft des langen Lebens entwickeln,<br />

sogar innovative Modelle in die Praxis umsetzen.“ Das<br />

ist allerdings mit Risiken verbunden, „denn es gibt<br />

keine Blaupausen für die Probleme und Risiken, die<br />

wir in den nächsten Jahrzehnten mit alternden Gesellschaften<br />

bewältigen müssen. Und dabei können wir<br />

auf alte Erfahrungen nicht zurückgreifen.“ Darin sieht<br />

Herr Schmitz allerdings auch die Chance, neue Modelle<br />

zu erproben. Berlin hat schon heute 100.000 „hochaltrige“<br />

Menschen, d.h. sie sind über 80 Jahre, wovon<br />

30.000 älter als 90 Jahre sind.<br />

Schon in den 80er Jahren war deutlich, dass Europa<br />

am Anfang dieses Jahrtausends weltweit die geringste<br />

Geburtenrate und den höchsten Anteil älterer Menschen<br />

aufweisen würde. Die Europäische Kommission<br />

hat darauf mit dem Konzept des „Lebenslangen Lernens“<br />

geantwortet. Dessen Grundgedanke ist, dass<br />

„Bildung nicht an Altersgrenzen Halt machen darf,<br />

sondern alle Bürgerinnen und Bürger daran Anteil haben<br />

sollen.“ Die komplementäre Erweiterung dieses<br />

Konzeptes, steht unter dem Motto: „Aktiv alt werden<br />

am <strong>Arbeit</strong>splatz“. Im Hinblick auf einen absehbaren<br />

<strong>Arbeit</strong>skräftemangel scheint dieses Konzept wirtschaftlich<br />

sehr sinnvoll zu sein. Daher wird die Europäische<br />

Kommission in der nächsten Legislaturperiode<br />

einen Schwerpunkt auf interdisziplinäre Projekte der<br />

Alterserforschung konzentrieren. Hierbei wird auch<br />

Berlin, als „Stadt des Wissens“ und der Forschung wieder<br />

gefragt sein. Gleichzeitig entwickelte die Europäische<br />

Kommission eine Anti-Diskriminierungspolitik,<br />

15


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

die das Alter als möglichen Diskriminierungsgrund<br />

mit einbezieht. „Das ist ein wichtiger Impuls zum Abbau<br />

von Vorbehalten gegenüber älteren Menschen.“<br />

Die Verwaltungsressorts in Berlin in diesem Punkt<br />

enger zu verknüpfen, anstatt das Problem nur einem<br />

Ressort zuzuschieben, sieht der Staatssekretär dabei<br />

als eine der großen Aufgaben an.<br />

Um Anregungen für Lösungsmöglichkeiten zu finden,<br />

kann man sich durchaus auch in anderen Ländern<br />

umschauen. So ist etwa die Stadt Baltimore in den<br />

USA zu einer Modellstadt für eine alternde Gesellschaft<br />

ernannt worden. „Dort sollen alle Ressorts der<br />

Stadtverwaltung, von der Bau-, Wirtschafts- und Verkehrsplanung<br />

bis zu den klassischen Ressorts der Gesundheits-<br />

und Sozialplanung Außerordentliches und<br />

Vorbildliches leisten, um zukunftsweisende Modelle<br />

für alle Städte der Vereinigten Staaten zu erproben.<br />

Das sollte man sich einmal näher anschauen, denn<br />

man kann schließlich nicht alles immer selber erfinden.“<br />

Für Berlin sieht Staatssekretär Schmitz eine reelle<br />

Chance, „Trendsetter für Europa“ zu werden. „Es gibt in<br />

dieser Stadt genügend Potenziale, um hier auch mit<br />

Ihrer Hilfe Akzente zu setzen, an deren Umsetzung wir<br />

dann gemeinsam arbeiten können.“<br />

Frank Leyhausen, Unternehmensberater<br />

MedCom, Bonn:<br />

„Im Fadenkreuz der Wirtschaft – ältere Menschen als<br />

Kunden und Mitwirkende“<br />

Die Landesregierung in<br />

Nordrhein-Westfalen hat<br />

ein Aktionsprogramm für<br />

Senioren aufgelegt, durch<br />

das mit Betrieben und<br />

Non-profit-Unternehmen,<br />

gemeinsam mit Senioren<br />

neue Produkte zu entwickeln.<br />

Es befassen sich inzwischen sehr viele Bereiche<br />

mit der Zielgruppe alter Menschen. Auch Unternehmen<br />

sind inzwischen an den Älteren interessiert, denn<br />

im Jahr 2050 werden sie mehr als die Hälfte der Bevölkerung<br />

in Deutschland ausmachen. Heute schon ist jeder<br />

dritte Mensch 50 Jahre und älter. Alte Leute haben<br />

durchschnittlich gesehen relativ hohe Vermögensbestände,<br />

ein Grund für Banken, sich mit ihnen zu befassen.<br />

Auch die monatliche Kaufkraft ist in dieser Altersgruppe<br />

überdurchschnittlich hoch. Hinzu kommt,<br />

dass gerade Ältere vielen sich schnell verändernden<br />

Dingen des Lebens relativ hilflos gegenüberstehen.<br />

Weshalb sie auf Beratungs- und Schulungsservice angewiesen<br />

sind, den sie auch bereit sind zu bezahlen.<br />

Daraus folgert Frank Leyhausen, „ ... dass es für Unternehmen<br />

wieder Sinn macht, sich mit ihren Kunden<br />

auseinander zu setzen und nicht nur Produkte auf den<br />

Markt zu werfen.“ Denn ältere Menschen sind in ihrer<br />

großen Mehrzahl anspruchsvolle Kunden, die nicht<br />

nur Geld haben, sondern auch die Zeit, sich intensiv<br />

mit ihren Konsumwünschen zu beschäftigen. Und sie<br />

haben Lebenserfahrung, die dazu führt, dass sie letztendlich<br />

sehr genau wissen, was sie wollen. Verkäufer<br />

schrecken häufig vor so einer Konfrontation zurück.<br />

In Köln gibt es einige Beispiele dafür, die sehr unterschiedlichen<br />

kleinen Zielgruppen der über 50jährigen<br />

in ihrer Eigenschaft als Kunden differenziert anzusprechen.<br />

So gibt es etwa „Discount-Bestatter“. Oder<br />

es gibt einen Seniorentag im „Pascha“, dem größten<br />

Bordell in Köln. Aber auch im Service-Bereich hat sich<br />

dort etwas getan. Wenn man davon ausgeht, dass<br />

heute viele technische Produkte einen viel kürzeren<br />

Lebenszyklus haben, bedeutet das, dass die Verbraucher<br />

ständig neu Bedienung und Anwendung von Geräten<br />

lernen müssen. Das größte Manko beim Verkauf<br />

von Produkten ist in den Augen von Herrn Leyhausen<br />

die mangelnde Beratung älterer Kunden.<br />

In der Unsicherheit von älteren Menschen bei der Informationsbeschaffung<br />

– wen kann ich fragen, wem<br />

kann ich glauben, was und wo kaufe ich, welches Produkt<br />

wird meinem Bedarf gerecht, wie gehe ich damit<br />

um – liegt andererseits ein großes Potenzial. „Wir, die<br />

MedCom, wollen eine Wirtschaft, die Menschen unterstützt.<br />

In diesem Sinne beraten wir Unternehmen,<br />

die neue Produkte verkaufen wollen, dass sie ihr Geld<br />

auch in die notwendige Beratung der Käufer stecken<br />

müssen.“ Man hat etwa herausgefunden, dass jeder<br />

Zweite, der ein Handy kaufen will, eine „Kaufblockade“<br />

hat, weil er nicht versteht, wie es funktioniert und worin<br />

die Unterschiede zwischen diesem und jenem Modell<br />

bestehen. „Da muss die Industrie doch schon selber<br />

sehen, dass hier etwas getan werden muss,“ meint<br />

Herr Leyhausen. Er hat selber die Erfahrung gemacht,<br />

dass fast durchgängig die in der Regel jungen Verkäufer<br />

von Mobilfunk ältere Kunden in ihrem Informationsbedarf<br />

nicht ernst nehmen. Als Konsequenz davon<br />

hat MedCom zusammen mit Vodafone eine Grundlagen-Fibel<br />

geschrieben, worin erklärt wird, „was das<br />

Handy überhaupt ist“. Das hat ihnen innerhalb eines<br />

Jahres 35.000 Presse-Anfragen gebracht, und es wurden<br />

250.000 Broschüren angefordert, großteils auch<br />

von Senioreneinrichtungen.<br />

„Das war offensichtlich für ältere Leute sehr hilfreich.<br />

Und natürlich ist so etwas auch konsumfördernd. Aber<br />

natürlich entscheidet der Kunde selber, wenn er die<br />

Funktionsweise einmal verstanden hat, für welches<br />

Produkt er letztlich sein Geld ausgibt.“<br />

Gemeinsam mit Vodafone, der Deutschen Seniorenliga<br />

und Volkshochschulen wurden Handy-Kurse entwickelt<br />

für Einsteiger jeden Alters. Mit dieser Art von<br />

Marketing, so meint Herr Leyhausen, kann man auch<br />

sehr gut Non-profit-Organisationen stützen. Auch Bildungsträger<br />

müssen sich in diesen Zeiten knapperer<br />

Budgets Gedanken darüber machen, Finanzierungsmöglichkeiten<br />

für die Umsetzung ihres Bildungsauftrags<br />

aufzutun. Die Gewinner dieses Projektes waren<br />

16


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

in erster Linie die älteren Menschen, die sich durch<br />

die Handy-Schulung ihren Platz in einem Bereich der<br />

modernen Technikwelt erobern konnten. Viele waren<br />

danach in der Lage, anderen ihr frisch erworbenes<br />

Wissen mit großem Einfühlungsvermögen weiter zu<br />

vermitteln.<br />

Frank Leyhausen stellt zum Schluss noch einmal die<br />

Grundprinzipien seiner <strong>Arbeit</strong> zusammen: „Produkte<br />

erklären – mit Kunden Produkte entwickeln – nicht<br />

nur darauf schauen, was sich verkaufen lässt, sondern<br />

auch fragen, was die Leute wollen. Unsere Gesellschaft<br />

versenkt gerade einen ganzen Erfahrungsschatz,<br />

indem sie Menschen mit 58 Jahren in Frührente<br />

schickt.“<br />

Pam Schweitzer, Age Exchange, London:<br />

„Age Exchange and Social Engagement – a Vision<br />

for the Future“<br />

Pam Schweitzer begann<br />

ihre <strong>Arbeit</strong> vor 23 Jahren<br />

als “Erinnerungsarbeit”<br />

mit älteren Menschen. Sie<br />

wollte jedoch nicht etwa<br />

das Gedächtnis der Leute<br />

trainieren und verbessern,<br />

sondern sie war an ihren<br />

Erinnerungen interessiert. Die Engländerin kommt<br />

von der Theater- und Erziehungsarbeit. Also dachte<br />

sie beim Zuhören, wenn 80Jährige ihre Geschichten<br />

erzählten: „Erstens würde daraus ein tolles Theaterstück<br />

werden. Und außerdem sollten Jugendliche sich<br />

diese Geschichten anhören, daraus könnten sie viel<br />

über die Vergangenheit lernen.“ So begann sie mit der<br />

Produktion von Theaterstücken in Schulen, wo junge<br />

Menschen sich die Geschichten von Alten anhörten<br />

und dann daraus Theaterszenen schrieben. Für junge<br />

Menschen war das eine wunderbare Möglichkeit, etwas<br />

über ihre Vergangenheit zu lernen und zu verstehen,<br />

woher sie kommen.<br />

Warum ist gerade das Theater ein so gutes Mittel<br />

zum Verständnis zwischen Jung und Alt „Ich glaube,<br />

wenn man aus dem Leben eines Menschen eine Theateraufführung<br />

machen will, dann muss man dieses<br />

Leben wirklich gut verstehen. Man muss es in sich<br />

aufnehmen, zu einem Teil der eigenen Erfahrung machen<br />

– und es dann überzeugend spielen.“ Um das<br />

Leben eines anderen Menschen zutiefst zu verstehen,<br />

ist es notwendig, sehr viele Fragen zu stellen und<br />

sehr aufmerksam auf die Antworten zu hören. Zum<br />

anderen mussten die jungen Schauspieler ständig auf<br />

den alten Menschen sehen und immerzu fragen, ob<br />

sie etwas richtig verstanden hatten oder nicht. Denn<br />

der alte Mensch ist in dieser Situation der Experte, der<br />

Experte seines eigenen Lebens.<br />

„Ich erzähle Ihnen dieses, weil ich denke, dass eine<br />

ganze Reihe von Initiativen für alte Menschen sich<br />

dieses Erfahrungsschatzes und des Expertentums<br />

nicht bewusst sind und sie nicht nutzen, obwohl ihnen<br />

doch dieser Reichtum zur Verfügung steht.“<br />

Nachdem sie einige Jahre aus den Erinnerungen alter<br />

Menschen Theater gemacht hatte – manchmal mit<br />

professionellen Schauspielern, manchmal mit Laien<br />

oder auch mit alten Leuten selber – entschloss sie<br />

sich, in London-Blackheath ein Zentrum der Erinnerungen<br />

zu eröffnen, und zwar ein Nachbarschaftszentrum,<br />

wo Jung und Alt zusammentreffen können. Im<br />

Laufe der letzten zwanzig Jahre machte sie dort die<br />

Erfahrung, „ ... dass es sehr, sehr viele Arten gibt, alte<br />

Menschen zu ermutigen, in diesem Zentrum einen<br />

Beitrag zu leisten für das Zusammenleben der verschiedenen<br />

Kulturen und Generationen.“ Ein Beispiel<br />

hierfür sind ständig wechselnde neue Ausstellungen<br />

zum Thema Erinnerung, auch mit audio-visuellen<br />

Displays. So werden die verschiedensten Menschen<br />

die ganze Zeit involviert, z.B. Menschen, die an der<br />

Themse gearbeitet haben, der seinerzeit ein sehr emsiger<br />

Fluss mit viel Verkehr und Lagerhäusern war. So<br />

kommen laufend Leute in das Zentrum, die von den<br />

Erfahrungen der Älteren lernen und daran ihre Freude<br />

haben.<br />

„Als ich 1987 dieses Zentrum eröffnete, glaubte ich, es<br />

würde nur ein Experiment für ein Jahr sein. Ich dachte,<br />

dass nur wenige Leute kommen würden, nur Wenige<br />

gerne Geschichten von sich selbst erzählen würden.<br />

Das war ein Irrtum. Denn sehr bald schon waren es<br />

zwischen 20.000 und 30.000 Menschen jährlich, die<br />

hereinkamen.“<br />

Warum kamen sie, was war in ihren Augen das Besondere<br />

hier Pam Schweitzer glaubt, dass sie in eine<br />

ausgesprochen anregende, ermutigende Umgebung<br />

17


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

18<br />

kamen. „Sie konnten einfach zur Tür hereinspazieren,<br />

wo sie in einem kleinen Nachbarschafts-Museum alles<br />

ansehen, anfassen, oft sogar riechen können. Und<br />

sie können darüber reden und auch eigene Aspekte<br />

einbringen und mitmachen.“ Die Menschen kommen<br />

auch, weil sie hier Wertschätzung erfahren. Sie können<br />

hereinkommen und eine Tasse Tee trinken – und sich<br />

einfach als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Und nicht<br />

etwa als Teil einer separierten Gruppe alter Leute an<br />

einem separierten Ort.<br />

„Bei uns gibt es etwa 60 Ehrenamtliche, die alle ältere<br />

Menschen im Alter zwischen 55 und 80 Jahren sind.“<br />

Jeder hat eine feste Zeit in der Woche, zu der sie oder<br />

er kommt und bei all den verschiedenen Aktivitäten<br />

hilft und mitmacht. Sie leiten in diesen festen Zeiten<br />

in einer kleinen Gruppe gemeinsam das Zentrum. Einige<br />

von ihnen arbeiten auch in Schulen und nehmen<br />

am Unterricht teil.<br />

In den letzten 5 Jahren hat sich Pam Schweitzer darauf<br />

konzentriert, speziell mit zwei Gruppen von alten<br />

Leuten zu arbeiten: die eine sind ältere Menschen von<br />

ethnischen Minderheiten; die andere Gruppe sind<br />

Demenzkranke, die noch in ihren Familien leben oder<br />

auch bei anderen Menschen. Sie erinnern sich sehr<br />

wohl an Dinge, die lange zurückliegen, und wenn diese<br />

Erinnerungen auf Interesse stoßen und für andere<br />

wertvoll sind, haben sie das Gefühl, dass sie noch immer<br />

etwas zu geben haben und dass sie noch Teil der<br />

Gemeinschaft sind.<br />

„London ist eine sehr bunt durchmischte multi<strong>kulturelle</strong><br />

Stadt. Und da gibt es jetzt auch sehr viele ältere<br />

Leute. Manche Menschen sehen das als Problem an.<br />

Für andere wiederum ist gerade das eine Chance.“ Es<br />

wurden Theaterstücke entwickelt von alten Leuten<br />

aus ethnischen Minderheiten, von denen nicht alle<br />

Englisch sprechen, gemeinsam mit jungen Leuten,<br />

und zwar mit sehr viel Erfolg. Es sind afrikanische alte<br />

Menschen in die Schulen gegangen, angetan mit ihren<br />

prachtvollen bunten Gewändern, um dort davon<br />

zu erzählen, wie das war, in einem afrikanischen Dorf<br />

aufzuwachsen. Sie haben den Kindern von der Bedeutung<br />

ihrer afrikanischen Namen erzählt. Es gibt so<br />

viel Erfahrungsaustausch und sehr viel Lebenswissen<br />

zu vermitteln, und das ist für das Identitätsgefühl der<br />

Kinder sehr wichtig.<br />

„Das Leben kann für alte Menschen sehr einsam sein,<br />

besonders für solche aus ethnischen Minderheiten.<br />

Wir haben in London sehr viele Treffpunkte für die<br />

verschiedensten Gruppen geschaffen. Dort treffen<br />

sie auf Menschen, mit denen sie die gleichen Erfahrungen,<br />

die gleichen Vorlieben für Essen oder Musik<br />

teilen. Viele gehen da hin, um sich geborgen zu fühlen<br />

– und dann gehen sie auch irgendwann raus, um<br />

Kinder zu treffen, Weiße, Leute aus unterschiedlichen<br />

Kulturen. Schritt für Schritt geht das vor sich. Und es<br />

verändert Einstellungen und Haltungen gegenüber<br />

dem Fremden.“ Die Menschen empfinden es nach<br />

solchen Begegnungen eher als positiv, in einer multi<strong>kulturelle</strong>n<br />

