Rundbrief 1 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV
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ISSN 0940-8665<br />
41. Jahrgang / Juni 2005<br />
5,00 €<br />
<strong>Rundbrief</strong> 1<br />
2005<br />
• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale <strong>Arbeit</strong> •<br />
• Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •<br />
In dieser Ausgabe:<br />
• Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser<br />
im Zeitalter der Globalisierung<br />
• Dokumentation Fachtag : Aus Erfahrung gut –<br />
Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation<br />
• Die Helsinki-Deklaration der IFS<br />
• Bündnis für Familien von<br />
Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum<br />
• Stadteilzentren als starke Partner<br />
von Stadtteil- und Quartiersmanagement<br />
<strong>Verband</strong> für<br />
<strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.
Der <strong>Rundbrief</strong> wird herausgegeben vom<br />
<strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.<br />
Tucholskystr. 11, 10117 Berlin<br />
Telefon: 030 280 961 03<br />
Fax: 030 862 11 55<br />
email: bund@sozkult.de<br />
internet: www.vska.de<br />
Redaktion: Herbert Scherer<br />
Gestaltung: newsign Werbeagentur GmbH<br />
Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin<br />
Der <strong>Rundbrief</strong> erscheint halbjährlich<br />
Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand<br />
Titelbild: Theater der Erfahrungen<br />
Theatergruppe „Die Spätzünder“: Szene aus dem<br />
Stück „Die viehische Komödie“,
Inhalt<br />
Miu Chung Yan:<br />
Brückenbau im fragmentierten Gemeinwesen:<br />
Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser im Zeitalter der Globalisierung 4-13<br />
Dokumentation Fachtag :<br />
Aus Erfahrung gut –<br />
Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation 14-28<br />
International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres (IFS):<br />
Helsinki Declaration „Neighbourhoods First: Making the world a better place“<br />
(„Leben in Nachbarschaft – Bausteine für eine bessere Welt“) 29<br />
Karl-Fried Schuwirth:<br />
ANIA - Aktives Netzwerk im Alter 30-32<br />
Renate Wilkening:<br />
Bündnis für Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum 34<br />
Armin Emrich<br />
Eröffnung des Sprengelhauses 35<br />
Dr. Eberhard Löhnert<br />
Stadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement 36<br />
Monika Schneider<br />
Grußwort zum 50jährigen Bestehens des NBH Urbanstr. 38<br />
Nachbarschaftswettbewerb / Ankündigung Jahrestagung 2005 39<br />
Vorwort:<br />
Die hier vorgelegte Ausgabe des <strong>Rundbrief</strong>s hat zwei Schwerpunkte, die einiges miteinander zu tun haben:<br />
Es geht um die Zukunftsfähigkeit des Modells Nachbarschaftshaus angesichts neuer Herausforderungen, denen<br />
sich unsere Gesellschaft gegenüber sieht.<br />
Der Aufsatz von Miu Chung Yan beschäftigt sich mit dieser Frage aus einer kanadischen, aber<br />
zugleich „globalen“ Perspektive, er sieht die größte Stärke der Nachbarschaftshäuser („Settlements“) in der<br />
Zusammenfassung von drei Funktionen, die sich gegenseitig ergänzen, stützen und in Bewegung halten: dem<br />
Angebot unmittelbar nützlicher <strong>sozial</strong>er Dienste, dem „Gemeinwesenaufbau“ (Gestaltung nachbarschaftlichen<br />
Zusammenlebens im Wohnquartier) und dem Eintreten für <strong>sozial</strong>e Reformen. Unser internationaler Dachverband<br />
IFS hat sich mit seiner „Helsinki Declaration“, die wir gleichfalls dokumentieren, in ähnlicher Weise in einem<br />
Grundsatzpapier positioniert.<br />
Unser <strong>Verband</strong> hat sich in letzter Zeit verstärkt Fragen zugewandt, die mit den demographischen<br />
Veränderungen zu tun haben, die ihre Schatten vorauswerfen und insbesondere unsere <strong>sozial</strong>en<br />
Sicherungssysteme unter einen enormen Veränderungsdruck stellen. Eines steht schon jetzt fest: unsere<br />
Gesellschaft wird es sich nicht länger leisten können, ihre älteren Mitbürger in ein „ruheständlerisches“<br />
Abseits zu schieben. Sie wird sie in ihre Mitte zurückholen müssen, weil ihre Potenziale gebraucht werden.<br />
Nachbarschaftshäuser, die sich seit Jahren, gestützt auf den Willen der älteren Menschen selber, für eine<br />
entsprechende Sicht der Dinge stark gemacht haben, stehen vor einer erweiterten Aufgabe, in der viele Chancen<br />
liegen. Wir dokumentieren im Innenteil dieses <strong>Rundbrief</strong>es einen Fachtag zum Thema, an dem sich unser<br />
<strong>Verband</strong> im April beteiligt hat und auf dem deutlich wurde, dass es einerseits eine breite Übereinstimmung in<br />
entsprechenden Zielsetzungen gibt, aber andererseits, abgesehen von den Nachbarschaftshäusern, nur wenige<br />
Strukturen, die schon jetzt für diese Zukunftsaufgabe gerüstet sind.<br />
Einer besonderen Beachtung empfehlen wir auf der letzten Innenseite dieses <strong>Rundbrief</strong>s dem Aufruf zur<br />
Jahrestagung Stadtteilarbeit, die vom 16.-18. November wieder in Hannover stattfinden und sich in diesem Jahr<br />
schwerpunktmäßig unter dem Generalthema „Stadtteilzentren im Wandel“ mit den Zukunftsaufgaben unserer<br />
Einrichtungen beschäftigen wird.<br />
Herbert Scherer
4<br />
Miu Chung Yan, PhD<br />
Brückenbau im fragmentierten<br />
Gemeinwesen:<br />
Die Wiederbelebung der Settlement-<br />
Häuser (= Nachbarschaftsheime) im<br />
Zeitalter der Globalisierung<br />
Dr. Miu Chung Yan ist Assistenzprofessor<br />
im Department für Sozialarbeit<br />
und Familienstudien an<br />
der Universität von British Columbia<br />
in Vancouver, Kanada.<br />
Vor Abschluss seiner Dissertation<br />
war er zwölf Jahre lang als Sozialarbeiter<br />
und Sozialmanager in<br />
Hongkong und Toronto tätig. Sein<br />
aktuelles Forschungsinteresse hat<br />
drei Schwerpunkte: Integration<br />
von Migranten, Rolle von Nachbarschaftszentren<br />
beim Aufbau von<br />
funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in<br />
inter<strong>kulturelle</strong>n Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbeitet<br />
Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines praktischen<br />
Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau<br />
eines Studienganges für Sozialarbeiter in China.<br />
email: mcyan@interchange.ubc.ca<br />
Einleitung<br />
Die Globalisierung mit ihren gewaltigen ökonomischen<br />
Implikationen hat die Rolle der Regierung, die<br />
u.a. darin bestand, ihre Bürger zu schützen, erschüttert<br />
und bedroht die Solidarität der schon geschwächten<br />
städtischen Gemeinwesen. Das Gemeinwesen wieder<br />
aufzubauen, haben liberale Kommunitarier als Aufgabe<br />
auf die Tagesordnung gesetzt. Das Nachbarschaftshaus,<br />
ein gemeinwesenorientiertes Modell für <strong>sozial</strong>e<br />
Dienste, das die Funktionen der Dienstleistung mit<br />
der Stärkung des Gemeinwesens und dem Eintreten<br />
für <strong>sozial</strong>en Wandel verbindet, kann als eine gemeinwesenbasierte<br />
Organisation des dritten Sektors dazu<br />
dienen, solche Gemeinwesen wieder aufzubauen.<br />
Die Nachbarschaftshaus-(Settlement-)Bewegung<br />
hatte im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert<br />
eine große Wirkung in vielen zersplitterten,<br />
insbesondere armen, von Einwanderung geprägten<br />
Nachbarschaften, obwohl jede Einrichtung andere<br />
Schwerpunkte und Zielsetzungen hatte. Settlements<br />
als Gemeinwesenzentren oder Nachbarschaftshäuser<br />
wurden in der ganzen Welt ins Leben gerufen, um<br />
unterschiedlichen Gruppen, die jeweils in der gleichen<br />
örtlichen Umgebung leben, das Gefühl eines gemeinsamen<br />
Besitzes zu geben. In vielen nord-amerikanischen<br />
Städten sind solche Nachbarschaftshäuser immer<br />
noch in vielen verschiedenen Stadtvierteln tätig<br />
(Chesler, 1996; Fisher & Fabricant, 2002; Husock, 1993;<br />
Koerin, 2003). Jedoch hat eine Reihe von Faktoren<br />
dazu beigetragen, dass die „Settlement-Bewegung“<br />
als stagnierend beschrieben worden ist (Trolander,<br />
1987).<br />
Dieser Aufsatz spricht sich dafür aus, dass im Zeitalter<br />
der Globalisierung <strong>sozial</strong>e Aktivisten und Fachleute<br />
der Stadtteilentwicklung eine „fließende“ Definition<br />
des Gemeinwesens zur Grundlage ihrer Überlegungen<br />
machen sollen, die davon ausgeht, dass im Gemeinwesen<br />
unterschiedliche Interessen strategische<br />
Gemeinsamkeiten suchen, während sie in anderen<br />
Aspekten im Wettbewerb miteinander stehen. Das<br />
Nachbarschaftshaus mit der ihm innewohnenden humanistischen,<br />
einbeziehenden und demokratischen<br />
Natur, die Kommunikation, Unterstützung und Solidarität<br />
unter den Einwohnern anregt, kann ein solider<br />
und wirksamer „Dritter Sektor“ zur Rekonstruktion<br />
des Gemeinwesens im Zeitalter der Globalisierung<br />
sein. Der Aufsatz schlägt eine Reihe von Strategien für<br />
die Profession der Sozialarbeit vor, wie das Nachbarschaftshaus<br />
in seiner alten Funktion „wiederbelebt“<br />
werden kann.<br />
Das lokale Gemeinwesen im Zeitalter der<br />
Globalisierung<br />
Globalisierung, ein Begriff, der in den 80er Jahren populär<br />
wurde, beschreibt nicht nur ein facettenreiches<br />
<strong>sozial</strong>es Phänomen, das schon lange existiert hat,<br />
sondern darüber hinaus – und noch wichtiger – die<br />
größere und umfassendere Qualität von gegenwärtigen<br />
Kontakt- und Austauschbeziehungen über die<br />
nationalen Grenzen hinaus (Albrow, 1993). Globalisierung<br />
impliziert ein „Eine-Welt-System“ (Midgley,<br />
2000), das alle Aspekte des Lebens berührt: Soziales,<br />
Bevölkerungsentwicklung, Politik, Kultur und Wirtschaft<br />
und das sich verschiedener Kanäle bedient:<br />
Internet, Massenmedien, internationale Wirtschaftsunternehmen<br />
und Finanzmärkte. Von allen Aspekten der<br />
Globalisierung hat die Wirtschaft, die die Entwicklung<br />
eines globalen Marktplatzes heraufbeschwört, die<br />
Meinungsführerschaft übernommen (Ife, 2000). Wie<br />
Giddens und Dahrendorf (2001) beobachten, weckt<br />
die Globalisierung Argwohn in dreierlei Hinsicht: „Dominanz<br />
des Westens über den Globalisierungsprozess,<br />
die Rolle der Macht der Konzern oder das Eindringen<br />
des Marktes in zu viele Sphären des <strong>sozial</strong>en Lebens<br />
und die globale Ungleicheit“ (S.4).<br />
Die weltweite Ökonomie hat zu einer Zunahme der<br />
wirtschaftlichen und <strong>sozial</strong>en Ungleichheit geführt,<br />
nicht nur zwischen verschiedenen Ländern sondern<br />
auch im Innern jedes Landes. Während die ökonomische<br />
Globalisierung wegen ihrer negativen Auswirkungen<br />
auf die Entwicklungsländer als eine neue<br />
Form des Imperialismus beschrieben worden ist, hat<br />
sie ihre Hand unsichtbar auch dann im Spiel, wenn es<br />
um die Zunahme der <strong>sozial</strong>en Unterschiede in den<br />
entwickelten Ländern geht. Gegenwärtig leiden viele
entwickelte Länder unter steigenden <strong>Arbeit</strong>slosenraten,<br />
wachsenden Einkommensunterschieden und<br />
dem Verlust von <strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit (Glyn, 1998).<br />
Ökonomische und <strong>sozial</strong>e Auswirkungen der Globalisierung<br />
auf Nationalstaaten, Gemeinwesen und Individuen<br />
in den entwickelten Ländern sind enorm.<br />
Die ökonomische Globalisierung übt einen erheblichen<br />
Abwärtsdruck auf die jungen Nationalstaaten<br />
aus, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik anpassen,<br />
um sich dem globalen Wettbewerb stellen zu können.<br />
Im Gegenzug haben viele westliche Regierungen die<br />
Erfahrung des globalen Wettbewerbs genutzt, um<br />
öffentliche Ausgaben, insbesondere Sozialausgaben<br />
zurückzufahren (z.B. McQuaig, 1999; Mishra, 1999). Traditionelle<br />
Funktionen des Staates sind umstrukturiert<br />
worden, um mit den Herausforderungen der Globalisierung<br />
umgehen zu können (z.B. Giddens, 1994, 1998;<br />
Ife, 2000). Zentralisierte wohlfahrtsstaatliche Systeme<br />
sind nicht mehr zu finanzieren. Das macht ein dezentralisiertes<br />
System unumgänglich, das den lokalen<br />
Gemeinwesen aufbürdet, einen Großteil der Last von<br />
Abhängigkeit und Sozialunterstützung zu schultern.<br />
Der Rückzug der staatlichen Wohlfahrtssysteme hat<br />
die Fürsorge-Funktion vom Staat auf alternative<br />
Unterstützungssysteme in der „Zivilgesellschaft“ verlagert,<br />
ein Sammelbegriff für jede Form gesellschaftlicher<br />
Selbstorganisation jenseits des Staates (Hall,<br />
1995). In seiner weitesten Bedeutung umfasst der<br />
Begriff den freien Markt (Bottomore, 1979), die meisten<br />
privaten oder frei-gemeinnützigen und selbst-verwalteten<br />
Agenturen, Institutionen und Bewegungen<br />
sowie informellen <strong>sozial</strong>en Netzen (Putnam, 2000).<br />
Konzeptionell ist die „Zivilgesellschaft“ mehr als ein<br />
„Gemeinwesen“, wenn es um ihre Rolle in der <strong>sozial</strong>en<br />
Fürsorge geht. Das lokale Gemeinwesen mit der großen<br />
Menge <strong>sozial</strong>en Kapitals, das es in seinen umfangreichen<br />
informellen Unterstützungssystemen enthält,<br />
wird in der Regel als der wesentliche konstitutive<br />
Baustein der Zivilgesellschaft gesehen (Etzioni, 1993;<br />
Giddens, 1994; Putnam, 2000).<br />
Armitage (1991) stellt fest, dass ein Gemeinwesen<br />
einige unterscheidbare Funktionen hat, die es von<br />
seinen Mitgliedern fordert. Diese Funktionen können<br />
klassifiziert werden als Produktion, Verteilung, Konsum,<br />
Sozialisation, <strong>sozial</strong>e Kontrolle, gegenseitige Hilfe<br />
und <strong>sozial</strong>e Teilhabe. Etzioni (1993) betont, dass die<br />
gemeinnützige Natur des Gemeinwesens, in der Erscheinungsform<br />
von gegenseitiger Hilfe und <strong>sozial</strong>er<br />
Teilhabe, wichtig ist, um die vorherrschende Entfremdung<br />
und Demoralisierung der nach-traditionellen<br />
Gesellschaft in den entwickelten Ländern zu bekämpfen.<br />
Er schlägt einen Entwurf vor, wie die gemeinnützige<br />
Moralität dadurch wieder aufgebaut werden kann,<br />
dass die Gemeinwesen in den städtischen Gebieten<br />
wieder belebt werden. Giddens (1998) schlägt die Formulierung<br />
vor, dass Gemeinwesen „praktische Mittel<br />
seien, um die <strong>sozial</strong>e und materielle Instandsetzung<br />
von Nachbarschaften, Städten und Regionen zu befördern“<br />
(S. 79), die unter den Auswirkungen der globalen<br />
wirtschaftlichen Entwicklung leiden.<br />
Ist das Gemeinwesen verloren<br />
Noch ist das Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung<br />
desorientiert. Wie Giddens (1994) beobachtet, ist<br />
die Solidarität des traditionellen lokalen Gemeinwesens,<br />
insbesondere in städtischen Gebieten, durch die<br />
wohlfahrtsstaatliche Politik geschwächt worden, die<br />
eine neue Form des Individualismus hervorgebracht<br />
hat – „institutionalisierten Individualismus“ – der das<br />
Individuum als Basis für Rechtsansprüche auf Sozialleistungen<br />
überbetont. In der Folge beschleunigt die<br />
Individualisierung den Prozess der Entfremdung und<br />
Demoralisierung in der nach-traditionellen Gesellschaft<br />
(Etzioni, 1993). Diese Entfremdung findet ihren<br />
vollendeten Ausdruck im „Life Stile“ des Vorstadtlebens,<br />
der eine beinahe normative Bedeutung in den<br />
meisten Metropolen bekommt (Putnam, 2000).<br />
Der Abwärtsdruck der Globalisierung setzt das geschwächte<br />
lokale Gemeinwesen zusätzlich unter<br />
Druck. Die globale Ökonomie führt zu einer höheren<br />
Mobilität des Kapital Investments und der menschlichen<br />
Ressourcen in bestimmten Berufen. Manche<br />
Gemeinwesen in städtischen Gebieten werden destabilisiert<br />
oder sogar auseinandergerissen als Folge des<br />
Niedergangs der örtlichen Industrie und der schnellen<br />
Kapitalbewegungen. Die Globalisierung ermuntert,<br />
bzw. zwingt Nationen, ihre Grenzen nicht nur für Handels-<br />
und Kapitalströme zu öffnen sondern auch für<br />
Migranten, Touristen, Medienkommunikation, Information<br />
und Kultur.<br />
In Nord-Amerika wurde schon Anfang der 80er Jahre<br />
festgestellt, dass die meisten Gemeinwesen in den<br />
städtischen Ballungsgebieten „einen konstanten Zufluss<br />
von Neuankömmlingen“ erfahren als Folge von<br />
massiver innerer und äußerer Migration (Rivera & Ehrlich,<br />
1981). Diese Tendenz dauert weiter an (Putnam,<br />
2000). Das ursprünglich homogene Gemeinwesen<br />
wird in fragmentierte und vielfältige Einheiten zerlegt.<br />
Unterschiedlichkeit wird zur Norm in den meisten<br />
Metropolen in den entwickelten Ländern. In diesem<br />
Zusammenhang entstehen neue Identitäten. Und diese<br />
neuen Kräfte fordern die traditionelle <strong>sozial</strong>e und<br />
moralische Ordnung heraus.<br />
Folgerichtig trägt die Globalisierung zu der postmodernen<br />
Disposition (Ife, 2000) bei, in der <strong>sozial</strong>e und<br />
moralische Standards zweifelhaft sind. Es entstehen<br />
neue <strong>sozial</strong>e Bewegungen in der Form von politischen<br />
und <strong>sozial</strong>en Auseinandersetzungen zwischen<br />
unterschiedlichen Identitäten. Im nach-traditionellen<br />
Zeitalter scheint die Idee des Gemeinwesens dahin<br />
zu schwinden, ausgehöhlt durch die makro-ökonomischen<br />
und globalen Kräfte, deren negative Folgen von<br />
5
6<br />
vielen Gemeinwesen auf der ganzen Welt verspürt<br />
werden. Die Menschen fragen sich immer wieder, ob<br />
das Gemeinwesen „verloren“, „gerettet“ oder „befreit“<br />
ist (Smith, 1996, S. 253).<br />
Das fragmentierte und fremd gewordene Bild des Gemeinwesens<br />
kann fälschlich als Zusammenbruch der<br />
lokalen Gemeinschaft interpretiert werden (Putnam,<br />
2000). Trotz des Einflusses der globalen Ökonomie, der<br />
hochtechnisierten Kommunikation, der hohen geographischen<br />
Mobilität und des rapiden Zuwachses<br />
an Neuankömmlingen sind die meisten Menschen<br />
immer noch an eine bestimmte Gegend gebunden:<br />
„menschliche Bedürfnisse bleiben im Wesentlichen<br />
lokal und persönlich“ (Ife, 2000, S. 55). Insbesondere<br />
arme Menschen sind in ihren niedergehenden Nachbarschaften<br />
gefangen, denen es, wie Putnam (2000)<br />
beschreibt, an <strong>sozial</strong>em Kapital mangelt. Trotzdem<br />
sehnen sich die Menschen nach einem bedeutungsvollen<br />
humanen Lebensstil. Das Gemeinwesen ist, wie<br />
uns Ife (2000) versichert, immer noch eine bedeutsame<br />
Alternative, um sich den Auswirkungen der Globalisierung<br />
auf das Leben der Menschen zu widersetzen.<br />
Gemeinwesen neu denken<br />
„Gemeinwesen“ ist eines der unklarsten und am wenigsten<br />
greifbaren Konzepte in der Sozialwissenschaft<br />
(Shore, 1993). Diejenigen, die den Zusammenbruch<br />
des Gemeinwesens verkünden, nehmen vielleicht<br />
an, dass ein Gemeinwesen eine in sich geschlossene,<br />
kohärente und statische Einheit ist, die als „Gemeinschaft“<br />
begriffen werden kann. Ein lokales Gemeinwesen<br />
kann idealisiert werden als eine integrierte,<br />
vor-industrielle kleine Nachbarschaft, in der <strong>sozial</strong>e<br />
Beziehungen intim, anhaltend und vielfältig sind<br />
(Shore, 1993).<br />
Dieses idealistische Konzept, das von den Kommunitariern<br />
beschrieben wird, ist eine nostalgische Fehleinschätzung,<br />
die sich auf frühere Zeiten und Zusammenhänge<br />
bezieht. Es ignoriert die Tatsache, dass die<br />
Idee des Gemeinwesens weitgehend eine <strong>sozial</strong>e Konstruktion<br />
darstellt, die nicht ausschließlich auf objektiven<br />
geographischen Grenzen beruht, sondern sich auf<br />
die Vorstellung einer Gruppe von Menschen bezieht,<br />
die sich als Mitglied eines Gemeinwesens verstehen<br />
(Anderson, 1991). Wie Rose klarstellt, ist das „Gemeinwesen<br />
keine feste Größe sondern eine örtliche und<br />
situationsbedingte Konstruktion“ (Rose, 1999). Wir<br />
sollten uns ein stärker dynamisches Verständnis von<br />
Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung zu<br />
eigen machen. Identität und Zugehörigkeit werden<br />
fließende und gedachte Größen und nicht zwangsläufig<br />
fest umrissen und in sich schlüssig (Leonard, 1997).<br />
Ife (2000) teilt diese neue Sicht auf das Gemeinwesen<br />
und schlägt vor, dass die Profession der Sozialarbeit<br />
das Gemeinwesen als eine „fließende Konstruktion“<br />
akzeptieren sollte, die „eine ideale Basis für eine von<br />
<strong>kulturelle</strong>r Vielfalt und politischem Pluralismus geprägte<br />
nach-industrielle Gesellschaft darstellen könnte“<br />
(S. 56).<br />
Aktive Bürgerschaft.<br />
Verknüpfung von Gemeinwesen, Zivilgesellschaft<br />
und Staat.<br />
Wie Giddens (1994) nahe legt, ist die Zivilgesellschaft<br />
auf der Ebene des Gemeinwesens entscheidend für<br />
den Kampf gegen die Globalisierung. Bürokratisierung,<br />
Professionalisierung und Zentralisierung haben<br />
in vielen Wohlfahrtsstaaten die Zivilgesellschaft<br />
unterdrückt und die Gemeinwesen geschwächt. Um<br />
die Zivilgesellschaft mit frischem Leben zu erfüllen,<br />
müssen neue Wege für lokales Verwaltungshandeln<br />
gefunden werden, damit die Menschen ihre persönlichen<br />
und <strong>sozial</strong>en Angelegenheiten auf der Ebene<br />
des Gemeinwesens managen können. Giddens (1998,<br />
1994) schlägt deswegen vor, dass zur Ergänzung der<br />
staatlichen Funktionen, die vom Abwärtsdruck der<br />
Globalisierung geschwächt sind, das Gemeinwesen<br />
durch eine Partnerschaft gegenseitiger Ermöglichung<br />
und Kontrolle zwischen Regierung und Zivilgesellschaft<br />
wieder gestärkt werden muss.<br />
Nichtsdestoweniger entwickeln möglicherweise die<br />
Menschen im Zeitalter der Globalisierung nur ein Gefühl<br />
für das Gemeinwesen, „wenn eine neue <strong>kulturelle</strong><br />
Grundlage für ein solches Gefühl um einige wenige<br />
gemeinsame Werte und Institutionen gebildet wird,<br />
die Vielfalt und das Experimentieren mit unterschiedlichen<br />
Lebensstilen von Individuen und Gruppen<br />
erlauben sowie die Duldung eines nicht endenden<br />
Wettbewerbs zwischen verschiedenen <strong>kulturelle</strong>n Traditionen“<br />
(Perez-Diaz, 1995, S. 87). In anderen Worten:<br />
das Gefühl der Zugehörigkeit zum nach-traditionellen<br />
Gemeinwesen ist nicht durch Übereinstimmung sondern<br />
durch fortwährende „Verhandlungen“ zwischen<br />
unterschiedlichen Interessen gekennzeichnet, die<br />
zeitweise im Wettstreit miteinander stehen, teilweise<br />
aber auch strategisch und in bestimmten Kontexten<br />
in Angelegenheiten, die von örtlicher oder persönlicher<br />
Bedeutung sind, kooperieren. Deshalb ist es nicht<br />
überraschend, dass die meisten neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen,<br />
„rebellische Graswurzelgruppen, die sich<br />
zu Fragen wie demokratische Teilhabe, persönliche<br />
Freiheit, Bürgerrechte und Lebensqualität“ (Fisher &<br />
Kling, 1997) zusammen gefunden haben, immer noch<br />
ihren Schwerpunkt auf der Ebene des Gemeinwesens<br />
haben (Leonard, 1997). Durch Wahrnehmung und Anerkennung<br />
der Unterschiede zwischen den Menschen<br />
gewinnen sie im Gegenzug den Besitz über das Gemeinwesen<br />
zurück.<br />
Um das Gemeinwesen als einen aktiven Bestandteil<br />
der Zivilgesellschaft wieder zu verjüngen, ist die Beteiligung<br />
der Bürger über die Grenzen der unterschied-
lichen Interessen hinweg notwendig. Ein gemeinnütziger<br />