Gesellschaft zu leben.<br />

Da Pam Schweitzer nun vor der Tatsache steht, in<br />

allernächster Zeit selber zu den Alten und Rentnern<br />

zu gehören, fragt sie sich, ob irgendjemand sie dann<br />

noch brauchen wird. Wem kann sie dann etwas von<br />

ihrer vielen Zeit geben Und welche Qualitäten sollte<br />

ein Ort haben, an dem sie ihre Zeit einbringen möchte<br />

Sie könnte sich vorstellen, dass sie zunächst mal<br />

nur ein bisschen machen würde, um zu sehen, ob es<br />

ihr gefällt. Sie würde sich nicht sofort verpflichten<br />

wollen, für die nächsten zehn Jahre jeden Tag dort zu<br />

verbringen. Und sie würde zwar einerseits gern etwas<br />

Neues machen – aber es wäre auch schön, wenn ihre<br />

speziellen Fähigkeiten gefragt wären. Und sie hätte<br />

sehr gern auch junge Menschen um sich, nicht immer<br />

nur Alte. Sie möchte neue Freundschaften schließen.<br />

Ein bisschen Verantwortung tragen wäre gut – aber<br />

nicht zu viel. „Und ich glaube, ich würde da, wo ich<br />

arbeite, auch gern etwas zu sagen haben. Das würde<br />

mir das Gefühl geben, dass ich wirklich ein Teil wäre<br />

von dieser Organisation, in der ich arbeite.“ Etliche<br />

andere Dinge wären ihr noch wichtig, wie etwa, alle<br />

Reisekosten erstattet zu bekommen, wenn sie für die<br />

Organisation unterwegs wäre; oder auch dass sie umsonst<br />

Tee trinken und ein Sandwich essen dürfte. Und<br />

sie möchte, wenn sie eine regelmäßige Verpflichtung<br />

eingeht, nicht darauf festgenagelt bleiben, sondern<br />

Dinge selber entwickeln und eigene Initiativen ergreifen<br />

können. Mit anderen Worten: „Ich würde als Ehrenamtliche<br />

in einer Organisation ein Albtraum sein.“<br />

Und während sie den Zuhörerinnen ihren Konflikt<br />

darstellt, viele Jahre mit Ehrenamtlichen gearbeitet zu<br />

haben und jetzt bald vielleicht selber eine von ihnen<br />

zu sein, kommt sie lachend zu der Erkenntnis: „Ich<br />

glaube, ich will gar nicht als Ehrenamtliche arbeiten.<br />

Ich werde lieber am London-Marathon teilnehmen<br />

und ein ganzes Jahr darauf verwenden, mich dafür zu<br />

trainieren.“


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Georg Zinner<br />

Potenziale des Alters erkennen -<br />

ein überfälliger Paradigmenwechsel<br />

„Wir möchten dazu beitragen,<br />

dass sich in der Politik,<br />

in der Fachwelt und in der<br />

praktischen <strong>Arbeit</strong> ein Denken<br />

durchsetzt, das sich der<br />

Aktivierung, dem bürgerschaftlichen<br />

Engagement<br />

und dem Tatendrang der<br />

älteren Menschen verpflichtet fühlt“.<br />

1.<br />

Wenn wir uns heute in Berlin umschauen und die<br />

„Seniorenarbeit“ betrachten, so fällt es schwer, darin<br />

deutlich gesetzte fachliche oder politisch-strategische<br />

Gestaltungselemente zu entdecken.<br />

Zwar gibt es alle Anstrengungen, eine ausreichende<br />

Infrastruktur für pflegebedürftige, zumeist hochbetagte<br />

Menschen zu schaffen, die Entwicklung dringend<br />

benötigter neuer Wohn- und Pflegeformen bleibt aber<br />

eher der engagierten- Initiative Einzelner und dem einen<br />

oder anderen Investor oder Vermieter überlassen.<br />

Dort, wo große Einheiten nicht gefragt sind, „lohnt“<br />

es sich offensichtlich nicht, weder für die Betreiber,<br />

noch für die Wohnungsbaugesellschaften, noch für<br />

die politisch und fachlich-planerisch Verantwortlichen,<br />

zu investieren oder gestaltend tätig zu werden. Dabei<br />

wäre es so einfach:<br />

Wählen wir zur anschaulichen Beschreibung ein kleines<br />

Dorf.<br />

Dort gibt es vielleicht in jeder 10. Familie einen pflegebedürftigen<br />

Angehörigen. Unter großen Mühen<br />

und Anstrengungen organisiert jede der Familien für<br />

sich – mitunter auch unter Einschaltung eines Pflegedienstes<br />

– die hauswirtschaftliche und pflegerische<br />

Versorgung: morgens, mittags, abends. An sieben Tagen<br />

in der Woche, 365 Tage im Jahr. In dem Dorf wohnen<br />

50 Familien, so dass wir von 5 pflegebedürftigen<br />

Menschen ausgehen können. Würden sich diese fünf<br />

Familien zusammentun und gemeinsam ein Haus oder<br />

eine große Wohnung im Dorf anmieten, dann könnten<br />

sie gemeinsam professionelle Pflegekräfte engagieren<br />

und eine Betreuung rund um die Uhr sicherstellen. Die<br />

Angehörigen wären psychisch und physisch entlastet.<br />

Das familiäre Stresspotential würde sich vermindern<br />

und als Besucher in der Pflegewohnung wären sie<br />

eine willkommene Abwechslung. Die Pflegebedürftigen<br />

selbst wären zu keiner Zeit allein und fühlten<br />

sich sicher. Einige rüstige Senioren aus dem Dorf<br />

übernehmen für die Wohngemeinschaft zudem allerlei<br />

Aufgaben: sie kaufen ein, lesen vor, übernehmen<br />

Spaziergänge und Ausflüge und sie sorgen dafür, dass<br />

auch die jüngere Generation einspringt und mithilft:<br />

bei Reparaturen, bei Renovierungen, beim Ein- und<br />

Auszug und auch bei manchem Pflegedienst. So könnte<br />

Pflege – gemeinsam organisiert - kostengünstig und<br />

menschlich gestaltet werden. Nur auf dem Dorf Nein,<br />

genauso kann es sich in der Stadt auch ereignen. Ersetzen<br />

wir das Dorf einfach durch den „Wohnblock“.<br />

Warum können unsere Wohnungsbaugesellschaften<br />

und -genossenschaften nicht geeignete Wohnungen<br />

zur Verfügung stellen und sich zum Beispiel der<br />

Nachbarschaftszentren bedienen, um für ihre Mieter<br />

zu sorgen und vorzusorgen Diese sind in der Lage<br />

ehrenamtliches Engagement hierfür zu organisieren<br />

und verfügen zum Teil auch über eigenen ambulante<br />

Pflegedienste oder arbeiten mit befreundeten Diensten<br />

zusammen.<br />

Warum ich das hier anführe Weil ich damit sagen will,<br />

dass die Dinge – kleinräumig strukturiert - oft einfacher<br />

liegen, als sie sich „von oben“ betrachtet, insgesamt<br />

ansehen. Bürgerschaftliches Engagement stellt<br />

sich zudem „wie von selbst“ ein, wenn Kreativität und<br />

Gestaltungswillen sich auch auf diese unspektakulären,<br />

nur scheinbar zu kleinteiligen Lösungen, konzentrieren<br />

würde.<br />

Also jedem Berliner Wohnblock bitte seine Pflegewohngemeinschaft!<br />

Ich frage mich seit langem, warum<br />

die Wohnungsbaugenossenschaften und -gesellschaften<br />

noch nicht auf diesen Dienst für ihre Mieter<br />

gekommen sind. Nicht einmal dann, wenn ihnen die<br />

Organisation dafür abgenommen werden würde, wie<br />

ich persönlich feststellen mußte.<br />

2.<br />

Beenden wir den Ausflug in die Pflege,<br />

nicht ohne anzumerken, dass ein großer Teil der Lösung<br />

der Pflegeprobleme gerade in der Nutzung der<br />

Potentiale des Alters liegt. Denn viele unserer rüstigen<br />

alten Menschen sind bereit, sich zu engagieren, ob als<br />

gesetzlich bestellte Betreuer, als Mitarbeiter im Besuchs-<br />

oder Hospizdienst oder als den Alltag erleichternde<br />

Nachbarn von Pflegebedürftigen und selbstverständlich<br />

und vor allem auch als Angehörige.<br />

Was also spricht dagegen, die rüstige, gut ausgebildete,<br />

zum guten Teil auch finanzkräftige und unternehmungslustige<br />

Generation der jungen Alten einzuladen<br />

und zu bitten, unsere drängender werdenden<br />

Probleme bei der Versorgung Pflegebedürftiger lösen<br />

zu helfen und damit das Versprechen zu geben, bzw.<br />

zu erhalten, dass man eines Tages auch selbst eine<br />

entsprechende Hilfe erwarten kann und darf. Es gibt<br />

heute keinen Grund mehr dafür, Freiwilligen- und Zivildienste<br />

auf Jugendliche zu beschränken. Dass das<br />

Bundesfamilienministerium nun Modellprojekte startet,<br />

die ausdrücklich auch Erwachsene und die ältere<br />

Generation einladen, einen Freiwilligendienst „abzuleisten“,<br />

ist also durchaus zu begrüßen. In Berlin wird<br />

19


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

20<br />

dieser Freiwilligendienst für Erwachsene vom Paritätischen<br />

Wohlfahrtsverband übrigens in Zusammenarbeit<br />

mit einigen Nachbarschaftszentren umgesetzt,<br />

deren Kompetenz zur Gewinnung und Förderung<br />

vielseitigen ehrenamtlichen Engagements bekanntermaßen<br />

außergewöhnlich hoch ist.<br />

3.<br />

Versuchen wir eine Beschreibung der Seniorenarbeit<br />

in Berlin außerhalb der Pflege, so ist es außerordentlich<br />

schwer, Profiliertes darzustellen.<br />

Schauen wir uns nach der Infrastruktur um, so wissen<br />

wir, dass die zahlreichen bezirklichen Seniorentagesstätten<br />

eben nicht die zentralen Anlaufstellen für<br />

Angelegenheiten und Aktivitäten der Senioren in der<br />

Nachbarschaft oder im Stadtteil sind. Die bezirklichen<br />

Sozialkommissionen mit ihrem System des Besuchdienstes<br />

anlässlich von runden Geburtstagen sind<br />

in der Öffentlichkeit kaum bekannt und dass deren<br />

Mitgliedern Aufwandsentschädigung zusteht, aber<br />

anderen Besuchsdiensten nicht, oder zu schlechteren<br />

Konditionen, ärgert diese und ist naturgemäß auch<br />

nur schwer zu verstehen. Mit den Sozialkommissionen<br />

von heute kümmert im Verborgenen vor sich hin, was<br />

richtig bedacht und gelenkt der Öffentlichkeit als positives<br />

Beispiel von Engagement im Alter dargestellt<br />

werden könnte. Bei manchem Sozialstadtrat wird man<br />

den Eindruck nicht los, dass Seniorenarbeit für ihn<br />

noch immer „Kaffee und Kuchen“ und ein paar nette<br />

Worte zum Weihnachtsfest bedeuten. Jedenfalls habe<br />

ich nicht den Eindruck, dass Berlins Sozialstadträte<br />

ernsthaft und systematisch daran arbeiten, Senioren<br />

in großem Umfang und nachhaltig dafür zu gewinnen,<br />

aktiv an der Lösung unserer gesellschaftlichen Aufgaben<br />

mitzuwirken.<br />

Selbsthilfe in der Altenarbeit – eine schon lange gebrauchte<br />

Begrifflichkeit für eine Gruppe von Initiativen,<br />

die sich vornehmlich in der 80er Jahren vorgenommen<br />

haben, eingefahrene Bahnen zu verlassen und die Dinge<br />

– sozusagen als Experten in eigener Sache – in die<br />

Hand zu nehmen. Dafür steht das Sozialwerk Berlin,<br />

dafür stehen bundesweit die Grauen Panther, dafür<br />

stehen Offensives Altern als Initiative für gemeinsames<br />

Wohnen im Alter oder auch Miteinander Wohnen e.V.<br />

und andere, die, bei allen Verdiensten, allerdings nie zu<br />

einer breiten Selbsthilfebewegung der Älteren geworden<br />

sind.<br />

Nehmen wir als letztes Beispiel das Programm „Erfahrungswissen<br />

älterer Menschen nutzen“, ein Programm<br />

aus den achtziger Jahren, aus dem interessante Projekte<br />

entstanden: das Werkhaus Anti-Rost, Stadtführer,<br />

Schreibwerkstätten, auch das „Theater der Erfahrungen“.<br />

Das Programm wollte die Fertigkeiten, Fähigkeiten<br />

und eben Erfahrungen alter Menschen für die<br />

Gesellschaft, für die Allgemeinheit nutzbar machen<br />

und setzte damit damals schon genau dort an, worüber<br />

wir heute wieder diskutieren: bei den Potentialen<br />

des Alters. Wie so vieles, litt auch dieses Programm an<br />

den Eigenheiten kleiner Projekte, die sich nur ungern<br />

mit Partnern, beispielsweise den Stadtteilzentren,<br />

zusammentun und auf Dauer dann doch zu sehr von<br />

einzelnen Personen abhängig sind. Und es fehlte an<br />

der entschlossenen Steuerung der Politik dieses Programm<br />

zum Standard der Berliner Seniorenarbeit zu<br />

entwickeln!<br />

Schließlich noch einen Blick auf die Form der Altenarbeit,<br />

die im Verschwinden begriffen ist. Während in den<br />

Nachbarschaftszentren noch vor zwei Jahrzehnten<br />

festgefügte und straff geführte, auch selbstorganisierte<br />

Seniorengruppen in größerem Umfangt existierten,<br />

haben sich diese heute weitgehend aufgelöst in Hobbygruppen,<br />

in Sport- und Bewegungsangebote, in<br />

interessenorientierte Freizeitaktivitäten – sehr häufig<br />

ehrenamtlich geführt oder gemeinschaftlich organisiert.<br />

Wie selbstverständlich finden sich Senioren<br />

– das sind jedenfalls unsere Erfahrungen - auch in<br />

den „ganz normalen“ Kurs- und Gruppenangeboten<br />

für Erwachsene ein und ganz selbstverständlich sind<br />

sie auch überall dort zu finden, wo ehrenamtliches<br />

Engagement benötigt wird und zwar ebenfalls nicht<br />

als eigene altershomogene Gruppe, sondern als selbstverständlicher<br />

Bestandteil derjenigen, die sich für ein<br />

Ziel engagieren.<br />

4.<br />

So „verschwindet“ zwar eine Form, keinesfalls aber das<br />

Engagement, wie ich aus eigener Erfahrung berichten<br />

kann:<br />

So finden sich heute Senioren in den Kindertagesstätten<br />

um dort vorzulesen und Märchen zu erzählen<br />

oder den Garten zu pflegen, sie sind im Jugendfreizeitheim<br />

als Schularbeitshelfer tätig genauso wie im<br />

Türkischen Frauenladen KIDÖB oder im Treffpunkt für<br />

die Arabischen Frauen und Mädchen „Al Nadi“ wo sie<br />

den Mädchen bei den Schularbeiten helfen und Konversationsgruppen<br />

leiten, um das Deutsch der Frauen<br />

zu verbessern.<br />

Sie sitzen in Büros des Nachbarschaftsheims und<br />

setzen ihre beruflichen Fertigkeiten ein, unterstützen<br />

Demenzkranke und ihre Angehörigen im Rahmen


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

leisten werden. Warum Weil sie Gewinn für sich<br />

selber daraus ziehen können: sie erhalten dafür<br />

<strong>sozial</strong>en Kontakt, Anerkennung, Zuwendung und<br />

die Gewissheit, etwas bewegen zu können oder<br />

bewegt zu haben. Auf diese Weise ist alten Menschen<br />

nicht nur die Rente „sicher“, sondern auch<br />

ein „Lebensgewinn“ – wenngleich ersteres – damit<br />

niemand auf falsche Ideen kommt – damit<br />

auf keinen Fall ersetzt werden soll. Im Gegenteil:<br />

ein guter <strong>sozial</strong>er Standard ist die beste Voraussetzung<br />

für das gewünschte bürgerschaftliche<br />

Engagement.<br />

des Besuchsdienstes oder sie wirken im ambulanten<br />

oder stationären Hospizdienst in der Hauswirtschaft<br />

mit genauso wie sie das mitfühlende Gespräch mit<br />

sterbenden Menschen führen oder Angehörigen bei<br />

der Trauerbewältigung helfen. Ehrenamtliche übernehmen,<br />

gestützt auf ihr berufliches Können und ihre<br />

Lebenserfahrung Betreuungen im Sinne des Betreuungsrechts<br />

und sie sind Schulpartner über das Theater<br />

der Erfahrungen und verbringen Wochen des Jahres in<br />

Schulen.<br />

5.<br />

Was ich mir wünsche, ist eine breite Verständigung<br />

über die Ziele der Berliner Seniorenpolitik.<br />

Hierzu einige Vorschläge zu einem Paradigmenwechsel,<br />

den, wenn ich es richtig verstanden habe, auch die<br />

neuen Leitlinien des Senats in ähnlicher Weise einläuten.<br />

- Sehen wir bitte in Zukunft zuerst die Potentiale<br />

des Alters und schaffen ein entsprechendes Bild<br />

alter Menschen in der Öffentlichkeit. Freuen wir<br />

uns darüber, dass wir diese Möglichkeit haben,<br />

denn unsere Alten sind gesünder, aktiver, ausgebildeter<br />

und auch flexibler als frühere Altersgenerationen.<br />

- Betrachten wir die ältere Generation auch als<br />

gesellschaftliches Potential zur Lösung unserer<br />

Probleme und bitten wir sie mitzuwirken. Sie<br />

werden uns diese Bitte nicht abschlagen, da sie<br />

ja mit dem Eintritt in das Rentenalter nicht ihren<br />

Austritt aus Gesellschaft erklärt haben und<br />

bestimmt daran interessiert sind, sich für die<br />

Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu engagieren.<br />

- Verständigen wir uns also darauf, dass Erfahrungswissen,<br />

Kreativität und Innovationskraft<br />

der älteren Menschen genutzt werden können<br />

und dürfen und laden wir die ältere Generation<br />

ein, ihre Kraft, ihr Potential, ihr Können dort<br />

einzusetzen, wo diese Personen dies gerne tun<br />

möchten. Sagen wir aber auch, wo wir sie brauchen<br />

und sie um ihre Hilfe bitten möchten. Seien<br />

wir uns sicher, dass sie unserer Einladung Folge<br />

6.<br />

Hier noch einige praktische Anregungen, von denen<br />

hoffentlich bald einige Wirklichkeit werden.<br />

• Umgestaltung der Seniorenfreizeitstätten in <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>,<br />

generationenübergreifende Nachbarschaftszentren,<br />

in denen Talente und Potentiale<br />

sich entfalten können. Eine Voraussetzung<br />

hierfür ist die Übergabe dieser Einrichtungen an<br />

freie Träger und Initiativen.<br />

• Schaffung einer <strong>sozial</strong>en Infrastruktur für bürgerschaftliches<br />

Engagement, mit Anlaufstellen<br />

in allen Stadtteilen, mindestens aber Stadtbezirken.<br />

Bestens dafür geeignet sind Nachbarschaftszentren,<br />

die über eine breite Angebotsstruktur<br />

und über viel Wissen und Erfahrung im<br />

Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement<br />

verfügen und ihrerseits an andere Träger vermitteln<br />

können.<br />

• Schaffung dieser <strong>sozial</strong>en Infrastruktur bedeutet<br />

gleichzeitig Strukturierung und Ordnung der<br />

unüberschaubaren <strong>sozial</strong>en Landschaft: Konzentration<br />

auf das Wesentliche, auf Grundstrukturen<br />

und die sollten dann flächendeckend und verbindlich<br />

diese Aufgabe übernehmen.<br />

• Eine berlinweite Steuerung und Koordination<br />

dieser Aufgabe könnten die zentrale Koordinationsstelle<br />

für Selbsthilfe (SEKIS), der Treffpunkt<br />

Hilfsbereitschaft und der <strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>, der Dachverband der Nachbarschafts-<br />

und Stadtteilzentren übernehmen. Sie<br />

sollten sich endlich zu einer kraftvollen Institution<br />

zusammenschließen die die jeweils geringen<br />

Ressourcen bündelt.<br />

7.<br />

Wo und wie können wir die Potentiale bürgerschaftlichen<br />

Engagements der älteren Generation nutzen<br />

Natürlich in allen Feldern der Bildung, der Kultur, der<br />

Kommunikation, der Sozialen <strong>Arbeit</strong>, der Pflege, der<br />

Kinder- und Jugendförderung und –hilfe.<br />

21


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Dieses Potential kann und soll dazu beitragen,<br />

• die Schulen zu öffnen und sie auch in die Verantwortung<br />

der Nachbarschaft zu „übergeben“<br />

(Lesepaten, Musikunterricht, Theaterpädagogik,<br />

Sportarbeitsgemeinschaften, Handwerkliche<br />

und technische <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften, Begleitung<br />

von Reisen und Ausflügen, Mitgestaltung<br />

Schularbeitshilfen, Freizeitgestaltung, Einzelbetreuung)<br />

• die <strong>Arbeit</strong> der Kindertagesstätten zu verbessern<br />

(Vorlesen und Spracherziehung, Einzelbetreuung,<br />

Familienpatenschaften, Unterstützung von<br />

Kindern ausländischer Herkunft zum Erwerb der<br />

vollständigen Schulreife, Ausflugs- und Reisebegleitung,<br />

Gartengestaltung, Spielzeugbau und<br />

–reparatur)<br />

• die Kinder- und Jugendfreizeitheime attraktiver<br />

zu gestalten<br />

(Schularbeitshilfen, Übernahme von Patenschaften<br />

in Krisen, Patenschaften für Familien als<br />

Integrationshilfe, Unterstützung von <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften<br />

und Hobbygruppen, ähnlich wie<br />

schon bei den Schulen benannt, Aufbau und<br />

Leitung von Küchen für die Essensversorgung<br />

von Schulkindern nach der Schule, Mitarbeit bei<br />

der Vorbereitung und Durchführung von Projektwochen<br />

und Ferienprogrammen, Reise- und<br />

Ausflugsbegleitung und –vorbereitung, Kulturund<br />

Bildungsangebote, Bewerbungstraining<br />

und Bewerbungspatenschaften, Aufbau und<br />

Führen von Kontakten zu Betrieben)<br />

• die Nachbarschafts- Stadtteil und <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>n<br />

Zentren zu unterstützen<br />

(Mitwirkung in der Büroarbeit, Übernahme von<br />

Veranstaltungs- und Telefonservice, Gestaltung<br />

und Durchführung jeglicher Programmangebote,<br />

Besuchs- und Abholdienste, Entwicklung<br />

von Kultur- und Bildungsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit,<br />

Spendenwerbung und alles, was Bürger<br />

selbst in die Hand nehmen wollen, bis hin<br />

zur Gestaltung öffentlichen Raumes oder der<br />

Übernahme von Patenschaften für einzelne Personen,<br />

Gruppen oder Projekten, etwa für Immigranten<br />

oder für ausländische Studenten, denen<br />

manche Unterstützung die Integration oder das<br />

Zurechtfinden erleichtern könnte)<br />

in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke,<br />

die Tagespflege besuchen oder sich im Pflegeheim<br />

oder Krankenhaus aufhalten: alle Aufgaben<br />

können entwickelt oder weiter entwickelt<br />

werden, wenn dafür die Möglichkeiten und Gelegenheiten<br />

geschaffen werden.<br />

• Wir müssen auch den sehr alt gewordenen<br />

Menschen mehr denn je die Möglichkeit bieten<br />

in den eigenen Wohnungen zu leben. Wir Nachbarschaftszentren<br />

sind beispielsweise dazu<br />

bereit unser Können und Wissen vom Aufbau<br />

und der Gestaltung freiwilliger und ehrenamtlicher<br />

Dienste Vermietern, Wohnungsbaugesellschaften<br />

und –genossenschaften zur Verfügung<br />

zu stellen und dafür Sorge zu tragen, dass<br />

in den Wohnsiedlungen und –blocks Verantwortung<br />

übernehmende Nachbarn helfen, dies<br />

zu ermöglichen, wenn sie ihrerseits dazu beitragen,<br />

uns die Kosten dafür zu erstatten. Wir sind<br />

auch dazu bereit, in Seniorenwohnhäusern<br />

eine verlässliche Struktur ehrenamtlicher <strong>Arbeit</strong><br />

aufzubauen.<br />

Alle diese Beispiele zeigen, welche Potentiale bürgerschaftlichen<br />

Engagements diese Gesellschaft benötigt<br />

und zwar ohne Abbau und sogar trotz Ausbau<br />

professioneller Dienste, aber auch welche Potentiale<br />

geweckt und erschlossen werden können.<br />

Die Sehnsucht und Erfüllung der alten Menschen liegt<br />

nicht nur beim sonnigen Aufenthalt auf der Urlaubsinsel<br />

– sie liegt auch in der guten, eingebundenen<br />

Nachbarschaft und in dem Wissen, gebraucht zu werden<br />

und seine Lebenserfahrung, sein Können, sein<br />

Mitgefühl zur Verfügung stellen zu dürfen und eine<br />

Antwort auf den eigenen Lebenssinn zu bekommen.<br />

Vielleicht sogar darf und kann manche Person in diesem<br />

Lebensalter endlich das tun, was sie sich schon<br />

immer gerne erfüllt hätte. Bieten wir die Möglichkeiten<br />

hierfür – schaffen wir die Chancen – das Potential<br />

ist vorhanden.<br />

Es gibt eine Vielzahl von weiteren Aufgaben, die ausgebaut<br />

und entwickelt werden können:<br />

22<br />

• Nehmen wir die Hospizdienste, die Betreu<br />

ungsvereine, die Unterstützung pflegender<br />

Angehöriger, der Auf- und Ausbau <strong>sozial</strong>er eh<br />

renamtlicher Infrastruktur für Pflegebedürftige,<br />

egal ob sie in der eigenen Wohnung leben,


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Podiumsdiskussion:<br />

Dr. Petra Leuschner, Staatssekretärin für Soziales, Senatsverwaltung<br />

für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz:<br />

Die Potenziale des Alters<br />

wurden von früheren Generationen<br />

sehr viel deutlicher<br />

gesehen und genutzt, als das<br />

heute in einer Gesellschaft<br />

der Fall ist, die „Jugend“ und<br />

Jungsein glorifiziert. Alter<br />

wird heute oftmals als „50 plus“ definiert. Allein daraus<br />

ergibt sich schon, dass dieser Lebensabschnitt voller<br />

Potenziale steckt und weniger mit Lasten zu tun hat.<br />

„Wenn man das Alter so früh ansetzt, möchte ich deutlich<br />

machen, dass Ältere eine viel größere Chance im<br />

Berufsleben haben sollten,“ betont Frau Dr. Leuschner.<br />

Hier besteht nach ihrer Ansicht ein Missverhältnis zwischen<br />

vom <strong>Arbeit</strong>smarkt ausgesperrten älteren Personen<br />

und dem Durchschnittsalter etwa von Politikern.<br />

Die Gesellschaft verschleudert ein riesiges Potenzial<br />

an Berufserfahrung, und das wird sich in Zukunft<br />

rächen. Besonders wenn man den starken demographischen<br />

Wandel ins Auge fasst, der schon in wenigen<br />

Jahren einen dramatischen Mangel an jungen fachlich<br />

ausgebildeten <strong>Arbeit</strong>skräften vorhersehbar macht,<br />

erscheint es geradezu unsinnig, die Älteren so rigoros<br />

aus dem Berufsleben auszugrenzen.<br />

Dr. Dorothea Kolland, Leiterin Kulturamt<br />

Berlin-Neukölln:<br />

Kultureinrichtungen werden<br />

in der Regel von Leuten<br />

betrieben, die diese <strong>Arbeit</strong><br />

professionell machen und<br />

dafür bezahlt werden. Für das<br />

Theater der Erfahrungen hat<br />

Frau Dr. Kolland eine Art „Patentanten-Funktion“, denn<br />

diese Gruppe wurde einmal in Neukölln gegründet,<br />

„ ... und wir lieben sie sehr, die ‚Spätzünder’ mit ihren<br />

Kabarett-Programmen.“ Seit jetzt 10 Jahren ist beim<br />

Kulturamt Neukölln der Bereich „Dritter Frühling“<br />

angesiedelt, eine Initiative, die ursprünglich von der<br />

Hochschule der Künste ausgegangen war. Bildende<br />

Künstler und Schauspieler erarbeiten dort mit älteren<br />

Menschen Projekte. „Es ist immer wieder erstaunlich<br />

und beeindruckend, was dabei entsteht. Immer wieder<br />

eröffnen sich neue Blickwinkel auf die Realität,<br />

neue Formen ihrer Darstellung. Und auch in den Frauen<br />

selber – es sind fast alles Frauen – entwickeln sich<br />

ungeahnte Fähigkeiten.“ Und zwar in Kursen von wenigen<br />

Tagen. „Denn alte Leute, die etwas mit sich und<br />

ihrer Zeit anzufangen wissen, haben nie Zeit, so etwas<br />

länger zu machen,“ hat Frau Dr. Kolland erfahren. Sie<br />

weiß auch, wie schwer es ist, diese so notwendigen<br />

künstlerischen Programme, die so viele brachliegende<br />

Talente und Kräfte freisetzen, in einem Kulturhaushalt<br />

zu etablieren.<br />

In ihren Augen ist <strong>Arbeit</strong> mit Senioren oft zu wenig<br />

innovativ. „Es werden Tanztees veranstaltet oder es<br />

spielt das Polizeiorchester auf. Das sieht doch so aus,<br />

als sollten der Verstand und die Bildung von alten<br />

Menschen an der Abendkasse abgegeben werden.“<br />

Kunst und Kultur bieten hervorragende Möglichkeiten,<br />

Fähigkeiten aus Menschen hervorzulocken, von<br />

denen sie nie gedacht hätten, dass sie die haben. Und<br />

gerade diese Projekte sollen gestrichen werden. Frau<br />

Dr. Kolland hofft jetzt auf die Widersetzlichkeit von Senioren,<br />

dass sie sich auch in der Politik zur Erhaltung<br />

der <strong>kulturelle</strong>n Angebote zu Gehör bringen.<br />

Siegried Rehberg, BBU - <strong>Verband</strong> Berlin-Brandenburgischer<br />

Wohnungsunternehmen e.V.:<br />

Wohnen im Alter, das Anpassen<br />

von Wohnungen für den<br />

Bedarf alter Menschen, ist im<br />

<strong>Verband</strong> seit etwa 5 Jahren ein<br />

Thema, das bei technischen<br />

Planungen verstärkt berücksichtigt<br />

wird. Herr Rehberg<br />

möchte aber auch, dass die Vernetzung zwischen<br />

Vereinen, Koordinierungsstellen, Sozialen Trägern<br />

und der Wohnungswirtschaft stärker vorangetrieben<br />

wird, um das Wohnen im Alter zu erleichtern und zu<br />

verbessern. Gemeinsam mit dem <strong>Verband</strong> freier Wohnungsunternehmen<br />

wurden bereits etliche Tagungen<br />

veranstaltet, in denen immer wieder die bisherigen Erfahrungen<br />

zusammen getragen werden, um neue Gestaltungskonzepte<br />

zu entwerfen. Natürlich sind solche<br />

Bemühungen für die 130 Berliner Wohnungsunternehmen,<br />

die rund 700.000 Wohnungen bewirtschaften,<br />

nicht uneigennützig. Auch sie müssen sich der<br />

demographischen Entwicklung, der schnell zunehmenden<br />

Anzahl alter Menschen, stellen und in immer<br />

mehr Wohnungen Hilfen zur Bewältigung des Alltags<br />

bereitstellen. Auch in Genossenschaften haben sich<br />

Vereine gegründet mit dem Ziel, alten Leuten in ihrem<br />

Umfeld Hilfestellungen anzubieten. „Wir werden mit<br />

23


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

24<br />

Sicherheit eine Mischung aus Betreuungs-Organisationen<br />

und Nachbarschaftshilfe brauchen,“ meint Herr<br />

Rehberg. „Berlin ist ja schon eine Stadt, in der man gut<br />

alt werden kann. Aber diese Ansätze müssen ausgebaut<br />

und vernetzt werden.“ Und er fügt hinzu: „Wenn<br />

wir den Bestand unserer Wohnungen zukunftsfähig<br />

machen wollen, dann brauchen wir mehr Komfort.<br />

Das heißt, ein größeres Badezimmer, in dem alte Menschen<br />

sich ungefährdet bewegen können. Oder auch<br />

der Anbau eines Aufzugs, wo es bezahlbar ist.“ Natürlich<br />

haben alle Nutzen von baulichen Verbesserungen,<br />

nicht nur die Älteren. Und genau darum geht es Herrn<br />

Rehberg: „Um mehr Komfort in allen Lebensaltern“.<br />

Michael Freiberg, Stadtrat für Gesundheit, Berlin-Neukölln:<br />

Das Alter hat etwas Verbindendes,<br />

denn das wird jeder spüren.<br />

Es gibt niemanden, den es nicht<br />

einholt, und das ist die Basis, auf<br />

der sich Jung und Alt gemeinsam<br />

finden können. „Wer mich<br />

immer wieder fasziniert, das ist meine Mutter – seitdem<br />

sie Rentnerin ist, hat sie kaum noch Zeit. Das ist<br />

beachtlich, und es zeigt das Engagement, das in ihr<br />

steckt.“ Für Herrn Freiberg stellt sich am Ende der Tagung<br />

die Frage: „Was bestätigt sich für mich, was habe<br />

ich hier gelernt“<br />

Zunächst ist da die Tatsache, dass Menschen ab einem<br />

gewissen Alter nicht als separierte Gruppe zu<br />

sehen sind, sondern sie sind ein Teil der Gesellschaft.<br />

„Ich glaube auch, dass gerade die Generationsvermischung<br />

enorme Gewinne bringen kann. Wenn Jüngere<br />

mit älteren Menschen zusammen sind, entsteht<br />

gegenseitiges Verständnis und auch Verantwortungsgefühl<br />

für einander. Und das gibt auch Wärme für<br />

einander. In der heutigen Zeit, wo wir oft sehr isoliert<br />

leben, ist das ein ganz wichtiger Punkt.“<br />

Wenn man von Würde im Alter spricht, dann liegt die<br />

nicht nur in guter Pflege, sondern vor allem in der<br />

Teilhabe an der Gesellschaft. Und in diesem Zusammenhang<br />

ist es notwendig, dass Projekte von alten<br />

Menschen verlässliche finanzielle Rahmenbedingungen<br />

haben und nicht jedes Jahr von neuem um die<br />

Existenz ihrer Unternehmungen bangen müssen. „Seniorenarbeit<br />

in meinem Sinne, in einem sehr breiten,<br />

aktiven Sinne, braucht verlässliche Rahmendaten.“<br />

Besonders bei der Unterstützung von Selbsthilfe ist<br />

diese langfristige Sicherheit notwendig. „Wir haben<br />

es in Neukölln geschafft, die Selbsthilfezentren und<br />

Nachbarschaftshäuser auf gesunde Beine zu stellen,<br />

um diese Verlässlichkeit zu organisieren.“ Der Staat<br />

hat dabei lediglich die Aufgabe, die Grundlagen für<br />

diese <strong>Arbeit</strong> abzusichern. Herr Freiberg findet es verblüffend,<br />