Ansatz, der auf dem guten Willen der Menschen<br />
beruht, ist notwendig, aber nicht ausreichend, um<br />
die Beteiligung der Bürger lebendig zu halten. Wie<br />
Sites (1998) feststellt, ist der Gemeinnützigkeitsansatz<br />
ein Wert, der sich selbst beschneidet, weil er die<br />
berechtigten unterschiedlichen Interessen in einem<br />
Gemeinwesen unterschlägt. Statt dessen muss die<br />
Beteiligung vor Ort die unterschiedlichen Interessen<br />
der verschiedenen Gruppen anerkennen. Die neue<br />
Bürgerschaft im lokalen Gemeinwesen muss eine Art<br />
aktiver Bürgerschaft sein, die auf einem ausgewogenen<br />
Verhältnis von Rechten und Fürsorglichkeit beruht<br />
(Drover, 2000) – oder wie Giddens (1998) betont<br />
– so etwas wie „keine Rechte ohne die Übernahme<br />
von Verantwortung“.<br />
Aktive Bürgerschaft kann dadurch befördert werden,<br />
dass die lokale Selbstverwaltung gestärkt wird, die<br />
den Menschen im Gemeinwesen mehr Entscheidungsmacht<br />
gibt. Die Förderung lokaler Initiative<br />
und öffentlicher Einmischung in die Planung wird<br />
die Erneuerung des Gemeinwesens voran bringen.<br />
Entscheidungswege von unten nach oben als ein Ausdruck<br />
von Demokratie sind entscheidend. Der kollektive<br />
Entscheidungsprozess im Gemeinwesen erfordert<br />
gegenseitige Hilfe und Unterstützung von Bewohnern,<br />
die unterschiedliche Interessen haben. Solidarität<br />
zwischen unterschiedlichen Gruppen beruht nicht<br />
auf metaphysisch vorausgesetzten moralischen Werten,<br />
sondern auf kontinuierlicher Aushandlung mittels<br />
derer die Menschen interagieren und miteinander in<br />
Dialog treten über Rechte und Verantwortlichkeit untereinander<br />
und im Verhältnis zur Regierung, wenn es<br />
darum geht, die <strong>sozial</strong>en und persönlichen Probleme<br />
zu lösen, die der globale Wettbewerb verursacht hat.<br />
Lokale Selbstverwaltung umfasst die organisatorische<br />
Bewältigung der Verteilung von Ressourcen. Es gibt<br />
viele Wege für die Regierung, ihre Politik umzusetzen<br />
und ihre Ressourcen dem lokalen Gemeinwesen zur<br />
Verfügung zu stellen. Zwischen dem Nationalstaat<br />
und der Zivilgesellschaft steht der Dritte Sektor. Dieser<br />
umfasst Nachbarschaftsinitiativen, Selbsthilfegruppen<br />
und Wohlfahrtsorganisationen. Diese sind immer aktive<br />
Partner der Regierung, insbesondere auf der Ebene<br />
des Gemeinwesens. Sehr oft kann ihre Interpretation<br />
und ihre Antwort auf die Regierungspolitik den politischen<br />
Prozess aktiv beeinflussen (Yan, 1998). Die Rolle<br />
des gemeinwesenbasierten Dritten Sektors ist wichtig,<br />
wenn man die Funktion des nach-traditionellen Gemeinwesens<br />
neu untersucht.<br />
Die Relevanz der Settlements /Nachbarschaftsheime<br />
Tatsächlich ist der gemeinwesenbasierte dritte Sektor<br />
immer ein wichtiger <strong>sozial</strong>er Mechanismus für die<br />
Aktualisierung lokaler Partizipation durch die auf der<br />
örtlichen Ebene gewählten Vorstände und durch die<br />
Einbeziehung von Freiwilligen / Ehrenamtlichen. Diese<br />
Formen lokaler Partizipation sind ein Erbe, das von<br />
den Settlement-Häusern übernommen worden ist.<br />
Anders als viele von den anderen nicht gemeinwesenbasierten<br />
gemeinnützigen Organisationen, zeichnet<br />
sich das Settlement-Haus durch seine funktionale<br />
Integration von Dienstleistung, Gemeinwesenaufbau<br />
und <strong>sozial</strong>er Veränderung aus (Fabricant & Fisher,<br />
2002; Yan, 2002a). Diese Integration wird weiter charakterisiert<br />
durch ihre vier Wesensmerkmale: a) den<br />
nachbarschaftlichen Fokus, b) das traditionelle Engagement<br />
dafür, dass die Menschen sich ihr Gemeinwesen<br />
aneignen, c) den generationsübergreifenden<br />
Ansatz, und d) die tiefe Sensibilität und den Respekt<br />
für Verschiedenheit (Chesler, 1996). Diese Charaktereigenschaften<br />
zeigen deutlich, dass das Settlement-<br />
Haus nicht nur eine multifunktionale Servicefunktion<br />
hat, sondern auch eine gemeinwesenbasierte organisierende<br />
Agentur ist, die eine effektive Struktur lokaler<br />
Selbstverwaltung hervorbringen kann, durch die die<br />
Menschen in Angelegenheiten und politischen Zielsetzungen,<br />
die ihr Gemeinwesen betreffen, mitwirken<br />
können.<br />
Das Settlement-Haus<br />
Geschichte, Philosophie und Dienstleistungen<br />
Settlement-Häuser haben ihren Ursprung im späten<br />
19. und frühen 20. Jahrhundert, insbesondere in der<br />
englischsprachigen Welt (Ramey, 1992; Weil, 1997). Die<br />
Settlement-Bewegung mag in Nord-Amerika in den<br />
sechziger Jahren an Dynamik verloren haben, aber<br />
das Settlement-Haus als ein gemeinwesenbildender<br />
Ansatz hat sich über viele Entwicklungsländer verbreitet,<br />
z.B. Indien (Kaul, 1988), Hong Kong (Chow, 1980),<br />
Ost-Europa und China (Yan, 2002a). In vielen Ländern<br />
sind Settlement-Häuser in der neuen Form von<br />
Bürgerhäusern oder Nachbarschaftszentren starke<br />
nachbarschaftliche Einrichtungen, die einerseits einen<br />
Dienstleistungsmechanismus darstellen, mit dem auf<br />
<strong>sozial</strong>e Problemlagen geantwortet wird, und andererseits<br />
Motoren der zivilgesellschaftlichen Entwicklung<br />
sind, die die Solidarität unter den Stadtteilbewohnern<br />
befördern (Mizrahi & Rosenthal, 1998).<br />
Der Erfolg des Settlement-Hauses hat sowohl mit seinen<br />
humanistischen und kommunitarischen Grundsätzen<br />
als auch mit dem ganzheitlichen Dienstleistungsmodell<br />
zu tun (Husock, 1993). Schon beim ersten<br />
Settlement-Haus, Toynbee Hall, war es ein vorrangiges<br />
Ziel des Settlement-Hauses, Zersplitterung und Gegensätze<br />
unter den Stadtteilbewohnern zu überwinden<br />
(Abel, 1979). Jane Addams, die Gründerin von Hull<br />
House, gründete die Settlement-Bewegung auf ein<br />
humanistisch philosophisches Fundament, indem sie<br />
als den philosophischen Kern dieser Bewegung die<br />
„Solidarität der menschlichen Rasse“ (Addams, 1997)<br />
propagierte. Sie benannte drei Motive, die hinter der<br />
Settlement-Bewegung stünden: die Demokratie auf<br />
7
8<br />
das Feld des Sozialen auszuweiten, die volle Entfaltung<br />
aller Angehörigen der menschlichen Gattung zu<br />
fördern und die Humanität des Christentums neu zu<br />
beleben (Addams, 1999, S. 95).<br />
Für Addams sollte Demokratie nicht auf das politische<br />
Feld begrenzt bleiben. Sie sollte sich auch auf<br />
die Teilhabe im örtlichen Gemeinwesen erstrecken.<br />
Menschen lernen das Wesen der Demokratie durch<br />
ihre Mitwirkung im lokalen Bereich kennen. Dieser<br />
Prozess hat zum Ziel, Menschen zu einem Mehr an<br />
gesellschaftlichem Leben zu führen. Das zweite Motiv<br />
weist darauf hin, dass gegenseitige Hilfe unabdingbar<br />
ist, wenn die menschliche Gattung ihr volles Potential<br />
an Humanität entfalten will. Nur durch die gegenseitige<br />
Verknüpfung von Menschen – über die Grenzen<br />
von Alter, Geschlecht, Klasse, ethnischer Herkunft,<br />
Rasse oder anderer Merkmale – sei der Fortschritt der<br />
gesamten menschlichen Gattung möglich. Das dritte<br />
Motiv verweist auf ihre Überzeugung, die Verwirklichung<br />
der menschlichen Bestimmung liege in der<br />
brüderlichen Verbindung der Menschen zueinander.<br />
Für sie zeigt sich der Wert eines Menschen darin,<br />
„wie er sich mit seinesgleichen verbindet und von<br />
welchem Engagement und welcher Sensibilität seine<br />
Haltung zu anderen geprägt ist“ (1999, S. 95). Zusammengefasst<br />
bedeuten diese Motive, dass Settlement-<br />
Häuser ein institutioneller Ausdruck von demokratischer<br />
Teilhabe, gemeinschaftlicher Verantwortung<br />
und Gegenseitigkeit sind.<br />
Die drei Motive werden durch ein Bündel von Dienstleistungen<br />
verwirklicht. Settlement-Häuser betrachten<br />
die menschlichen Bedarfe ganzheitlich und orientieren<br />
sich am Modell umfassender integrierter Dienste<br />
(Hillmann, 1960a; Irving, Parsons & Bellamy, 1995). Addams<br />
beschrieb die Dienste der Settlement-Häuser in<br />
vier Hauptkategorien: <strong>sozial</strong>, bildungsbezogen, humanitär<br />
und bürgerschaftlich (Lasch, 1965). Alles in allem<br />
decken sie den Bedarf von nahezu allen Mitgliedern<br />
des Gemeinwesens ab, gleich welchem Alter, welchem<br />
Geschlecht und welcher Bildungsschicht sie angehörten.<br />
Weil jedes Settlement-Haus in einer spezifischen<br />
Nachbarschaft tätig ist, werden die Dienstleistungen<br />
immer auf den konkreten Bedarf des jeweiligen Gemeinwesens<br />
zugeschnitten. Die Bedarfslage im Gemeinwesen<br />
kann sich ändern, und damit werden auch<br />
die Dienstleistungen bedarfsentsprechend angepasst.<br />
Die Dienstleistungen des Settlement-Hauses sind flexibel,<br />
rechtzeitig und lokal.<br />
Hillman (1960b) hat herausgearbeitet, dass die Settlement-Häuser,<br />
ohne ihre universalistischen Prinzipien<br />
zu verletzen, besonderes Expertentum in der <strong>Arbeit</strong><br />
mit bestimmten Zielgruppen in Übereinstimmung<br />
mit der Charakteristik ihre Stadtteils entwickelt haben.<br />
Heute haben viele Settlement-Häuser Kindertagesstätten<br />
integriert, Beratungsdienste, Kliniken und<br />
Gesundheitszentren. Der umfassende integrierte<br />
Dienst des Settlement-Hauses dient nicht nur dazu,<br />
die Probleme von Individuen und Familien zu lösen,<br />
sondern ist auch ein Mittel, um das Ziel des Nachbarschafts-<br />
und Gemeinwesenaufbaus zu erreichen. Es ist<br />
ein ganzheitlicher gemeinschaftsstiftender Ansatz.<br />
Das Settlement-Haus: Kritiken und Vorhersagen<br />
Die Energie und Dynamik der Settlement-Bewegung<br />
beruhte auf der humanistischen Philosophie ihrer<br />
Begründer/innen wie Jane Addams, Lillian Wald und<br />
Helen Hall. In den heutigen Zeiten, haben sich alle<br />
Settlement-Häuser unterschiedlich entwickelt. In der<br />
Tat, angesichts der inneren Vielfalt und ihres unterschiedlichen<br />
historischen Horizontes sollten wir die<br />
bisherige Praxis der Settlement-Häuser nicht unkritisch<br />
betrachten. Zum Beispiel sind viele führende<br />
Mitglieder der Settlement-Bewegung zwar gegen<br />
den Rassismus aufgetreten und haben den Amerikanischen<br />
Chauvinismus kritisiert, aber sie haben doch<br />
an das traditionelle liberale Ideal von einer einheitlichen<br />
Amerikanischen Nation und Kultur geglaubt<br />
und sind deswegen eher für Anpassung als für Pluralismus<br />
eingetreten (Lissak, 1989). Folgerichtig hatten<br />
Hull House und viele andere Settlement-Häuser die<br />
Tendenz zu einem paternalistischen Verständnis von<br />
Integration: die unzivilisierten armen Einwanderer<br />
sollten „empor gehoben“, bzw. angepasst werden an<br />
die Errungenschaften der Viktorianischen Mittelklasse<br />
(Carson, 1990). Die „Fortschrittliche Zeit“, in der die<br />
Settlement-Bewegung ihre Blütezeit hatte, war gleichzeitig<br />
die Zeit der schärfsten Rassentrennung in der<br />
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Vor<br />
diesem historischen Hintergrund haben viele Settlement-Häuser,<br />
obwohl einige in „schwarzen Wohngebieten“<br />
(Lasch-Quinn, 1993) gebaut wurden, die<br />
schwarze Community ausgeschlossen und Rassentrennung<br />
praktiziert (z.B. Berman-Rossi & Miller, 1994;<br />
Lasch-Quinn, 1993).<br />
Die Settlement-Bewegung in Nord-Amerika hat sich<br />
im letzten Jahrhundert verändert. Besorgnis über den<br />
Niedergang dieser Bewegung wurde schon in den<br />
1930er Jahren geäußert (Carson, 1990). Die Professionalisierung<br />
der Sozialarbeit wurde als Hauptursache<br />
der Schwächung von freiwilligem Engagement und<br />
Bürgerbeteiligung in den Settlement-Häusern identifiziert.<br />
Gewaltige Stadterneuerungsprogramme führten<br />
auch dazu, dass Gemeinwesen, auf die die Settlement-<br />
Häuser ihre Dienstleistungen ausgerichtet hatten,<br />
durcheinander gewirbelt wurden. Die Sozialreform-<br />
Strategie der Settlement-Häuser wurde als ein recht<br />
schwacher Ansatz zum Umgang mit der politischen<br />
Landschaft der Nachkriegszeit betrachtet, insbesondere<br />
während der Bürgerrechtsbewegung (Trolander,<br />
1987). Schwerwiegender noch war die starke Abhängigkeit<br />
von leistungsvertraglicher staatlicher Finanzierung,<br />
die die gemeinwesenbildenden Funktionen der<br />
Settlement-Häuser geschwächt und ihren ganzheitli-
chen Ansatz <strong>sozial</strong>er Dienste fragmentiert hat (Fabricant<br />
& Fisher, 2002; Koerin, 2003; Trolander, 1987).<br />
Ein Verständnis der Geschichte der Settlement-Häuser<br />
kann jeden Vorschlag für eine Wiederbelebung des<br />
Settlement-Hauses als wesentliches Element eines<br />
gemeinwesengestützten dritten Sektors für den Gemeinwesenaufbau<br />
nützen. Viele der hemmenden<br />
Faktoren, insbesondere die finanzielle Abhängigkeit,<br />
existieren weiterhin (Koerin, 2003). Allerdings muss<br />
das, was die Häuser in der Vergangenheit bedroht<br />
hat, im historischen Kontext verstanden werden. Trotz<br />
dieser Schwierigkeiten kann das alte Ideal des Settlement-Hauses<br />
von „einem gemeinsamen Glauben<br />
an die Fähigkeit des Menschen zu Selbsthilfe, Selbstbestimmung<br />
und Wachstum; von der Wünschbarkeit<br />
und Möglichkeit konstruktiver <strong>sozial</strong>er Reformen und<br />
von der Bedeutung die Gelegenheiten, <strong>sozial</strong>e Verantwortung<br />
zu übernehmen und auszuüben, für den<br />
Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganze haben“<br />
(Hillmann, 1960a, S. vi) weiterhin bewahrt und aufrecht<br />
erhalten werden.<br />
Dieser Glaube ist nicht irrelevant in einer nach-traditionellen<br />
Ära, in der menschliche gegenseitige<br />
Abhängigkeit und Selbstbestimmung als Prinzipien<br />
nebeneinander stehen, wenn es um die Suche nach<br />
dem Wohlbefinden des Individuums und seines Gemeinwesens<br />
geht. Das integrative Modell: „Dienstleistung<br />
– Gemeinwesenaufbau – <strong>sozial</strong>e Veränderung“<br />
macht das Settlement-Haus auch einzigartig und<br />
bedeutsam für das fragmentierte Gemeinwesen im<br />
Zeitalter der Globalisierung (Fabricant & Fisher, 2002;<br />
Husock, 1993). Der folgende Abschnitt beschäftigt<br />
sich unter Berücksichtigung ihrer historischen Einzigartigkeit<br />
mit der Frage, welche Rollen und Funktionen<br />
Settlement-Häuser beim Gemeinwesenaufbau in der<br />
Ära der Globalisierung übernehmen können.<br />
Settlement-Haus:<br />
Gemeinwesenaufbau im Zeitalter der Globalisierung<br />
Ife (2000) stellt die These auf, dass die Hauptaufgabe<br />
der professionellen Sozialarbeit der Gemeinwesenaufbau<br />
sein sollte, um die städtischen Gemeinwesen<br />
angesichts zahlreicher Herausforderungen wieder zu<br />
beleben. Der Zweck des Gemeinwesenaufbaus kann<br />
verstanden werden als „eine Kapitalanlage, die die<br />
Lebensqualität der Bewohner von einkommensarmen<br />
und einkommensschwachen Gemeinwesen erhöht,<br />
die als Nachbarschaften oder Sozialräume mit unterschiedlichen<br />
Nachbarschaften definiert werden“<br />
(Ferguson & Dickens, 1999, S. 5). Die meisten gemeinwesenbildenden<br />
Ansätze haben zum Ziel, die Solidarität<br />
unter den Bewohnern zu entwickeln, das <strong>sozial</strong>e<br />
Kapital des Gemeinwesens zu erhalten und zu verstärken<br />
sowie die Mitglieder des Gemeinwesens dahingehend<br />
zu organisieren, dass sie sich beteiligen, wenn es<br />
um Angelegenheiten und politische Entscheidungen<br />
geht, die in Bezug zu ihrem täglichen Leben stehen.<br />
Jedes gemeinwesen-aufbauende Projekt muss sich<br />
der Herausforderung stellen, die fragmentierten und<br />
unterschiedlichen Interessen im Gemeinwesen zu<br />
organisieren. Die Fragmentierung, die ein Resultat<br />
der Globalisierung ist, hat die lokalen Gemeinwesen<br />
zu Schauplätzen für Stadtpolitik und neue <strong>sozial</strong>e Bewegungen<br />
gemacht (Hasson & Ley, 1994). Fisher und<br />
Kling (1997) fassen die Charakteristiken der neuen<br />
<strong>sozial</strong>en Bewegungen zusammen als: gemeinwesengestützt,<br />
fragmentierte Identitäten transzendierend,<br />
neo-populistische Vision von Demokratie (nicht<br />
hierarchische Interaktion), Kampf um <strong>kulturelle</strong> und<br />
<strong>sozial</strong>e Identität, und Ausrichtung auf Gemeinwesen-<br />
Selbsthilfe und Empowerment. Die meisten dieser<br />
Charakteristiken sind in der Tat nicht notwendigerweise<br />
im Konflikt mit der ursprünglichen Philosophie<br />
und den Motiven der Settlement-Bewegung, obwohl<br />
es angesichts der ideologischen und historischen<br />
Differenzen falsch wäre, eine absolute Kompatibilität<br />
anzunehmen.<br />
Die neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen erkennen auch<br />
die Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit an<br />
(Leonard, 1997), die eine genaue Entsprechung der<br />
ursprünglichen Philosophie der Settlement-Häuser<br />
und ihren auf eine humanistische Brüderlichkeit ausgerichteten<br />
Motiven darstellt. Mittlerweile hat Cox<br />
(2001), um auf die neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen zu<br />
antworten, vorgeschlagen, dass ein effektives Modell<br />
für gemeinwesenbezogenes Handeln im 21. Jahrhundert<br />
Folgendes enthalten sollte: „(a) eine Beziehung<br />
herstellen zu der wachsenden Zahl von interessenbezogenen<br />
Bewegungen mit einer starken Betonung<br />
der politischen und ökonomischen Aspekte der Fragen,<br />
mit denen sie sich beschäftigen, und (b) effektive<br />
Wege finden, diese Bewegungen so zusammen zu<br />
bringen, dass sie zugleich die Unterschiede, die sie<br />
repräsentieren erkennen und anerkennen“ (S.45).<br />
Gemeinwesen-Aufbau, wie er vom Settlement-Haus<br />
praktiziert wird, hat als Grundlage die Idee der Einbeziehung.<br />
Trotz der in ihrer Geschichte aufzufindenden<br />
zeitweilig fehlenden Sensibilität gegenüber rassischer<br />
Diskriminierung kann das Settlement-Haus von heute<br />
eine nützliche Brücke über die unterschiedlichen<br />
Interessen im Gemeinwesen darstellen (Reinders,<br />
1982). Die Brückenfunktion ist besonders wichtig für<br />
das nach-traditionelle Gemeinwesen, dieses fragmentierte<br />
Gebilde, von dessen Bewohnern man kein<br />
einheitliches Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen<br />
erwarten kann. Die Interessen der Menschen<br />
und ihre Vorstellungen vom Gemeinwesen sind unterschiedlicher<br />
als je zuvor. Das nach-traditionelle Gemeinwesen<br />
kann ausschließend und unterdrückend<br />
sein (Giddens, 1994). Um das Ziel der Einbeziehung zu<br />
9
10<br />
erreichen, bedarf es eines andauernden Dialogs, um<br />
vorübergehende Übereinstimmungen und strategische<br />
Solidarität zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen<br />
zu erreichen.<br />
Das Settlement-Haus kann eine physische Plattform<br />
für den Dialog bereit stellen. Der „neutrale Boden“<br />
eines Settlement-Hauses erlaubt ihm, die Funktion<br />
eines „Wohnzimmers“ der Nachbarschaft darzustellen,<br />
in dem alle Mitglieder des Gemeinwesens – unterschiedlicher<br />
Generationen, rassischer, <strong>kulturelle</strong>r oder<br />
Geschlechts- Zugehörigkeit sowie politischer Orientierung<br />
– willkommen sind (Hiroto, Brown & Martin,<br />
1997). Die physische Existenz eines Settlement-Hauses<br />
in einem Gemeinwesen stellt auch so etwas wie<br />
eine symbolische Gestalt des Gemeinwesens dar. Die<br />
architektonische Gestalt vieler Settlement-Häuser und<br />
ihre Geschichte der <strong>Arbeit</strong> mit den Menschen im Gemeinwesen<br />
ist eingewoben in die Erinnerungen vieler<br />
Generationen der Bewohner. Für Neuankömmlinge<br />
bieten die physische Gegenwärtigkeit und die Dienste<br />
des Settlement-Hauses einen physischen Eintrittspunkt<br />
für die Integration in das neue Umfeld.<br />
Nach dem Beispiel von Toynbee Hall sind viele Settlement-Häuser<br />
auch „ein zentraler Punkt, an dem<br />
sich Menschen aller Schattierungen von Meinungen<br />
treffen und Probleme öffentlich diskutieren können“<br />
(Irving u.a., 1995, S. 6). Das Settlement-Haus bietet vor<br />
Ort einen Platz für Menschen mit unterschiedlichen<br />
Interessen, an dem sie teilhaben, sich engagieren und<br />
sich über Bedürfnisse, Probleme und Lösungen und<br />
über die Zukunft des Gemeinwesens verständigen<br />
können. Soziale Reform und Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />
sind wichtige Funktionen des Settlement-<br />
Hauses. Hull House und viele andere Settlement-Häuser<br />
waren z.B. hilfreich und wichtig in der Frühzeit der<br />
<strong>Arbeit</strong>sgesetzgebung und der Beschäftigungspolitik<br />
(Addams, 1999; Andrews, 1997). Das Settlement-Haus<br />
kann ein aktiver Faktor bei der Organisierung des Gemeinwesens<br />
(Communtiy Organizing) sein, insbesondere,<br />
wenn es darum geht, die <strong>sozial</strong>en Verhältnisse in<br />
belasteten Wohngebieten zu verbessern und etwas<br />
gegen Armut, schlechte Wohnverhältnisse, unzureichende<br />
Gesundheitssituationen und <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />
zu unternehmen.<br />
Traditionell haben Settlement-Häuser Initiativen in<br />
der örtlichen Stadtplanung ergriffen, insbesondere<br />
in solchen Gemeinwesen, in denen es an Führungspersönlichkeiten,<br />
Fachpersonal und Einrichtungen<br />
mangelt (Hillmann, 1960a). Die Erfahrungen, die bei<br />
der Mitwirkung in den Settlement-Häusern gemacht<br />
und die Kenntnisse über das Gemeinwesen, die dabei<br />
gewonnen werden, geben den Bewohnern Macht.<br />
Durch den Ansatz der Gruppenarbeit haben Settlement-Häuser<br />
Menschen erfolgreich von anfänglicher<br />
nur auf die individuellen Interessen bezogenen<br />
Betroffenheit dazu gebracht, sich aktiv mit <strong>sozial</strong>en<br />
Fragen auseinander zu setzen (Yan, 2002b). Durch<br />
enge Beziehungen zu Universitäten und Akademien<br />
haben Settlement-Häuser ebenfalls eine Tradition,<br />
Forschungen und Untersuchungen im Gemeinwesen<br />
durchzuführen (Irving u.a., 1995). Durch programmatische<br />
Arrangements, wie z.B. Rathaustreffen, bieten<br />
Settlement-Häuser einen effektiven Weg, die öffentliche<br />
Meinungsbildung zu organisieren, die für die Formulierung<br />
der Regierungspolitik wichtig ist.<br />
Die pragmatische und humanistische Herangehensweise<br />
sowie das umfassende und ganzheitliche Diensleistungsmodell<br />
der Settlement-Häuser statten diese<br />
hundertjährige <strong>sozial</strong>e Bewegung und ihre Nachfolger<br />
mit der anpassungsfähigen Infrastruktur aus, die<br />
Antworten auf die neu entstehenden Bedarfslagen<br />
der meisten Gemeinwesen von heute finden kann.<br />
Im Unterschied zu manch anderen Gemeinwesenarbeits-Ansätzen,<br />
die kommen und gehen, wenn ihre<br />
Aufgaben im Gemeinwesen beendet sind, sind die<br />
Settlement-Häuser eine auf Dauer angelegte Infrastruktur,<br />
mit einer Dienstleistungskapazität, die ihren<br />
Platz mitten im Gemeinwesen hat. Die Dauerhaftigkeit<br />
der Settlement-Häuser erlaubt ihren nicht nur, auf die<br />
tagesaktuellen Problemlagen im Gemeinwesen zu reagieren,<br />
sondern ermöglicht ihnen auch, sich mit der<br />
Planung künftiger Veränderungen zu beschäftigen.<br />
Mit ihrer Dienstleistungskapazität und professionellen<br />
Kenntnis können Settlement-Häuser auch schnell<br />
auf Bedarfslagen im Gemeinwesen reagieren und ein<br />
Vehikel dafür sein, gegenseitige Hilfe anzuregen und<br />
Netzwerkzusammenhänge zu stiften, und das auf eine<br />
flexiblere Art und Weise.<br />
Wenn die Regierung im Zeitalter der Globalisierung<br />
ihre <strong>sozial</strong>en Dienstleistungen dezentralisieren will,<br />
kann sie ihre Wohlfahrtsressourcen über die Settlement-Häuser<br />
verteilen und damit sicherstellen, dass<br />
ihre Bürger in den Genuss qualitativ hochwertiger<br />
<strong>sozial</strong>er Dienste kommen, wenn dabei zugleich ein<br />
angemessenes System örtlicher Leitung und Überwachung<br />
geschaffen wird (Wharf, 1998). Der Ansatz<br />
örtlicher Leitung und Überwachung würde durch die<br />
Demokratie vor Ort geschaffen, die vom Settlement-<br />
Haus etabliert wird. Auch wenn die meisten Settlement-Häuser<br />
von ausgebildetem Personal geleitet<br />
werden (Trollander, 1987), ist die lokale Demokratie,<br />
deren Ideal in die zivilgesellschaftliche Funktion der<br />
Settlement-Häuser eingebettet ist, in vielerlei Form<br />
erhalten geblieben. Insbesondere sind die Mitglieder<br />
des Gemeinwesens in ihrer Eigenschaft als Bürger,<br />
nicht als Klienten, aktiv beteiligt an der Gestaltung<br />
der <strong>Arbeit</strong> des Settlement-Hauses beteiligt: im Vorstands-Management,<br />
in Planung und Durchführung<br />
der Programme und in der Verwaltung (Klein, 1968).<br />
Freiwillige und ehrenamtliche Mitwirkung in einem<br />
Settlement-Haus ist eine Form von lokaler Demokratie,<br />
mittels derer die Mitglieder des Gemeinwesens
ihre Bürgerrechte und Verantwortlichkeiten bei den<br />
Entscheidungen, die ihr Gemeinwesen betreffen, ausüben<br />
können. Im Gegenzug befördert die lokale Demokratie<br />
das Gefühl, Eigentümer des Gemeinwesens<br />
zu sein.<br />
Dieses Eigentumsgefühl basiert auch auf der gegenseitigen<br />
Hilfe. Freiwillige und ehrenamtliche Mitwirkung,<br />
wie sie die Settlement-Häuser verstehen, ist<br />
nicht auf die Durchsetzung von Rechten beschränkt.<br />
Settlement-Häuser setzen sich für eine aktive Bürgerschaft<br />
ein – ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten<br />
und Hilfeleistung unter den Einwohnern. Die meisten<br />
Settlement-Häuser von heute sind multifunktionale<br />
Dienstleistungsunternehmen geworden, die in einem<br />
hohen Maße auf Regierungsunterstützung angewiesen<br />
sind und Ressourcen im Rahmen von ausdifferenzierten<br />
Regierungsprogrammen weitergeben. Nichtsdestoweniger<br />
hat die Unterstützung durch privates<br />
Geld, das vom Gemeinwesen in Form von Spenden<br />
aufgebracht wird, nach wie vor eine hohe Bedeutung<br />
(Chesler, 1996). Traditionell spielen die Settlement-<br />
Häuser ebenfalls eine Rolle bei der Koordination von<br />
Ressourcen, die von den Einwohnern in Form von Zeit,<br />
Geld, Material und Engagement eingebracht werden.<br />
Sie fassen sie zusammen und geben sie an diejenigen<br />
im Gemeinwesen weiter, die einen entsprechenden<br />
Bedarf haben. Settlement-Häuser, die auf diese Weise<br />
Ressourcen bündeln und die informellen Hilfenetzwerke<br />
verknüpfen, generieren auf effektive Weise<br />
<strong>sozial</strong>es Kapital (Putnam, 2000). Das ist das Wesen der<br />
Settlement-Häuser: Solidarität zu verstärken und die<br />
Selbsthilfekräfte des Gemeinwesens durch die Beteiligung<br />
der Bürger auszubauen. In den Worten von<br />
Wharf und Clague (1997) liest sich das so: Settlement-<br />
Häuser sind „kraftvolle Agenturen für Hilfeleistung<br />
und für die Entwicklung der Fähigkeiten eines Gemeinwesens“<br />
(S. 321).<br />
Auswirkungen auf die Profession der Sozialarbeit<br />
Die Tradition der Sozialreform, die von der Settlement-Bewegung<br />
geerbt wurde, hat entscheidende<br />
Bedeutung für die Zielsetzung der Sozialarbeit (Abramovitz,<br />
1998; Hayes, 1998; Haynes & White, 1999;<br />
Ife, 2000). Deswegen kann die Wiederbelebung des<br />
Settlement-Hauses und seiner Nachfolger, der Nachbarschafts-<br />
und Gemeinwesenzentren, nicht ohne<br />
eine Überprüfung des Selbstverständnisses der Sozialarbeit<br />
realisiert werden (Epstein, 1999; Specht &<br />
Courtney, 1994). <strong>Arbeit</strong> in Settlement-Häusern – Nachbarschafts-<br />
oder Gemeinwesenzentren – wird von<br />
Absolventen der Sozialarbeits-Ausbildungsstätten<br />
nicht mehr favorisiert. In einem Settlement-Haus zu<br />
arbeiten, kann im Vergleich zur klinischen Praxis niedriges<br />
Einkommen und Prestige bedeuten. Wir können<br />
natürlich die Regierung dafür kritisieren, dass sie den<br />
Settlement-Häusern nicht genügend Aufmerksamkeit<br />
und Geld zukommen lässt (Fabricant & Fisher,<br />
2002; Koerin, 2003). Allerdings sollten wir auch unser<br />
eigenes Engagement für das Gemeinwesen und die<br />
Settlement-Häuser kritisch überprüfen, aus denen<br />
die professionelle Sozialarbeit hervorgegangen ist.<br />
Obwohl das Settlement-Haus einmal die Profession<br />
der Sozialarbeit hervorgebracht hat, hat sich die Profession<br />
von den Menschen im Gemeinwesen abgewandt<br />
(Trolander, 1987). Im Gegenzug hat das Settlement-Haus<br />
seine traditionelle Funktion als Agent des<br />
Gemeinwesenaufbaus verloren. Folgerichtig sind das<br />
Settlement-Haus und seine Nachfolger – Gemeinwesen-<br />
und Nachbarschaftszentren – das Stiefkind der<br />
professionellen Sozialarbeit geworden.<br />
Fabricant und Fisher (2002) vertreten die These, dass<br />
das Settlement-Haus dadurch wieder belebt werden<br />
kann, dass es ein strategisches Bündnis mit anderen<br />
Organisationen im Gemeinwesen schließt. Eine dieser<br />
Organisationen könnte die örtliche Sozialarbeits-<br />
Schule sein, die historisch eine wichtige Rolle in der<br />
Settlement-Bewegung gespielt hat. Die Wiederbelebung<br />
des Settlement-Hauses braucht die Unterstützung<br />
von Lehrenden an den Ausbildungsstätten<br />
für Sozialarbeiter/innen, damit unsere Lehrpläne so<br />
überarbeitet werden, dass sie einen größeren Anteil<br />
an praktischer Gemeinwesenarbeit enthalten; dass sie<br />
unsere professionelle Ausbildung wieder mit unserer<br />
Verpflichtung zu <strong>sozial</strong>em Wandel verbinden; dass sie<br />
unsere Studenten motivieren, Praktika oder freiwillige<br />
<strong>Arbeit</strong> in örtlichen Settlement-Häusern zu leisten; dass<br />
sie kostenloses Training für Mitarbeiter/innen von<br />
Settlement-Häusern anbieten, die keine formelle Ausbildung<br />
in Sozial- oder Gemeinwesenarbeit haben;<br />
und dass sie kostenlose professionelle Beratung für<br />
örtliche Settlement-Häuser für Programmgestaltung,<br />
Planung und Evaluation bereit stellen (Johnson, 1998).<br />
Wenn wir darin übereinstimmen, dass überzeugende<br />
Praxis ein Weg ist, unsere Dienstleistungsqualität und<br />
unser professionelles Engagement zu sichern, dann<br />
ist mehr Forschung und Literatur notwendig, um die<br />
Dienste der Settlement-Häuser zu verbessern, um<br />
ihre Errungenschaften zu zeigen und um eine empirische<br />
Basis für <strong>sozial</strong>en Wandel im Gemeinwesen zur<br />
Verfügung zu stellen. Der Erfolg der frühen Settlement-Häuser<br />
war eng verbunden mit der freiwilligen<br />
Unterstützung von den Universitäten (Carson, 1990;<br />
Irving u.a., 1995). Wenn die Profession der Sozialarbeit<br />
im Zeitalter der Globalisierung sich dem Ziel des Gemeinwesenaufbaus<br />
durch die Wiederbelebung des<br />
Settlement-Hauses verpflichtet, müssen wir vielleicht<br />
als erstes diese Zusammenarbeit zwischen Gemeinwesen<br />
und Universität wieder beleben.<br />
Schlussfolgerung<br />
Im Zeitalter der Globalisierung sind die Gemeinwesen<br />
nicht untergegangen, aber sie sind unterschiedlich,<br />
11
fragmentiert und im Fluss. Um stark und verjüngt<br />
zu werden, brauchen die Gemeinwesen eine Form<br />
von Gemeinwesenaufbau, der die unterschiedlichen<br />
Interessen im Gemeinwesen überbrücken kann und<br />
eine Plattform für seine Mitglieder bietet, sich in permanenter<br />
Aushandlung mit dem Ziel strategischer<br />
Solidarität zu engagieren. Mit seinem geschichtlich<br />
verbürgten Erfolg bei der Brückenbildung über gesellschaftliche<br />
Unterschiede hinweg und bei der Generierung<br />
<strong>sozial</strong>en Kapitals, spielt das Settlement-Haus<br />
eine wichtige Rolle im Gemeinwesenaufbau unter<br />
den Bedingungen der Globalisierung. Die Wiederbelebung<br />
des Settlement-Hauses ist eine Verpflichtung<br />
auch für die Sozialarbeits-Profession, eine Profession,<br />
die ihre Wurzeln in der Settlement-Bewegung und<br />
eine Aufgabe im Gemeinwesenaufbau hat.<br />
Übersetzt von Herbert Scherer<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Haworth Press<br />
Inc.<br />
Das Original des Artikels ist unter dem Titel<br />
„Bridging the Fragmented Community: Revitalizing<br />
Settlement Houses in the Global Era“ im Journal of<br />
Community Practice, Vol. 12(1/2) 2004 erschienen<br />
© des englischen Originals Haworth Document Delivery<br />
Service: 1-800-HAWORTH.<br />
Der Originaltext kann hier (gegen Gebühr) bezogen<br />
werden.<br />
E-mail address: docdelivery@haworthpress.com<br />
Konditionen auf der Website von Haworth Press: http:<br />
//www.haworthpress.com/web/COM<br />
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12
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Dokumentation<br />
Aus Erfahrung gut -<br />
Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Inovation<br />
20. April 2005<br />
12.00 bis 16.00 Uhr<br />
Rotes Rathaus / Berlin<br />
12. 00 Uhr Ankunft der Gäste, Kaffee und Imbiss<br />
12.30 Uhr Auftakt: Theater der Erfahrungen<br />
12.45 Uhr Begrüßung und Einleitung<br />
Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit, Soziales<br />
und Verbraucherschutz<br />
13.00 Uhr „Aktivsein für bürgerschaftliches Engagement“<br />
André Schmitz, Staatssekretär, Chef der Senatskanzlei,<br />
Beauftragter für Bürgerschaftliches Engagement<br />
13.20 Uhr „Im Fadenkreuz der Wirtschaft - ältere Menschen als Kunden und Mitwirkende“<br />
Frank Leyhausen, MedCom, Bonn<br />
13.40 Uhr „Age exchange and social engagement - a vision for the future“<br />
Pam Schweitzer, Age Exchange, London<br />
14.00 Uhr Zwischenspiel: Theater der Erfahrungen<br />
14.15 Uhr „Potenziale des Alters erkennen - ein überfälliger Paradigmenwechsel‘<br />
Georg Zinner, Geschäftsführer Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V.<br />
14.30 Uhr Diskussion mit:<br />
- Dr. Petra Leuschner, Staatssekretärin für Soziales, Senatsverwaltung<br />
Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz<br />
- Dr. Dorothea Kolland, Leiterin Kulturamt Berlin-Neukölln<br />
- Siegfried Rehberg, BBU-<strong>Verband</strong> Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen e. V.<br />
- Dr. Christian Hanke, Sozialstadtrat Berlin-Mitte<br />
- Michael Freiberg, Stadtrat für Gesundheit Berlin-Neukölln<br />
- Oswald Menninger, Geschäftsführer Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />
Moderation: Dr. Stefanie Schulze, Vorsitzende des Ausschusses Soziales und Gesundheit<br />
16.00 Uhr Schlusswort<br />
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />
Veranstalter:<br />
BERLIN<br />
NACHBARSCHAFTSHEIM SCHÖNEBERG E.V.<br />
<strong>Verband</strong> für<br />
<strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.<br />
13
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Aus Erfahrung gut<br />
Zum Auftakt der Veranstaltung singt das „Theater<br />
der Erfahrungen“ ein schwungvolles Lied, in dem es<br />
heißt: „Ihr werdet euch noch wundern, die Alten ziehn<br />
durch’s Land ...“ Und so, wie die älteren und alten<br />
Damen vor den Zuhörern mitreißend swingen, kann<br />
man sich durchaus vorstellen, dass sich dadurch einiges<br />
verändern könnte, wenn die Alten durch’s Land<br />
ziehen. „Mit 88 Jahren sind wir noch gut in Schuss ...“,<br />
wahrhaftig, sie halten sich nicht nur beweglich auf<br />
den Beinen, sondern strahlen sogar optimistische<br />
Kraft aus.<br />
Die Theatergruppe „Die Spätzünder“ spielt Szenen<br />
aus ihrem Stück „Die viehische Komödie“, in dem es<br />
um Alleinsein, die Bereitschaft zum Sterben und um<br />
Profiteure der unerfahrenen Gutwilligkeit vieler alter<br />
Menschen ging. Ein sehr alter Kranich, der Letzte<br />
seiner Familie, hat sich entschlossen, das Ende seines<br />
Lebens nicht an der Müritz, sondern in Berlin zu verbringen.<br />
Noch einmal mit letzter Kraft das Abenteuer<br />
zu suchen und vielleicht auch Freunde zu finden.:<br />
„Noch mal verrückt sein und aus allen Ängsten fliehn“.<br />
Auf dem Friedhof trifft er auf eine Ratte, die sich als<br />
Beerdigungsunternehmer durchschlug. Wie hier zwei<br />
Welten aufeinander prallen – der clevere, skrupellose<br />
Organisator stimmungsvoller Beerdigungs-„Events“<br />
und der zarte, weltfremde Kranich – das hat professionelles<br />
Niveau.<br />
Begrüßung und Einleitung<br />
Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit,<br />
Soziales und Verbraucherschutz:<br />
„Was soll ich jetzt noch zu<br />
Potenzialen des Alters sagen,<br />
wo wir hier gerade so eindrücklich<br />
erleben konnten,<br />
welche Potenziale in dieser<br />
Stadt vorhanden sind.“<br />
Der Senatorin liegt daran,<br />
dass in der Gesellschaft die Erfahrungen alter Menschen<br />
sehr viel stärker als Erfahrungs-Schatz erkannt<br />
und genutzt werden. „Dass hier Veränderungen nötig<br />
sind, das spüren wir alle. Und angesichts der demographischen<br />
Entwicklung und der damit verbundenen<br />
<strong>sozial</strong>politischen Herausforderungen muss eine moderne<br />
Seniorenpolitik Rahmen dafür schaffen, dass<br />
das Altern in Würde sichergestellt wird. Und das heißt<br />
immer auch: sich einmischen, Teilhabe an gesellschaftlichen<br />
Prozessen zu ermöglichen.“<br />
Bisher standen im Zusammenhang mit alten Menschen<br />
Fragen der Pflege und Versorgung im Mittelpunkt.<br />
Und das bleibt selbstverständlich ein sehr<br />
wichtiger Bereich. „Aber es wäre verheerend, die<br />
Fragen des Alterns auf diese Fragen zu reduzieren.“<br />
Immer noch hat die Gesellschaft ein schlechtes und<br />
falsches Bild von alten Menschen, was sich in Schlagworten<br />
wie „Überalterung“ und „Vergreisung“ niederschlägt.<br />
Die Vielfalt der Lebenslagen der älteren Generation<br />
muss hingegen in den Blick gerückt werden.<br />
Wie auch im letzten Gesundheitsbericht in Zahlen belegt<br />
ist, heißt Altwerden eben nicht mehr nur Krankheit<br />
und Pflegebedarf. Altsein bedeutet mehr und<br />
mehr auch Aktivität und sich einmischen. Frau Dr. Knake-Werner<br />
betont, dass die große Gruppe der aktiven<br />
50- bis 80jährigen, die heute in der Wahrnehmung der<br />
Gesellschaft einfach ausgeblendet wird, mit all ihren<br />
Aktivitäten zur Kenntnis genommen werden muss.<br />
Denn diese Gruppe wird im Jahre 2050 die Mehrheit<br />
der Bevölkerung stellen.<br />
Es gilt, in den kommenden Jahren Bedingungen zu<br />
schaffen, die für die jung gebliebenen Alten attraktiv<br />
sind, die sie in <strong>sozial</strong>e Prozesse einbinden, die ihnen<br />
verantwortungsvolle Aufgaben anvertrauen. Wenn<br />
dies nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass das gesellschaftliche<br />
Zusammenleben in dieser Stadt aus der<br />
Balance gerät und dass <strong>sozial</strong>e Netze, die wir mehr<br />
denn je brauchen, zerfallen.<br />
Die Senatorin ist davon überzeugt, dass sich nicht<br />
jeder ältere Mensch ein Leben als „Oma im Schaukelstuhl<br />
oder als Opa im Gemüsebeet“ wünscht. Im Gegenteil:<br />
„Die meisten Älteren wollen heute viel mehr,<br />
sie sind vielfältig interessiert und heute mit Dingen<br />
beschäftigt, für die ihnen früher die Zeit und die Kraft<br />
fehlten. Gerade die Älteren kombinieren ihr Können<br />
und ihre Fähigkeiten mit Erfahrung, Solidität und<br />
Kontinuität. Und ist es nicht so, dass wir uns alle genau<br />
so die eigene Zukunft vorstellen – möglichst gesund,<br />
<strong>sozial</strong> eingebunden und selbstbestimmt“ Bei einer<br />
aktivierenden Seniorenpolitik kommt es darauf an,<br />
das gesellschaftliche Engagement älterer Menschen<br />
zu fördern, die Bereitschaft, etwas für sich selbst, aber<br />
auch für andere zu tun, positiv aufzugreifen.<br />
Es gibt von der Sozialverwaltung geförderte Koordinierungsstellen,<br />
die diese beiden Aufgaben in<br />
sinnvoller Weise bündeln: Hilfebedarf anmelden und<br />
sich ehrenamtlich einbringen. Wer sich ehrenamtlich<br />
betätigt, tut das aus einem <strong>sozial</strong>en, politischen, gesellschaftlichen<br />
Anliegen heraus. Egal, ob er seinem<br />
pflegebedürftigen Nachbarn zur Seite steht oder ob<br />
er oder sie – wie die Spielerinnen und Spieler des<br />
14
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Theaters der Erfahrungen dies tun – ihre Lebenserfahrungen<br />
und ihre politischen Anliegen mit lauten<br />
und leisen Tönen der Öffentlichkeit nahe bringen; ob<br />
sie mit Schülerinnen und Schülern im gemeinsamen<br />
Workshop darüber reden, was sie als Ältere in den<br />
Zeiten von Krieg und Unterdrückung erleben mussten.<br />
Ob im Sport, auf <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>m Feld, beim<br />
Vorlesen in der Schule, der Nachhilfe im Jugendfreizeitheim,<br />
beim Generationen übergreifenden Dialog<br />
über unterschiedliche Wohnbedürfnisse – die Liste<br />
des möglichen Engagements ist lang und die Zahl der<br />
Engagierten groß. Und die Bereitschaft zum Mitmachen<br />
ist viel größer, als allgemein angenommen wird.<br />
Sie in Praxis umzusetzen, dazu sind Ermunterung und<br />
eine unterstützende Infrastruktur nötig, wie sie beispielsweise<br />
die Stadtteil- und Nachbarschaftszentren<br />
bieten. „Mit anderen Worten: Wir können und müssen<br />
die Gruppe der engagierten älteren Menschen dazu<br />
einladen, gemeinsam mit uns die gesellschaftlichen<br />
Aufgaben zu lösen.“<br />
Die Senatorin versichert, dass die Lebenslagen der<br />
älteren Menschen in Berlin ein Schwerpunkt zukünftiger<br />
Senatspolitik sein werden. „Den Veränderungen<br />
in den Lebensgewohnheiten und –bedürfnissen dieser<br />
wachsenden Bevölkerungsgruppe soll Rechnung<br />
getragen werden, und wir werden sie auch weiterhin<br />
im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten fördern.“<br />
Die Verwaltung will im Hinblick auf eine „ganzheitlich<br />
strukturierte Altenpolitik“ gemeinsam mit den<br />
institutionalisierten Seniorenvertretungen prüfen,<br />
in welcher Richtung Veränderungen im Sinne einer<br />
besseren Partizipation der älteren Bevölkerung notwendig<br />
sind.<br />
„Die Berliner Seniorenpolitik wird auch in Zukunft von<br />
dem Grundsatz geprägt sein, ein Altern in Würde zu<br />
ermöglichen. Dazu ist es unerlässlich, die Selbständigkeit,<br />
Selbstbestimmung und Teilhabe der älteren<br />
Generation zu erhalten und zu stärken und dabei<br />
auch die unterschiedlichen Interessen von Frauen<br />
und Männern zu berücksichtigen.“ Das gilt ganz<br />
besonders für das Wohnen im Alter. Hier existieren<br />
mitlerweile unterschiedliche alternative Wohnformen<br />
als Alternative zur Heimunterbringung. Die Weiterentwicklung<br />
professioneller Hilfesysteme, die auch bei<br />
umfangreicher werdendem Hilfe- und Pflegebedarf<br />
ein Leben in der selbst gewählten Häuslichkeit und<br />
Nachbarschaft ermöglicht, ist eine wichtige unterstützende<br />
Zukunftsaufgabe. Auf Grund der Vereinzelung<br />
der Gesellschaft werden <strong>sozial</strong>e Netzwerke teilweise<br />
familiäre Strukturen ersetzen müssen. Selbstorganisation,<br />
Selbsthilfe, ehrenamtliches und bürgerschaftliches<br />
Engagement müssen auch deshalb gefördert<br />
werden. „Die Lebenserfahrung und das Erfahrungswissen<br />
der älteren Generation sind häufig unvollständig<br />
genutzte gesellschaftliche Potenziale, die es zu erhalten<br />
und zu reaktivieren gilt. Darauf kann und sollte die<br />
Gesellschaft nicht verzichten.“<br />
Nicht zuletzt sieht der Senat auch eine Aufgabe darin,<br />
den in Berlin lebenden älteren Menschen ausländischer<br />
Herkunft die Teilhabe an den <strong>kulturelle</strong>n, <strong>sozial</strong>en<br />
und gesundheitlichen Angeboten zu ermöglichen.<br />
In nur 5 Jahren wird sich die Zahl der über 65jährigen<br />
Migrantinnen und Migranten auf 28.700 verdoppelt<br />
haben. Frau Dr. Knake-Werner weist darauf hin, dass<br />
diese Bevölkerungsgruppe verstärkt auf die Dienste<br />
der offenen und stationäre Altenhilfe angewiesen sein<br />
wird. Weshalb sie dringend einer intakten Informations-<br />
und Beratungsinfrastruktur bedarf.<br />
André Schmitz, Staatssekretär, Chef der Senatskanzlei,<br />
Beauftragter für Bürgerschaftliches Engagement:<br />
„Aktiv sein für bürgerschaftliches Engagement“<br />
Dieses Thema vereint die europäischen<br />
Länder, es reicht<br />
weit über den Berliner Horizont<br />
hinaus. Große Metropolen<br />
erfüllen beim Blick auf<br />
die sich wandelnden Gesellschaften<br />
die Funktion eines<br />
Seismographen, hier erkennt man Entwicklungsprozesse<br />
und Trends früher als in ländlichen Gebieten.<br />
„Man kann bei nüchternem Blick auf die Metropolen<br />
auch früher Schlussfolgerungen ziehen und Konzepte<br />
für eine Gesellschaft des langen Lebens entwickeln,<br />
sogar innovative Modelle in die Praxis umsetzen.“ Das<br />
ist allerdings mit Risiken verbunden, „denn es gibt<br />
keine Blaupausen für die Probleme und Risiken, die<br />
wir in den nächsten Jahrzehnten mit alternden Gesellschaften<br />
bewältigen müssen. Und dabei können wir<br />
auf alte Erfahrungen nicht zurückgreifen.“ Darin sieht<br />
Herr Schmitz allerdings auch die Chance, neue Modelle<br />
zu erproben. Berlin hat schon heute 100.000 „hochaltrige“<br />
Menschen, d.h. sie sind über 80 Jahre, wovon<br />
30.000 älter als 90 Jahre sind.<br />
Schon in den 80er Jahren war deutlich, dass Europa<br />
am Anfang dieses Jahrtausends weltweit die geringste<br />
Geburtenrate und den höchsten Anteil älterer Menschen<br />
aufweisen würde. Die Europäische Kommission<br />
hat darauf mit dem Konzept des „Lebenslangen Lernens“<br />
geantwortet. Dessen Grundgedanke ist, dass<br />
„Bildung nicht an Altersgrenzen Halt machen darf,<br />
sondern alle Bürgerinnen und Bürger daran Anteil haben<br />
sollen.“ Die komplementäre Erweiterung dieses<br />
Konzeptes, steht unter dem Motto: „Aktiv alt werden<br />
am <strong>Arbeit</strong>splatz“. Im Hinblick auf einen absehbaren<br />
<strong>Arbeit</strong>skräftemangel scheint dieses Konzept wirtschaftlich<br />
sehr sinnvoll zu sein. Daher wird die Europäische<br />
Kommission in der nächsten Legislaturperiode<br />
einen Schwerpunkt auf interdisziplinäre Projekte der<br />
Alterserforschung konzentrieren. Hierbei wird auch<br />
Berlin, als „Stadt des Wissens“ und der Forschung wieder<br />
gefragt sein. Gleichzeitig entwickelte die Europäische<br />
Kommission eine Anti-Diskriminierungspolitik,<br />
15
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
die das Alter als möglichen Diskriminierungsgrund<br />
mit einbezieht. „Das ist ein wichtiger Impuls zum Abbau<br />
von Vorbehalten gegenüber älteren Menschen.“<br />
Die Verwaltungsressorts in Berlin in diesem Punkt<br />
enger zu verknüpfen, anstatt das Problem nur einem<br />
Ressort zuzuschieben, sieht der Staatssekretär dabei<br />
als eine der großen Aufgaben an.<br />
Um Anregungen für Lösungsmöglichkeiten zu finden,<br />
kann man sich durchaus auch in anderen Ländern<br />
umschauen. So ist etwa die Stadt Baltimore in den<br />