wie viele ältere Menschen das Internet benutzen.<br />

Die Benutzung von Menschen über 60 Jahren<br />

ist höher als die jeder anderen Altersgruppe. Und es<br />

gibt sehr zahlreiche Beispiele wie das eines 79jährigen<br />

Mannes, der sich in diesem Alter einen Computer<br />

gekauft und einen Einsteigerkurs belegt hatte. Und<br />

hier wird deutlich, dass im Alter enorme Kräfte und<br />

Potenziale stecken. Herr Freiberg sieht es sogar so,<br />

dass im Alter ein enormer Gewinn für die Gesellschaft<br />

steckt, Fähigkeiten und Talente, die bis jetzt noch ungenutzt<br />

vergeudet werden. „Die Senioren haben der<br />

Gesellschaft etwas zu geben. Das sollten wir auf den<br />

Weg bringen.“<br />

Dr. Christian Hanke, Sozialstadtrat Berlin-Mitte:<br />

In den Augen Dr. Hankes<br />

redet man über Selbst-verständlichkeiten,<br />

wenn man<br />

über Potenziale des Alters<br />

spricht. Dennoch entspricht<br />

diese Sichtweise offensichtlich<br />

nicht der gesellschaftlichen<br />

Realität, denn das „allgemeine Bild von alten<br />

Menschen ist sehr einseitig. Es ist geprägt nur von Defiziten.“<br />

Darüber hinaus definiert sich die Gesellschaft<br />

über Erwerbstätigkeit. Das führt in vielen Bereichen<br />

sofort zu Problemen: beim ehrenamtlichen Engagement,<br />

bei <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und eben auch im Hinblick<br />

auf ältere Menschen. „Diese Bilder, die wir im Kopf haben,<br />

müssen wir kritisch hinterfragen, und so können<br />

wir durch diese Veranstaltung vielleicht auch eine Tür<br />

aufstoßen, die bisher noch fest verschlossen ist.“<br />

Über die offenbar gängige Definition von Alter als „50<br />

plus“ ist Dr. Hanke etwas verärgert. „Bald sind wir dann<br />

bei 40 plus, und dann bin ich auch gleich mit im Boot.<br />

Wir müssen aufpassen, dass diese Abgrenzung nicht<br />

zu beliebig wird. Es ist ein Unterschied, ob man 50, 60<br />

oder 80 Jahre alt ist. Dazwischen liegen doch noch<br />

ganze Generationen.“<br />

Die Frage „Was wissen wir eigentlich von den Senioren“<br />

beantwortet der Stadtrat sich gleich selbst: „Das<br />

ist dürftig.“ Es gibt zwar einige allgemeine Untersuchungen.<br />

Aber für die <strong>sozial</strong>räumliche Betrachtung,<br />

für die <strong>Arbeit</strong> in Nachbarschaftszentren bringen die<br />

kaum etwas. Statt dessen stärken sie nur wieder die<br />

Einäugigkeit im Blick auf das Alter. Denn man kann<br />

sofort die Zahl der Arztbesuche, der Krankenhausaufenthalte<br />

oder der Todesursachen nachschauen. Aber<br />

offenbar gibt es große Schwierigkeiten, die Bedürfnisse<br />

und Interessen von alten Leuten zu erfahren: „Welches<br />

Bildungsniveau und welche Fähigkeiten gibt es<br />

hier im Stadtteil“<br />

Natürlich sollte die <strong>Arbeit</strong> von und mit alten Menschen<br />

finanziell konsolidiert sein. „Aber bei der notwendigen<br />

Haushaltsstabilisierung sind wir ja schon<br />

froh, wenn wir Mindeststandards halten können. Das<br />

heißt, wir sind von Staats wegen darauf angewiesen,<br />

mit bürgerlichem Engagement Netzwerke und Strukturen<br />

zu erhalten.“ Seniorenpolitik muss Selbstbestimmung<br />

und Selbstorganisation der älteren Generation<br />

garantieren, also gilt es auch für die Politik, sich<br />

umzuorientieren.


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Oswald Menninger, Geschäftsführer<br />

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband:<br />

Der DPW beschäftigt sich<br />

schon sehr lange mit den<br />

Potenzialen älterer Menschen.<br />

Aber auch er sieht<br />

es so, dass dieses Thema in<br />

der aktuellen politischen<br />

Diskussion eine weitaus<br />

größere Brisanz hat. „Ich habe mich seit vielen Jahren<br />

dagegen gewandt, alte Leute auf die Probleme um<br />

Pflege und Gesundheit zu reduzieren.“ Dennoch will<br />

er natürlich diese Probleme nicht klein reden. Die<br />

schwierige Sicherung der Renten, die sich ständig<br />

erhöhenden Gesundheitskosten, sämtliche Probleme<br />

des Alters wurden jedoch „nie verknüpft mit den<br />

großen Möglichkeiten, die im vorgerückten Alter<br />

stecken.“ Der DPW hat unter seinem Dach schon seit<br />

vielen Jahren zahllose Projekte gehabt, gefördert und<br />

weiterentwickelt, die Fähigkeiten älterer Menschen für<br />

die gesellschaftliche Entwicklung fruchtbar machen.<br />

Aber Herr Menninger stellt auch selbstkritisch fest:<br />

„Das war nicht so, wie wir das heute machen.“ Heute<br />

geht es um die Verknüpfung von hochprofessionellen<br />

pflegerischen Hilfeleistungen mit bürgerschaftlichem<br />

Engagement, um die Schaffung stabiler <strong>sozial</strong>er Netzwerke<br />

für und mit älteren Leuten. Der <strong>Verband</strong> sieht<br />

es als seine Aufgabe an, die Mitgliedsorganisationen<br />

in den Stand zu versetzen, diese Verknüpfungen hinzubekommen.<br />

Dabei kommt bisher Widerstand häufig<br />

von hauptamtlichen Mitarbeitern, die um ihren <strong>Arbeit</strong>splatz<br />

fürchten, wenn verstärkt Ehrenamtliche in<br />

die <strong>Arbeit</strong> einbezogen werden. Da wird Herr Menninger<br />

schon mal drastisch: „Das ist doch vollkommener<br />

Quatsch! Denn es ist gerade umgekehrt, ja besser wir<br />

diese Netzwerke stricken, umso sicherer sind feste <strong>Arbeit</strong>splätze.“<br />

Der <strong>Verband</strong> sieht sich in dieser Hinsicht<br />

jedoch bereits auf einem guten Weg, und er wird nicht<br />

aufhören, das bürgerschaftliche Engagement zu fördern.<br />

Eine vom Senat beauftragte Untersuchung hat<br />

ergeben, dass das Engagement der über 66jährigen<br />

enorm zugenommen hat. „Das schreiben wir als Erfolg<br />

auch auf unsere Fahnen, und da werden wir zielgerichtet<br />

weiter machen.“<br />

Georg Zinner:<br />

Wenn man Geschäftsführer eines Nachbarschaftszentrums<br />

ist, dann hat man die ältere<br />

Generation natürlich nicht nur als Problem<br />

im Blickfeld, sondern als Menschen, die sehr<br />

viel leisten und einbringen können.<br />

Für den Pflegebereich gilt folgendes: Es werden ambulante<br />

Pflegedienste organisiert, aber auch stationäre.<br />

Es ist mittlerweile ein Hospiz angeschlossen, und<br />

es gibt ehrenamtliche Mitarbeiter, die einen Besuchsdienst<br />

organisieren. Die Strukturen werden aber mit<br />

hauptamtlichen Mitarbeitern gesichert. So auch die<br />

Ausbildung von Ehrenamtlichen im Hospizdienst.<br />

„Unsere Erfahrung ist, dass diese <strong>Arbeit</strong> von allen Altersstufen<br />