USA zu einer Modellstadt für eine alternde Gesellschaft<br />
ernannt worden. „Dort sollen alle Ressorts der<br />
Stadtverwaltung, von der Bau-, Wirtschafts- und Verkehrsplanung<br />
bis zu den klassischen Ressorts der Gesundheits-<br />
und Sozialplanung Außerordentliches und<br />
Vorbildliches leisten, um zukunftsweisende Modelle<br />
für alle Städte der Vereinigten Staaten zu erproben.<br />
Das sollte man sich einmal näher anschauen, denn<br />
man kann schließlich nicht alles immer selber erfinden.“<br />
Für Berlin sieht Staatssekretär Schmitz eine reelle<br />
Chance, „Trendsetter für Europa“ zu werden. „Es gibt in<br />
dieser Stadt genügend Potenziale, um hier auch mit<br />
Ihrer Hilfe Akzente zu setzen, an deren Umsetzung wir<br />
dann gemeinsam arbeiten können.“<br />
Frank Leyhausen, Unternehmensberater<br />
MedCom, Bonn:<br />
„Im Fadenkreuz der Wirtschaft – ältere Menschen als<br />
Kunden und Mitwirkende“<br />
Die Landesregierung in<br />
Nordrhein-Westfalen hat<br />
ein Aktionsprogramm für<br />
Senioren aufgelegt, durch<br />
das mit Betrieben und<br />
Non-profit-Unternehmen,<br />
gemeinsam mit Senioren<br />
neue Produkte zu entwickeln.<br />
Es befassen sich inzwischen sehr viele Bereiche<br />
mit der Zielgruppe alter Menschen. Auch Unternehmen<br />
sind inzwischen an den Älteren interessiert, denn<br />
im Jahr 2050 werden sie mehr als die Hälfte der Bevölkerung<br />
in Deutschland ausmachen. Heute schon ist jeder<br />
dritte Mensch 50 Jahre und älter. Alte Leute haben<br />
durchschnittlich gesehen relativ hohe Vermögensbestände,<br />
ein Grund für Banken, sich mit ihnen zu befassen.<br />
Auch die monatliche Kaufkraft ist in dieser Altersgruppe<br />
überdurchschnittlich hoch. Hinzu kommt,<br />
dass gerade Ältere vielen sich schnell verändernden<br />
Dingen des Lebens relativ hilflos gegenüberstehen.<br />
Weshalb sie auf Beratungs- und Schulungsservice angewiesen<br />
sind, den sie auch bereit sind zu bezahlen.<br />
Daraus folgert Frank Leyhausen, „ ... dass es für Unternehmen<br />
wieder Sinn macht, sich mit ihren Kunden<br />
auseinander zu setzen und nicht nur Produkte auf den<br />
Markt zu werfen.“ Denn ältere Menschen sind in ihrer<br />
großen Mehrzahl anspruchsvolle Kunden, die nicht<br />
nur Geld haben, sondern auch die Zeit, sich intensiv<br />
mit ihren Konsumwünschen zu beschäftigen. Und sie<br />
haben Lebenserfahrung, die dazu führt, dass sie letztendlich<br />
sehr genau wissen, was sie wollen. Verkäufer<br />
schrecken häufig vor so einer Konfrontation zurück.<br />
In Köln gibt es einige Beispiele dafür, die sehr unterschiedlichen<br />
kleinen Zielgruppen der über 50jährigen<br />
in ihrer Eigenschaft als Kunden differenziert anzusprechen.<br />
So gibt es etwa „Discount-Bestatter“. Oder<br />
es gibt einen Seniorentag im „Pascha“, dem größten<br />
Bordell in Köln. Aber auch im Service-Bereich hat sich<br />
dort etwas getan. Wenn man davon ausgeht, dass<br />
heute viele technische Produkte einen viel kürzeren<br />
Lebenszyklus haben, bedeutet das, dass die Verbraucher<br />
ständig neu Bedienung und Anwendung von Geräten<br />
lernen müssen. Das größte Manko beim Verkauf<br />
von Produkten ist in den Augen von Herrn Leyhausen<br />
die mangelnde Beratung älterer Kunden.<br />
In der Unsicherheit von älteren Menschen bei der Informationsbeschaffung<br />
– wen kann ich fragen, wem<br />
kann ich glauben, was und wo kaufe ich, welches Produkt<br />
wird meinem Bedarf gerecht, wie gehe ich damit<br />
um – liegt andererseits ein großes Potenzial. „Wir, die<br />
MedCom, wollen eine Wirtschaft, die Menschen unterstützt.<br />
In diesem Sinne beraten wir Unternehmen,<br />
die neue Produkte verkaufen wollen, dass sie ihr Geld<br />
auch in die notwendige Beratung der Käufer stecken<br />
müssen.“ Man hat etwa herausgefunden, dass jeder<br />
Zweite, der ein Handy kaufen will, eine „Kaufblockade“<br />
hat, weil er nicht versteht, wie es funktioniert und worin<br />
die Unterschiede zwischen diesem und jenem Modell<br />
bestehen. „Da muss die Industrie doch schon selber<br />
sehen, dass hier etwas getan werden muss,“ meint<br />
Herr Leyhausen. Er hat selber die Erfahrung gemacht,<br />
dass fast durchgängig die in der Regel jungen Verkäufer<br />
von Mobilfunk ältere Kunden in ihrem Informationsbedarf<br />
nicht ernst nehmen. Als Konsequenz davon<br />
hat MedCom zusammen mit Vodafone eine Grundlagen-Fibel<br />
geschrieben, worin erklärt wird, „was das<br />
Handy überhaupt ist“. Das hat ihnen innerhalb eines<br />
Jahres 35.000 Presse-Anfragen gebracht, und es wurden<br />
250.000 Broschüren angefordert, großteils auch<br />
von Senioreneinrichtungen.<br />
„Das war offensichtlich für ältere Leute sehr hilfreich.<br />
Und natürlich ist so etwas auch konsumfördernd. Aber<br />
natürlich entscheidet der Kunde selber, wenn er die<br />
Funktionsweise einmal verstanden hat, für welches<br />
Produkt er letztlich sein Geld ausgibt.“<br />
Gemeinsam mit Vodafone, der Deutschen Seniorenliga<br />
und Volkshochschulen wurden Handy-Kurse entwickelt<br />
für Einsteiger jeden Alters. Mit dieser Art von<br />
Marketing, so meint Herr Leyhausen, kann man auch<br />
sehr gut Non-profit-Organisationen stützen. Auch Bildungsträger<br />
müssen sich in diesen Zeiten knapperer<br />
Budgets Gedanken darüber machen, Finanzierungsmöglichkeiten<br />
für die Umsetzung ihres Bildungsauftrags<br />
aufzutun. Die Gewinner dieses Projektes waren<br />
16
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
in erster Linie die älteren Menschen, die sich durch<br />
die Handy-Schulung ihren Platz in einem Bereich der<br />
modernen Technikwelt erobern konnten. Viele waren<br />
danach in der Lage, anderen ihr frisch erworbenes<br />
Wissen mit großem Einfühlungsvermögen weiter zu<br />
vermitteln.<br />
Frank Leyhausen stellt zum Schluss noch einmal die<br />
Grundprinzipien seiner <strong>Arbeit</strong> zusammen: „Produkte<br />
erklären – mit Kunden Produkte entwickeln – nicht<br />
nur darauf schauen, was sich verkaufen lässt, sondern<br />
auch fragen, was die Leute wollen. Unsere Gesellschaft<br />
versenkt gerade einen ganzen Erfahrungsschatz,<br />
indem sie Menschen mit 58 Jahren in Frührente<br />
schickt.“<br />
Pam Schweitzer, Age Exchange, London:<br />
„Age Exchange and Social Engagement – a Vision<br />
for the Future“<br />
Pam Schweitzer begann<br />
ihre <strong>Arbeit</strong> vor 23 Jahren<br />
als “Erinnerungsarbeit”<br />
mit älteren Menschen. Sie<br />
wollte jedoch nicht etwa<br />
das Gedächtnis der Leute<br />
trainieren und verbessern,<br />
sondern sie war an ihren<br />
Erinnerungen interessiert. Die Engländerin kommt<br />
von der Theater- und Erziehungsarbeit. Also dachte<br />
sie beim Zuhören, wenn 80Jährige ihre Geschichten<br />
erzählten: „Erstens würde daraus ein tolles Theaterstück<br />
werden. Und außerdem sollten Jugendliche sich<br />
diese Geschichten anhören, daraus könnten sie viel<br />
über die Vergangenheit lernen.“ So begann sie mit der<br />
Produktion von Theaterstücken in Schulen, wo junge<br />
Menschen sich die Geschichten von Alten anhörten<br />
und dann daraus Theaterszenen schrieben. Für junge<br />
Menschen war das eine wunderbare Möglichkeit, etwas<br />
über ihre Vergangenheit zu lernen und zu verstehen,<br />
woher sie kommen.<br />
Warum ist gerade das Theater ein so gutes Mittel<br />
zum Verständnis zwischen Jung und Alt „Ich glaube,<br />
wenn man aus dem Leben eines Menschen eine Theateraufführung<br />
machen will, dann muss man dieses<br />
Leben wirklich gut verstehen. Man muss es in sich<br />
aufnehmen, zu einem Teil der eigenen Erfahrung machen<br />
– und es dann überzeugend spielen.“ Um das<br />
Leben eines anderen Menschen zutiefst zu verstehen,<br />
ist es notwendig, sehr viele Fragen zu stellen und<br />
sehr aufmerksam auf die Antworten zu hören. Zum<br />
anderen mussten die jungen Schauspieler ständig auf<br />
den alten Menschen sehen und immerzu fragen, ob<br />
sie etwas richtig verstanden hatten oder nicht. Denn<br />
der alte Mensch ist in dieser Situation der Experte, der<br />
Experte seines eigenen Lebens.<br />
„Ich erzähle Ihnen dieses, weil ich denke, dass eine<br />
ganze Reihe von Initiativen für alte Menschen sich<br />
dieses Erfahrungsschatzes und des Expertentums<br />
nicht bewusst sind und sie nicht nutzen, obwohl ihnen<br />
doch dieser Reichtum zur Verfügung steht.“<br />
Nachdem sie einige Jahre aus den Erinnerungen alter<br />
Menschen Theater gemacht hatte – manchmal mit<br />
professionellen Schauspielern, manchmal mit Laien<br />
oder auch mit alten Leuten selber – entschloss sie<br />
sich, in London-Blackheath ein Zentrum der Erinnerungen<br />
zu eröffnen, und zwar ein Nachbarschaftszentrum,<br />
wo Jung und Alt zusammentreffen können. Im<br />
Laufe der letzten zwanzig Jahre machte sie dort die<br />
Erfahrung, „ ... dass es sehr, sehr viele Arten gibt, alte<br />
Menschen zu ermutigen, in diesem Zentrum einen<br />
Beitrag zu leisten für das Zusammenleben der verschiedenen<br />
Kulturen und Generationen.“ Ein Beispiel<br />
hierfür sind ständig wechselnde neue Ausstellungen<br />
zum Thema Erinnerung, auch mit audio-visuellen<br />
Displays. So werden die verschiedensten Menschen<br />
die ganze Zeit involviert, z.B. Menschen, die an der<br />
Themse gearbeitet haben, der seinerzeit ein sehr emsiger<br />
Fluss mit viel Verkehr und Lagerhäusern war. So<br />
kommen laufend Leute in das Zentrum, die von den<br />
Erfahrungen der Älteren lernen und daran ihre Freude<br />
haben.<br />
„Als ich 1987 dieses Zentrum eröffnete, glaubte ich, es<br />
würde nur ein Experiment für ein Jahr sein. Ich dachte,<br />
dass nur wenige Leute kommen würden, nur Wenige<br />
gerne Geschichten von sich selbst erzählen würden.<br />
Das war ein Irrtum. Denn sehr bald schon waren es<br />
zwischen 20.000 und 30.000 Menschen jährlich, die<br />
hereinkamen.“<br />
Warum kamen sie, was war in ihren Augen das Besondere<br />
hier Pam Schweitzer glaubt, dass sie in eine<br />
ausgesprochen anregende, ermutigende Umgebung<br />
17
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
18<br />
kamen. „Sie konnten einfach zur Tür hereinspazieren,<br />
wo sie in einem kleinen Nachbarschafts-Museum alles<br />
ansehen, anfassen, oft sogar riechen können. Und<br />
sie können darüber reden und auch eigene Aspekte<br />
einbringen und mitmachen.“ Die Menschen kommen<br />
auch, weil sie hier Wertschätzung erfahren. Sie können<br />
hereinkommen und eine Tasse Tee trinken – und sich<br />
einfach als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Und nicht<br />
etwa als Teil einer separierten Gruppe alter Leute an<br />
einem separierten Ort.<br />
„Bei uns gibt es etwa 60 Ehrenamtliche, die alle ältere<br />
Menschen im Alter zwischen 55 und 80 Jahren sind.“<br />
Jeder hat eine feste Zeit in der Woche, zu der sie oder<br />
er kommt und bei all den verschiedenen Aktivitäten<br />
hilft und mitmacht. Sie leiten in diesen festen Zeiten<br />
in einer kleinen Gruppe gemeinsam das Zentrum. Einige<br />
von ihnen arbeiten auch in Schulen und nehmen<br />
am Unterricht teil.<br />
In den letzten 5 Jahren hat sich Pam Schweitzer darauf<br />
konzentriert, speziell mit zwei Gruppen von alten<br />
Leuten zu arbeiten: die eine sind ältere Menschen von<br />
ethnischen Minderheiten; die andere Gruppe sind<br />
Demenzkranke, die noch in ihren Familien leben oder<br />
auch bei anderen Menschen. Sie erinnern sich sehr<br />
wohl an Dinge, die lange zurückliegen, und wenn diese<br />
Erinnerungen auf Interesse stoßen und für andere<br />
wertvoll sind, haben sie das Gefühl, dass sie noch immer<br />
etwas zu geben haben und dass sie noch Teil der<br />
Gemeinschaft sind.<br />
„London ist eine sehr bunt durchmischte multi<strong>kulturelle</strong><br />
Stadt. Und da gibt es jetzt auch sehr viele ältere<br />
Leute. Manche Menschen sehen das als Problem an.<br />
Für andere wiederum ist gerade das eine Chance.“ Es<br />
wurden Theaterstücke entwickelt von alten Leuten<br />
aus ethnischen Minderheiten, von denen nicht alle<br />
Englisch sprechen, gemeinsam mit jungen Leuten,<br />
und zwar mit sehr viel Erfolg. Es sind afrikanische alte<br />
Menschen in die Schulen gegangen, angetan mit ihren<br />
prachtvollen bunten Gewändern, um dort davon<br />
zu erzählen, wie das war, in einem afrikanischen Dorf<br />
aufzuwachsen. Sie haben den Kindern von der Bedeutung<br />
ihrer afrikanischen Namen erzählt. Es gibt so<br />
viel Erfahrungsaustausch und sehr viel Lebenswissen<br />
zu vermitteln, und das ist für das Identitätsgefühl der<br />
Kinder sehr wichtig.<br />
„Das Leben kann für alte Menschen sehr einsam sein,<br />
besonders für solche aus ethnischen Minderheiten.<br />
Wir haben in London sehr viele Treffpunkte für die<br />
verschiedensten Gruppen geschaffen. Dort treffen<br />
sie auf Menschen, mit denen sie die gleichen Erfahrungen,<br />
die gleichen Vorlieben für Essen oder Musik<br />
teilen. Viele gehen da hin, um sich geborgen zu fühlen<br />
– und dann gehen sie auch irgendwann raus, um<br />
Kinder zu treffen, Weiße, Leute aus unterschiedlichen<br />
Kulturen. Schritt für Schritt geht das vor sich. Und es<br />
verändert Einstellungen und Haltungen gegenüber<br />
dem Fremden.“ Die Menschen empfinden es nach<br />
solchen Begegnungen eher als positiv, in einer multi<strong>kulturelle</strong>n<br />
Gesellschaft zu leben.<br />
Da Pam Schweitzer nun vor der Tatsache steht, in<br />
allernächster Zeit selber zu den Alten und Rentnern<br />
zu gehören, fragt sie sich, ob irgendjemand sie dann<br />
noch brauchen wird. Wem kann sie dann etwas von<br />
ihrer vielen Zeit geben Und welche Qualitäten sollte<br />
ein Ort haben, an dem sie ihre Zeit einbringen möchte<br />
Sie könnte sich vorstellen, dass sie zunächst mal<br />
nur ein bisschen machen würde, um zu sehen, ob es<br />
ihr gefällt. Sie würde sich nicht sofort verpflichten<br />
wollen, für die nächsten zehn Jahre jeden Tag dort zu<br />
verbringen. Und sie würde zwar einerseits gern etwas<br />
Neues machen – aber es wäre auch schön, wenn ihre<br />
speziellen Fähigkeiten gefragt wären. Und sie hätte<br />
sehr gern auch junge Menschen um sich, nicht immer<br />
nur Alte. Sie möchte neue Freundschaften schließen.<br />
Ein bisschen Verantwortung tragen wäre gut – aber<br />
nicht zu viel. „Und ich glaube, ich würde da, wo ich<br />
arbeite, auch gern etwas zu sagen haben. Das würde<br />
mir das Gefühl geben, dass ich wirklich ein Teil wäre<br />
von dieser Organisation, in der ich arbeite.“ Etliche<br />
andere Dinge wären ihr noch wichtig, wie etwa, alle<br />
Reisekosten erstattet zu bekommen, wenn sie für die<br />
Organisation unterwegs wäre; oder auch dass sie umsonst<br />
Tee trinken und ein Sandwich essen dürfte. Und<br />
sie möchte, wenn sie eine regelmäßige Verpflichtung<br />
eingeht, nicht darauf festgenagelt bleiben, sondern<br />
Dinge selber entwickeln und eigene Initiativen ergreifen<br />
können. Mit anderen Worten: „Ich würde als Ehrenamtliche<br />
in einer Organisation ein Albtraum sein.“<br />
Und während sie den Zuhörerinnen ihren Konflikt<br />
darstellt, viele Jahre mit Ehrenamtlichen gearbeitet zu<br />
haben und jetzt bald vielleicht selber eine von ihnen<br />
zu sein, kommt sie lachend zu der Erkenntnis: „Ich<br />
glaube, ich will gar nicht als Ehrenamtliche arbeiten.<br />
Ich werde lieber am London-Marathon teilnehmen<br />
und ein ganzes Jahr darauf verwenden, mich dafür zu<br />
trainieren.“
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Georg Zinner<br />
Potenziale des Alters erkennen -<br />
ein überfälliger Paradigmenwechsel<br />
„Wir möchten dazu beitragen,<br />
dass sich in der Politik,<br />
in der Fachwelt und in der<br />
praktischen <strong>Arbeit</strong> ein Denken<br />
durchsetzt, das sich der<br />
Aktivierung, dem bürgerschaftlichen<br />
Engagement<br />
und dem Tatendrang der<br />
älteren Menschen verpflichtet fühlt“.<br />
1.<br />
Wenn wir uns heute in Berlin umschauen und die<br />
„Seniorenarbeit“ betrachten, so fällt es schwer, darin<br />
deutlich gesetzte fachliche oder politisch-strategische<br />
Gestaltungselemente zu entdecken.<br />
Zwar gibt es alle Anstrengungen, eine ausreichende<br />
Infrastruktur für pflegebedürftige, zumeist hochbetagte<br />
Menschen zu schaffen, die Entwicklung dringend<br />
benötigter neuer Wohn- und Pflegeformen bleibt aber<br />
eher der engagierten- Initiative Einzelner und dem einen<br />
oder anderen Investor oder Vermieter überlassen.<br />
Dort, wo große Einheiten nicht gefragt sind, „lohnt“<br />
es sich offensichtlich nicht, weder für die Betreiber,<br />
noch für die Wohnungsbaugesellschaften, noch für<br />
die politisch und fachlich-planerisch Verantwortlichen,<br />
zu investieren oder gestaltend tätig zu werden. Dabei<br />
wäre es so einfach:<br />
Wählen wir zur anschaulichen Beschreibung ein kleines<br />
Dorf.<br />
Dort gibt es vielleicht in jeder 10. Familie einen pflegebedürftigen<br />
Angehörigen. Unter großen Mühen<br />
und Anstrengungen organisiert jede der Familien für<br />
sich – mitunter auch unter Einschaltung eines Pflegedienstes<br />
– die hauswirtschaftliche und pflegerische<br />
Versorgung: morgens, mittags, abends. An sieben Tagen<br />
in der Woche, 365 Tage im Jahr. In dem Dorf wohnen<br />
50 Familien, so dass wir von 5 pflegebedürftigen<br />
Menschen ausgehen können. Würden sich diese fünf<br />
Familien zusammentun und gemeinsam ein Haus oder<br />
eine große Wohnung im Dorf anmieten, dann könnten<br />
sie gemeinsam professionelle Pflegekräfte engagieren<br />
und eine Betreuung rund um die Uhr sicherstellen. Die<br />
Angehörigen wären psychisch und physisch entlastet.<br />
Das familiäre Stresspotential würde sich vermindern<br />
und als Besucher in der Pflegewohnung wären sie<br />
eine willkommene Abwechslung. Die Pflegebedürftigen<br />
selbst wären zu keiner Zeit allein und fühlten<br />
sich sicher. Einige rüstige Senioren aus dem Dorf<br />
übernehmen für die Wohngemeinschaft zudem allerlei<br />
Aufgaben: sie kaufen ein, lesen vor, übernehmen<br />
Spaziergänge und Ausflüge und sie sorgen dafür, dass<br />
auch die jüngere Generation einspringt und mithilft:<br />
bei Reparaturen, bei Renovierungen, beim Ein- und<br />
Auszug und auch bei manchem Pflegedienst. So könnte<br />
Pflege – gemeinsam organisiert - kostengünstig und<br />
menschlich gestaltet werden. Nur auf dem Dorf Nein,<br />
genauso kann es sich in der Stadt auch ereignen. Ersetzen<br />
wir das Dorf einfach durch den „Wohnblock“.<br />
Warum können unsere Wohnungsbaugesellschaften<br />
und -genossenschaften nicht geeignete Wohnungen<br />
zur Verfügung stellen und sich zum Beispiel der<br />
Nachbarschaftszentren bedienen, um für ihre Mieter<br />
zu sorgen und vorzusorgen Diese sind in der Lage<br />
ehrenamtliches Engagement hierfür zu organisieren<br />
und verfügen zum Teil auch über eigenen ambulante<br />
Pflegedienste oder arbeiten mit befreundeten Diensten<br />
zusammen.<br />
Warum ich das hier anführe Weil ich damit sagen will,<br />
dass die Dinge – kleinräumig strukturiert - oft einfacher<br />
liegen, als sie sich „von oben“ betrachtet, insgesamt<br />
ansehen. Bürgerschaftliches Engagement stellt<br />
sich zudem „wie von selbst“ ein, wenn Kreativität und<br />
Gestaltungswillen sich auch auf diese unspektakulären,<br />
nur scheinbar zu kleinteiligen Lösungen, konzentrieren<br />
würde.<br />
Also jedem Berliner Wohnblock bitte seine Pflegewohngemeinschaft!<br />
Ich frage mich seit langem, warum<br />
die Wohnungsbaugenossenschaften und -gesellschaften<br />
noch nicht auf diesen Dienst für ihre Mieter<br />
gekommen sind. Nicht einmal dann, wenn ihnen die<br />
Organisation dafür abgenommen werden würde, wie<br />
ich persönlich feststellen mußte.<br />
2.<br />
Beenden wir den Ausflug in die Pflege,<br />
nicht ohne anzumerken, dass ein großer Teil der Lösung<br />
der Pflegeprobleme gerade in der Nutzung der<br />
Potentiale des Alters liegt. Denn viele unserer rüstigen<br />
alten Menschen sind bereit, sich zu engagieren, ob als<br />
gesetzlich bestellte Betreuer, als Mitarbeiter im Besuchs-<br />
oder Hospizdienst oder als den Alltag erleichternde<br />
Nachbarn von Pflegebedürftigen und selbstverständlich<br />
und vor allem auch als Angehörige.<br />
Was also spricht dagegen, die rüstige, gut ausgebildete,<br />
zum guten Teil auch finanzkräftige und unternehmungslustige<br />
Generation der jungen Alten einzuladen<br />
und zu bitten, unsere drängender werdenden<br />
Probleme bei der Versorgung Pflegebedürftiger lösen<br />
zu helfen und damit das Versprechen zu geben, bzw.<br />
zu erhalten, dass man eines Tages auch selbst eine<br />
entsprechende Hilfe erwarten kann und darf. Es gibt<br />
heute keinen Grund mehr dafür, Freiwilligen- und Zivildienste<br />
auf Jugendliche zu beschränken. Dass das<br />
Bundesfamilienministerium nun Modellprojekte startet,<br />
die ausdrücklich auch Erwachsene und die ältere<br />
Generation einladen, einen Freiwilligendienst „abzuleisten“,<br />
ist also durchaus zu begrüßen. In Berlin wird<br />
19
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
20<br />
dieser Freiwilligendienst für Erwachsene vom Paritätischen<br />
Wohlfahrtsverband übrigens in Zusammenarbeit<br />
mit einigen Nachbarschaftszentren umgesetzt,<br />
deren Kompetenz zur Gewinnung und Förderung<br />
vielseitigen ehrenamtlichen Engagements bekanntermaßen<br />
außergewöhnlich hoch ist.<br />
3.<br />
Versuchen wir eine Beschreibung der Seniorenarbeit<br />
in Berlin außerhalb der Pflege, so ist es außerordentlich<br />
schwer, Profiliertes darzustellen.<br />
Schauen wir uns nach der Infrastruktur um, so wissen<br />
wir, dass die zahlreichen bezirklichen Seniorentagesstätten<br />
eben nicht die zentralen Anlaufstellen für<br />
Angelegenheiten und Aktivitäten der Senioren in der<br />
Nachbarschaft oder im Stadtteil sind. Die bezirklichen<br />
Sozialkommissionen mit ihrem System des Besuchdienstes<br />
anlässlich von runden Geburtstagen sind<br />
in der Öffentlichkeit kaum bekannt und dass deren<br />
Mitgliedern Aufwandsentschädigung zusteht, aber<br />
anderen Besuchsdiensten nicht, oder zu schlechteren<br />
Konditionen, ärgert diese und ist naturgemäß auch<br />
nur schwer zu verstehen. Mit den Sozialkommissionen<br />
von heute kümmert im Verborgenen vor sich hin, was<br />
richtig bedacht und gelenkt der Öffentlichkeit als positives<br />
Beispiel von Engagement im Alter dargestellt<br />
werden könnte. Bei manchem Sozialstadtrat wird man<br />
den Eindruck nicht los, dass Seniorenarbeit für ihn<br />
noch immer „Kaffee und Kuchen“ und ein paar nette<br />
Worte zum Weihnachtsfest bedeuten. Jedenfalls habe<br />
ich nicht den Eindruck, dass Berlins Sozialstadträte<br />
ernsthaft und systematisch daran arbeiten, Senioren<br />
in großem Umfang und nachhaltig dafür zu gewinnen,<br />
aktiv an der Lösung unserer gesellschaftlichen Aufgaben<br />
mitzuwirken.<br />
Selbsthilfe in der Altenarbeit – eine schon lange gebrauchte<br />
Begrifflichkeit für eine Gruppe von Initiativen,<br />
die sich vornehmlich in der 80er Jahren vorgenommen<br />
haben, eingefahrene Bahnen zu verlassen und die Dinge<br />
– sozusagen als Experten in eigener Sache – in die<br />
Hand zu nehmen. Dafür steht das Sozialwerk Berlin,<br />
dafür stehen bundesweit die Grauen Panther, dafür<br />
stehen Offensives Altern als Initiative für gemeinsames<br />
Wohnen im Alter oder auch Miteinander Wohnen e.V.<br />
und andere, die, bei allen Verdiensten, allerdings nie zu<br />
einer breiten Selbsthilfebewegung der Älteren geworden<br />
sind.<br />
Nehmen wir als letztes Beispiel das Programm „Erfahrungswissen<br />
älterer Menschen nutzen“, ein Programm<br />
aus den achtziger Jahren, aus dem interessante Projekte<br />
entstanden: das Werkhaus Anti-Rost, Stadtführer,<br />
Schreibwerkstätten, auch das „Theater der Erfahrungen“.<br />
Das Programm wollte die Fertigkeiten, Fähigkeiten<br />
und eben Erfahrungen alter Menschen für die<br />
Gesellschaft, für die Allgemeinheit nutzbar machen<br />
und setzte damit damals schon genau dort an, worüber<br />
wir heute wieder diskutieren: bei den Potentialen<br />
des Alters. Wie so vieles, litt auch dieses Programm an<br />
den Eigenheiten kleiner Projekte, die sich nur ungern<br />
mit Partnern, beispielsweise den Stadtteilzentren,<br />
zusammentun und auf Dauer dann doch zu sehr von<br />
einzelnen Personen abhängig sind. Und es fehlte an<br />
der entschlossenen Steuerung der Politik dieses Programm<br />
zum Standard der Berliner Seniorenarbeit zu<br />
entwickeln!<br />
Schließlich noch einen Blick auf die Form der Altenarbeit,<br />
die im Verschwinden begriffen ist. Während in den<br />
Nachbarschaftszentren noch vor zwei Jahrzehnten<br />
festgefügte und straff geführte, auch selbstorganisierte<br />
Seniorengruppen in größerem Umfangt existierten,<br />
haben sich diese heute weitgehend aufgelöst in Hobbygruppen,<br />
in Sport- und Bewegungsangebote, in<br />
interessenorientierte Freizeitaktivitäten – sehr häufig<br />
ehrenamtlich geführt oder gemeinschaftlich organisiert.<br />
Wie selbstverständlich finden sich Senioren<br />
– das sind jedenfalls unsere Erfahrungen - auch in<br />
den „ganz normalen“ Kurs- und Gruppenangeboten<br />
für Erwachsene ein und ganz selbstverständlich sind<br />
sie auch überall dort zu finden, wo ehrenamtliches<br />
Engagement benötigt wird und zwar ebenfalls nicht<br />
als eigene altershomogene Gruppe, sondern als selbstverständlicher<br />
Bestandteil derjenigen, die sich für ein<br />
Ziel engagieren.<br />
4.<br />
So „verschwindet“ zwar eine Form, keinesfalls aber das<br />
Engagement, wie ich aus eigener Erfahrung berichten<br />
kann:<br />
So finden sich heute Senioren in den Kindertagesstätten<br />
um dort vorzulesen und Märchen zu erzählen<br />
oder den Garten zu pflegen, sie sind im Jugendfreizeitheim<br />
als Schularbeitshelfer tätig genauso wie im<br />
Türkischen Frauenladen KIDÖB oder im Treffpunkt für<br />
die Arabischen Frauen und Mädchen „Al Nadi“ wo sie<br />
den Mädchen bei den Schularbeiten helfen und Konversationsgruppen<br />
leiten, um das Deutsch der Frauen<br />
zu verbessern.<br />
Sie sitzen in Büros des Nachbarschaftsheims und<br />
setzen ihre beruflichen Fertigkeiten ein, unterstützen<br />
Demenzkranke und ihre Angehörigen im Rahmen
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
leisten werden. Warum Weil sie Gewinn für sich<br />
selber daraus ziehen können: sie erhalten dafür<br />
<strong>sozial</strong>en Kontakt, Anerkennung, Zuwendung und<br />
die Gewissheit, etwas bewegen zu können oder<br />
bewegt zu haben. Auf diese Weise ist alten Menschen<br />
nicht nur die Rente „sicher“, sondern auch<br />
ein „Lebensgewinn“ – wenngleich ersteres – damit<br />
niemand auf falsche Ideen kommt – damit<br />
auf keinen Fall ersetzt werden soll. Im Gegenteil:<br />
ein guter <strong>sozial</strong>er Standard ist die beste Voraussetzung<br />
für das gewünschte bürgerschaftliche<br />
Engagement.<br />
des Besuchsdienstes oder sie wirken im ambulanten<br />
oder stationären Hospizdienst in der Hauswirtschaft<br />
mit genauso wie sie das mitfühlende Gespräch mit<br />
sterbenden Menschen führen oder Angehörigen bei<br />
der Trauerbewältigung helfen. Ehrenamtliche übernehmen,<br />
gestützt auf ihr berufliches Können und ihre<br />
Lebenserfahrung Betreuungen im Sinne des Betreuungsrechts<br />
und sie sind Schulpartner über das Theater<br />
der Erfahrungen und verbringen Wochen des Jahres in<br />
Schulen.<br />
5.<br />
Was ich mir wünsche, ist eine breite Verständigung<br />
über die Ziele der Berliner Seniorenpolitik.<br />
Hierzu einige Vorschläge zu einem Paradigmenwechsel,<br />
den, wenn ich es richtig verstanden habe, auch die<br />
neuen Leitlinien des Senats in ähnlicher Weise einläuten.<br />
- Sehen wir bitte in Zukunft zuerst die Potentiale<br />
des Alters und schaffen ein entsprechendes Bild<br />
alter Menschen in der Öffentlichkeit. Freuen wir<br />
uns darüber, dass wir diese Möglichkeit haben,<br />
denn unsere Alten sind gesünder, aktiver, ausgebildeter<br />
und auch flexibler als frühere Altersgenerationen.<br />
- Betrachten wir die ältere Generation auch als<br />
gesellschaftliches Potential zur Lösung unserer<br />
Probleme und bitten wir sie mitzuwirken. Sie<br />
werden uns diese Bitte nicht abschlagen, da sie<br />
ja mit dem Eintritt in das Rentenalter nicht ihren<br />
Austritt aus Gesellschaft erklärt haben und<br />
bestimmt daran interessiert sind, sich für die<br />
Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu engagieren.<br />
- Verständigen wir uns also darauf, dass Erfahrungswissen,<br />
Kreativität und Innovationskraft<br />
der älteren Menschen genutzt werden können<br />
und dürfen und laden wir die ältere Generation<br />
ein, ihre Kraft, ihr Potential, ihr Können dort<br />
einzusetzen, wo diese Personen dies gerne tun<br />
möchten. Sagen wir aber auch, wo wir sie brauchen<br />
und sie um ihre Hilfe bitten möchten. Seien<br />
wir uns sicher, dass sie unserer Einladung Folge<br />
6.<br />
Hier noch einige praktische Anregungen, von denen<br />
hoffentlich bald einige Wirklichkeit werden.<br />
• Umgestaltung der Seniorenfreizeitstätten in <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>,<br />
generationenübergreifende Nachbarschaftszentren,<br />
in denen Talente und Potentiale<br />
sich entfalten können. Eine Voraussetzung<br />
hierfür ist die Übergabe dieser Einrichtungen an<br />
freie Träger und Initiativen.<br />
• Schaffung einer <strong>sozial</strong>en Infrastruktur für bürgerschaftliches<br />
Engagement, mit Anlaufstellen<br />
in allen Stadtteilen, mindestens aber Stadtbezirken.<br />
Bestens dafür geeignet sind Nachbarschaftszentren,<br />
die über eine breite Angebotsstruktur<br />
und über viel Wissen und Erfahrung im<br />
Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement<br />
verfügen und ihrerseits an andere Träger vermitteln<br />
können.<br />
• Schaffung dieser <strong>sozial</strong>en Infrastruktur bedeutet<br />
gleichzeitig Strukturierung und Ordnung der<br />
unüberschaubaren <strong>sozial</strong>en Landschaft: Konzentration<br />
auf das Wesentliche, auf Grundstrukturen<br />
und die sollten dann flächendeckend und verbindlich<br />
diese Aufgabe übernehmen.<br />
• Eine berlinweite Steuerung und Koordination<br />
dieser Aufgabe könnten die zentrale Koordinationsstelle<br />
für Selbsthilfe (SEKIS), der Treffpunkt<br />
Hilfsbereitschaft und der <strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>, der Dachverband der Nachbarschafts-<br />
und Stadtteilzentren übernehmen. Sie<br />
sollten sich endlich zu einer kraftvollen Institution<br />
zusammenschließen die die jeweils geringen<br />
Ressourcen bündelt.<br />
7.<br />
Wo und wie können wir die Potentiale bürgerschaftlichen<br />
Engagements der älteren Generation nutzen<br />
Natürlich in allen Feldern der Bildung, der Kultur, der<br />
Kommunikation, der Sozialen <strong>Arbeit</strong>, der Pflege, der<br />
Kinder- und Jugendförderung und –hilfe.<br />
21
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Dieses Potential kann und soll dazu beitragen,<br />
• die Schulen zu öffnen und sie auch in die Verantwortung<br />
der Nachbarschaft zu „übergeben“<br />
(Lesepaten, Musikunterricht, Theaterpädagogik,<br />
Sportarbeitsgemeinschaften, Handwerkliche<br />
und technische <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften, Begleitung<br />
von Reisen und Ausflügen, Mitgestaltung<br />
Schularbeitshilfen, Freizeitgestaltung, Einzelbetreuung)<br />
• die <strong>Arbeit</strong> der Kindertagesstätten zu verbessern<br />
(Vorlesen und Spracherziehung, Einzelbetreuung,<br />
Familienpatenschaften, Unterstützung von<br />
Kindern ausländischer Herkunft zum Erwerb der<br />
vollständigen Schulreife, Ausflugs- und Reisebegleitung,<br />
Gartengestaltung, Spielzeugbau und<br />
–reparatur)<br />
• die Kinder- und Jugendfreizeitheime attraktiver<br />
zu gestalten<br />
(Schularbeitshilfen, Übernahme von Patenschaften<br />
in Krisen, Patenschaften für Familien als<br />
Integrationshilfe, Unterstützung von <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften<br />
und Hobbygruppen, ähnlich wie<br />
schon bei den Schulen benannt, Aufbau und<br />
Leitung von Küchen für die Essensversorgung<br />
von Schulkindern nach der Schule, Mitarbeit bei<br />
der Vorbereitung und Durchführung von Projektwochen<br />
und Ferienprogrammen, Reise- und<br />
Ausflugsbegleitung und –vorbereitung, Kulturund<br />
Bildungsangebote, Bewerbungstraining<br />
und Bewerbungspatenschaften, Aufbau und<br />
Führen von Kontakten zu Betrieben)<br />
• die Nachbarschafts- Stadtteil und <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong>n<br />
Zentren zu unterstützen<br />
(Mitwirkung in der Büroarbeit, Übernahme von<br />
Veranstaltungs- und Telefonservice, Gestaltung<br />
und Durchführung jeglicher Programmangebote,<br />
Besuchs- und Abholdienste, Entwicklung<br />
von Kultur- und Bildungsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit,<br />
Spendenwerbung und alles, was Bürger<br />
selbst in die Hand nehmen wollen, bis hin<br />
zur Gestaltung öffentlichen Raumes oder der<br />
Übernahme von Patenschaften für einzelne Personen,<br />
Gruppen oder Projekten, etwa für Immigranten<br />
oder für ausländische Studenten, denen<br />
manche Unterstützung die Integration oder das<br />
Zurechtfinden erleichtern könnte)<br />
in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke,<br />
die Tagespflege besuchen oder sich im Pflegeheim<br />
oder Krankenhaus aufhalten: alle Aufgaben<br />
können entwickelt oder weiter entwickelt<br />
werden, wenn dafür die Möglichkeiten und Gelegenheiten<br />
geschaffen werden.<br />
• Wir müssen auch den sehr alt gewordenen<br />
Menschen mehr denn je die Möglichkeit bieten<br />
in den eigenen Wohnungen zu leben. Wir Nachbarschaftszentren<br />
sind beispielsweise dazu<br />
bereit unser Können und Wissen vom Aufbau<br />
und der Gestaltung freiwilliger und ehrenamtlicher<br />
Dienste Vermietern, Wohnungsbaugesellschaften<br />
und –genossenschaften zur Verfügung<br />
zu stellen und dafür Sorge zu tragen, dass<br />
in den Wohnsiedlungen und –blocks Verantwortung<br />
übernehmende Nachbarn helfen, dies<br />
zu ermöglichen, wenn sie ihrerseits dazu beitragen,<br />
uns die Kosten dafür zu erstatten. Wir sind<br />
auch dazu bereit, in Seniorenwohnhäusern<br />
eine verlässliche Struktur ehrenamtlicher <strong>Arbeit</strong><br />
aufzubauen.<br />
Alle diese Beispiele zeigen, welche Potentiale bürgerschaftlichen<br />
Engagements diese Gesellschaft benötigt<br />
und zwar ohne Abbau und sogar trotz Ausbau<br />
professioneller Dienste, aber auch welche Potentiale<br />
geweckt und erschlossen werden können.<br />
Die Sehnsucht und Erfüllung der alten Menschen liegt<br />
nicht nur beim sonnigen Aufenthalt auf der Urlaubsinsel<br />
– sie liegt auch in der guten, eingebundenen<br />
Nachbarschaft und in dem Wissen, gebraucht zu werden<br />
und seine Lebenserfahrung, sein Können, sein<br />
Mitgefühl zur Verfügung stellen zu dürfen und eine<br />
Antwort auf den eigenen Lebenssinn zu bekommen.<br />
Vielleicht sogar darf und kann manche Person in diesem<br />
Lebensalter endlich das tun, was sie sich schon<br />
immer gerne erfüllt hätte. Bieten wir die Möglichkeiten<br />
hierfür – schaffen wir die Chancen – das Potential<br />
ist vorhanden.<br />
Es gibt eine Vielzahl von weiteren Aufgaben, die ausgebaut<br />
und entwickelt werden können:<br />
22<br />
• Nehmen wir die Hospizdienste, die Betreu<br />
ungsvereine, die Unterstützung pflegender<br />
Angehöriger, der Auf- und Ausbau <strong>sozial</strong>er eh<br />
renamtlicher Infrastruktur für Pflegebedürftige,<br />
egal ob sie in der eigenen Wohnung leben,
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Podiumsdiskussion:<br />
Dr. Petra Leuschner, Staatssekretärin für Soziales, Senatsverwaltung<br />
für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz:<br />
Die Potenziale des Alters<br />
wurden von früheren Generationen<br />
sehr viel deutlicher<br />
gesehen und genutzt, als das<br />
heute in einer Gesellschaft<br />
der Fall ist, die „Jugend“ und<br />
Jungsein glorifiziert. Alter<br />
wird heute oftmals als „50 plus“ definiert. Allein daraus<br />
ergibt sich schon, dass dieser Lebensabschnitt voller<br />
Potenziale steckt und weniger mit Lasten zu tun hat.<br />
„Wenn man das Alter so früh ansetzt, möchte ich deutlich<br />
machen, dass Ältere eine viel größere Chance im<br />
Berufsleben haben sollten,“ betont Frau Dr. Leuschner.<br />
Hier besteht nach ihrer Ansicht ein Missverhältnis zwischen<br />
vom <strong>Arbeit</strong>smarkt ausgesperrten älteren Personen<br />
und dem Durchschnittsalter etwa von Politikern.<br />
Die Gesellschaft verschleudert ein riesiges Potenzial<br />
an Berufserfahrung, und das wird sich in Zukunft<br />
rächen. Besonders wenn man den starken demographischen<br />
Wandel ins Auge fasst, der schon in wenigen<br />
Jahren einen dramatischen Mangel an jungen fachlich<br />
ausgebildeten <strong>Arbeit</strong>skräften vorhersehbar macht,<br />
erscheint es geradezu unsinnig, die Älteren so rigoros<br />
aus dem Berufsleben auszugrenzen.<br />
Dr. Dorothea Kolland, Leiterin Kulturamt<br />
Berlin-Neukölln:<br />
Kultureinrichtungen werden<br />
in der Regel von Leuten<br />
betrieben, die diese <strong>Arbeit</strong><br />
professionell machen und<br />
dafür bezahlt werden. Für das<br />
Theater der Erfahrungen hat<br />
Frau Dr. Kolland eine Art „Patentanten-Funktion“, denn<br />
diese Gruppe wurde einmal in Neukölln gegründet,<br />
„ ... und wir lieben sie sehr, die ‚Spätzünder’ mit ihren<br />
Kabarett-Programmen.“ Seit jetzt 10 Jahren ist beim<br />
Kulturamt Neukölln der Bereich „Dritter Frühling“<br />
angesiedelt, eine Initiative, die ursprünglich von der<br />
Hochschule der Künste ausgegangen war. Bildende<br />
Künstler und Schauspieler erarbeiten dort mit älteren<br />
Menschen Projekte. „Es ist immer wieder erstaunlich<br />
und beeindruckend, was dabei entsteht. Immer wieder<br />
eröffnen sich neue Blickwinkel auf die Realität,<br />
neue Formen ihrer Darstellung. Und auch in den Frauen<br />
selber – es sind fast alles Frauen – entwickeln sich<br />
ungeahnte Fähigkeiten.“ Und zwar in Kursen von wenigen<br />
Tagen. „Denn alte Leute, die etwas mit sich und<br />
ihrer Zeit anzufangen wissen, haben nie Zeit, so etwas<br />
länger zu machen,“ hat Frau Dr. Kolland erfahren. Sie<br />
weiß auch, wie schwer es ist, diese so notwendigen<br />
künstlerischen Programme, die so viele brachliegende<br />
Talente und Kräfte freisetzen, in einem Kulturhaushalt<br />
zu etablieren.<br />
In ihren Augen ist <strong>Arbeit</strong> mit Senioren oft zu wenig<br />
innovativ. „Es werden Tanztees veranstaltet oder es<br />
spielt das Polizeiorchester auf. Das sieht doch so aus,<br />
als sollten der Verstand und die Bildung von alten<br />
Menschen an der Abendkasse abgegeben werden.“<br />
Kunst und Kultur bieten hervorragende Möglichkeiten,<br />
Fähigkeiten aus Menschen hervorzulocken, von<br />
denen sie nie gedacht hätten, dass sie die haben. Und<br />
gerade diese Projekte sollen gestrichen werden. Frau<br />
Dr. Kolland hofft jetzt auf die Widersetzlichkeit von Senioren,<br />
dass sie sich auch in der Politik zur Erhaltung<br />
der <strong>kulturelle</strong>n Angebote zu Gehör bringen.<br />
Siegried Rehberg, BBU - <strong>Verband</strong> Berlin-Brandenburgischer<br />
Wohnungsunternehmen e.V.:<br />
Wohnen im Alter, das Anpassen<br />
von Wohnungen für den<br />
Bedarf alter Menschen, ist im<br />
<strong>Verband</strong> seit etwa 5 Jahren ein<br />
Thema, das bei technischen<br />
Planungen verstärkt berücksichtigt<br />
wird. Herr Rehberg<br />
möchte aber auch, dass die Vernetzung zwischen<br />
Vereinen, Koordinierungsstellen, Sozialen Trägern<br />
und der Wohnungswirtschaft stärker vorangetrieben<br />
wird, um das Wohnen im Alter zu erleichtern und zu<br />
verbessern. Gemeinsam mit dem <strong>Verband</strong> freier Wohnungsunternehmen<br />
wurden bereits etliche Tagungen<br />
veranstaltet, in denen immer wieder die bisherigen Erfahrungen<br />
zusammen getragen werden, um neue Gestaltungskonzepte<br />
zu entwerfen. Natürlich sind solche<br />
Bemühungen für die 130 Berliner Wohnungsunternehmen,<br />
die rund 700.000 Wohnungen bewirtschaften,<br />
nicht uneigennützig. Auch sie müssen sich der<br />
demographischen Entwicklung, der schnell zunehmenden<br />
Anzahl alter Menschen, stellen und in immer<br />
mehr Wohnungen Hilfen zur Bewältigung des Alltags<br />
bereitstellen. Auch in Genossenschaften haben sich<br />
Vereine gegründet mit dem Ziel, alten Leuten in ihrem<br />
Umfeld Hilfestellungen anzubieten. „Wir werden mit<br />
23
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
24<br />
Sicherheit eine Mischung aus Betreuungs-Organisationen<br />
und Nachbarschaftshilfe brauchen,“ meint Herr<br />
Rehberg. „Berlin ist ja schon eine Stadt, in der man gut<br />
alt werden kann. Aber diese Ansätze müssen ausgebaut<br />
und vernetzt werden.“ Und er fügt hinzu: „Wenn<br />
wir den Bestand unserer Wohnungen zukunftsfähig<br />
machen wollen, dann brauchen wir mehr Komfort.<br />
Das heißt, ein größeres Badezimmer, in dem alte Menschen<br />
sich ungefährdet bewegen können. Oder auch<br />
der Anbau eines Aufzugs, wo es bezahlbar ist.“ Natürlich<br />
haben alle Nutzen von baulichen Verbesserungen,<br />
nicht nur die Älteren. Und genau darum geht es Herrn<br />
Rehberg: „Um mehr Komfort in allen Lebensaltern“.<br />
Michael Freiberg, Stadtrat für Gesundheit, Berlin-Neukölln:<br />
Das Alter hat etwas Verbindendes,<br />
denn das wird jeder spüren.<br />
Es gibt niemanden, den es nicht<br />
einholt, und das ist die Basis, auf<br />
der sich Jung und Alt gemeinsam<br />
finden können. „Wer mich<br />
immer wieder fasziniert, das ist meine Mutter – seitdem<br />
sie Rentnerin ist, hat sie kaum noch Zeit. Das ist<br />
beachtlich, und es zeigt das Engagement, das in ihr<br />
steckt.“ Für Herrn Freiberg stellt sich am Ende der Tagung<br />
die Frage: „Was bestätigt sich für mich, was habe<br />
ich hier gelernt“<br />
Zunächst ist da die Tatsache, dass Menschen ab einem<br />
gewissen Alter nicht als separierte Gruppe zu<br />
sehen sind, sondern sie sind ein Teil der Gesellschaft.<br />
„Ich glaube auch, dass gerade die Generationsvermischung<br />
enorme Gewinne bringen kann. Wenn Jüngere<br />
mit älteren Menschen zusammen sind, entsteht<br />
gegenseitiges Verständnis und auch Verantwortungsgefühl<br />
für einander. Und das gibt auch Wärme für<br />
einander. In der heutigen Zeit, wo wir oft sehr isoliert<br />
leben, ist das ein ganz wichtiger Punkt.“<br />
Wenn man von Würde im Alter spricht, dann liegt die<br />
nicht nur in guter Pflege, sondern vor allem in der<br />
Teilhabe an der Gesellschaft. Und in diesem Zusammenhang<br />
ist es notwendig, dass Projekte von alten<br />
Menschen verlässliche finanzielle Rahmenbedingungen<br />
haben und nicht jedes Jahr von neuem um die<br />
Existenz ihrer Unternehmungen bangen müssen. „Seniorenarbeit<br />
in meinem Sinne, in einem sehr breiten,<br />
aktiven Sinne, braucht verlässliche Rahmendaten.“<br />
Besonders bei der Unterstützung von Selbsthilfe ist<br />
diese langfristige Sicherheit notwendig. „Wir haben<br />
es in Neukölln geschafft, die Selbsthilfezentren und<br />
Nachbarschaftshäuser auf gesunde Beine zu stellen,<br />
um diese Verlässlichkeit zu organisieren.“ Der Staat<br />
hat dabei lediglich die Aufgabe, die Grundlagen für<br />
diese <strong>Arbeit</strong> abzusichern. Herr Freiberg findet es verblüffend,<br />
wie viele ältere Menschen das Internet benutzen.<br />
Die Benutzung von Menschen über 60 Jahren<br />
ist höher als die jeder anderen Altersgruppe. Und es<br />
gibt sehr zahlreiche Beispiele wie das eines 79jährigen<br />
Mannes, der sich in diesem Alter einen Computer<br />
gekauft und einen Einsteigerkurs belegt hatte. Und<br />
hier wird deutlich, dass im Alter enorme Kräfte und<br />
Potenziale stecken. Herr Freiberg sieht es sogar so,<br />
dass im Alter ein enormer Gewinn für die Gesellschaft<br />
steckt, Fähigkeiten und Talente, die bis jetzt noch ungenutzt<br />
vergeudet werden. „Die Senioren haben der<br />
Gesellschaft etwas zu geben. Das sollten wir auf den<br />
Weg bringen.“<br />
Dr. Christian Hanke, Sozialstadtrat Berlin-Mitte:<br />
In den Augen Dr. Hankes<br />
redet man über Selbst-verständlichkeiten,<br />
wenn man<br />
über Potenziale des Alters<br />
spricht. Dennoch entspricht<br />
diese Sichtweise offensichtlich<br />
nicht der gesellschaftlichen<br />
Realität, denn das „allgemeine Bild von alten<br />
Menschen ist sehr einseitig. Es ist geprägt nur von Defiziten.“<br />
Darüber hinaus definiert sich die Gesellschaft<br />
über Erwerbstätigkeit. Das führt in vielen Bereichen<br />
sofort zu Problemen: beim ehrenamtlichen Engagement,<br />
bei <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und eben auch im Hinblick<br />
auf ältere Menschen. „Diese Bilder, die wir im Kopf haben,<br />
müssen wir kritisch hinterfragen, und so können<br />
wir durch diese Veranstaltung vielleicht auch eine Tür<br />
aufstoßen, die bisher noch fest verschlossen ist.“<br />
Über die offenbar gängige Definition von Alter als „50<br />
plus“ ist Dr. Hanke etwas verärgert. „Bald sind wir dann<br />
bei 40 plus, und dann bin ich auch gleich mit im Boot.<br />
Wir müssen aufpassen, dass diese Abgrenzung nicht<br />
zu beliebig wird. Es ist ein Unterschied, ob man 50, 60<br />
oder 80 Jahre alt ist. Dazwischen liegen doch noch<br />
ganze Generationen.“<br />
Die Frage „Was wissen wir eigentlich von den Senioren“<br />
beantwortet der Stadtrat sich gleich selbst: „Das<br />
ist dürftig.“ Es gibt zwar einige allgemeine Untersuchungen.<br />
Aber für die <strong>sozial</strong>räumliche Betrachtung,<br />
für die <strong>Arbeit</strong> in Nachbarschaftszentren bringen die<br />
kaum etwas. Statt dessen stärken sie nur wieder die<br />
Einäugigkeit im Blick auf das Alter. Denn man kann<br />
sofort die Zahl der Arztbesuche, der Krankenhausaufenthalte<br />
oder der Todesursachen nachschauen. Aber<br />
offenbar gibt es große Schwierigkeiten, die Bedürfnisse<br />
und Interessen von alten Leuten zu erfahren: „Welches<br />
Bildungsniveau und welche Fähigkeiten gibt es<br />
hier im Stadtteil“<br />
Natürlich sollte die <strong>Arbeit</strong> von und mit alten Menschen<br />
finanziell konsolidiert sein. „Aber bei der notwendigen<br />
Haushaltsstabilisierung sind wir ja schon<br />
froh, wenn wir Mindeststandards halten können. Das<br />
heißt, wir sind von Staats wegen darauf angewiesen,<br />
mit bürgerlichem Engagement Netzwerke und Strukturen<br />
zu erhalten.“ Seniorenpolitik muss Selbstbestimmung<br />
und Selbstorganisation der älteren Generation<br />
garantieren, also gilt es auch für die Politik, sich<br />
umzuorientieren.