gemacht wird.“ Das sind 25jährige, und es<br />

sind auch 85jährige dabei. Die Älteren haben an das<br />

Nachbarschaftszentrum klare Forderungen gestellt.<br />

„Wir hätten von uns aus als Nachbarschaftsheim nie<br />

ein stationäres Hospiz errichtet, mit viel Geld, mit viel<br />

Risiko, wenn nicht eine Gruppe von Ehrenamtlichen,<br />

davon die Hälfte ältere Menschen, dafür über Jahre<br />

hinweg hart gearbeitet und richtig gepowert hätte.<br />

Daran sieht man, dass Ältere etwas in Bewegung setzen<br />

können. Und gleichzeitig entsteht eine Qualität<br />

in der Pflege.“ Diese Qualität können die Hauptamtlichen<br />

nicht geben, denn nur die Ehrenamtlichen bringen<br />

die erforderliche Zeit mit. „Sie geben Zeit. Und sie<br />

bekommen etwas anderes zurück, denn sie erleben<br />

Gemeinschaft, sie erfüllen eine selbst gestellte Aufgabe<br />

und erreichen ein Ziel, das sie sich selber gesteckt<br />

haben.“<br />

Der andere große Bereich, in dem ältere Menschen<br />

sich einbringen, betrifft die Schulen. „Wir haben Schülerclubs,<br />

wir arbeiten mit vielen Schulen zusammen,<br />

wir werden demnächst die Hort-Betreuung an zahlreichen<br />

Schulen übernehmen. Und auch da haben<br />

wir festgestellt: Wenn wir versuchen Menschen zu<br />

gewinnen, Menschen jeden Alters und eben auch alte<br />

Leute, die so viel mehr Zeit haben, wenn wir sie um<br />

Mithilfe bitten bei den Hausaufgaben oder als Unterstützung<br />

für ausländische Kinder, da haben wir die<br />

Erfahrung gemacht, dass wir solche Menschen immer<br />

finden.“ Das Nachbarschaftsheim hat inzwischen 500<br />

feste Mitarbeiter. Aber es hat auch 600 Ehrenamtliche.<br />

Herr Zinner sieht gar kein Problem, ehrenamtliche<br />

Mitarbeiter zu finden – wenn man ihnen verlässliche<br />

Strukturen anbietet und wenn man sie bei Problemen<br />

unterstützt. Wenn er mit Ehrenamtlichen spricht, spürt<br />

er auf deren Seite stets eine große Zufriedenheit, das<br />

Gefühl eines Gewinns und einer Bestätigung. „Wir<br />

wären doch beschränkt als Träger freier Wohlfahrtspflege,<br />

wenn wir nicht das, was wir als Gemeinnützige<br />

immer waren, nämlich eine Bürgerinitiative, wenn wir<br />

das nicht erhalten und ausbauen würden.“ Denn alle<br />

diese Aktivitäten der Bürger dienen dem Wohl des<br />

Stadtteils, machen die Zufriedenheit der Menschen<br />

aus. Dem Willen der Menschen zum Mitgestalten der<br />

Gesellschaft muss Rechnung getragen werden. „Und<br />

wir haben eine strukturelle Möglichkeit, dieses vorhandene<br />

reiche Potenzial auszuschöpfen.“<br />

Roswitha Nemitz, Ehrenamtliche Sozialwerk Berlin:<br />

Ich arbeite in einem Alten- und Selbsthilfe-<br />

Begegnungszentrum. Ich möchte wissen,<br />

wie geht es eigentlich weiter Ich erlebe in<br />

diesem Alten-Selbsthilfezentrum sehr viel Eigenverantwortung,<br />

und ich finde, wir müssen viel mehr da-<br />

25


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

ran mitwirken, dass die Betroffenen auch nach ihren<br />

Vorstellungen gefragt und einbezogen werden. Und<br />

genau das ist ja hier das Thema. Was passiert, wenn<br />

diese Tagung vorbei ist Wir sind sehr daran interessiert,<br />

dass wir im Kontakt bleiben mit all den Organisationen,<br />

die heute hier vertreten sind.<br />

Dr. Dorothea Kolland:<br />

Ihr ist die Einigkeit in der Runde ein bisschen<br />

zu groß, und sie möchte als Störfaktor<br />

fungieren. Die von Herrn Zinner dargestellten<br />

Beispiele ehrenamtlicher <strong>Arbeit</strong> in allen Altersstufen<br />

sind in ihren Augen vorbildlich und ermutigend.<br />

Dennoch möchte sie sich gegen aufscheinende<br />

Tendenzen in anderen Beiträgen verwahren.“ Ich<br />

glaube, wir missbrauchen diesen Ansatz ganz gewaltig,<br />

wenn wir ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement<br />

als Auffangnetz für Sparmaßnahmen oder<br />

zum Stopfen von Defiziten benutzen.“ Frau Kolland<br />

sieht sehr viele Bereiche, in die Menschen mit Lebenserfahrung<br />

gehören, weil sie dort genau die Richtigen<br />

sind. Aber sie sieht durchaus auch Bereiche, in denen<br />

die <strong>Arbeit</strong> nur mit Hauptamtlichen funktioniert.<br />

Ein weithin noch immer zu wenig beachteter Bereich<br />

sind die Probleme von Migranten-Familien, in denen<br />

es immer mehr alte Menschen gibt. Gerade in Berlin-Neukölln<br />

gibt es Gebiete, in denen jeder zweite<br />

Bewohner ausländischer Herkunft ist. Ihr ist der Satz<br />

einer 50jährigen gebildeten Palästinenserin nicht aus<br />

dem Kopf gegangen, die ihr einmal sagte: „Es gibt so<br />

wenig Möglichkeiten, mit Deutschen zu sprechen.“<br />

Über ein paar Worte beim Einkaufen an der Kasse hinaus<br />

gibt es offenbar wenig Anlässe, bei denen sich ein<br />

tiefergehendes Gespräch ergeben kann. Frau Kolland<br />

stellt sich vor, dass auch auf diesem Gebiet Senioren<br />

Erfahrungen in das Gemeinwesen stärker einbringen<br />

könnten.<br />

Dr. Petra Leuschner:<br />

Zu der Frage, wie geht es nun weiter: Die<br />

vom Senat erarbeiteten „Leitlinien Seniorenpolitik“<br />

eignen sich sehr gut dazu, die<br />

Diskussion über das Zusammenleben und die <strong>Arbeit</strong><br />

mit alten Menschen in der Öffentlichkeit anzufachen.<br />

Man muss sich sehr deutlich vor Augen halten, was<br />

sich in unserer Gesellschaft verändert hat. „Auch die<br />

Migranten werden älter, und sie gehen nicht in ihre<br />

Heimat zurück, sondern sie bleiben hier. Damit müssen<br />

wir uns auseinandersetzen.“ Wie etwa kann man<br />

eine kultursensible Pflege organisieren, wenn man<br />

weiß, dass Migranten eine ganz andere Erwartung<br />

daran haben Oder wie kann eine Heimunterbringung<br />

für diese alten Menschen aussehen „Ich würde<br />

mir wünschen, dass auch in dieser Lebensphase ein<br />

bisschen Mischung und Integration möglich ist.“ Die<br />

Lösung dieser Aufgabe kann aber nicht einer Senatsverwaltung<br />

überlassen bleiben, sondern es müssen<br />

sich auch die Träger der <strong>sozial</strong>en Einrichtungen und<br />

die Betroffenen damit auseinandersetzen. Die Senatsverwaltung<br />

arbeitet darüber hinaus an einem Seniorengesetz,<br />

das den Rahmen dafür schaffen soll, über<br />

welche Gremien die Mitwirkung alter Menschen gesichert<br />

werden kann. „Dafür erhoffe ich mir von Ihnen<br />

allen sehr viele Anregungen.“<br />

Zum Thema Ehrenamt und Haushaltslöcher sagt die<br />

Staatssekretärin, etwas provokant: „Das Ehrenamt<br />

kann und soll niemals dafür herhalten, Haushaltsprobleme<br />

des Finanzetats zu lösen. Trotzdem hat der<br />

Druck, den wir alle durch den Geldmangel haben, eine<br />

ganze Menge befördert.“ Frau Dr. Leuschner ist dankbar<br />

für das so stark expandierende Ehrenamt – wenn<br />

es eben nicht missbraucht wird.<br />

Georg Zinner:<br />

Er meint, dass man die ehrenamtliche<br />

<strong>Arbeit</strong> auch und vor allem unter dem demokratischen<br />

Aspekt betrachten muss.<br />

Dass das bürgerschaftliche Mitwirken der Menschen<br />

verhindert, dass die von ihnen geschaffenen Institutionen<br />

irgendwann die Bürger ausschließen. Hier<br />

entsteht eine demokratische Alltagskultur, die in<br />

Deutschland für lange Zeit verloren gegangen war.<br />

Man hatte alles dem Staat übertragen, bis hin zu seiner<br />

Überforderung. „Wenn ich mal aus dem Berufsleben<br />

ausscheide, dann möchte ich selbstbestimmt und<br />

selbstverantwortlich das machen, was ich gerne will.<br />

Und ich hoffe, dass es dann eine Infrastruktur gibt, die<br />

mich dabei unterstützt, meine Anliegen zu verwirklichen.“<br />

Siegfried Rehberg:<br />

Er äußert Befriedigung darüber, dass das<br />

Ehrenamt nun endlich nach langen Auseinandersetzungen<br />

versicherungstechnisch<br />

abgesichert wird, wie die Staatssekretärin berichten<br />

konnte. Das war bisher für Wohnungsgesellschaften<br />

bei ihrer <strong>Arbeit</strong> mit Ehrenamtlichen ein Hemmschuh.<br />

„Ohne Ehrenamt werden die zunehmenden Aufgaben<br />

in unserer Gesellschaft nicht zu leisten sein.“<br />

Zum Standort Berlin als attraktive Stadt für alte Menschen<br />

sagt Herr Rehberg noch einmal, dass es bereits<br />

viele sehr gute Ansätze gibt überall in der Stadt. Die<br />

Aufgabe der nächsten Zeit wird es sein, all diese Erfahrungen<br />

zusammen zu tragen, um für jedes Gebiet<br />

gute Nachbarschaften und ein aktives Miteinander zu<br />

schaffen. Dafür muss die Infrastruktur stimmen, damit<br />

Menschen in ihrem Umfeld gerne leben. Die Wohnungsunternehmen<br />

haben sich darauf eingestellt,<br />

ihre Wohnungen so auszustatten, dass man in ihnen<br />

alt werden kann.<br />

26


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Michael Freiberg:<br />

Dr. Löhnert:<br />

Für ihn ist der Aspekt der aktiven Teilhabe<br />

von Senioren am gesellschaftlichen Leben<br />

wichtig und dass man alte Menschen<br />

nicht nur vom Standpunkt des Versorgens betrachtet,<br />

wenn es an die Entwicklung konkreter Projekte geht.<br />

Das ist ein Auftrag an sich selbst, an dem er sich auch<br />

messen lassen will. Auch er greift die Frage auf: Was<br />

passiert denn nun Die Verwirklichung von aktiver<br />

Seniorenarbeit für und mit alten Menschen muss sich<br />

durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen, sei es<br />

Wohnen, Gesundheit, Kultur oder Sport. „Es geht dabei<br />

zwar nicht immer um Geld, aber es müssen sehr wohl<br />

verlässliche Rahmendaten da sein. Es geht nicht an,<br />

dass ein Projekt Jahr für Jahr z.B. hinter 10.000 Euro<br />

herrennen muss. So etwas blockiert.“ Der Stadtrat ist<br />

sehr interessiert daran, mit der Wohnungswirtschaft<br />

ein Projekt mit Menschen verschiedener ethnischer<br />

Herkunft zu beginnen.<br />

Dr. Christian Hanke:<br />

Das Alter ist in der Regel weiblich. Aber<br />

wenn wir über alte Menschen reden, dann<br />

müssen wir auch über Männer und Frauen<br />

und deren unterschiedliche Bedürfnisse sprechen. Das<br />

betont er gerade im Hinblick auf die Selbstmordraten<br />

unter älteren Menschen, über die auf der Veranstaltung<br />

nicht gesprochen wurde. In diesem Zusammenhang<br />

hofft Dr. Hanke, dass der Präventionsgedanke<br />

stärker verankert werden kann. Der Prozess von der<br />

Erwerbstätigkeit in die Rente sollte sehr viel besser<br />

vorbereitet werden.<br />

Über die älteren Menschen mit Migranten-Hintergrund<br />

wurde nur in Ansätzen gesprochen. Im Bezirk<br />

Mitte wurde vor 2 Jahren eine Konferenz installiert,<br />

bei der es um Pflege geht, um Freizeit, und es entstand<br />

ein Modellprojekt, in dem Multiplikatoren aus<br />

dem Migrantenbereich geschult werden, die diesen<br />

Bevölkerungsgruppen die bestehenden Hilfemöglichkeiten<br />

erklären. Aber darin sieht der Stadtrat nur Anfänge.<br />

„Wir müssen uns viel stärker als bisher diesem<br />

Thema zuwenden.<br />

Oswald Menninger:<br />

Er sieht die Notwendigkeit, über den Wert<br />

des bürgerschaftlichen Engagements<br />

noch einmal zu diskutieren. „Es verändert<br />

die Einrichtungen. Und es verändert sie in einer notwendigen<br />

Weise.“ Herr Menninger hat die Vision, dass<br />

bürgerschaftliches Engagement in der Weise generationsübergreifend<br />

sein könnte, dass z.B. demnächst<br />

eine Seniorenfreizeitstätte in einer Schule eröffnet<br />

würde. Oder in einem Altenpflegeheim ein Jugendtreffpunkt<br />

installiert wird. „Wir wollen sehen, wie sich<br />

die Generationen gegenseitig helfen und unterstützen<br />

können. Und da werden wir jetzt rangehen.“<br />

Er nimmt aus der Fachtagung zwei Erkenntnisse<br />

mit: „Erstens: ich bin 60. Und<br />

ich fühle mich fit, mich zu engagieren.“<br />

Darüber hinaus ist der Paradigmenwechsel in Bezug<br />

auf die ältere Generation deutlich geworden. Das Bild<br />

von den „Alten“ ist ein bisschen differenzierter und<br />

gerade gerückt worden. Ihren noch immer weithin<br />

ungenutzten Fähigkeiten gilt es strukturierte Entfaltungsmöglichkeiten<br />

zu geben. Und es muss ein<br />

generationsübergreifendes Miteinander organisiert<br />

werden. Ältere Menschen sind aktiv und übernehmen<br />

Aufgaben in der Gesellschaft, die durch andere nicht<br />

zu leisten sind. „Es ist deutlich geworden, dass wir für<br />

diesen Prozess weitere Konzepte entwickeln müssen.“<br />

Hierin sieht Herr Löhnert eine Herausforderung, der<br />

sich alle stellen müssen. „Wie organisieren wir ein<br />

Miteinander der Generationen und der Kulturen im<br />

Kiez Und welche Strukturen müssen dafür gestärkt<br />

und nicht vernichtet werden, ausgebaut oder gar neu<br />

entwickelt werden“<br />

Die Fragen und Impulse dieser Fachtagung müssen<br />

nun in die Praxis getragen werden. Berlin sollte „ ... zu<br />

einer Stadt der Initiative für ein integriertes Gemeinwesen<br />

werden, wo Erfahrungswissen als Ressource<br />

genutzt und anerkannt wird.“<br />

Fazit der Veranstalter<br />

Die These von der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels<br />

in der „Seniorenpolitk“ stieß auf dem Fachtag<br />

auf keinerlei Widerspruch und wurde im Gegenteil<br />

von allen Seiten vehement unterstützt. Das ermutigt<br />

und verpflichtet uns, etwas dafür zu tun, dass ein entsprechendes<br />

Umsteuern auch wirklich stattfindet.<br />

o Ohne zusätzlichen Finanzaufwand können<br />

sich traditionelle Senioreneinrichtungen zu<br />

generationsübergreifenden Nachbarschaftstreffpunkten<br />

entwickeln, in denen die „alten<br />

Talente” einen lohnenden Wirkungsbereich<br />

finden können<br />

o Stadtteilzentren und Nachbarschaftseinrichtungen<br />

können entsprechende Schwerpunkte<br />

ausbauen, mit gutem Beispiel vorangehen<br />

und zeigen, wie diese <strong>Arbeit</strong>sansätze in der<br />

Praxis funktionieren.<br />

o<br />

Das „Theater der Erfahrungen” und vergleichbare<br />

Projekte, die mit erfreulichem Elan die<br />

unsinnigen Gräben zwischen Sozialem und<br />

Kultur überwinden, können Vorbild und<br />

Motor des Veränderungsprozesses sein und<br />

ihm die Extra-Schubkraft von Kreativität und<br />

Lebensfreude geben, die dabei hilft, wenn es<br />

darum geht, eingefahrene Bahnen zu verlassen.<br />

Wir sind bereit und freuen uns über alle, die mitmachen<br />

wollen.*<br />

(Sie erreichen uns über die Anschrift im Impressum auf S.2)<br />

27


Fachtag: Potenziale des Alters<br />

Theater<br />

der<br />

Erfahrungen<br />

in Trägerschaft des<br />

Nachbarschaftsheims<br />

Schöneberg e.V.<br />

28


Grundsatzerklärung unseres internationalen<br />

Dachverbandes, der International Federation of<br />

Settlements and Neighbourhood Centres (IFS)<br />

Neighbourhoods First:<br />

Making the world a better place<br />

The International Federation of Settlements and<br />

Neighbourhood Centres (IFS) represents a world wide<br />

movement of settlements, community and neighbourhood<br />

centres. As a movement, it is dedicated to<br />

enabling neighbours to work together to meet local<br />

challenges and create shared approaches to building<br />

community.<br />

We believe that strong, sustainable community-based<br />

organisations provide a crucial focus and support for<br />

community development and change. They address<br />

the needs of their area in a multi-purpose, holistic way<br />

by integrating services, capacity building and social<br />

reform. Inspired by the tradition of innovation within<br />

the Settlement house movement, today’s community<br />

organisations take many forms as they generate local<br />

solutions to global challenges.<br />

Together and separately we seek to catalyse change<br />

by:<br />

o Developing relationships of trust and mutuality<br />

among people from different backgrounds and<br />

experience, as individuals, families and groups<br />

o Bridging between those who are affected by decisions<br />

and those who make them<br />

o Providing open and safe space for people to meet,<br />

organise and participate in decision- making<br />

o Building on people’s potential and gifts rather<br />

than focusing on their problems<br />

o Releasing the potential of communities as places<br />

of creativity and enterprise<br />

o Giving a voice to people normally left out or ignored<br />

o Cherishing our independence in order to remain<br />

flexible and responsive to opportunity<br />

o Pioneering innovative approaches to neighbourhood<br />

issues, linking the neighbourhood with the<br />

national and global<br />

o Investing and reinvesting in community assets to<br />

build local sustainability.<br />

Our organisations contribute to a world in which the<br />

“international community” is shaped by people working<br />

together from their local communities, a power<br />

and legitimacy from the base of society. We are already<br />

working with our communities to move from the<br />

stance of “I can’t“ to „We can together“ and to face the<br />

future with passion and an inclusive vision.<br />

verabschiedet als “Helsinki declaration” auf der<br />

Vorstandssitzung der IFS am 4. Mai 2005 in Debrecen, Ungarn.<br />

Leben in Nachbarschaft:<br />

Baustein für eine bessere Welt<br />

Der Internationale <strong>Verband</strong> der Settlements und Nachbarschaftshäuser<br />

(IFS) repräsentiert eine weltweite Bewegung<br />

von Nachbarschafts- und Gemeinwesenzentren, die sich<br />

zum Ziel gesetzt haben, Menschen zu ermöglichen, als<br />

Nachbarn in gemeinschaftlichem Handeln örtlichen Herausforderungen<br />

zu begegnen und gemeinsame Lösungen<br />

für den Aufbau ihres Gemeinwesens zu finden.<br />

Wir glauben, dass starke, auf Dauer angelegt Nachbarschaftsorganisationen<br />

einen wesentlichen Beitrag für die<br />

Entwicklung und Reform der Gemeinwesen leisten können.<br />

Sie reagieren auf Bedarfslagen in ihrem Einzugsgebiet mit<br />

einem multifunktionalen ganzheitlichen Ansatz, indem sie<br />

das Angebot von Diensten mit der Stärkung der Selbsthilfekräfte<br />

und <strong>sozial</strong>er Reform verbinden. Unter Berufung<br />

auf die Tradition stetiger Erneuerung, die den Geist der<br />

„Settlement-Bewegung“ ausmacht, haben die heutigen<br />

Nachbarschaftseinrichtungen unterschiedliche Formen<br />

und Schwerpunkte, mit denen sie örtlich maßgeschneiderte<br />

Antworten auf globale Herausforderungen geben.<br />

Zusammen und jeder an seinem Platz arbeiten wir an Veränderungen,<br />

indem wir<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

Beziehungen des Vertrauens und der gegenseitigen<br />

Hilfe zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe<br />

und Erfahrungen als Individuen, Familien und<br />

Gruppen schaffen<br />

Brücken bilden zwischen denen, die von Entscheidungen<br />

betroffen sind und denen, die sie fällen<br />

Offene und sichere Orte anbieten, an denen sich Menschen<br />

treffen, organisieren und an Entscheidungen<br />

beteiligen können<br />

Auf die Potentiale und Fähigkeiten von Menschen setzen<br />

und nicht bei ihren Problemen stehen bleiben<br />

Das Potential der Gemeinwesen als Orte von Kreativität<br />

und Unternehmungslust frei setzen<br />

Menschen eine Stimme geben, die normalerweise vergessen<br />

oder ignoriert werden<br />

Unsere Unabhängigkeit wertschätzen, die uns hilft,<br />

flexibel zu bleiben und Chancen wahr zu nehmen<br />

Neue Wege bei der Lösung von Problemen im Zusammenleben<br />

suchen und die örtlichen Fragen in nationale<br />

und globale Zusammenhänge stellen<br />

In das Gemeinsame investieren und re-investieren, um<br />

nachhaltige Stabilität vor Ort zu sichern.<br />

Unsere Organisationen tragen zu einer Welt bei, in der die<br />

„internationale Gemeinschaft“ von Menschen gestaltet<br />

wird, die von ihrem örtlichen Gemeinwesen aus zusammen<br />

arbeiten. Sie erhalten ihre Kraft und ihre Legitimation von<br />

der Basis der Gesellschaft. Wir arbeiten mit unseren Gemeinwesen<br />

daran, von der Resignation des „Ich kann nicht!“<br />

zur Zuversicht „Wir können es gemeinsam!“ zu kommen .So<br />

stellen wir uns der Zukunft mit Leidenschaft und mit der<br />

Vision von der Zusammengehörigkeit der Menschen.<br />

29


30<br />

Zur Information:<br />

Im letzten <strong>Rundbrief</strong> haben wir das Konzept für<br />

ein Modellprojekt „Community Care – Leben in<br />

Nachbarschaft bis ins hohe Alter“ veröffentlicht.<br />

Nach Bewilligung eines Förderantrages durch<br />

das Deutsche Hilfswerk ist das Projekt Anfang<br />

Juni mit drei Mitgliedseinrichtungen in drei<br />

Bundesländern gestartet. Beteiligt sind das<br />

Nachbarschaftsheim Schöneberg in Berlin, das<br />

Quäker-Nachbarschaftsheim in Köln und das<br />

Nachbarschaftshaus Wiesbaden.<br />

Leserbrief zu <strong>Rundbrief</strong> 2/2004<br />

Karl-Fried Schuwirth, langjähriger Leiter des Nachbarschaftshauses<br />

Wiesbaden und seit Januar 2005 frischgebackener<br />

„Ruheständler“ hat uns als Reaktion auf<br />

das o.g. Konzept das folgende Papier geschickt, das er<br />

hiermit zur Diskussion stellt.<br />

ANIA*<br />

Aktives Netzwerk im Alter<br />

Gerade habe ich den Ruhestand erreicht.<br />

Mit 63 Jahren bin ich durchaus noch nicht so ruhebedürftig,<br />

wie es meine derzeitige Freizeit hergibt.<br />

Statistisch gesehen liegen ca. 15 Jahre vor mir, in denen<br />

ich viele Möglichkeiten haben, mich zu engagieren<br />

und aktiv Aufgaben zu übernehmen. Dazu bin ich<br />

auch bereit, wenn sie wirklich sinnvoll sind.<br />

Danach kommen dann – statistisch gesehen – weitere<br />

15 Jahre auf mich zu, in denen ich zunehmend<br />

auf Hilfe angewiesen sein werde. Zunächst werden<br />

es Kleinigkeiten sein, die ich von anderen brauchen<br />

werde, später wird dann fremde Hilfe Grundlage zum<br />

Überleben werden.<br />

Heute habe ich all das, was ich später brauche, kann es<br />

aber nicht einbringen.<br />

Später werde ich auf all das angewiesen sein, was ich<br />

jetzt habe, aber nicht einbringen kann.<br />

Ganz klar ist das ein Problem unserer Gesellschaft.<br />

– Ein wirklich großes Problem! - Vielleicht das größte,<br />

das auf unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren<br />

zukommt.<br />

Menschenwürdiges Altern war schon immer eine Herausforderung<br />

an die Gesellschaft. Zu jeder Zeit konnte<br />

man die Menschlichkeit einer Gesellschaft daran messen,<br />

wie sie mit Kindern und alten Menschen umgeht.<br />

Bisher war klar: Die Jungen sorgen für die Alten, so<br />

wie früher die Eltern für die Kinder gesorgt haben. Der<br />

„Generationenvertrag“ war die Grundlage, nicht nur<br />

für die Rente.<br />

Schon immer war dies eine hohe moralische Anforderung<br />

für die Familien ebenso wie für die alten<br />

Menschen. Oft erforderte sie außergewöhnlich hohe<br />

Belastungen für die Familien – ebenso wie für die<br />

alten Menschen. Fast in jeder Familie gibt es dazu eindrucksvolle<br />

Geschichten.<br />

Die Zukunft aber wird hier völlig neue Maßstäbe setzen.<br />

In Zukunft wird die Bewältigung des menschenwürdigen<br />

Alterns ein weit größeres Problem werden, als<br />

wir es uns derzeit vielleicht vorstellen können.<br />

Alle Modelle, wie früher Menschen alt werden konnten,<br />

versagen<br />

- heute und in Zukunft - beim Blick z.B. auf die<br />

• sich entwickelnde Alterspyramide und die<br />

Bevölkerungsprognosen<br />

• Bedürfnisse der Menschen mit steigender<br />

Lebenserwartung<br />

• Tragfähigkeit von Familien und deren Bestand<br />

• Entwicklung von Haushaltsgröße und Verbindlichkeit<br />

von Lebensgemeinschaften<br />

• Wohnkultur und Wohnbedürfnisse von Alten<br />

und Jungen<br />

• Kostenentwicklung von Serviceleistungen<br />

(z.B. für Haushilfe und Pflege)<br />

• Rentenprognosen und deren Finanzierung.<br />

Das Potenzial, hier gegenzusteuern, liegt keinesfalls in<br />

der weiteren Belastung der Jungen.<br />

Es ist aber da. Es liegt brach und ist ungenutzt.<br />

Viele, leider allzu viele sind es, deren berufliche Perspektive<br />

am Ende ist, die keine Möglichkeit sehen, beizutragen<br />

zur Verbesserung ihres derzeitigen Lebensstandards,<br />

zur Verbesserung ihrer Lebensperspektive<br />

und zur Verbesserung ihrer Altersversorgung.<br />

Es müsste für sie eine Möglichkeit geben, dieses<br />

brachliegende Potenzial einzubringen, also heute etwas<br />

Sinnvolles tun um damit Vorsorge zu treffen für<br />

morgen.<br />

Hier kommt ANIA.<br />

Die Vision eines aktiven Netzwerkes im Alter – einer<br />

Altersvorsorge, nicht durch finanzielle Absicherung<br />

sondern durch Einbindung in ein Netz gegenseitiger<br />

Hilfe zu unterschiedlichen Zeiten. Ein Netzwerk, in das<br />

man sich einbringen kann durch persönlichen Einsatz<br />

- zu einer Zeit, wo für angemessen dosierte „Nachbarschaftshilfe“<br />

die Voraussetzungen stimmen:<br />

• verfügbare Zeit<br />

• Verfügung über Kenntnisse, Fertigkeiten und<br />

Fähigkeiten, die gefragt sind<br />

• Beweglichkeit und gesundheitliche Fitness<br />

• Verlässlichkeit und Bindung „mit Maß“<br />

um Vorsorge zu treffen für eine Zeit, in der all das notwendig<br />

gebraucht wird.