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Oswald Menninger, Geschäftsführer<br />
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband:<br />
Der DPW beschäftigt sich<br />
schon sehr lange mit den<br />
Potenzialen älterer Menschen.<br />
Aber auch er sieht<br />
es so, dass dieses Thema in<br />
der aktuellen politischen<br />
Diskussion eine weitaus<br />
größere Brisanz hat. „Ich habe mich seit vielen Jahren<br />
dagegen gewandt, alte Leute auf die Probleme um<br />
Pflege und Gesundheit zu reduzieren.“ Dennoch will<br />
er natürlich diese Probleme nicht klein reden. Die<br />
schwierige Sicherung der Renten, die sich ständig<br />
erhöhenden Gesundheitskosten, sämtliche Probleme<br />
des Alters wurden jedoch „nie verknüpft mit den<br />
großen Möglichkeiten, die im vorgerückten Alter<br />
stecken.“ Der DPW hat unter seinem Dach schon seit<br />
vielen Jahren zahllose Projekte gehabt, gefördert und<br />
weiterentwickelt, die Fähigkeiten älterer Menschen für<br />
die gesellschaftliche Entwicklung fruchtbar machen.<br />
Aber Herr Menninger stellt auch selbstkritisch fest:<br />
„Das war nicht so, wie wir das heute machen.“ Heute<br />
geht es um die Verknüpfung von hochprofessionellen<br />
pflegerischen Hilfeleistungen mit bürgerschaftlichem<br />
Engagement, um die Schaffung stabiler <strong>sozial</strong>er Netzwerke<br />
für und mit älteren Leuten. Der <strong>Verband</strong> sieht<br />
es als seine Aufgabe an, die Mitgliedsorganisationen<br />
in den Stand zu versetzen, diese Verknüpfungen hinzubekommen.<br />
Dabei kommt bisher Widerstand häufig<br />
von hauptamtlichen Mitarbeitern, die um ihren <strong>Arbeit</strong>splatz<br />
fürchten, wenn verstärkt Ehrenamtliche in<br />
die <strong>Arbeit</strong> einbezogen werden. Da wird Herr Menninger<br />
schon mal drastisch: „Das ist doch vollkommener<br />
Quatsch! Denn es ist gerade umgekehrt, ja besser wir<br />
diese Netzwerke stricken, umso sicherer sind feste <strong>Arbeit</strong>splätze.“<br />
Der <strong>Verband</strong> sieht sich in dieser Hinsicht<br />
jedoch bereits auf einem guten Weg, und er wird nicht<br />
aufhören, das bürgerschaftliche Engagement zu fördern.<br />
Eine vom Senat beauftragte Untersuchung hat<br />
ergeben, dass das Engagement der über 66jährigen<br />
enorm zugenommen hat. „Das schreiben wir als Erfolg<br />
auch auf unsere Fahnen, und da werden wir zielgerichtet<br />
weiter machen.“<br />
Georg Zinner:<br />
Wenn man Geschäftsführer eines Nachbarschaftszentrums<br />
ist, dann hat man die ältere<br />
Generation natürlich nicht nur als Problem<br />
im Blickfeld, sondern als Menschen, die sehr<br />
viel leisten und einbringen können.<br />
Für den Pflegebereich gilt folgendes: Es werden ambulante<br />
Pflegedienste organisiert, aber auch stationäre.<br />
Es ist mittlerweile ein Hospiz angeschlossen, und<br />
es gibt ehrenamtliche Mitarbeiter, die einen Besuchsdienst<br />
organisieren. Die Strukturen werden aber mit<br />
hauptamtlichen Mitarbeitern gesichert. So auch die<br />
Ausbildung von Ehrenamtlichen im Hospizdienst.<br />
„Unsere Erfahrung ist, dass diese <strong>Arbeit</strong> von allen Altersstufen<br />
gemacht wird.“ Das sind 25jährige, und es<br />
sind auch 85jährige dabei. Die Älteren haben an das<br />
Nachbarschaftszentrum klare Forderungen gestellt.<br />
„Wir hätten von uns aus als Nachbarschaftsheim nie<br />
ein stationäres Hospiz errichtet, mit viel Geld, mit viel<br />
Risiko, wenn nicht eine Gruppe von Ehrenamtlichen,<br />
davon die Hälfte ältere Menschen, dafür über Jahre<br />
hinweg hart gearbeitet und richtig gepowert hätte.<br />
Daran sieht man, dass Ältere etwas in Bewegung setzen<br />
können. Und gleichzeitig entsteht eine Qualität<br />
in der Pflege.“ Diese Qualität können die Hauptamtlichen<br />
nicht geben, denn nur die Ehrenamtlichen bringen<br />
die erforderliche Zeit mit. „Sie geben Zeit. Und sie<br />
bekommen etwas anderes zurück, denn sie erleben<br />
Gemeinschaft, sie erfüllen eine selbst gestellte Aufgabe<br />
und erreichen ein Ziel, das sie sich selber gesteckt<br />
haben.“<br />
Der andere große Bereich, in dem ältere Menschen<br />
sich einbringen, betrifft die Schulen. „Wir haben Schülerclubs,<br />
wir arbeiten mit vielen Schulen zusammen,<br />
wir werden demnächst die Hort-Betreuung an zahlreichen<br />
Schulen übernehmen. Und auch da haben<br />
wir festgestellt: Wenn wir versuchen Menschen zu<br />
gewinnen, Menschen jeden Alters und eben auch alte<br />
Leute, die so viel mehr Zeit haben, wenn wir sie um<br />
Mithilfe bitten bei den Hausaufgaben oder als Unterstützung<br />
für ausländische Kinder, da haben wir die<br />
Erfahrung gemacht, dass wir solche Menschen immer<br />
finden.“ Das Nachbarschaftsheim hat inzwischen 500<br />
feste Mitarbeiter. Aber es hat auch 600 Ehrenamtliche.<br />
Herr Zinner sieht gar kein Problem, ehrenamtliche<br />
Mitarbeiter zu finden – wenn man ihnen verlässliche<br />
Strukturen anbietet und wenn man sie bei Problemen<br />
unterstützt. Wenn er mit Ehrenamtlichen spricht, spürt<br />
er auf deren Seite stets eine große Zufriedenheit, das<br />
Gefühl eines Gewinns und einer Bestätigung. „Wir<br />
wären doch beschränkt als Träger freier Wohlfahrtspflege,<br />
wenn wir nicht das, was wir als Gemeinnützige<br />
immer waren, nämlich eine Bürgerinitiative, wenn wir<br />
das nicht erhalten und ausbauen würden.“ Denn alle<br />
diese Aktivitäten der Bürger dienen dem Wohl des<br />
Stadtteils, machen die Zufriedenheit der Menschen<br />
aus. Dem Willen der Menschen zum Mitgestalten der<br />
Gesellschaft muss Rechnung getragen werden. „Und<br />
wir haben eine strukturelle Möglichkeit, dieses vorhandene<br />
reiche Potenzial auszuschöpfen.“<br />
Roswitha Nemitz, Ehrenamtliche Sozialwerk Berlin:<br />
Ich arbeite in einem Alten- und Selbsthilfe-<br />
Begegnungszentrum. Ich möchte wissen,<br />
wie geht es eigentlich weiter Ich erlebe in<br />
diesem Alten-Selbsthilfezentrum sehr viel Eigenverantwortung,<br />
und ich finde, wir müssen viel mehr da-<br />
25
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
ran mitwirken, dass die Betroffenen auch nach ihren<br />
Vorstellungen gefragt und einbezogen werden. Und<br />
genau das ist ja hier das Thema. Was passiert, wenn<br />
diese Tagung vorbei ist Wir sind sehr daran interessiert,<br />
dass wir im Kontakt bleiben mit all den Organisationen,<br />
die heute hier vertreten sind.<br />
Dr. Dorothea Kolland:<br />
Ihr ist die Einigkeit in der Runde ein bisschen<br />
zu groß, und sie möchte als Störfaktor<br />
fungieren. Die von Herrn Zinner dargestellten<br />
Beispiele ehrenamtlicher <strong>Arbeit</strong> in allen Altersstufen<br />
sind in ihren Augen vorbildlich und ermutigend.<br />
Dennoch möchte sie sich gegen aufscheinende<br />
Tendenzen in anderen Beiträgen verwahren.“ Ich<br />
glaube, wir missbrauchen diesen Ansatz ganz gewaltig,<br />
wenn wir ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement<br />
als Auffangnetz für Sparmaßnahmen oder<br />
zum Stopfen von Defiziten benutzen.“ Frau Kolland<br />
sieht sehr viele Bereiche, in die Menschen mit Lebenserfahrung<br />
gehören, weil sie dort genau die Richtigen<br />
sind. Aber sie sieht durchaus auch Bereiche, in denen<br />
die <strong>Arbeit</strong> nur mit Hauptamtlichen funktioniert.<br />
Ein weithin noch immer zu wenig beachteter Bereich<br />
sind die Probleme von Migranten-Familien, in denen<br />
es immer mehr alte Menschen gibt. Gerade in Berlin-Neukölln<br />
gibt es Gebiete, in denen jeder zweite<br />
Bewohner ausländischer Herkunft ist. Ihr ist der Satz<br />
einer 50jährigen gebildeten Palästinenserin nicht aus<br />
dem Kopf gegangen, die ihr einmal sagte: „Es gibt so<br />
wenig Möglichkeiten, mit Deutschen zu sprechen.“<br />
Über ein paar Worte beim Einkaufen an der Kasse hinaus<br />
gibt es offenbar wenig Anlässe, bei denen sich ein<br />
tiefergehendes Gespräch ergeben kann. Frau Kolland<br />
stellt sich vor, dass auch auf diesem Gebiet Senioren<br />
Erfahrungen in das Gemeinwesen stärker einbringen<br />
könnten.<br />
Dr. Petra Leuschner:<br />
Zu der Frage, wie geht es nun weiter: Die<br />
vom Senat erarbeiteten „Leitlinien Seniorenpolitik“<br />
eignen sich sehr gut dazu, die<br />
Diskussion über das Zusammenleben und die <strong>Arbeit</strong><br />
mit alten Menschen in der Öffentlichkeit anzufachen.<br />
Man muss sich sehr deutlich vor Augen halten, was<br />
sich in unserer Gesellschaft verändert hat. „Auch die<br />
Migranten werden älter, und sie gehen nicht in ihre<br />
Heimat zurück, sondern sie bleiben hier. Damit müssen<br />
wir uns auseinandersetzen.“ Wie etwa kann man<br />
eine kultursensible Pflege organisieren, wenn man<br />
weiß, dass Migranten eine ganz andere Erwartung<br />
daran haben Oder wie kann eine Heimunterbringung<br />
für diese alten Menschen aussehen „Ich würde<br />
mir wünschen, dass auch in dieser Lebensphase ein<br />
bisschen Mischung und Integration möglich ist.“ Die<br />
Lösung dieser Aufgabe kann aber nicht einer Senatsverwaltung<br />
überlassen bleiben, sondern es müssen<br />
sich auch die Träger der <strong>sozial</strong>en Einrichtungen und<br />
die Betroffenen damit auseinandersetzen. Die Senatsverwaltung<br />
arbeitet darüber hinaus an einem Seniorengesetz,<br />
das den Rahmen dafür schaffen soll, über<br />
welche Gremien die Mitwirkung alter Menschen gesichert<br />
werden kann. „Dafür erhoffe ich mir von Ihnen<br />
allen sehr viele Anregungen.“<br />
Zum Thema Ehrenamt und Haushaltslöcher sagt die<br />
Staatssekretärin, etwas provokant: „Das Ehrenamt<br />
kann und soll niemals dafür herhalten, Haushaltsprobleme<br />
des Finanzetats zu lösen. Trotzdem hat der<br />
Druck, den wir alle durch den Geldmangel haben, eine<br />
ganze Menge befördert.“ Frau Dr. Leuschner ist dankbar<br />
für das so stark expandierende Ehrenamt – wenn<br />
es eben nicht missbraucht wird.<br />
Georg Zinner:<br />
Er meint, dass man die ehrenamtliche<br />
<strong>Arbeit</strong> auch und vor allem unter dem demokratischen<br />
Aspekt betrachten muss.<br />
Dass das bürgerschaftliche Mitwirken der Menschen<br />
verhindert, dass die von ihnen geschaffenen Institutionen<br />
irgendwann die Bürger ausschließen. Hier<br />
entsteht eine demokratische Alltagskultur, die in<br />
Deutschland für lange Zeit verloren gegangen war.<br />
Man hatte alles dem Staat übertragen, bis hin zu seiner<br />
Überforderung. „Wenn ich mal aus dem Berufsleben<br />
ausscheide, dann möchte ich selbstbestimmt und<br />
selbstverantwortlich das machen, was ich gerne will.<br />
Und ich hoffe, dass es dann eine Infrastruktur gibt, die<br />
mich dabei unterstützt, meine Anliegen zu verwirklichen.“<br />
Siegfried Rehberg:<br />
Er äußert Befriedigung darüber, dass das<br />
Ehrenamt nun endlich nach langen Auseinandersetzungen<br />
versicherungstechnisch<br />
abgesichert wird, wie die Staatssekretärin berichten<br />
konnte. Das war bisher für Wohnungsgesellschaften<br />
bei ihrer <strong>Arbeit</strong> mit Ehrenamtlichen ein Hemmschuh.<br />
„Ohne Ehrenamt werden die zunehmenden Aufgaben<br />
in unserer Gesellschaft nicht zu leisten sein.“<br />
Zum Standort Berlin als attraktive Stadt für alte Menschen<br />
sagt Herr Rehberg noch einmal, dass es bereits<br />
viele sehr gute Ansätze gibt überall in der Stadt. Die<br />
Aufgabe der nächsten Zeit wird es sein, all diese Erfahrungen<br />
zusammen zu tragen, um für jedes Gebiet<br />
gute Nachbarschaften und ein aktives Miteinander zu<br />
schaffen. Dafür muss die Infrastruktur stimmen, damit<br />
Menschen in ihrem Umfeld gerne leben. Die Wohnungsunternehmen<br />
haben sich darauf eingestellt,<br />
ihre Wohnungen so auszustatten, dass man in ihnen<br />
alt werden kann.<br />
26
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Michael Freiberg:<br />
Dr. Löhnert:<br />
Für ihn ist der Aspekt der aktiven Teilhabe<br />
von Senioren am gesellschaftlichen Leben<br />
wichtig und dass man alte Menschen<br />
nicht nur vom Standpunkt des Versorgens betrachtet,<br />
wenn es an die Entwicklung konkreter Projekte geht.<br />
Das ist ein Auftrag an sich selbst, an dem er sich auch<br />
messen lassen will. Auch er greift die Frage auf: Was<br />
passiert denn nun Die Verwirklichung von aktiver<br />
Seniorenarbeit für und mit alten Menschen muss sich<br />
durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen, sei es<br />
Wohnen, Gesundheit, Kultur oder Sport. „Es geht dabei<br />
zwar nicht immer um Geld, aber es müssen sehr wohl<br />
verlässliche Rahmendaten da sein. Es geht nicht an,<br />
dass ein Projekt Jahr für Jahr z.B. hinter 10.000 Euro<br />
herrennen muss. So etwas blockiert.“ Der Stadtrat ist<br />
sehr interessiert daran, mit der Wohnungswirtschaft<br />
ein Projekt mit Menschen verschiedener ethnischer<br />
Herkunft zu beginnen.<br />
Dr. Christian Hanke:<br />
Das Alter ist in der Regel weiblich. Aber<br />
wenn wir über alte Menschen reden, dann<br />
müssen wir auch über Männer und Frauen<br />
und deren unterschiedliche Bedürfnisse sprechen. Das<br />
betont er gerade im Hinblick auf die Selbstmordraten<br />
unter älteren Menschen, über die auf der Veranstaltung<br />
nicht gesprochen wurde. In diesem Zusammenhang<br />
hofft Dr. Hanke, dass der Präventionsgedanke<br />
stärker verankert werden kann. Der Prozess von der<br />
Erwerbstätigkeit in die Rente sollte sehr viel besser<br />
vorbereitet werden.<br />
Über die älteren Menschen mit Migranten-Hintergrund<br />
wurde nur in Ansätzen gesprochen. Im Bezirk<br />
Mitte wurde vor 2 Jahren eine Konferenz installiert,<br />
bei der es um Pflege geht, um Freizeit, und es entstand<br />
ein Modellprojekt, in dem Multiplikatoren aus<br />
dem Migrantenbereich geschult werden, die diesen<br />
Bevölkerungsgruppen die bestehenden Hilfemöglichkeiten<br />
erklären. Aber darin sieht der Stadtrat nur Anfänge.<br />
„Wir müssen uns viel stärker als bisher diesem<br />
Thema zuwenden.<br />
Oswald Menninger:<br />
Er sieht die Notwendigkeit, über den Wert<br />
des bürgerschaftlichen Engagements<br />
noch einmal zu diskutieren. „Es verändert<br />
die Einrichtungen. Und es verändert sie in einer notwendigen<br />
Weise.“ Herr Menninger hat die Vision, dass<br />
bürgerschaftliches Engagement in der Weise generationsübergreifend<br />
sein könnte, dass z.B. demnächst<br />
eine Seniorenfreizeitstätte in einer Schule eröffnet<br />
würde. Oder in einem Altenpflegeheim ein Jugendtreffpunkt<br />
installiert wird. „Wir wollen sehen, wie sich<br />
die Generationen gegenseitig helfen und unterstützen<br />
können. Und da werden wir jetzt rangehen.“<br />
Er nimmt aus der Fachtagung zwei Erkenntnisse<br />
mit: „Erstens: ich bin 60. Und<br />
ich fühle mich fit, mich zu engagieren.“<br />
Darüber hinaus ist der Paradigmenwechsel in Bezug<br />
auf die ältere Generation deutlich geworden. Das Bild<br />
von den „Alten“ ist ein bisschen differenzierter und<br />
gerade gerückt worden. Ihren noch immer weithin<br />
ungenutzten Fähigkeiten gilt es strukturierte Entfaltungsmöglichkeiten<br />
zu geben. Und es muss ein<br />
generationsübergreifendes Miteinander organisiert<br />
werden. Ältere Menschen sind aktiv und übernehmen<br />
Aufgaben in der Gesellschaft, die durch andere nicht<br />
zu leisten sind. „Es ist deutlich geworden, dass wir für<br />
diesen Prozess weitere Konzepte entwickeln müssen.“<br />
Hierin sieht Herr Löhnert eine Herausforderung, der<br />
sich alle stellen müssen. „Wie organisieren wir ein<br />
Miteinander der Generationen und der Kulturen im<br />
Kiez Und welche Strukturen müssen dafür gestärkt<br />
und nicht vernichtet werden, ausgebaut oder gar neu<br />
entwickelt werden“<br />
Die Fragen und Impulse dieser Fachtagung müssen<br />
nun in die Praxis getragen werden. Berlin sollte „ ... zu<br />
einer Stadt der Initiative für ein integriertes Gemeinwesen<br />
werden, wo Erfahrungswissen als Ressource<br />
genutzt und anerkannt wird.“<br />
Fazit der Veranstalter<br />
Die These von der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels<br />
in der „Seniorenpolitk“ stieß auf dem Fachtag<br />
auf keinerlei Widerspruch und wurde im Gegenteil<br />
von allen Seiten vehement unterstützt. Das ermutigt<br />
und verpflichtet uns, etwas dafür zu tun, dass ein entsprechendes<br />
Umsteuern auch wirklich stattfindet.<br />
o Ohne zusätzlichen Finanzaufwand können<br />
sich traditionelle Senioreneinrichtungen zu<br />
generationsübergreifenden Nachbarschaftstreffpunkten<br />
entwickeln, in denen die „alten<br />
Talente” einen lohnenden Wirkungsbereich<br />
finden können<br />
o Stadtteilzentren und Nachbarschaftseinrichtungen<br />
können entsprechende Schwerpunkte<br />
ausbauen, mit gutem Beispiel vorangehen<br />
und zeigen, wie diese <strong>Arbeit</strong>sansätze in der<br />
Praxis funktionieren.<br />
o<br />
Das „Theater der Erfahrungen” und vergleichbare<br />
Projekte, die mit erfreulichem Elan die<br />
unsinnigen Gräben zwischen Sozialem und<br />
Kultur überwinden, können Vorbild und<br />
Motor des Veränderungsprozesses sein und<br />
ihm die Extra-Schubkraft von Kreativität und<br />
Lebensfreude geben, die dabei hilft, wenn es<br />
darum geht, eingefahrene Bahnen zu verlassen.<br />
Wir sind bereit und freuen uns über alle, die mitmachen<br />
wollen.*<br />
(Sie erreichen uns über die Anschrift im Impressum auf S.2)<br />
27
Fachtag: Potenziale des Alters<br />
Theater<br />
der<br />
Erfahrungen<br />
in Trägerschaft des<br />
Nachbarschaftsheims<br />
Schöneberg e.V.<br />
28
Grundsatzerklärung unseres internationalen<br />
Dachverbandes, der International Federation of<br />
Settlements and Neighbourhood Centres (IFS)<br />
Neighbourhoods First:<br />
Making the world a better place<br />
The International Federation of Settlements and<br />
Neighbourhood Centres (IFS) represents a world wide<br />
movement of settlements, community and neighbourhood<br />
centres. As a movement, it is dedicated to<br />
enabling neighbours to work together to meet local<br />
challenges and create shared approaches to building<br />
community.<br />
We believe that strong, sustainable community-based<br />
organisations provide a crucial focus and support for<br />
community development and change. They address<br />
the needs of their area in a multi-purpose, holistic way<br />
by integrating services, capacity building and social<br />
reform. Inspired by the tradition of innovation within<br />
the Settlement house movement, today’s community<br />
organisations take many forms as they generate local<br />
solutions to global challenges.<br />
Together and separately we seek to catalyse change<br />
by:<br />
o Developing relationships of trust and mutuality<br />
among people from different backgrounds and<br />
experience, as individuals, families and groups<br />
o Bridging between those who are affected by decisions<br />
and those who make them<br />
o Providing open and safe space for people to meet,<br />
organise and participate in decision- making<br />
o Building on people’s potential and gifts rather<br />
than focusing on their problems<br />
o Releasing the potential of communities as places<br />
of creativity and enterprise<br />
o Giving a voice to people normally left out or ignored<br />
o Cherishing our independence in order to remain<br />
flexible and responsive to opportunity<br />
o Pioneering innovative approaches to neighbourhood<br />
issues, linking the neighbourhood with the<br />
national and global<br />
o Investing and reinvesting in community assets to<br />
build local sustainability.<br />
Our organisations contribute to a world in which the<br />
“international community” is shaped by people working<br />
together from their local communities, a power<br />
and legitimacy from the base of society. We are already<br />
working with our communities to move from the<br />
stance of “I can’t“ to „We can together“ and to face the<br />
future with passion and an inclusive vision.<br />
verabschiedet als “Helsinki declaration” auf der<br />
Vorstandssitzung der IFS am 4. Mai 2005 in Debrecen, Ungarn.<br />
Leben in Nachbarschaft:<br />
Baustein für eine bessere Welt<br />
Der Internationale <strong>Verband</strong> der Settlements und Nachbarschaftshäuser<br />
(IFS) repräsentiert eine weltweite Bewegung<br />
von Nachbarschafts- und Gemeinwesenzentren, die sich<br />
zum Ziel gesetzt haben, Menschen zu ermöglichen, als<br />
Nachbarn in gemeinschaftlichem Handeln örtlichen Herausforderungen<br />
zu begegnen und gemeinsame Lösungen<br />
für den Aufbau ihres Gemeinwesens zu finden.<br />
Wir glauben, dass starke, auf Dauer angelegt Nachbarschaftsorganisationen<br />
einen wesentlichen Beitrag für die<br />
Entwicklung und Reform der Gemeinwesen leisten können.<br />
Sie reagieren auf Bedarfslagen in ihrem Einzugsgebiet mit<br />
einem multifunktionalen ganzheitlichen Ansatz, indem sie<br />
das Angebot von Diensten mit der Stärkung der Selbsthilfekräfte<br />
und <strong>sozial</strong>er Reform verbinden. Unter Berufung<br />
auf die Tradition stetiger Erneuerung, die den Geist der<br />
„Settlement-Bewegung“ ausmacht, haben die heutigen<br />
Nachbarschaftseinrichtungen unterschiedliche Formen<br />
und Schwerpunkte, mit denen sie örtlich maßgeschneiderte<br />
Antworten auf globale Herausforderungen geben.<br />
Zusammen und jeder an seinem Platz arbeiten wir an Veränderungen,<br />
indem wir<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
o<br />
Beziehungen des Vertrauens und der gegenseitigen<br />
Hilfe zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe<br />
und Erfahrungen als Individuen, Familien und<br />
Gruppen schaffen<br />
Brücken bilden zwischen denen, die von Entscheidungen<br />
betroffen sind und denen, die sie fällen<br />
Offene und sichere Orte anbieten, an denen sich Menschen<br />
treffen, organisieren und an Entscheidungen<br />
beteiligen können<br />
Auf die Potentiale und Fähigkeiten von Menschen setzen<br />
und nicht bei ihren Problemen stehen bleiben<br />
Das Potential der Gemeinwesen als Orte von Kreativität<br />
und Unternehmungslust frei setzen<br />
Menschen eine Stimme geben, die normalerweise vergessen<br />
oder ignoriert werden<br />
Unsere Unabhängigkeit wertschätzen, die uns hilft,<br />
flexibel zu bleiben und Chancen wahr zu nehmen<br />
Neue Wege bei der Lösung von Problemen im Zusammenleben<br />
suchen und die örtlichen Fragen in nationale<br />
und globale Zusammenhänge stellen<br />
In das Gemeinsame investieren und re-investieren, um<br />
nachhaltige Stabilität vor Ort zu sichern.<br />
Unsere Organisationen tragen zu einer Welt bei, in der die<br />
„internationale Gemeinschaft“ von Menschen gestaltet<br />
wird, die von ihrem örtlichen Gemeinwesen aus zusammen<br />
arbeiten. Sie erhalten ihre Kraft und ihre Legitimation von<br />
der Basis der Gesellschaft. Wir arbeiten mit unseren Gemeinwesen<br />
daran, von der Resignation des „Ich kann nicht!“<br />
zur Zuversicht „Wir können es gemeinsam!“ zu kommen .So<br />
stellen wir uns der Zukunft mit Leidenschaft und mit der<br />
Vision von der Zusammengehörigkeit der Menschen.<br />
29
30<br />
Zur Information:<br />
Im letzten <strong>Rundbrief</strong> haben wir das Konzept für<br />
ein Modellprojekt „Community Care – Leben in<br />
Nachbarschaft bis ins hohe Alter“ veröffentlicht.<br />
Nach Bewilligung eines Förderantrages durch<br />
das Deutsche Hilfswerk ist das Projekt Anfang<br />
Juni mit drei Mitgliedseinrichtungen in drei<br />
Bundesländern gestartet. Beteiligt sind das<br />
Nachbarschaftsheim Schöneberg in Berlin, das<br />
Quäker-Nachbarschaftsheim in Köln und das<br />
Nachbarschaftshaus Wiesbaden.<br />
Leserbrief zu <strong>Rundbrief</strong> 2/2004<br />
Karl-Fried Schuwirth, langjähriger Leiter des Nachbarschaftshauses<br />
Wiesbaden und seit Januar 2005 frischgebackener<br />
„Ruheständler“ hat uns als Reaktion auf<br />
das o.g. Konzept das folgende Papier geschickt, das er<br />
hiermit zur Diskussion stellt.<br />
ANIA*<br />
Aktives Netzwerk im Alter<br />
Gerade habe ich den Ruhestand erreicht.<br />
Mit 63 Jahren bin ich durchaus noch nicht so ruhebedürftig,<br />
wie es meine derzeitige Freizeit hergibt.<br />
Statistisch gesehen liegen ca. 15 Jahre vor mir, in denen<br />
ich viele Möglichkeiten haben, mich zu engagieren<br />
und aktiv Aufgaben zu übernehmen. Dazu bin ich<br />
auch bereit, wenn sie wirklich sinnvoll sind.<br />
Danach kommen dann – statistisch gesehen – weitere<br />
15 Jahre auf mich zu, in denen ich zunehmend<br />
auf Hilfe angewiesen sein werde. Zunächst werden<br />
es Kleinigkeiten sein, die ich von anderen brauchen<br />
werde, später wird dann fremde Hilfe Grundlage zum<br />
Überleben werden.<br />
Heute habe ich all das, was ich später brauche, kann es<br />
aber nicht einbringen.<br />
Später werde ich auf all das angewiesen sein, was ich<br />
jetzt habe, aber nicht einbringen kann.<br />
Ganz klar ist das ein Problem unserer Gesellschaft.<br />
– Ein wirklich großes Problem! - Vielleicht das größte,<br />
das auf unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren<br />
zukommt.<br />
Menschenwürdiges Altern war schon immer eine Herausforderung<br />
an die Gesellschaft. Zu jeder Zeit konnte<br />
man die Menschlichkeit einer Gesellschaft daran messen,<br />
wie sie mit Kindern und alten Menschen umgeht.<br />
Bisher war klar: Die Jungen sorgen für die Alten, so<br />
wie früher die Eltern für die Kinder gesorgt haben. Der<br />
„Generationenvertrag“ war die Grundlage, nicht nur<br />
für die Rente.<br />
Schon immer war dies eine hohe moralische Anforderung<br />
für die Familien ebenso wie für die alten<br />
Menschen. Oft erforderte sie außergewöhnlich hohe<br />
Belastungen für die Familien – ebenso wie für die<br />
alten Menschen. Fast in jeder Familie gibt es dazu eindrucksvolle<br />
Geschichten.<br />
Die Zukunft aber wird hier völlig neue Maßstäbe setzen.<br />
In Zukunft wird die Bewältigung des menschenwürdigen<br />
Alterns ein weit größeres Problem werden, als<br />
wir es uns derzeit vielleicht vorstellen können.<br />
Alle Modelle, wie früher Menschen alt werden konnten,<br />
versagen<br />
- heute und in Zukunft - beim Blick z.B. auf die<br />
• sich entwickelnde Alterspyramide und die<br />
Bevölkerungsprognosen<br />
• Bedürfnisse der Menschen mit steigender<br />
Lebenserwartung<br />
• Tragfähigkeit von Familien und deren Bestand<br />
• Entwicklung von Haushaltsgröße und Verbindlichkeit<br />
von Lebensgemeinschaften<br />
• Wohnkultur und Wohnbedürfnisse von Alten<br />
und Jungen<br />
• Kostenentwicklung von Serviceleistungen<br />
(z.B. für Haushilfe und Pflege)<br />
• Rentenprognosen und deren Finanzierung.<br />
Das Potenzial, hier gegenzusteuern, liegt keinesfalls in<br />
der weiteren Belastung der Jungen.<br />
Es ist aber da. Es liegt brach und ist ungenutzt.<br />
Viele, leider allzu viele sind es, deren berufliche Perspektive<br />
am Ende ist, die keine Möglichkeit sehen, beizutragen<br />
zur Verbesserung ihres derzeitigen Lebensstandards,<br />
zur Verbesserung ihrer Lebensperspektive<br />
und zur Verbesserung ihrer Altersversorgung.<br />
Es müsste für sie eine Möglichkeit geben, dieses<br />
brachliegende Potenzial einzubringen, also heute etwas<br />
Sinnvolles tun um damit Vorsorge zu treffen für<br />
morgen.<br />
Hier kommt ANIA.<br />
Die Vision eines aktiven Netzwerkes im Alter – einer<br />
Altersvorsorge, nicht durch finanzielle Absicherung<br />
sondern durch Einbindung in ein Netz gegenseitiger<br />
Hilfe zu unterschiedlichen Zeiten. Ein Netzwerk, in das<br />
man sich einbringen kann durch persönlichen Einsatz<br />
- zu einer Zeit, wo für angemessen dosierte „Nachbarschaftshilfe“<br />
die Voraussetzungen stimmen:<br />
• verfügbare Zeit<br />
• Verfügung über Kenntnisse, Fertigkeiten und<br />
Fähigkeiten, die gefragt sind<br />
• Beweglichkeit und gesundheitliche Fitness<br />
• Verlässlichkeit und Bindung „mit Maß“<br />
um Vorsorge zu treffen für eine Zeit, in der all das notwendig<br />
gebraucht wird.
Voraussetzung dafür, sich ernsthaft in ein solches<br />
Netzwerk einzubringen, wäre:<br />
Es müsste wirklich stabil sein und es müsste hinausreichen<br />
über reine Nachbarschaftshilfe zwischen benachbarten<br />
Haushalten:<br />
Es müsste<br />
• verlässlich und langlebig sein, eine gewisse<br />
Sicherheit bieten, damit mein heutiger Einsatz<br />
registriert wird um für morgen als „Vorleistung“<br />
dokumentiert und gesichert zu sein<br />
• weite Verbreitung haben, damit es auch nach<br />
einem Umzug noch greift<br />
Im Prinzip haben Tauschringe Erfahrungen gesammelt,<br />
wie Tauschleistungen verbindlich in „Konten“<br />
dokumentiert und als verbleibende Werte fortgeschrieben<br />
werden können. Deutlich ist aber, dass an<br />
die Verbindlichkeit von ANIA weit größere Anforderungen<br />
gestellt werden muss, weil die Zeitspanne zwischen<br />
den „Tauschleistungen“ weit größer ist als die<br />
Lebensdauer mancher bestehender Tauschringe.<br />
Deshalb sind aus heutiger Sicht dafür vordringlich<br />
Grundlagen zu schaffen:<br />
• Klärung einer Rechtsform, die ANIA die verlässliche<br />
Trägerschaft ermöglicht und ihre<br />
Identität absichert**<br />
• Klärung der finanz- und steuerrechtlichen<br />
Implikationen von ANIA<br />
• Klärung der Verwaltungsanforderungen an<br />
ANIA und Schaffung einer Dokumentationsgrundlage<br />
für den Austausch von Leistungen<br />
im Netzwerk<br />
• Marketing und Öffentlichkeitsarbeit für die<br />
Verbreitung von ANIA<br />
Erläuterungen<br />
ANIA ist eine Vision. Sie entspricht dem Bedürfnis, Vorsorge<br />
fürs Alter zu treffen.<br />
Sie weicht ab von der Vorstellung des heutigen Generationenvertrages:<br />
Es gibt zwei Generationen: Die Jungen<br />
und die Alten: Die Jungen sorgen für die Alten,<br />
so wie sich früher die Alten um die Jungen gesorgt<br />
haben. Dieser „Generationenvertrag“ ist heute nicht<br />
mehr zusätzlich zu Lasten der Jungen belastbar. Dies<br />
wäre aber bei der sich verändernden Alterspopulation<br />
unausweichlich<br />
Es kommt zunehmend eine neue Altersgruppe ins Geschehen:<br />
„Die jungen Alten“, oder besser: Diejenigen,<br />
die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind und aus<br />
unterschiedlichen Gründen auch nicht wieder ins Berufsleben<br />
zurückfinden werden, die aber keineswegs<br />
hilfebedürftig sind. Im Gegenteil: Sie möchten ihren<br />
gesellschaftlichen Einsatz durchaus bringen, wenn der<br />
denn gefragt ist und wenn er ihnen einen direkten<br />
Nutzen verspricht.<br />
In der sich dramatisch verändernden Alterspyramide<br />
sind die Probleme des menschenwürdigen Alterns<br />
kaum mehr zu lösen, ohne diese Altersgruppe substantiell<br />
zu beteiligen. (Im Wesentlichen ist hier ihre<br />
Beteiligung im Servicebereich angesprochen.)<br />
Selbstverständlich muss der hier geforderte - zu nutzende<br />
und zu leistende - Service bezahlt werden.<br />
Die, die den Service erhalten möchten verfügen aber<br />
nicht über die finanziellen Mittel, den Service zu entgelten.<br />
Die, die den Service leisten können, werden in<br />
der Regel dazu nicht bereit sein, wenn er bezahlt wird,<br />
da die Vergütung die vorhandenen Versorgungsbezüge<br />
schmälern oder gefährden würde. (Das weite Feld<br />
der Schwarzarbeit in diesem Bereich und auch das<br />
beeindruckende Feld der nach wie vor bestehenden<br />
unentgeltlichen familiären und nachbarschaftlichen<br />
gegenseitigen Hilfe lassen wir hier unberücksichtigt).<br />
Es muss also eine Vergütung gefunden werden, die<br />
motiviert und nicht zusätzlich belastet.<br />
Das Problem der Altersvorsorge betrifft alle ab dem<br />
Zeitpunkt des beruflichen Engagements bis zum Lebensende.<br />
Alle sind gefordert und auch motiviert, für<br />
ihre Altersversorgung beizutragen. Während der beruflichen<br />
Entlohnung gibt es für die Altersversorgung<br />
gesetzliche Vorgaben, Sozialleistungen zu erbringen,<br />
die der Altersversorgung dienen. Viele, die die heutige<br />
Rentenentwicklung bewusst verfolgen, sind bereit,<br />
über die gesetzlichen Grundlagen hinaus finanzielle<br />
Rücklagen zur Altersversorgung zu erbringen.<br />
Wer aber nicht mehr im Berufsleben steht, hat kaum<br />
mehr finanzielle Möglichkeiten, zur Altersversorgung<br />
beizutragen. Worüber diese Altersgruppe verfügt, ist<br />
freie Zeit. Viel Zeit, die vielfach nicht mehr sinnvoll (z.B.<br />
zur Altersvorsorge) genutzt werden kann und damit<br />
den eigenen Alterungsprozess beschleunigt (wenn<br />
nicht der riesige Wachstumsmarkt „Unterhaltung und<br />
Freizeit“ wegen fehlender finanzieller Ressourcen ausreichend<br />
bedient und genutzt werden kann).<br />
Hier setzt die Vision von ANIA ein: Ein Zeittauschmark:<br />
Heute die Zeit investieren, die morgen bei Bedarf<br />
abgerufen werden kann. Eine Kombination der Ideen<br />
einer Zeittauschbörse und einer Altersversicherung:<br />
Heute Zeit in den erforderlichen Service einbringen,<br />
die morgen, wenn sie denn zur Linderung der eigenen<br />
Alterungsprobleme benötigt wird, abgerufen werden<br />
kann.<br />
Selbstverständlich bedarf es für den Aufbau eines<br />
solchen Systems zur Altersvorsorge, für den Aufbau<br />
eines aktiven Netzes zur Gestaltung eines menschenwürdigen<br />
Alterns, eine nicht zu unterschätzendes<br />
Management.<br />
Anknüpfen könnte man an die vielfältigen Selbsthilfegruppen<br />
und Tauschbörsen in fast allen Kommunen<br />
31
und Landkreisen, die letztlich das gleiche Ziel verfolgen,<br />
oftmals mit einem caritativen Hintergrund, der<br />
durchaus als Grundlage tragen kann.<br />
Ihnen müsste eine Organisationsform angeboten<br />
werden, die die eingebrachten Leistungen als Vorsorgeleistungen<br />
abzusichern vermag.<br />
Nicht zu verkennen sind die „Einstiegsprobleme“: Wer<br />
heute bereits Serviceleistungen zur Altersbewältigung<br />
benötigt, ist vielfach nicht(mehr) in der Lage,<br />
dafür Tauschleistungen zu erbringen oder sie adäquat<br />
zu entgelten.<br />
Denkbar wäre eine Teilentgeltung: Ein als Aufwandsentschädigung<br />
zu bezahlender Beitrag (von z.B. derzeit<br />
5 Euro /Stunde) für die heute erhaltene Leistung.<br />
Dieser Betrag vergütet einen Aufwand, der aber nicht<br />
(ausschließlich) vom Serviceleistenden erbracht wird,<br />
sondern auch von der Organisation, die diese Leistung<br />
als Altersvorsorge sichert. Entsprechend könnte<br />
er (teilweise) zur Stützung dieser Organisation sowie<br />
für deren „Zukunfts-Sicherungsfond“ eingesetzt werden.<br />
Die Gemeinnützigkeit dieses „Zeittausches“ sollte<br />
im Vordergrund bleiben: Im Vordergrund steht nicht<br />
eigener Gewinn, sondern die Einbindung in ein Netzwerk<br />
der gegenseitigen nachbarschaftlichen Hilfe.<br />
Auch aus Finanz- und Steuerrechtlichen Erwägungen<br />
sollte dieser Gesichtspunkt deutlich herausgestellt<br />
bleiben.<br />
Das „Netzwerk:<br />
Es könnte auf mehreren Ebenen erreicht werden:<br />
Real:<br />
o<br />
o<br />
ANIA-Satzung: Hier könnte die Mustersatzung<br />
zum Aufbau von ANIA vor<br />
Ort dargestellt werden (Genossenschafts-Mustersatzung)<br />
wer sind wir: Darstellung der Organisation<br />
(im Aufbau) – Adresse der Organisationsbetreiber<br />
Gemeinnützige Genossenschaften vor Ort:<br />
Wahrscheinlich ist es sinnvoll, in Kreisen und kreisfreien<br />
Städten selbständige Einheiten von ANIA zu gründen<br />
( etwa – gemeinnützige Genossenschaften nach<br />
einer Mustersatzung). Zur Initiative dafür werden Tauschringe<br />
oder Selbsthilfegruppen vor Ort beworben.<br />
Es müsste ihnen das Angebot gemacht werden, eine<br />
zuvor geprüfte Organisationsstruktur zu übernehmen.<br />
Es könnte auch die Möglichkeit der Zertifizierung<br />
angeboten werden, die von einer Dachorganisation<br />
durchgeführt wird. Dies würde die Tragfähigkeit und<br />
Langlebigkeit von ANIA vor Ort absichern.<br />
karl-fried@schuwirth.de<br />
* „ANIA“ ist der vorläufige <strong>Arbeit</strong>stitel, gefunden in<br />
einer schlaflosen Nacht von Edgar Bergner, Zimmern<br />
o.R.<br />
** Aus heutiger Sicht könnte die Bildung einer<br />
gemeinnützigen Genossenschaft den Anforderungen<br />
am Ehesten gerecht werden<br />
Virtuell:<br />
„anianet.de“ könnte die Plattform sein für die Organisation<br />
von ANIA:<br />
• home: Signet und Kurzdarstellung. Darunter:<br />
o Was ist ANIA: Darstellung der Idee und<br />
Hinweise, wie kommt man dran<br />
o<br />
o<br />
Interessenten-Registrierung: Hier kann<br />
man sich eintragen als Interessent(in)<br />
um ANIA zu nutzen oder um Mitgliedschaft<br />
zu beantragen<br />
ANIAnet in ihrer Nähe: Eine Suchmaschine<br />
für ANIA - Organisationen<br />
nach Postleitzahlen geordnet (oder<br />
zunächst eine Aufzählung von Adressen,<br />
die an Ort den Zugang zu ANIA<br />
ermöglichen - nach Postleitzahlen<br />
geordnet)<br />
32
Leserbrief<br />
(zum Hartz IV-Artikel im <strong>Rundbrief</strong> 2/2004)<br />
Patchwork MK<br />
Dechant-Röper-Str.1<br />
58706 Menden<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
wir möchten Ihnen unsere momentane Situation<br />
darstellen. Wir haben uns hier in Menden mit ca.<br />
30 betroffenen Familien zusammengeschlossen,<br />
um auf juristischem und politischem Wege eine<br />
Änderung zu erwirken.<br />
Seit der Einführung des Hartz 4 - Konzeptes sind<br />
die sog. „Patchwork - Familien „ stark benachteiligt.<br />
Durch die Neuregelung werden nun die<br />
Stiefelternteile mit Ihrem gesamten Vermögen und<br />
Gehalt in die neu geschaffene Bedarfsgemeinschaft<br />
mit einberechnet. Dazu kommt es zu Einbußen<br />
in den Familien von bis zu 1000 im Monat, die<br />
nicht aufzufangen sind. Der Kindesunterhalt, der<br />
von den leiblichen Elternteilen nicht oder nicht in<br />
genügendem Umfang geleistet wird, muss jetzt<br />
durch den Stiefelternteil aufgefangen werden.<br />
In vielen Fällen zahlen die Stiefelternteile noch<br />
zusätzlich Unterhalt für ihre eigenen Kinder aus<br />
erster Ehe.<br />
Ohne von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit betroffen zu sein, werden<br />
so komplette Familien zu Sozialfällen gemacht, da<br />
sie durch ihre Wahl der Familienkonstellation auf<br />
Sozialhilfeniveau abrutschen. Würden sie nicht<br />
mehr arbeiten gehen, hätten sie nur unwesentlich<br />
weniger für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung.<br />
Ist das nicht ein Widerspruch in sich <br />
Insgesamt bedeutet das, dass die Stiefelternteile<br />
durch die Bedarfsgemeinschaft gezwungen werden,<br />
„Unterhalt“ zu zahlen für Kinder, die nicht ihre<br />
eigenen sind. Natürlich ist damit nicht der reguläre<br />
Kindesunterhalt gemeint. Der Stiefelternteil<br />
ersetzt innerhalb der Bedarfsgemeinschaft<br />
die Unterhaltsleistungen, die vom eigentlich<br />
unterhaltspflichtigen Elternteil nicht geleistet<br />
werden. Dieser wiederum wird in von der ARGE in<br />
keinster Weise angetastet. All diese Familien haben<br />
in der Vergangenheit versucht, auf juristischem<br />
Wege in zivilen und strafrechtlichen Prozessen<br />
den Unterhalt der Kinder einzuklagen, leider<br />
jedoch in vielen Fällen ohne bemerkenswerten<br />
Erfolg. Offensichtlich lässt das Unterhaltsgesetz<br />
viel Freiraum für Unterhaltspflichtige, um sich den<br />
Zahlungen zu entziehen.<br />
Da sich die Stiefeltern mittlerweile in großer<br />
finanzieller Notlage befinden, wird für viele<br />
Familien nur der Weg bleiben, sich zu trennen.<br />
In diesem Fall wären die Kinder durch das UVG<br />
wieder versorgt und der Stiefelternteil wieder<br />
finanziell nahezu unabhängig. Kann das Sinn<br />
einer zukunftsorientierten Familienpolitik sein <br />
In unseren Ohren klingen die Reden der Politiker<br />
zur Verbesserung der Situation von Familien wie<br />
Hohn! Ist nicht in unserem Grundgesetz die Rede<br />
von der Familie als „Keimzelle des Staates“ Wir<br />
dagegen müssen gerade erfahren, dass Familien<br />
gerade mit mehreren Kindern durch staatlichen<br />
Willen ins <strong>sozial</strong>e Abseits gedrängt werden.<br />
Auf juristischem Wege konnten wir bereits<br />
Beschlüsse erkämpfen, in denen uns die Gerichte<br />
eindeutig Recht geben. Leider hat sich die<br />
Hoffnung, jetzt auch von Amts wegen Recht zu<br />
bekommen, nicht erfüllt. Wir haben uns über die<br />
Vorgehensweise informiert, mit der wir jetzt zu<br />
rechnen haben. Die ARGE reagiert auf Beschlüsse<br />
des Sozialgerichtes ( in unseren Fällen des<br />
Sozialgerichtes Dortmund ) mit dem Antrag, diese<br />
Anordnung abzuweisen. Das ganze Verfahren<br />
wird nun zur NRW - ARGE weitergegeben. Diese<br />
wiederum wird in der zweiten Instanz über das<br />
Landes<strong>sozial</strong>gericht Widerspruch einlegen usw.<br />
usw. Das bedeutet für die betroffenen Familien<br />
einen schier endlosen Rechtsstreit, den viele von<br />
ihnen finanziell nicht überstehen werden. Im<br />
Moment haben wir das Gefühl, den biblischen<br />
Spruch „ von Pontius zu Pilatus wandern“ mit<br />
Leben zu füllen!!!<br />
Wir haben zu vielen Politikern sowohl auf<br />
kommunaler als auch auf Bundesebene Kontakt<br />
aufgenommen. Alle geben uns Recht und sind<br />
überrascht, dass es diese Regelung überhaupt<br />
gibt. Unsere Wahlkreisabgeordete des Märkischen<br />
Kreise, MdB Frau Dagmar Freitag (SPD ) hat<br />
unseren Sachverhalt bereits an verschiedene ,<br />
möglicherweise zuständige Stellen weitergeleitet;<br />
leider bisher ohne konkrete Ergebnisse.<br />
Wir hoffen, dass Sie durch Ihre fachliche<br />
Kompetenz schnell erkennen werden, welcher<br />
politische Irrsinn hier entstanden ist, der durch<br />
kein deutsches Gesetz gedeckt ist. Darum<br />
bitten wir Sie, sich für uns einzusetzen, denn<br />
Versprechungen und Briefe ohne Folgen haben<br />
wir schon genug bekommen.<br />
i.A. der IG Patchwork MK Judith Luig-Schierhorn<br />
und Christof Luig<br />
Unterlagen der Gerichte unter den Aktenzeichen:<br />
Sozialgericht Düsseldorf Az.: S 23 AS 104/05 ER<br />
Sozialgericht Aurich Az.: S25 AS 6/05 ER<br />
Sozialgericht Schleswig AZ.: S1 AS 51/05 ER
34<br />
Wirtschaftsunternehmen und<br />
Nachbarschaftszentrum schließen ein<br />
Bündnis für Familien<br />
Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) und das<br />
Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der ufafabrik<br />
e.V. haben am 18.April 2005 einen Kooperationsvereinbarung<br />
unterzeichnet.<br />
Inhalt ist die Förderung und Unterstützung der Familien<br />
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BSR<br />
durch den Familienservice des NUSZ.<br />
Der Familienservice des NUSZ übernimmt die flexible<br />
Kinderbetreuung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
der BSR in den Fällen, in denen<br />
- ein Kind erkrankt ist und zu Hause versorgt<br />
werden muss<br />
- Eltern auf Grund betrieblicher Bedürfnisse<br />
(z.B. Dienst zu Zeiten in denen die Kitas ge<br />
schlossen sind, Fort- und Weiterbildungen)<br />
eine Kinderbetreuung benötigen<br />
Der Familienservice übernimmt darüber hinaus die<br />
Betreuung und Versorgung erkrankter oder Pflege<br />
bedürftiger Angehöriger von BSR Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern.<br />
So fing alles an:<br />
Bereits im Herbst 2002 begannen erste Kontakte zwischen<br />
NUSZ und BSR. Eine Personalvertreterin der<br />
BSR hatte aufgrund langjähriger Zusammenarbeit<br />
mit dem NUSZ Kenntnis über die Kinderbetreuungs-<br />
Angebote des NUSZ. Sie fragte beim NUSZ nach den<br />
Möglichkeiten flexibler Kinderbetreuung für Mitarbeiterinnen<br />
der BSR.<br />
Der Wunsch der Personalvertreterinnen und des Vorstandes<br />
der BSR war es, Kinderbetreuung sicherzustellen<br />
für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Dienst,<br />
Fort-oder Weiterbildung zu Zeiten haben, während<br />
derer die Kitas geschlossen sind.<br />
Ein weiteres Angebot, das die BSR nutzt, ist die Betreuung<br />
und Versorgung erkrankter oder pflegebedürftiger<br />
Angehöriger von BSR Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeitern.<br />
Nach der ersten Kontaktaufnahme stellte die Personalvertretung<br />
dem Vorstand der BSR das gesamte Angebot<br />
des Familienservice in einem persönlichen Gespräch<br />
und mittels eines Flyers vor. Es folgte eine Zeit<br />
intensiver Gespräche und der Erarbeitung konkreter<br />
Schritte zur Umsetzung auch durch den Gesundheitsund<br />
Sozialdienst sowie die Gleichstellungsbeauftragte<br />
der BSR auf der einen Seite und die verantwortlichen<br />
Mitarbeiterinnen des NUSZ auf der anderen Seite. Die<br />
Mitarbeiter/innen der BSR besuchten das NUSZ und<br />
schauten sich das „Gesamtkunstwerk ufafabrik“ mit all<br />
seinen Möglichkeiten (18.000qm Gelände, Restaurant,<br />
Kinderbauernhof, Bioladen, Bäckerei, Dojo Sporthalle)<br />
an und gewannen so einen Eindruck davon, in welchem<br />
Rahmen der Familienservice arbeitet und auf<br />
welche Ressourcen sich die <strong>Arbeit</strong> stützt, die auch den<br />
BSR Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern künftig zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Die Mitarbeiterinnen des NUSZ wiederum erhielten<br />
in den Räumen der BSR einen Eindruck von den vielfältigen<br />
<strong>sozial</strong>en und Gesundheits fördernden Möglichkeiten,<br />
die die BSR ihren Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeitern bietet.<br />
Durch die regelmäßigen Gespräche entstand eine<br />
Basis des Vertrauens und der gegenseitigen Sympathie<br />
auf beiden Seiten. Das ist meines Erachtens die<br />
wichtigste Grundlage einer gelingenden Partnerschaft<br />
zwischen einem Wirtschaftsbetrieb und einem<br />
<strong>sozial</strong>en Unternehmen.<br />
Den Nutzen aus dieser Partnerschaft haben die Familien,<br />
die rasch und flexibel Unterstützung erhalten,<br />
die BSR, weil sie mit ihrem positiven unterstützenden<br />
Handeln sowohl ein gutes Betriebsklima als auch<br />
hochmotivierte Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter erhält<br />
und das Nachbarschaftszentrum, das mit seinen hochmotivierten<br />
und qualifizierten Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeitern <strong>Arbeit</strong>splätze erhält und weitere schafft<br />
und so für Wohlstand und Wachstum in der Region<br />
und im Stadtteil sorgt.<br />
Noch einige Anmerkungen zum Familiennetzwerk<br />
des NUSZ<br />
Der Familienservice für Firmen ist Bestandteil eines<br />
umfassenden Familiennetzwerkes des NUSZ.<br />
Dieses Familiennetzwerk verfügt über ein weitgefächertes<br />
Angebot zur Förderung und Unterstützung<br />
von Familien, beginnend mit der Geburtsvorbereitung<br />
für Paare und allein Erziehende , Frühförderung<br />
erkrankter Babys, Krisenintervention für Eltern mit<br />
Kleinstkindern, die heftig und stundenlang schreien,<br />
Spiel-und Bewegungskurse für Eltern und Kinder,<br />
Elterntrainings für einen entspannten Familienalltag,<br />
Beratung in Erziehungsfragen, flexible Hilfen zur Erziehung,<br />
Kinderbetreuung rund um die Uhr in Gruppen<br />
oder einzeln, in unseren Kitas oder den Räumen der<br />
verschiedenen Nachbarschafts-, Familien und Kinder<br />
Treffpunkte über die Pflege und Versorgung erkrankter<br />
Menschen bis hin zur Begleitung Sterbender und<br />
ihrer Familienangehörigen.<br />
Ein wesentlicher Aspekt unseres Erfolges ist die Vernetzung<br />
und Zusammenarbeit mit allen Institutionen<br />
und Wirtschaftsbetriebe in der Region sowie die Qualitätssicherung<br />
und Entwicklung unserer <strong>Arbeit</strong>.<br />
Renate Wilkening<br />
Geschäftsführerin NUSZufafabrik e.V.