Voraussetzung dafür, sich ernsthaft in ein solches<br />

Netzwerk einzubringen, wäre:<br />

Es müsste wirklich stabil sein und es müsste hinausreichen<br />

über reine Nachbarschaftshilfe zwischen benachbarten<br />

Haushalten:<br />

Es müsste<br />

• verlässlich und langlebig sein, eine gewisse<br />

Sicherheit bieten, damit mein heutiger Einsatz<br />

registriert wird um für morgen als „Vorleistung“<br />

dokumentiert und gesichert zu sein<br />

• weite Verbreitung haben, damit es auch nach<br />

einem Umzug noch greift<br />

Im Prinzip haben Tauschringe Erfahrungen gesammelt,<br />

wie Tauschleistungen verbindlich in „Konten“<br />

dokumentiert und als verbleibende Werte fortgeschrieben<br />

werden können. Deutlich ist aber, dass an<br />

die Verbindlichkeit von ANIA weit größere Anforderungen<br />

gestellt werden muss, weil die Zeitspanne zwischen<br />

den „Tauschleistungen“ weit größer ist als die<br />

Lebensdauer mancher bestehender Tauschringe.<br />

Deshalb sind aus heutiger Sicht dafür vordringlich<br />

Grundlagen zu schaffen:<br />

• Klärung einer Rechtsform, die ANIA die verlässliche<br />

Trägerschaft ermöglicht und ihre<br />

Identität absichert**<br />

• Klärung der finanz- und steuerrechtlichen<br />

Implikationen von ANIA<br />

• Klärung der Verwaltungsanforderungen an<br />

ANIA und Schaffung einer Dokumentationsgrundlage<br />

für den Austausch von Leistungen<br />

im Netzwerk<br />

• Marketing und Öffentlichkeitsarbeit für die<br />

Verbreitung von ANIA<br />

Erläuterungen<br />

ANIA ist eine Vision. Sie entspricht dem Bedürfnis, Vorsorge<br />

fürs Alter zu treffen.<br />

Sie weicht ab von der Vorstellung des heutigen Generationenvertrages:<br />

Es gibt zwei Generationen: Die Jungen<br />

und die Alten: Die Jungen sorgen für die Alten,<br />

so wie sich früher die Alten um die Jungen gesorgt<br />

haben. Dieser „Generationenvertrag“ ist heute nicht<br />

mehr zusätzlich zu Lasten der Jungen belastbar. Dies<br />

wäre aber bei der sich verändernden Alterspopulation<br />

unausweichlich<br />

Es kommt zunehmend eine neue Altersgruppe ins Geschehen:<br />

„Die jungen Alten“, oder besser: Diejenigen,<br />

die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind und aus<br />

unterschiedlichen Gründen auch nicht wieder ins Berufsleben<br />

zurückfinden werden, die aber keineswegs<br />

hilfebedürftig sind. Im Gegenteil: Sie möchten ihren<br />

gesellschaftlichen Einsatz durchaus bringen, wenn der<br />

denn gefragt ist und wenn er ihnen einen direkten<br />

Nutzen verspricht.<br />

In der sich dramatisch verändernden Alterspyramide<br />

sind die Probleme des menschenwürdigen Alterns<br />

kaum mehr zu lösen, ohne diese Altersgruppe substantiell<br />

zu beteiligen. (Im Wesentlichen ist hier ihre<br />

Beteiligung im Servicebereich angesprochen.)<br />

Selbstverständlich muss der hier geforderte - zu nutzende<br />

und zu leistende - Service bezahlt werden.<br />

Die, die den Service erhalten möchten verfügen aber<br />

nicht über die finanziellen Mittel, den Service zu entgelten.<br />

Die, die den Service leisten können, werden in<br />

der Regel dazu nicht bereit sein, wenn er bezahlt wird,<br />

da die Vergütung die vorhandenen Versorgungsbezüge<br />

schmälern oder gefährden würde. (Das weite Feld<br />

der Schwarzarbeit in diesem Bereich und auch das<br />

beeindruckende Feld der nach wie vor bestehenden<br />

unentgeltlichen familiären und nachbarschaftlichen<br />

gegenseitigen Hilfe lassen wir hier unberücksichtigt).<br />

Es muss also eine Vergütung gefunden werden, die<br />

motiviert und nicht zusätzlich belastet.<br />

Das Problem der Altersvorsorge betrifft alle ab dem<br />

Zeitpunkt des beruflichen Engagements bis zum Lebensende.<br />

Alle sind gefordert und auch motiviert, für<br />

ihre Altersversorgung beizutragen. Während der beruflichen<br />

Entlohnung gibt es für die Altersversorgung<br />

gesetzliche Vorgaben, Sozialleistungen zu erbringen,<br />

die der Altersversorgung dienen. Viele, die die heutige<br />

Rentenentwicklung bewusst verfolgen, sind bereit,<br />

über die gesetzlichen Grundlagen hinaus finanzielle<br />

Rücklagen zur Altersversorgung zu erbringen.<br />

Wer aber nicht mehr im Berufsleben steht, hat kaum<br />

mehr finanzielle Möglichkeiten, zur Altersversorgung<br />

beizutragen. Worüber diese Altersgruppe verfügt, ist<br />

freie Zeit. Viel Zeit, die vielfach nicht mehr sinnvoll (z.B.<br />

zur Altersvorsorge) genutzt werden kann und damit<br />

den eigenen Alterungsprozess beschleunigt (wenn<br />

nicht der riesige Wachstumsmarkt „Unterhaltung und<br />

Freizeit“ wegen fehlender finanzieller Ressourcen ausreichend<br />

bedient und genutzt werden kann).<br />

Hier setzt die Vision von ANIA ein: Ein Zeittauschmark:<br />

Heute die Zeit investieren, die morgen bei Bedarf<br />

abgerufen werden kann. Eine Kombination der Ideen<br />

einer Zeittauschbörse und einer Altersversicherung:<br />

Heute Zeit in den erforderlichen Service einbringen,<br />

die morgen, wenn sie denn zur Linderung der eigenen<br />

Alterungsprobleme benötigt wird, abgerufen werden<br />

kann.<br />

Selbstverständlich bedarf es für den Aufbau eines<br />

solchen Systems zur Altersvorsorge, für den Aufbau<br />

eines aktiven Netzes zur Gestaltung eines menschenwürdigen<br />

Alterns, eine nicht zu unterschätzendes<br />

Management.<br />

Anknüpfen könnte man an die vielfältigen Selbsthilfegruppen<br />

und Tauschbörsen in fast allen Kommunen<br />

31


und Landkreisen, die letztlich das gleiche Ziel verfolgen,<br />

oftmals mit einem caritativen Hintergrund, der<br />

durchaus als Grundlage tragen kann.<br />

Ihnen müsste eine Organisationsform angeboten<br />

werden, die die eingebrachten Leistungen als Vorsorgeleistungen<br />

abzusichern vermag.<br />

Nicht zu verkennen sind die „Einstiegsprobleme“: Wer<br />

heute bereits Serviceleistungen zur Altersbewältigung<br />

benötigt, ist vielfach nicht(mehr) in der Lage,<br />

dafür Tauschleistungen zu erbringen oder sie adäquat<br />

zu entgelten.<br />

Denkbar wäre eine Teilentgeltung: Ein als Aufwandsentschädigung<br />

zu bezahlender Beitrag (von z.B. derzeit<br />

5 Euro /Stunde) für die heute erhaltene Leistung.<br />

Dieser Betrag vergütet einen Aufwand, der aber nicht<br />

(ausschließlich) vom Serviceleistenden erbracht wird,<br />

sondern auch von der Organisation, die diese Leistung<br />

als Altersvorsorge sichert. Entsprechend könnte<br />

er (teilweise) zur Stützung dieser Organisation sowie<br />

für deren „Zukunfts-Sicherungsfond“ eingesetzt werden.<br />

Die Gemeinnützigkeit dieses „Zeittausches“ sollte<br />

im Vordergrund bleiben: Im Vordergrund steht nicht<br />

eigener Gewinn, sondern die Einbindung in ein Netzwerk<br />

der gegenseitigen nachbarschaftlichen Hilfe.<br />

Auch aus Finanz- und Steuerrechtlichen Erwägungen<br />

sollte dieser Gesichtspunkt deutlich herausgestellt<br />

bleiben.<br />

Das „Netzwerk:<br />

Es könnte auf mehreren Ebenen erreicht werden:<br />

Real:<br />

o<br />

o<br />

ANIA-Satzung: Hier könnte die Mustersatzung<br />

zum Aufbau von ANIA vor<br />

Ort dargestellt werden (Genossenschafts-Mustersatzung)<br />

wer sind wir: Darstellung der Organisation<br />

(im Aufbau) – Adresse der Organisationsbetreiber<br />

Gemeinnützige Genossenschaften vor Ort:<br />

Wahrscheinlich ist es sinnvoll, in Kreisen und kreisfreien<br />

Städten selbständige Einheiten von ANIA zu gründen<br />

( etwa – gemeinnützige Genossenschaften nach<br />

einer Mustersatzung). Zur Initiative dafür werden Tauschringe<br />

oder Selbsthilfegruppen vor Ort beworben.<br />

Es müsste ihnen das Angebot gemacht werden, eine<br />

zuvor geprüfte Organisationsstruktur zu übernehmen.<br />

Es könnte auch die Möglichkeit der Zertifizierung<br />

angeboten werden, die von einer Dachorganisation<br />

durchgeführt wird. Dies würde die Tragfähigkeit und<br />

Langlebigkeit von ANIA vor Ort absichern.<br />

karl-fried@schuwirth.de<br />

* „ANIA“ ist der vorläufige <strong>Arbeit</strong>stitel, gefunden in<br />

einer schlaflosen Nacht von Edgar Bergner, Zimmern<br />

o.R.<br />

** Aus heutiger Sicht könnte die Bildung einer<br />

gemeinnützigen Genossenschaft den Anforderungen<br />

am Ehesten gerecht werden<br />

Virtuell:<br />

„anianet.de“ könnte die Plattform sein für die Organisation<br />

von ANIA:<br />

• home: Signet und Kurzdarstellung. Darunter:<br />

o Was ist ANIA: Darstellung der Idee und<br />

Hinweise, wie kommt man dran<br />

o<br />

o<br />

Interessenten-Registrierung: Hier kann<br />

man sich eintragen als Interessent(in)<br />

um ANIA zu nutzen oder um Mitgliedschaft<br />

zu beantragen<br />

ANIAnet in ihrer Nähe: Eine Suchmaschine<br />

für ANIA - Organisationen<br />

nach Postleitzahlen geordnet (oder<br />

zunächst eine Aufzählung von Adressen,<br />

die an Ort den Zugang zu ANIA<br />

ermöglichen - nach Postleitzahlen<br />

geordnet)<br />

32


Leserbrief<br />

(zum Hartz IV-Artikel im <strong>Rundbrief</strong> 2/2004)<br />

Patchwork MK<br />

Dechant-Röper-Str.1<br />

58706 Menden<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

wir möchten Ihnen unsere momentane Situation<br />

darstellen. Wir haben uns hier in Menden mit ca.<br />

30 betroffenen Familien zusammengeschlossen,<br />

um auf juristischem und politischem Wege eine<br />

Änderung zu erwirken.<br />

Seit der Einführung des Hartz 4 - Konzeptes sind<br />

die sog. „Patchwork - Familien „ stark benachteiligt.<br />

Durch die Neuregelung werden nun die<br />

Stiefelternteile mit Ihrem gesamten Vermögen und<br />

Gehalt in die neu geschaffene Bedarfsgemeinschaft<br />

mit einberechnet. Dazu kommt es zu Einbußen<br />

in den Familien von bis zu 1000 im Monat, die<br />

nicht aufzufangen sind. Der Kindesunterhalt, der<br />

von den leiblichen Elternteilen nicht oder nicht in<br />

genügendem Umfang geleistet wird, muss jetzt<br />

durch den Stiefelternteil aufgefangen werden.<br />

In vielen Fällen zahlen die Stiefelternteile noch<br />

zusätzlich Unterhalt für ihre eigenen Kinder aus<br />

erster Ehe.<br />

Ohne von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit betroffen zu sein, werden<br />

so komplette Familien zu Sozialfällen gemacht, da<br />

sie durch ihre Wahl der Familienkonstellation auf<br />

Sozialhilfeniveau abrutschen. Würden sie nicht<br />

mehr arbeiten gehen, hätten sie nur unwesentlich<br />

weniger für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung.<br />

Ist das nicht ein Widerspruch in sich <br />

Insgesamt bedeutet das, dass die Stiefelternteile<br />

durch die Bedarfsgemeinschaft gezwungen werden,<br />

„Unterhalt“ zu zahlen für Kinder, die nicht ihre<br />

eigenen sind. Natürlich ist damit nicht der reguläre<br />

Kindesunterhalt gemeint. Der Stiefelternteil<br />

ersetzt innerhalb der Bedarfsgemeinschaft<br />

die Unterhaltsleistungen, die vom eigentlich<br />

unterhaltspflichtigen Elternteil nicht geleistet<br />

werden. Dieser wiederum wird in von der ARGE in<br />

keinster Weise angetastet. All diese Familien haben<br />

in der Vergangenheit versucht, auf juristischem<br />

Wege in zivilen und strafrechtlichen Prozessen<br />

den Unterhalt der Kinder einzuklagen, leider<br />

jedoch in vielen Fällen ohne bemerkenswerten<br />

Erfolg. Offensichtlich lässt das Unterhaltsgesetz<br />

viel Freiraum für Unterhaltspflichtige, um sich den<br />

Zahlungen zu entziehen.<br />

Da sich die Stiefeltern mittlerweile in großer<br />

finanzieller Notlage befinden, wird für viele<br />

Familien nur der Weg bleiben, sich zu trennen.<br />

In diesem Fall wären die Kinder durch das UVG<br />

wieder versorgt und der Stiefelternteil wieder<br />

finanziell nahezu unabhängig. Kann das Sinn<br />

einer zukunftsorientierten Familienpolitik sein <br />

In unseren Ohren klingen die Reden der Politiker<br />

zur Verbesserung der Situation von Familien wie<br />

Hohn! Ist nicht in unserem Grundgesetz die Rede<br />

von der Familie als „Keimzelle des Staates“ Wir<br />

dagegen müssen gerade erfahren, dass Familien<br />

gerade mit mehreren Kindern durch staatlichen<br />

Willen ins <strong>sozial</strong>e Abseits gedrängt werden.<br />

Auf juristischem Wege konnten wir bereits<br />

Beschlüsse erkämpfen, in denen uns die Gerichte<br />

eindeutig Recht geben. Leider hat sich die<br />

Hoffnung, jetzt auch von Amts wegen Recht zu<br />

bekommen, nicht erfüllt. Wir haben uns über die<br />

Vorgehensweise informiert, mit der wir jetzt zu<br />

rechnen haben. Die ARGE reagiert auf Beschlüsse<br />

des Sozialgerichtes ( in unseren Fällen des<br />

Sozialgerichtes Dortmund ) mit dem Antrag, diese<br />

Anordnung abzuweisen. Das ganze Verfahren<br />

wird nun zur NRW - ARGE weitergegeben. Diese<br />

wiederum wird in der zweiten Instanz über das<br />

Landes<strong>sozial</strong>gericht Widerspruch einlegen usw.<br />

usw. Das bedeutet für die betroffenen Familien<br />

einen schier endlosen Rechtsstreit, den viele von<br />

ihnen finanziell nicht überstehen werden. Im<br />

Moment haben wir das Gefühl, den biblischen<br />

Spruch „ von Pontius zu Pilatus wandern“ mit<br />

Leben zu füllen!!!<br />

Wir haben zu vielen Politikern sowohl auf<br />

kommunaler als auch auf Bundesebene Kontakt<br />

aufgenommen. Alle geben uns Recht und sind<br />

überrascht, dass es diese Regelung überhaupt<br />

gibt. Unsere Wahlkreisabgeordete des Märkischen<br />

Kreise, MdB Frau Dagmar Freitag (SPD ) hat<br />

unseren Sachverhalt bereits an verschiedene ,<br />

möglicherweise zuständige Stellen weitergeleitet;<br />

leider bisher ohne konkrete Ergebnisse.<br />

Wir hoffen, dass Sie durch Ihre fachliche<br />

Kompetenz schnell erkennen werden, welcher<br />

politische Irrsinn hier entstanden ist, der durch<br />

kein deutsches Gesetz gedeckt ist. Darum<br />

bitten wir Sie, sich für uns einzusetzen, denn<br />

Versprechungen und Briefe ohne Folgen haben<br />

wir schon genug bekommen.<br />

i.A. der IG Patchwork MK Judith Luig-Schierhorn<br />

und Christof Luig<br />

Unterlagen der Gerichte unter den Aktenzeichen:<br />

Sozialgericht Düsseldorf Az.: S 23 AS 104/05 ER<br />

Sozialgericht Aurich Az.: S25 AS 6/05 ER<br />

Sozialgericht Schleswig AZ.: S1 AS 51/05 ER


34<br />

Wirtschaftsunternehmen und<br />

Nachbarschaftszentrum schließen ein<br />

Bündnis für Familien<br />

Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) und das<br />

Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der ufafabrik<br />

e.V. haben am 18.April 2005 einen Kooperationsvereinbarung<br />

unterzeichnet.<br />

Inhalt ist die Förderung und Unterstützung der Familien<br />

von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BSR<br />

durch den Familienservice des NUSZ.<br />

Der Familienservice des NUSZ übernimmt die flexible<br />

Kinderbetreuung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

der BSR in den Fällen, in denen<br />

- ein Kind erkrankt ist und zu Hause versorgt<br />

werden muss<br />

- Eltern auf Grund betrieblicher Bedürfnisse<br />

(z.B. Dienst zu Zeiten in denen die Kitas ge<br />

schlossen sind, Fort- und Weiterbildungen)<br />

eine Kinderbetreuung benötigen<br />

Der Familienservice übernimmt darüber hinaus die<br />

Betreuung und Versorgung erkrankter oder Pflege<br />

bedürftiger Angehöriger von BSR Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern.<br />

So fing alles an:<br />

Bereits im Herbst 2002 begannen erste Kontakte zwischen<br />

NUSZ und BSR. Eine Personalvertreterin der<br />

BSR hatte aufgrund langjähriger Zusammenarbeit<br />

mit dem NUSZ Kenntnis über die Kinderbetreuungs-<br />

Angebote des NUSZ. Sie fragte beim NUSZ nach den<br />

Möglichkeiten flexibler Kinderbetreuung für Mitarbeiterinnen<br />

der BSR.<br />

Der Wunsch der Personalvertreterinnen und des Vorstandes<br />

der BSR war es, Kinderbetreuung sicherzustellen<br />

für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Dienst,<br />

Fort-oder Weiterbildung zu Zeiten haben, während<br />

derer die Kitas geschlossen sind.<br />

Ein weiteres Angebot, das die BSR nutzt, ist die Betreuung<br />

und Versorgung erkrankter oder pflegebedürftiger<br />

Angehöriger von BSR Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern.<br />

Nach der ersten Kontaktaufnahme stellte die Personalvertretung<br />

dem Vorstand der BSR das gesamte Angebot<br />

des Familienservice in einem persönlichen Gespräch<br />

und mittels eines Flyers vor. Es folgte eine Zeit<br />

intensiver Gespräche und der Erarbeitung konkreter<br />

Schritte zur Umsetzung auch durch den Gesundheitsund<br />

Sozialdienst sowie die Gleichstellungsbeauftragte<br />

der BSR auf der einen Seite und die verantwortlichen<br />

Mitarbeiterinnen des NUSZ auf der anderen Seite. Die<br />

Mitarbeiter/innen der BSR besuchten das NUSZ und<br />

schauten sich das „Gesamtkunstwerk ufafabrik“ mit all<br />

seinen Möglichkeiten (18.000qm Gelände, Restaurant,<br />

Kinderbauernhof, Bioladen, Bäckerei, Dojo Sporthalle)<br />

an und gewannen so einen Eindruck davon, in welchem<br />

Rahmen der Familienservice arbeitet und auf<br />

welche Ressourcen sich die <strong>Arbeit</strong> stützt, die auch den<br />

BSR Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern künftig zur Verfügung<br />

stehen.<br />

Die Mitarbeiterinnen des NUSZ wiederum erhielten<br />

in den Räumen der BSR einen Eindruck von den vielfältigen<br />

<strong>sozial</strong>en und Gesundheits fördernden Möglichkeiten,<br />

die die BSR ihren Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern bietet.<br />

Durch die regelmäßigen Gespräche entstand eine<br />

Basis des Vertrauens und der gegenseitigen Sympathie<br />

auf beiden Seiten. Das ist meines Erachtens die<br />

wichtigste Grundlage einer gelingenden Partnerschaft<br />

zwischen einem Wirtschaftsbetrieb und einem<br />

<strong>sozial</strong>en Unternehmen.<br />

Den Nutzen aus dieser Partnerschaft haben die Familien,<br />

die rasch und flexibel Unterstützung erhalten,<br />

die BSR, weil sie mit ihrem positiven unterstützenden<br />

Handeln sowohl ein gutes Betriebsklima als auch<br />

hochmotivierte Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter erhält<br />

und das Nachbarschaftszentrum, das mit seinen hochmotivierten<br />

und qualifizierten Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern <strong>Arbeit</strong>splätze erhält und weitere schafft<br />

und so für Wohlstand und Wachstum in der Region<br />

und im Stadtteil sorgt.<br />

Noch einige Anmerkungen zum Familiennetzwerk<br />

des NUSZ<br />

Der Familienservice für Firmen ist Bestandteil eines<br />

umfassenden Familiennetzwerkes des NUSZ.<br />

Dieses Familiennetzwerk verfügt über ein weitgefächertes<br />

Angebot zur Förderung und Unterstützung<br />

von Familien, beginnend mit der Geburtsvorbereitung<br />

für Paare und allein Erziehende , Frühförderung<br />

erkrankter Babys, Krisenintervention für Eltern mit<br />

Kleinstkindern, die heftig und stundenlang schreien,<br />

Spiel-und Bewegungskurse für Eltern und Kinder,<br />

Elterntrainings für einen entspannten Familienalltag,<br />

Beratung in Erziehungsfragen, flexible Hilfen zur Erziehung,<br />

Kinderbetreuung rund um die Uhr in Gruppen<br />

oder einzeln, in unseren Kitas oder den Räumen der<br />

verschiedenen Nachbarschafts-, Familien und Kinder<br />

Treffpunkte über die Pflege und Versorgung erkrankter<br />

Menschen bis hin zur Begleitung Sterbender und<br />

ihrer Familienangehörigen.<br />

Ein wesentlicher Aspekt unseres Erfolges ist die Vernetzung<br />

und Zusammenarbeit mit allen Institutionen<br />

und Wirtschaftsbetriebe in der Region sowie die Qualitätssicherung<br />

und Entwicklung unserer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Renate Wilkening<br />

Geschäftsführerin NUSZufafabrik e.V.


Sprengelhaus „Inter<strong>kulturelle</strong>s<br />

Gemeinwesenzentrum“ und Haus<br />

für Gesundheitsförderung in Berlin<br />

eröffnet.<br />

7. April 2005, 16.00 Uhr. Frau Dr. Heidi Knake-Werner,<br />

Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz<br />

lüftet das Schild am Eingang Sprengelstrasse<br />

Nr. 15.<br />

innerhalb von 10 Jahren beim privaten Vermieter<br />

„abgewohnt“ werden. Auf diese Weise gibt es für den<br />

entsprechenden Zeitraum ausgesprochen günstige<br />

Mietkonditionen.<br />

Die Trägerschaft des Hauses übernahm ein eigens<br />

dafür gegründeter Verein „GiS e.V.“ . Diese Vereinigung<br />

- Gemeinsam im Stadtteil - ist ein Zusammenschluss<br />

aus vielen Einzelinitiativen der Gesundheitsförderung,<br />

Gemeinwesenarbeit, Integration in die <strong>Arbeit</strong>swelt<br />

und der inter<strong>kulturelle</strong>r Begegnung.<br />

Ehrenamtlich<br />

Das Sprengelhaus ist damit offiziell eröffnet .<br />

Zu dem schon seit zwei Jahren bestehenden Büro mit<br />

Schaufenster im Vorderhaus sind im Hinterhaus noch<br />

550 m² auf zwei Etagen hinzugekommen, die direkt<br />

über den Laden zugänglich sind. Nun erstrahlen im<br />

neuen Glanz parterre, ganz in weiß, ein Gymnastiksaal<br />

mit Spiegelwand und eine Etage höher, Schulungsund<br />

Büroräume.<br />

Die Idee ist vor 6 Jahren aus einer Befragung des<br />

Quartiermanagements im Kiez heraus geboren worden.<br />

Die Bevölkerung (ca. 15.000 Menschen leben in<br />

diesem Quartier, einem der sog. Programmgebiete<br />

der „Sozialen Stadt“) wünschten sich, jedenfalls die<br />

Befragten, an erster Stelle ein bürgernahes Nachbarschaftshaus.<br />

Ein Objekt wurde gefunden und 350.000<br />

Euro aus Mitteln der Stadtentwicklung investiert.<br />

Die solchermaßen eingebrachte Summe kann nun<br />

Dieser Verein als solcher arbeitet vollständig ehrenamtlich.<br />

Hauptamtliche Mitarbeiter/innen gibt es im<br />

Sprengelhaus nur als Angestellte der Einzelinitiativen<br />

oder –projekte, die das Haus mit tragen.<br />

Die Nutzergruppen sind aufgefordert, ihren Teil zur<br />

Miete beizutragen. D.h. konkret: 60% der Gruppen<br />

müssen 15 Euro pro Stunde für die Raummiete aufbringen,<br />

wenn bis zu 40% andere gemeinwesenorientierte<br />

Aktionen möglich werden sollen, über die keine<br />

Einnahmen erzielt werden können. Somit könnte sich<br />

der laufende Betrieb des Hauses ohne Dauersubventionierung<br />

von Bezirk oder Stadt/Land tragen. Damit<br />

bliebe das Sprengelhaus, im Bürokratendeutsch ausgedrückt<br />

„kostenneutral“. Also: Ein bemerkenswerter<br />

Finanzierungsweg für eine Nachbarschaftsinitiative<br />

in einer Zeit, in der die öffentliche Hand sich für außer<br />

Stand erklärt, entsprechende Kosten zu tragen.<br />

Sponsoren gesucht<br />

Sponsoren werden noch gesucht. Ganz fündig wurde<br />

man jedoch noch nicht. Auch die Firma Schering,<br />

Berlins weltweit operierender Pharmakonzern, mit<br />

seinem nahe gelegenen Firmensitz, hat noch nicht<br />

angebissen, die Schokoladenseite bürgerschaftlichen<br />

Engagements mitzufinanzieren. Der Vorstand des<br />

„Nachbarschaftsvereins mit Gesundheitsschwerpunkt“<br />

hat, wie er bekennt, keinerlei Berührungsängste,<br />

eher Appetit, auch mit weiteren Unternehmen wie<br />

z.B. der namensgleichen Schokoladenfabrik (Sprengel)<br />

in Kontakt zu treten.<br />

Fürs Erste ist das Nachbarschaftsprojekt eine gelungene<br />

Initiative, die allerdings noch eine Menge weiterer<br />

selbstloser Anstrengungen braucht, wenn das Gesamtvorhaben<br />

von Erfolg gekrönt sein soll.<br />

Spannend bleibt vor allem die Frage: Wird es auf Dauer<br />

gelingen, ein solches Nachbarschaftshaus „kostenneutral“,<br />

d.h. ohne z u s ä t z l i c h e Fördermittel zu<br />

betreiben<br />

Text und Bild<br />

Armin Emrich<br />

35


Stadteilzentren als starke Partner von<br />

Stadtteil- und Quartiersmanagement<br />

Aus dem Impulsreferat zur 11. StS-Lenkungsrunde<br />

<strong>sozial</strong>e Stadt am 13.05.05<br />

Dr. E. Löhnert, PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband Berlin<br />

Das Programm „Soziale Stadt“ fokussiert u.a. darauf,<br />

der <strong>sozial</strong>en Spaltung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken.<br />