Sprengelhaus „Inter<strong>kulturelle</strong>s<br />
Gemeinwesenzentrum“ und Haus<br />
für Gesundheitsförderung in Berlin<br />
eröffnet.<br />
7. April 2005, 16.00 Uhr. Frau Dr. Heidi Knake-Werner,<br />
Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz<br />
lüftet das Schild am Eingang Sprengelstrasse<br />
Nr. 15.<br />
innerhalb von 10 Jahren beim privaten Vermieter<br />
„abgewohnt“ werden. Auf diese Weise gibt es für den<br />
entsprechenden Zeitraum ausgesprochen günstige<br />
Mietkonditionen.<br />
Die Trägerschaft des Hauses übernahm ein eigens<br />
dafür gegründeter Verein „GiS e.V.“ . Diese Vereinigung<br />
- Gemeinsam im Stadtteil - ist ein Zusammenschluss<br />
aus vielen Einzelinitiativen der Gesundheitsförderung,<br />
Gemeinwesenarbeit, Integration in die <strong>Arbeit</strong>swelt<br />
und der inter<strong>kulturelle</strong>r Begegnung.<br />
Ehrenamtlich<br />
Das Sprengelhaus ist damit offiziell eröffnet .<br />
Zu dem schon seit zwei Jahren bestehenden Büro mit<br />
Schaufenster im Vorderhaus sind im Hinterhaus noch<br />
550 m² auf zwei Etagen hinzugekommen, die direkt<br />
über den Laden zugänglich sind. Nun erstrahlen im<br />
neuen Glanz parterre, ganz in weiß, ein Gymnastiksaal<br />
mit Spiegelwand und eine Etage höher, Schulungsund<br />
Büroräume.<br />
Die Idee ist vor 6 Jahren aus einer Befragung des<br />
Quartiermanagements im Kiez heraus geboren worden.<br />
Die Bevölkerung (ca. 15.000 Menschen leben in<br />
diesem Quartier, einem der sog. Programmgebiete<br />
der „Sozialen Stadt“) wünschten sich, jedenfalls die<br />
Befragten, an erster Stelle ein bürgernahes Nachbarschaftshaus.<br />
Ein Objekt wurde gefunden und 350.000<br />
Euro aus Mitteln der Stadtentwicklung investiert.<br />
Die solchermaßen eingebrachte Summe kann nun<br />
Dieser Verein als solcher arbeitet vollständig ehrenamtlich.<br />
Hauptamtliche Mitarbeiter/innen gibt es im<br />
Sprengelhaus nur als Angestellte der Einzelinitiativen<br />
oder –projekte, die das Haus mit tragen.<br />
Die Nutzergruppen sind aufgefordert, ihren Teil zur<br />
Miete beizutragen. D.h. konkret: 60% der Gruppen<br />
müssen 15 Euro pro Stunde für die Raummiete aufbringen,<br />
wenn bis zu 40% andere gemeinwesenorientierte<br />
Aktionen möglich werden sollen, über die keine<br />
Einnahmen erzielt werden können. Somit könnte sich<br />
der laufende Betrieb des Hauses ohne Dauersubventionierung<br />
von Bezirk oder Stadt/Land tragen. Damit<br />
bliebe das Sprengelhaus, im Bürokratendeutsch ausgedrückt<br />
„kostenneutral“. Also: Ein bemerkenswerter<br />
Finanzierungsweg für eine Nachbarschaftsinitiative<br />
in einer Zeit, in der die öffentliche Hand sich für außer<br />
Stand erklärt, entsprechende Kosten zu tragen.<br />
Sponsoren gesucht<br />
Sponsoren werden noch gesucht. Ganz fündig wurde<br />
man jedoch noch nicht. Auch die Firma Schering,<br />
Berlins weltweit operierender Pharmakonzern, mit<br />
seinem nahe gelegenen Firmensitz, hat noch nicht<br />
angebissen, die Schokoladenseite bürgerschaftlichen<br />
Engagements mitzufinanzieren. Der Vorstand des<br />
„Nachbarschaftsvereins mit Gesundheitsschwerpunkt“<br />
hat, wie er bekennt, keinerlei Berührungsängste,<br />
eher Appetit, auch mit weiteren Unternehmen wie<br />
z.B. der namensgleichen Schokoladenfabrik (Sprengel)<br />
in Kontakt zu treten.<br />
Fürs Erste ist das Nachbarschaftsprojekt eine gelungene<br />
Initiative, die allerdings noch eine Menge weiterer<br />
selbstloser Anstrengungen braucht, wenn das Gesamtvorhaben<br />
von Erfolg gekrönt sein soll.<br />
Spannend bleibt vor allem die Frage: Wird es auf Dauer<br />
gelingen, ein solches Nachbarschaftshaus „kostenneutral“,<br />
d.h. ohne z u s ä t z l i c h e Fördermittel zu<br />
betreiben<br />
Text und Bild<br />
Armin Emrich<br />
35
Stadteilzentren als starke Partner von<br />
Stadtteil- und Quartiersmanagement<br />
Aus dem Impulsreferat zur 11. StS-Lenkungsrunde<br />
<strong>sozial</strong>e Stadt am 13.05.05<br />
Dr. E. Löhnert, PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband Berlin<br />
Das Programm „Soziale Stadt“ fokussiert u.a. darauf,<br />
der <strong>sozial</strong>en Spaltung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken.<br />
Bei der Erfüllung dieser Aufgabe tragen<br />
Stadtteilzentren und Quartiersmanagement eine große<br />
Verantwortung. Im Rahmen der Stadtteilarbeit haben<br />
beide nicht nur viele Berührungspunkte, sondern<br />
auch identische Ziele und verfügen in der praktischen<br />
Zusammenarbeit bereits über bewährte Partnerschaften.<br />
Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und<br />
die damit verbundenen immer weniger zur Verfügung<br />
stehenden öffentlichen Mittel geben den Anlass über<br />
„Möglichkeiten der Mitwirkung von Stadtteilzentren<br />
in Quartiersgebieten“ neu nachzudenken. Dabei ist<br />
der Begriff der „starken Partner“ bereits Anspruch an<br />
Realität und Perspektive zugleich.<br />
Was bedeutet eigentlich der Begriff<br />
Stadtteilzentrum<br />
Als Stadtteilzentren bezeichnen wir in Berlin programmatisch<br />
Einrichtungen oder lokale Verbundstrukturen,<br />
in denen die Angebotsspektren der Nachbarschaftshäuser<br />
und Selbsthilfekontaktstellen zusammengefasst<br />
sind. Die Aufgaben der Stadtteilzentren reichen,<br />
laut vertraglich vereinbartem Förderkonzept, von der<br />
Stärkung des bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen<br />
Engagements sowie der Bürgerbeteiligung über das<br />
Angebot bürgernaher <strong>sozial</strong>er Dienste (Lebensqualität<br />
im Stadtteil) bis zu einer aktiven Rolle bei der<br />
Quartiersentwicklung im Sinne von Vernetzung und<br />
Integration. Hier gibt es bereits Berührungspunkte mit<br />
den Aufgabengebieten eines sog. „Stadtteilmanagements“:<br />
Über welche Ressourcen verfügen die<br />
Stadtteilzentren<br />
- 25 Nachbarschaftszentren gibt es, davon<br />
verfügt bis auf zwei Ausnahmen in jedem Bezirk mindestens<br />
eines über eine Basisförderung in Größenordnung<br />
ab etwa 80.000 Euro<br />
( Es gibt kein Nachbarschaftszentrum, welches nicht<br />
zusätzlich über geförderte weitere Projekte verfügt,<br />
die Nachbarschaftsarbeit stärken)<br />
- es bestehen 12 Selbsthilfekontaktstellen, in<br />
jedem Bezirk eine mit einer Ausstattung von in der<br />
Regel etwas mehr als 80.000 Euro<br />
und wir haben ein gesamtstädtisches Projekt, SEKIS<br />
(zentrale Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle<br />
zur Förderung von Selbsthilfe, Gruppen und Projekten),<br />
das derzeit mit 100.000 Euro ausgestattet ist.<br />
Warum sind Stadteilzentren „starke Partner“<br />
Für Stadtteilzentren ist die Region, der Stadtteil die<br />
entscheidende Orientierung und der wichtigste Bezugspunkt.<br />
Sie bündeln und aktivieren alle Kräfte für<br />
eine nachhaltig wachsende Struktur.<br />
Quartiersmanagement hat dagegen eher die Funktion<br />
einer Agentur, verbunden mit der Chance, Impulse<br />
auszulösen und kampagnenartig Dinge in Bewegung<br />
zu setzen.<br />
Ziele unserer Partnerschaft könnten insofern sein:<br />
Mit der Kenntnis der <strong>sozial</strong>en Räume und ihrer Struktur,<br />
der Ressourcen aber auch der Probleme und<br />
besonderen Bedarfslagen die Bürger und Akteure in<br />
Bewegung bringen, auch überholte Strukturen und<br />
Versäulungen aufbrechen und Interessen für zeitgemäße<br />
Entwicklungen mobilisieren.<br />
Stadtteilzentren entstehen aus bürgerschaftlichem<br />
Engagement und leben vom bürgerschaftlichem<br />
Engagement. Sie stehen für eine „Entwicklung von<br />
unten“, für demokratische Teilhabe und den Gestaltungswillen<br />
von Bürgerinnen und Bürgern in dieser<br />
Gesellschaft.<br />
Welche besonderen Erfahrungen verpflichten<br />
Stadtteilzentren zur Zusammenarbeit<br />
1. Stadtteilzentren tragen durch ihr Angebot<br />
einer nachbarschaftsorientierten und wohnortnahen<br />
<strong>sozial</strong>en Grundversorgung direkt<br />
zur Förderung und Integration aller im Stadtteil<br />
lebenden Bevölkerungsgruppen bei.<br />
2. Stadtteilzentren verbinden die <strong>sozial</strong>politische<br />
mit der stadtentwicklungspolitischen<br />
Dimension. Ihre Aktivitäten sind gleichermaßen<br />
auf die Verbesserung von Lebenschancen<br />
für die Menschen und auf die gemeinwesenorientierte<br />
Entwicklung einer Region<br />
gerichtet. Damit verbunden ist die Aufgabe,<br />
alle bestehenden Ressourcen für die Entwicklung<br />
des Gemeinwesens zu erschließen.<br />
3. Stadteilzentren aktivieren und stützen die<br />
Bürgerinnen und Bürger in ihrem Engagement<br />
für die Verbesserung der Lebensqualität<br />
in ihrem Stadtteil oder Kiez. Das wesentlichste<br />
Element hierbei ist eine demokratische Mitwirkung,<br />
die gesellschaftliche und politische<br />
Teilhabe gewährleistet.<br />
Wie kann die weitere Entwicklung einer Partnerschaft<br />
zwischen Stadtteilzentren und Quartiersmanagement<br />
aussehen<br />
1. Es sind vor einer Zusammenarbeit generell<br />
folgende Fragen zu klären:<br />
36
a) Was bringen wir zusammen auf den Weg,<br />
was getrennt<br />
b) Welche Kommunikationsstrukturen sollen<br />
entwickelt werden<br />
c) Welche Ressourcen werden eingebracht<br />
2. Es müssen gemeinsame Handlungsfelder<br />
festgelegt werden. Die klare Definition von<br />
Ziel- und Aufgabenstellungen ist wichtig, um<br />
Doppelstrukturen zu vermeiden und effektive<br />
Wirksamkeit zu gewährleisten. Dabei müssen<br />
keine neuen Steuerungsrunden aufgebaut,<br />
sondern die maßgeblichen Partner/innen<br />
ganz praktisch zeitnah und umfassen informiert<br />
werden. Absprachen sollten unbürokratisch<br />
erfolgen, und vor allem verbindlich sein.<br />
3. Es muss die Frage gestellt werden, inwieweit<br />
Stadtteilzentren nicht nur Partner, sondern<br />
auch Akteure der Sozialen Stadt sein sollen.<br />
Konkret heißt das, es sollte geprüft werden,<br />
inwieweit Stadtteilzentren als Träger für Maßnahmen<br />
des Quartiers- und Stadtteilmanagements<br />
benannt werden können. Das dies ein<br />
überaus sinnvoller Ansatz ist, zeigen bereits<br />
bestehende Entwicklungen z. B. in der Werner-<br />
Düttmann-Siedlung, Träger Nachbarschaftshaus<br />
Urbanstraße und im Quartiersmanagement<br />
Rollbergviertel, Träger Humanistischer<br />
<strong>Verband</strong>, LV Berlin e. V..<br />
4. Es ist notwendig, bestehende Schnittstellen<br />
inhaltlich weiter auszuleuchten:<br />
- Evaluation von Beteiligungsformen und<br />
- Prüfung der Nachhaltigkeit von entwickelten<br />
Strukturen<br />
5. Gemeinsam abgestimmtes Einbinden weiterer<br />
Drittmittel, hier hat der PARITÄTISCHE<br />
gute Erfahrungen, so z. B. in Marzahn-Hellersdorf<br />
und Mitte (zusätzliche Förderung von<br />
Nachbarschaftsarbeit durch Stiftungsmittel)<br />
6. Jedes neue Vorhaben und Projekt sollte geprüft<br />
werden.<br />
In der Vergangenheit ist es nicht nur zuweilen<br />
geschehen, dass im Zuge des Quartiersmanagements<br />
dort Projekte entwickelt wurden,<br />
wo eigentlich eine Regelfinanzierungsstruktur<br />
(bes. Jugendhilfe, Seniorenangebote usw.)<br />
vonnöten gewesen wäre. Gerade der Verlagerung<br />
der Aktivitäten von QM auf <strong>sozial</strong>e Aufgaben<br />
sollte entgegengewirkt werden, denn<br />
hier gibt es viele Partner, die eine höhere<br />
Kompetenz und größere Nähe zu den Betroffenen<br />
haben. Hier wäre eine <strong>Arbeit</strong>steilung<br />
vorstellbar, die weniger zu Reibungsverlusten<br />
und zu einer besseren Einbindung der Projekte<br />
in die örtlichen Strukturen und regionalen<br />
Planungen führt.<br />
In diesem Sinne sollten ein Angebotsdenken<br />
verhindert und gezielte Maßnahmen initiiert<br />
werden, die auf die gesamte Entwicklung eines<br />
Gebietes gerichtet sind. Bei der Finanzierung<br />
von Regelstrukturen dürfen der Bezirk<br />
und die Politik nicht aus der Verantwortung<br />
genommen werden.<br />
7. Neue bzw. erweiterte Quartiers- und Stadtteilmanagementgebiete<br />
erfordern auch eine<br />
verbesserte Feinabstimmung vor Ort. Die<br />
Akteure sollten darauf festgelegt werden, mit<br />
bezirklichen Gremien und Stadtteilzentren<br />
direkt zu kooperieren.<br />
8. Bei der Gestaltung der Stadtteilzentren ist<br />
eines unserer Erfolgsrezepte die direkte Abstimmung<br />
mit den Bezirken. Diese Erfahrung,<br />
inzwischen eine „best practice“, könnte zur<br />
gemeinsamen Handlungsgrundlage für die<br />
Zusammenarbeit von Quartiersmanagement<br />
und Stadtteilzentren gemacht werden.<br />
Sollen die Stabilisierungen- und Aufwertungsprozesse<br />
langfristige und nachhaltige Wirkung erzielen, so<br />
sind bereits frühzeitig die in den einzelnen Stadtteilen<br />
liegenden Institutionen in die Quartiersverfahren einzubinden.<br />
Stadteilzentren stellen sich gern dieser Aufgabe, aber<br />
bei allen Kompetenzen, Erfahrungen und allem guten<br />
Willen – den haben die Stadtteilzentren aus Tradition<br />
– für zusätzliche Aufgaben benötigen die Stadtteilzentren<br />
auch zusätzliche Mittel.<br />
Dies gilt natürlich nicht nur für Stadtteilzentren, die in<br />
den Quartiersmanagement- bzw. Interventionsgebieten<br />
liegen, auch für Gebiete der Prävention und Verstetigung<br />
werden ausreichende Mittel gebraucht, um<br />
die Aufgaben und Ansprüche wirksam umzusetzen.<br />
Es ist zu begrüßen, dass die „Entwicklung starker<br />
Partnerschaften“ ein zentrales Element in der Neuausrichtung<br />
des Programms Soziale Stadt dargestellt.<br />
Allerdings ist davor zu warnen, den regelfinanzierten<br />
Einrichtungen zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen<br />
und keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung<br />
zu stellen, denn diese Erwartungen können sie aufgrund<br />
des stetigen Abbaus von Fördermitteln heute<br />
nicht mehr erfüllen. Auch sind aufwendig finanzierte<br />
Zusatzprogramme zum Nachteil regelfinanzierter Einrichtungen<br />
zukünftig zu vermeiden.<br />
Berlin, Mai 2005<br />
37
Am 29. April 2005 feierte das Nachbarschaftshaus<br />
Urbanstraße in Berlin mit einem festlichen<br />
Empfang sein 50 jähriges Bestehen. Hier der<br />
Glückwunsch unseres <strong>Verband</strong>es.<br />
Grußwort zum 50jährigen Bestehen<br />
des NBH Urbanstr.<br />
Die Geschichte des Nachbarschaftshauses Urbanstr. ist<br />
in vielfältiger Weise mit unserem <strong>Verband</strong> verknüpft.<br />
An seiner Gründung waren Menschen aktiv beteiligt,<br />
die in der Zeit der Weimarer Republik mit Friedrich<br />
Siegmund-Schultze in der Sozialen <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft<br />
Berlin-Ost zusammengearbeitet hatten, die<br />
Mitglied unseres Vorläuferverbandes, des „<strong>Verband</strong>es<br />
Deutscher Nachbarschaftssiedlungen“ gewesen war.<br />
Im Jahr 1956, ein Jahr nach seiner Gründung war das<br />
„Nachbarschaftsheim Urbanstr.“ Gastgeber der 7. Internationalen<br />
Konferenz unseres weltweiten Dachverbandes<br />
IFS (International Federation of Settlements<br />
and Neighbourhood Centres). Mit dieser Konferenz<br />
wurden die deutschen Nachbarschaftsheime und<br />
unser <strong>Verband</strong>, der damals den Namen „<strong>Verband</strong><br />
Deutscher Nachbarschaftsheime“ trug, wieder als<br />
voll gleichberechtigte Partner in die internationale<br />
Gemeinschaft der Nachbarschaftszentren aufgenommen.<br />
Viele Jahre war Elisabeth von Harnack zugleich Vorstandsmitglied<br />
des Nachbarschaftsheims Urbanstr.<br />
und der Berliner Landesgruppe unseres <strong>Verband</strong>es.<br />
1969 hat sich das „Nachbarschaftsheim Urbanstr.“ aus<br />
unserem <strong>Verband</strong> zurückgezogen, weil es mit dessen<br />
(neuem) Kurs nicht einverstanden war, der sich u.a. in<br />
der Umbenennung zu „<strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>“ manifestierte.<br />
Es war der neue Leiter des Hauses, Wolfgang Hahn,<br />
der 1984 das Nachbarschaftsheim wieder in unseren<br />
<strong>Verband</strong> zurückbrachte und sich in der Folgezeit auch<br />
persönlich stark für den <strong>Verband</strong>, insbesondere als<br />
langjähriges ehrenamtliches Vorstandsmitglied engagierte.<br />
Unser <strong>Verband</strong> weiß es zu schätzen, dass dieses Nachbarschaftshaus<br />
sich immer wieder in beispielhafter<br />
Weise nicht nur um seine „eigenen Angelegenheiten“<br />
gekümmert hat, sondern die Entwicklung der Nachbarschaftsbewegung<br />
insgesamt im Auge hatte:<br />
• Es hat neuen Initiativen dabei geholfen, Nachbarschaftshäuser<br />
ins Leben zu rufen<br />
• Es hat in Krisen geratene Einrichtungen im<br />
Stadtteil „unter die Fittiche genommen”<br />
• Es hat nach der „Wende” selbstlos mit Rat und<br />
Tat den Aufbau neuer Nachbarschaftshäuser<br />
im Ostteil der Stadt und im Land Brandenburg<br />
unterstützt<br />
Das Nachbarschaftshaus Urbanstr. zeichnet sich auch<br />
dadurch aus, dass es sich mit Leib und Seele der anstrengenden<br />
Tugend der Kooperation verschrieben<br />
hat. Es gibt kaum eine neue Aktivität oder Innovation<br />
des Nachbarschaftshauses, an der nicht andere Partner<br />
aus dem Stadtteil als verantwortlich Mitwirkende<br />
beteiligt sind. Das Nachbarschaftshaus nutzt seine<br />
relative Stärke nicht dazu, Pluspunkte im Konkurrenzkampf<br />
mit anderen Stadtteilakteuren zu sammeln,<br />
sondern setzt sie dafür ein, tragfähige Netzwerke aufzubauen,<br />
neue Impulse zu setzen und Kräfte zu bündeln.<br />
Das gilt für den Aufbau des Tauschringes und<br />
der Freiwilligenbörse ebenso wie für die Mitwirkung<br />
beim Mikropolis-Projekt und bei der KiezAktivKasse,<br />
das gilt für die soliden Kooperationsbeziehungen mit<br />
der bezirklichen Selbsthilfekontaktstelle im Rahmen<br />
des Stadtteilzentrumsverbundes ebenso wie für die<br />
Kooperation mit dem Schulbereich mit dem Schülerclub<br />
Break.<br />
Wir wünschen dem Nachbarschaftshaus Urbanstr.<br />
alles Gute für seine weitere <strong>Arbeit</strong>, bei der es sich,<br />
auf gute Tradition gestützt, weiterhin mutig neuen<br />
Herausforderungen stellen und für unseren <strong>Verband</strong><br />
ein wertvolles Mitglied, ein wichtiger Partner und ein<br />
ermutigendes Beispiel sein und bleiben wird.<br />
(Monika Schneider, Vorsitzende)<br />
Aus Anlass des Jubiläums hat das Nachbarschaftshaus<br />
eine Broschüre unter dem Titel „50 Jahre<br />
mittendrin“ herausgegeben, die eine ausführliche<br />
Darstellung der Geschichte des Hauses und seiner<br />
Nachbarschaftsarbeit enthält.<br />
Die Broschüre kann zum Selbstkostenpreis von<br />
5 Euro im NHU Urbanstr. 21, 10961 Berlin oder über<br />
E-mail an gekko@nachbarschaftshaus.de bestellt<br />
werden.<br />
38
Nachbarschaftswettbewerb<br />
Netzwerk Nachbarschaft<br />
Wo wohnen die kreativsten Nachbarn 2005<br />
Nach dem großen Erfolg im letzten Jahr geht der<br />
Wettbewerb „Netzwerk Nachbarschaft“ 2005 in die<br />
zweite Runde. Der Finanzpartner BHW und SCHÖNER<br />
WOHNEN weiten ihre Suche nach den engagiertesten<br />
und kreativsten Nachbarschafts-Initiativen aus. Neu:<br />
Pro Bundesland wird ein Sieger-Modell prämiert.<br />
Die Sieger erhalten Urkunden und Geldpreise im<br />
Gesamtwert von 16.000 Euro. Dazu gibt es viele<br />
attraktive Sonderpreise - zum Beispiel für die beste<br />
Senioren-WG, die kreativste Spielplatz-Initiative oder<br />
auch die schönste Begrünungsaktion.<br />
Das ist gefragt<br />
Nachbarn, die sich gegenseitig unterstützen - zum<br />
<strong>sozial</strong>en<br />
und wirtschaftlichen Nutzen aller<br />
Wohn-, Haus- und Straßengemeinschaften, welche<br />
die Lebens- und Wohnqualität aller erhöhen<br />
Initiativen für ein schöneres Wohnumfeld<br />
(gemeinsam begrünte Dachterrassen, Hinterhof-<br />
Oasen<br />
oder Freizeiteinrichtungen)<br />
Aktionen für selbst betriebene Kindergärten<br />
oder generationenübergreifende Nachbarschaftshilfe<br />
Initiativen für Haus- oder Straßenfeste,<br />
Tauschbörsen, innovative Nachbarschaftsläden oder<br />
Vereine<br />
Machen Sie mit!<br />
Sie selbst wohnen inmitten einen engagierten<br />
Nachbarschaft<br />
Sie kennen Menschen, die sich sehr für ihre<br />
Nachbarn einsetzen. Dann bewerben Sie sich mit<br />
einer Beschreibung und Fotos: Was zeichnet ihre<br />
Gemeinschaft aus Was haben Sie bisher erreicht<br />
Können auch andere Nachbarschaften davon<br />
profitieren<br />
Senden Sie Ihre Bewerbung an:<br />
AMG Hamburg<br />
Stichwort „Netzwerk Nachbarschaft“<br />
Goernestr. 30<br />
20249 Hamburg<br />
Oder per E-Mail an nachbarschaft@amg-hamburg.de<br />
Einsendeschluss ist der 15. August 2005.<br />
weitere Informationen unter:<br />
http://www.bhw.de/content/Service/<br />
WettbewerbNachbarschaft/<br />
Ankündigung Jahrestagung 2005<br />
Jahrestagung Stadtteilarbeit 2005:<br />
Stadtteilzentren im Wandel<br />
16.-18.11.05 im Stadtteilzentrum Kronsberg<br />
(Hannover)<br />
Der „Demographische Wandel“ hat vor allem in<br />
den neuen Bundesländern und im Ruhrgebiet<br />
bereits zu gravierenden Veränderungen geführt,<br />
die zukünftig noch deutlich stärker und – mehr<br />
oder weniger intensiv – alle Teile der Bundesrepublik<br />
und (in abgeschwächter Form) auch die<br />
europäischen Nachbarländer erreichen werden:<br />
Die Kinderzahlen sind stark rückläufig, dies führt<br />
zu insgesamt niedrigeren Einwohnerzahlen, zu<br />
höheren Anteilen an Migranten und älteren Personen.<br />
Viele Stadtteile (allen voran die mit niedrigerer<br />
Lebensqualität) werden „schrumpfen“<br />
mit der Folge, dass auch die Infrastruktur ausgedünnt<br />
wird: Vor allem Schulen, Kindertagesstätten<br />
und Jugendzentren werden im Bestand<br />
hinterfragt, generationsübergreifende und/oder<br />
multi<strong>kulturelle</strong> Angebote müssen ausgeweitet,<br />
ressortübergreifende Aufgabenkombinationen<br />
in den verbleibenden Infrastrukturen entwickelt<br />
werden, Themenfelder wie „Qualifizierung“,<br />
„Beschäftigung“, „Gesundheit“ und „Agenda21“<br />
breiteren Eingang in die Stadtteilarbeit finden.<br />
Stadtteilzentren als <strong>sozial</strong>raumbezogene Mittelpunkte<br />
<strong>sozial</strong>er und <strong>kulturelle</strong>r Infrastruktur<br />
stehen in besonderer Weise vor der Aufgabe,<br />
Lösungen für diese gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
der Zukunft zu bieten.<br />
Welche Praxisfelder, welche Kooperationsformen,<br />
welche Zielgruppen werden die Stadtteilarbeit<br />
der Zukunft bestimmen Gibt es bereits<br />
heute gute Beispiele, die weiter entwickelt werden<br />
können<br />
Die Jahrestagung Stadtteilarbeit 2005 zum Thema<br />
„Stadtteilzentren im Wandel“ versucht, durch<br />
einführende Referate und vor allem durch beispielhafte<br />
Praxisprojekte Anregungen zugeben<br />
für die Weiterentwicklung der eigenen Stadtteilarbeit.<br />
Termin: 16.-18.11.05<br />
Ort: Hannover, Stadtteilzentrum Kronsberg<br />
Kosten: 120,- Euro(incl. Verpflegung,<br />
ohne Übernachtung)<br />
Das vollständige Veranstaltungsprogramm wird<br />
ca. Ende Juni unter www.stadtteilarbeit. de<br />
im Internet veröffentlicht.<br />
Veranstalter:<br />
• <strong>Verband</strong> für <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
• Stadt Hannover<br />
• Internetportal www.stadtteilarbeit.de<br />
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GlücksSpirale<br />
Der <strong>Rundbrief</strong> erscheint mit<br />
finanzieller Unterstützung<br />
der Glücksspirale