Bei der Erfüllung dieser Aufgabe tragen<br />

Stadtteilzentren und Quartiersmanagement eine große<br />

Verantwortung. Im Rahmen der Stadtteilarbeit haben<br />

beide nicht nur viele Berührungspunkte, sondern<br />

auch identische Ziele und verfügen in der praktischen<br />

Zusammenarbeit bereits über bewährte Partnerschaften.<br />

Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und<br />

die damit verbundenen immer weniger zur Verfügung<br />

stehenden öffentlichen Mittel geben den Anlass über<br />

„Möglichkeiten der Mitwirkung von Stadtteilzentren<br />

in Quartiersgebieten“ neu nachzudenken. Dabei ist<br />

der Begriff der „starken Partner“ bereits Anspruch an<br />

Realität und Perspektive zugleich.<br />

Was bedeutet eigentlich der Begriff<br />

Stadtteilzentrum<br />

Als Stadtteilzentren bezeichnen wir in Berlin programmatisch<br />

Einrichtungen oder lokale Verbundstrukturen,<br />

in denen die Angebotsspektren der Nachbarschaftshäuser<br />

und Selbsthilfekontaktstellen zusammengefasst<br />

sind. Die Aufgaben der Stadtteilzentren reichen,<br />

laut vertraglich vereinbartem Förderkonzept, von der<br />

Stärkung des bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen<br />

Engagements sowie der Bürgerbeteiligung über das<br />

Angebot bürgernaher <strong>sozial</strong>er Dienste (Lebensqualität<br />

im Stadtteil) bis zu einer aktiven Rolle bei der<br />

Quartiersentwicklung im Sinne von Vernetzung und<br />

Integration. Hier gibt es bereits Berührungspunkte mit<br />

den Aufgabengebieten eines sog. „Stadtteilmanagements“:<br />

Über welche Ressourcen verfügen die<br />

Stadtteilzentren<br />

- 25 Nachbarschaftszentren gibt es, davon<br />

verfügt bis auf zwei Ausnahmen in jedem Bezirk mindestens<br />

eines über eine Basisförderung in Größenordnung<br />

ab etwa 80.000 Euro<br />

( Es gibt kein Nachbarschaftszentrum, welches nicht<br />

zusätzlich über geförderte weitere Projekte verfügt,<br />

die Nachbarschaftsarbeit stärken)<br />

- es bestehen 12 Selbsthilfekontaktstellen, in<br />

jedem Bezirk eine mit einer Ausstattung von in der<br />

Regel etwas mehr als 80.000 Euro<br />

und wir haben ein gesamtstädtisches Projekt, SEKIS<br />

(zentrale Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle<br />

zur Förderung von Selbsthilfe, Gruppen und Projekten),<br />

das derzeit mit 100.000 Euro ausgestattet ist.<br />

Warum sind Stadteilzentren „starke Partner“<br />

Für Stadtteilzentren ist die Region, der Stadtteil die<br />

entscheidende Orientierung und der wichtigste Bezugspunkt.<br />

Sie bündeln und aktivieren alle Kräfte für<br />

eine nachhaltig wachsende Struktur.<br />

Quartiersmanagement hat dagegen eher die Funktion<br />

einer Agentur, verbunden mit der Chance, Impulse<br />

auszulösen und kampagnenartig Dinge in Bewegung<br />

zu setzen.<br />

Ziele unserer Partnerschaft könnten insofern sein:<br />

Mit der Kenntnis der <strong>sozial</strong>en Räume und ihrer Struktur,<br />

der Ressourcen aber auch der Probleme und<br />

besonderen Bedarfslagen die Bürger und Akteure in<br />

Bewegung bringen, auch überholte Strukturen und<br />

Versäulungen aufbrechen und Interessen für zeitgemäße<br />

Entwicklungen mobilisieren.<br />

Stadtteilzentren entstehen aus bürgerschaftlichem<br />

Engagement und leben vom bürgerschaftlichem<br />

Engagement. Sie stehen für eine „Entwicklung von<br />

unten“, für demokratische Teilhabe und den Gestaltungswillen<br />

von Bürgerinnen und Bürgern in dieser<br />

Gesellschaft.<br />

Welche besonderen Erfahrungen verpflichten<br />

Stadtteilzentren zur Zusammenarbeit<br />

1. Stadtteilzentren tragen durch ihr Angebot<br />

einer nachbarschaftsorientierten und wohnortnahen<br />

<strong>sozial</strong>en Grundversorgung direkt<br />

zur Förderung und Integration aller im Stadtteil<br />

lebenden Bevölkerungsgruppen bei.<br />

2. Stadtteilzentren verbinden die <strong>sozial</strong>politische<br />

mit der stadtentwicklungspolitischen<br />

Dimension. Ihre Aktivitäten sind gleichermaßen<br />

auf die Verbesserung von Lebenschancen<br />

für die Menschen und auf die gemeinwesenorientierte<br />

Entwicklung einer Region<br />

gerichtet. Damit verbunden ist die Aufgabe,<br />

alle bestehenden Ressourcen für die Entwicklung<br />

des Gemeinwesens zu erschließen.<br />

3. Stadteilzentren aktivieren und stützen die<br />

Bürgerinnen und Bürger in ihrem Engagement<br />

für die Verbesserung der Lebensqualität<br />

in ihrem Stadtteil oder Kiez. Das wesentlichste<br />

Element hierbei ist eine demokratische Mitwirkung,<br />

die gesellschaftliche und politische<br />

Teilhabe gewährleistet.<br />

Wie kann die weitere Entwicklung einer Partnerschaft<br />

zwischen Stadtteilzentren und Quartiersmanagement<br />

aussehen<br />

1. Es sind vor einer Zusammenarbeit generell<br />

folgende Fragen zu klären:<br />

36


a) Was bringen wir zusammen auf den Weg,<br />

was getrennt<br />

b) Welche Kommunikationsstrukturen sollen<br />

entwickelt werden<br />

c) Welche Ressourcen werden eingebracht<br />

2. Es müssen gemeinsame Handlungsfelder<br />

festgelegt werden. Die klare Definition von<br />

Ziel- und Aufgabenstellungen ist wichtig, um<br />

Doppelstrukturen zu vermeiden und effektive<br />

Wirksamkeit zu gewährleisten. Dabei müssen<br />

keine neuen Steuerungsrunden aufgebaut,<br />

sondern die maßgeblichen Partner/innen<br />

ganz praktisch zeitnah und umfassen informiert<br />

werden. Absprachen sollten unbürokratisch<br />

erfolgen, und vor allem verbindlich sein.<br />

3. Es muss die Frage gestellt werden, inwieweit<br />

Stadtteilzentren nicht nur Partner, sondern<br />

auch Akteure der Sozialen Stadt sein sollen.<br />

Konkret heißt das, es sollte geprüft werden,<br />

inwieweit Stadtteilzentren als Träger für Maßnahmen<br />

des Quartiers- und Stadtteilmanagements<br />

benannt werden können. Das dies ein<br />

überaus sinnvoller Ansatz ist, zeigen bereits<br />

bestehende Entwicklungen z. B. in der Werner-<br />

Düttmann-Siedlung, Träger Nachbarschaftshaus<br />

Urbanstraße und im Quartiersmanagement<br />

Rollbergviertel, Träger Humanistischer<br />

<strong>Verband</strong>, LV Berlin e. V..<br />

4. Es ist notwendig, bestehende Schnittstellen<br />

inhaltlich weiter auszuleuchten:<br />

- Evaluation von Beteiligungsformen und<br />

- Prüfung der Nachhaltigkeit von entwickelten<br />

Strukturen<br />

5. Gemeinsam abgestimmtes Einbinden weiterer<br />

Drittmittel, hier hat der PARITÄTISCHE<br />

gute Erfahrungen, so z. B. in Marzahn-Hellersdorf<br />

und Mitte (zusätzliche Förderung von<br />

Nachbarschaftsarbeit durch Stiftungsmittel)<br />

6. Jedes neue Vorhaben und Projekt sollte geprüft<br />

werden.<br />

In der Vergangenheit ist es nicht nur zuweilen<br />

geschehen, dass im Zuge des Quartiersmanagements<br />

dort Projekte entwickelt wurden,<br />

wo eigentlich eine Regelfinanzierungsstruktur<br />

(bes. Jugendhilfe, Seniorenangebote usw.)<br />

vonnöten gewesen wäre. Gerade der Verlagerung<br />

der Aktivitäten von QM auf <strong>sozial</strong>e Aufgaben<br />

sollte entgegengewirkt werden, denn<br />

hier gibt es viele Partner, die eine höhere<br />

Kompetenz und größere Nähe zu den Betroffenen<br />

haben. Hier wäre eine <strong>Arbeit</strong>steilung<br />

vorstellbar, die weniger zu Reibungsverlusten<br />

und zu einer besseren Einbindung der Projekte<br />

in die örtlichen Strukturen und regionalen<br />

Planungen führt.<br />

In diesem Sinne sollten ein Angebotsdenken<br />

verhindert und gezielte Maßnahmen initiiert<br />

werden, die auf die gesamte Entwicklung eines<br />

Gebietes gerichtet sind. Bei der Finanzierung<br />

von Regelstrukturen dürfen der Bezirk<br />

und die Politik nicht aus der Verantwortung<br />

genommen werden.<br />

7. Neue bzw. erweiterte Quartiers- und Stadtteilmanagementgebiete<br />

erfordern auch eine<br />

verbesserte Feinabstimmung vor Ort. Die<br />

Akteure sollten darauf festgelegt werden, mit<br />

bezirklichen Gremien und Stadtteilzentren<br />

direkt zu kooperieren.<br />

8. Bei der Gestaltung der Stadtteilzentren ist<br />

eines unserer Erfolgsrezepte die direkte Abstimmung<br />

mit den Bezirken. Diese Erfahrung,<br />

inzwischen eine „best practice“, könnte zur<br />

gemeinsamen Handlungsgrundlage für die<br />

Zusammenarbeit von Quartiersmanagement<br />

und Stadtteilzentren gemacht werden.<br />

Sollen die Stabilisierungen- und Aufwertungsprozesse<br />

langfristige und nachhaltige Wirkung erzielen, so<br />

sind bereits frühzeitig die in den einzelnen Stadtteilen<br />

liegenden Institutionen in die Quartiersverfahren einzubinden.<br />

Stadteilzentren stellen sich gern dieser Aufgabe, aber<br />

bei allen Kompetenzen, Erfahrungen und allem guten<br />

Willen – den haben die Stadtteilzentren aus Tradition<br />

– für zusätzliche Aufgaben benötigen die Stadtteilzentren<br />

auch zusätzliche Mittel.<br />

Dies gilt natürlich nicht nur für Stadtteilzentren, die in<br />

den Quartiersmanagement- bzw. Interventionsgebieten<br />

liegen, auch für Gebiete der Prävention und Verstetigung<br />

werden ausreichende Mittel gebraucht, um<br />

die Aufgaben und Ansprüche wirksam umzusetzen.<br />

Es ist zu begrüßen, dass die „Entwicklung starker<br />

Partnerschaften“ ein zentrales Element in der Neuausrichtung<br />

des Programms Soziale Stadt dargestellt.<br />

Allerdings ist davor zu warnen, den regelfinanzierten<br />

Einrichtungen zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen<br />

und keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung<br />

zu stellen, denn diese Erwartungen können sie aufgrund<br />

des stetigen Abbaus von Fördermitteln heute<br />

nicht mehr erfüllen. Auch sind aufwendig finanzierte<br />

Zusatzprogramme zum Nachteil regelfinanzierter Einrichtungen<br />

zukünftig zu vermeiden.<br />

Berlin, Mai 2005<br />

37


Am 29. April 2005 feierte das Nachbarschaftshaus<br />

Urbanstraße in Berlin mit einem festlichen<br />

Empfang sein 50 jähriges Bestehen. Hier der<br />

Glückwunsch unseres <strong>Verband</strong>es.<br />

Grußwort zum 50jährigen Bestehen<br />

des NBH Urbanstr.<br />

Die Geschichte des Nachbarschaftshauses Urbanstr. ist<br />

in vielfältiger Weise mit unserem <strong>Verband</strong> verknüpft.<br />

An seiner Gründung waren Menschen aktiv beteiligt,<br />

die in der Zeit der Weimarer Republik mit Friedrich<br />

Siegmund-Schultze in der Sozialen <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft<br />

Berlin-Ost zusammengearbeitet hatten, die<br />

Mitglied unseres Vorläuferverbandes, des „<strong>Verband</strong>es<br />

Deutscher Nachbarschaftssiedlungen“ gewesen war.<br />

Im Jahr 1956, ein Jahr nach seiner Gründung war das<br />

„Nachbarschaftsheim Urbanstr.“ Gastgeber der 7. Internationalen<br />

Konferenz unseres weltweiten Dachverbandes<br />

IFS (International Federation of Settlements<br />

and Neighbourhood Centres). Mit dieser Konferenz<br />

wurden die deutschen Nachbarschaftsheime und<br />

unser <strong>Verband</strong>, der damals den Namen „<strong>Verband</strong><br />

Deutscher Nachbarschaftsheime“ trug, wieder als<br />

voll gleichberechtigte Partner in die internationale<br />

Gemeinschaft der Nachbarschaftszentren aufgenommen.<br />

Viele Jahre war Elisabeth von Harnack zugleich Vorstandsmitglied<br />

des Nachbarschaftsheims Urbanstr.<br />

und der Berliner Landesgruppe unseres <strong>Verband</strong>es.<br />

1969 hat sich das „Nachbarschaftsheim Urbanstr.“ aus<br />

unserem <strong>Verband</strong> zurückgezogen, weil es mit dessen<br />

(neuem) Kurs nicht einverstanden war, der sich u.a. in<br />

der Umbenennung zu „<strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>“ manifestierte.<br />

Es war der neue Leiter des Hauses, Wolfgang Hahn,<br />

der 1984 das Nachbarschaftsheim wieder in unseren<br />

<strong>Verband</strong> zurückbrachte und sich in der Folgezeit auch<br />

persönlich stark für den <strong>Verband</strong>, insbesondere als<br />

langjähriges ehrenamtliches Vorstandsmitglied engagierte.<br />

Unser <strong>Verband</strong> weiß es zu schätzen, dass dieses Nachbarschaftshaus<br />

sich immer wieder in beispielhafter<br />

Weise nicht nur um seine „eigenen Angelegenheiten“<br />

gekümmert hat, sondern die Entwicklung der Nachbarschaftsbewegung<br />

insgesamt im Auge hatte:<br />

• Es hat neuen Initiativen dabei geholfen, Nachbarschaftshäuser<br />

ins Leben zu rufen<br />

• Es hat in Krisen geratene Einrichtungen im<br />

Stadtteil „unter die Fittiche genommen”<br />

• Es hat nach der „Wende” selbstlos mit Rat und<br />

Tat den Aufbau neuer Nachbarschaftshäuser<br />

im Ostteil der Stadt und im Land Brandenburg<br />

unterstützt<br />

Das Nachbarschaftshaus Urbanstr. zeichnet sich auch<br />

dadurch aus, dass es sich mit Leib und Seele der anstrengenden<br />

Tugend der Kooperation verschrieben<br />

hat. Es gibt kaum eine neue Aktivität oder Innovation<br />

des Nachbarschaftshauses, an der nicht andere Partner<br />

aus dem Stadtteil als verantwortlich Mitwirkende<br />

beteiligt sind. Das Nachbarschaftshaus nutzt seine<br />

relative Stärke nicht dazu, Pluspunkte im Konkurrenzkampf<br />

mit anderen Stadtteilakteuren zu sammeln,<br />

sondern setzt sie dafür ein, tragfähige Netzwerke aufzubauen,<br />

neue Impulse zu setzen und Kräfte zu bündeln.<br />

Das gilt für den Aufbau des Tauschringes und<br />

der Freiwilligenbörse ebenso wie für die Mitwirkung<br />

beim Mikropolis-Projekt und bei der KiezAktivKasse,<br />

das gilt für die soliden Kooperationsbeziehungen mit<br />

der bezirklichen Selbsthilfekontaktstelle im Rahmen<br />

des Stadtteilzentrumsverbundes ebenso wie für die<br />

Kooperation mit dem Schulbereich mit dem Schülerclub<br />

Break.<br />

Wir wünschen dem Nachbarschaftshaus Urbanstr.<br />

alles Gute für seine weitere <strong>Arbeit</strong>, bei der es sich,<br />

auf gute Tradition gestützt, weiterhin mutig neuen<br />

Herausforderungen stellen und für unseren <strong>Verband</strong><br />

ein wertvolles Mitglied, ein wichtiger Partner und ein<br />

ermutigendes Beispiel sein und bleiben wird.<br />

(Monika Schneider, Vorsitzende)<br />

Aus Anlass des Jubiläums hat das Nachbarschaftshaus<br />

eine Broschüre unter dem Titel „50 Jahre<br />

mittendrin“ herausgegeben, die eine ausführliche<br />

Darstellung der Geschichte des Hauses und seiner<br />

Nachbarschaftsarbeit enthält.<br />

Die Broschüre kann zum Selbstkostenpreis von<br />

5 Euro im NHU Urbanstr. 21, 10961 Berlin oder über<br />

E-mail an gekko@nachbarschaftshaus.de bestellt<br />

werden.<br />

38


Nachbarschaftswettbewerb<br />

Netzwerk Nachbarschaft<br />

Wo wohnen die kreativsten Nachbarn 2005<br />

Nach dem großen Erfolg im letzten Jahr geht der<br />

Wettbewerb „Netzwerk Nachbarschaft“ 2005 in die<br />

zweite Runde. Der Finanzpartner BHW und SCHÖNER<br />

WOHNEN weiten ihre Suche nach den engagiertesten<br />

und kreativsten Nachbarschafts-Initiativen aus. Neu:<br />

Pro Bundesland wird ein Sieger-Modell prämiert.<br />

Die Sieger erhalten Urkunden und Geldpreise im<br />

Gesamtwert von 16.000 Euro. Dazu gibt es viele<br />

attraktive Sonderpreise - zum Beispiel für die beste<br />

Senioren-WG, die kreativste Spielplatz-Initiative oder<br />

auch die schönste Begrünungsaktion.<br />

Das ist gefragt<br />

Nachbarn, die sich gegenseitig unterstützen - zum<br />

<strong>sozial</strong>en<br />

und wirtschaftlichen Nutzen aller<br />

Wohn-, Haus- und Straßengemeinschaften, welche<br />

die Lebens- und Wohnqualität aller erhöhen<br />

Initiativen für ein schöneres Wohnumfeld<br />

(gemeinsam begrünte Dachterrassen, Hinterhof-<br />

Oasen<br />

oder Freizeiteinrichtungen)<br />

Aktionen für selbst betriebene Kindergärten<br />

oder generationenübergreifende Nachbarschaftshilfe<br />

Initiativen für Haus- oder Straßenfeste,<br />

Tauschbörsen, innovative Nachbarschaftsläden oder<br />

Vereine<br />

Machen Sie mit!<br />

Sie selbst wohnen inmitten einen engagierten<br />

Nachbarschaft<br />

Sie kennen Menschen, die sich sehr für ihre<br />

Nachbarn einsetzen. Dann bewerben Sie sich mit<br />

einer Beschreibung und Fotos: Was zeichnet ihre<br />

Gemeinschaft aus Was haben Sie bisher erreicht<br />

Können auch andere Nachbarschaften davon<br />

profitieren<br />

Senden Sie Ihre Bewerbung an:<br />

AMG Hamburg<br />

Stichwort „Netzwerk Nachbarschaft“<br />

Goernestr. 30<br />

20249 Hamburg<br />

Oder per E-Mail an nachbarschaft@amg-hamburg.de<br />

Einsendeschluss ist der 15. August 2005.<br />

weitere Informationen unter:<br />

http://www.bhw.de/content/Service/<br />

WettbewerbNachbarschaft/<br />

Ankündigung Jahrestagung 2005<br />

Jahrestagung Stadtteilarbeit 2005:<br />

Stadtteilzentren im Wandel<br />

16.-18.11.05 im Stadtteilzentrum Kronsberg<br />

(Hannover)<br />

Der „Demographische Wandel“ hat vor allem in<br />

den neuen Bundesländern und im Ruhrgebiet<br />

bereits zu gravierenden Veränderungen geführt,<br />

die zukünftig noch deutlich stärker und – mehr<br />

oder weniger intensiv – alle Teile der Bundesrepublik<br />

und (in abgeschwächter Form) auch die<br />

europäischen Nachbarländer erreichen werden:<br />

Die Kinderzahlen sind stark rückläufig, dies führt<br />

zu insgesamt niedrigeren Einwohnerzahlen, zu<br />

höheren Anteilen an Migranten und älteren Personen.<br />

Viele Stadtteile (allen voran die mit niedrigerer<br />

Lebensqualität) werden „schrumpfen“<br />

mit der Folge, dass auch die Infrastruktur ausgedünnt<br />

wird: Vor allem Schulen, Kindertagesstätten<br />

und Jugendzentren werden im Bestand<br />

hinterfragt, generationsübergreifende und/oder<br />

multi<strong>kulturelle</strong> Angebote müssen ausgeweitet,<br />

ressortübergreifende Aufgabenkombinationen<br />

in den verbleibenden Infrastrukturen entwickelt<br />

werden, Themenfelder wie „Qualifizierung“,<br />

„Beschäftigung“, „Gesundheit“ und „Agenda21“<br />

breiteren Eingang in die Stadtteilarbeit finden.<br />

Stadtteilzentren als <strong>sozial</strong>raumbezogene Mittelpunkte<br />

<strong>sozial</strong>er und <strong>kulturelle</strong>r Infrastruktur<br />

stehen in besonderer Weise vor der Aufgabe,<br />

Lösungen für diese gesellschaftlichen Herausforderungen<br />

der Zukunft zu bieten.<br />

Welche Praxisfelder, welche Kooperationsformen,<br />

welche Zielgruppen werden die Stadtteilarbeit<br />

der Zukunft bestimmen Gibt es bereits<br />

heute gute Beispiele, die weiter entwickelt werden<br />

können<br />

Die Jahrestagung Stadtteilarbeit 2005 zum Thema<br />

„Stadtteilzentren im Wandel“ versucht, durch<br />

einführende Referate und vor allem durch beispielhafte<br />

Praxisprojekte Anregungen zugeben<br />

für die Weiterentwicklung der eigenen Stadtteilarbeit.<br />

Termin: 16.-18.11.05<br />

Ort: Hannover, Stadtteilzentrum Kronsberg<br />

Kosten: 120,- Euro(incl. Verpflegung,<br />

ohne Übernachtung)<br />

Das vollständige Veranstaltungsprogramm wird<br />

ca. Ende Juni unter www.stadtteilarbeit. de<br />

im Internet veröffentlicht.<br />

Veranstalter:<br />

• <strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

• Stadt Hannover<br />

• Internetportal www.stadtteilarbeit.de<br />

39


GlücksSpirale<br />

Der <strong>Rundbrief</strong> erscheint mit<br />

finanzieller Unterstützung<br />

der Glücksspirale

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